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"Und eines Tages wurde es einfach nicht mehr hell ..." Seit sich Layla erinnern kann, herrscht in ihrer Heimat völlige Dunkelheit. In dieser Welt ohne Sonnenlicht besucht sie die Akademie für Sphärenmagier - jenen Menschen, die aus dem Nichts Licht erschaffen können. Layla konzentriert sich völlig auf ihr Studium und lässt sich auch von dem gut aussehenden Frauenhelden Aris nicht ablenken. Bis sie ein Gerücht hört, dass ihr verschollener Bruder Zahid noch am Leben sein soll. Gemeinsam mit Aris begibt sie sich auf eine abenteuerliche Suche in die unbekannte Finsternis. Dort erfährt sie Dinge über sich und ihre Familie, die sie nie für möglich gehalten hätte. Und auch Aris scheint nicht der oberflächliche, privilegierte Lehrersohn zu sein, für den sie ihn gehalten hat ...
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Seitenzahl: 319
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Für Ronja,
die mit der Idee, …
… und für Zorah,
die mit dem Buch geboren wurde.
Kapitel
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Laylas Stiefel machten ein dumpfes Geräusch, als sie mit dem Absatz immer wieder gegen die Marmorsäule hinter sich trat. Ihr Blick war auf einen Jungen gerichtet, der in einigen Schritten Entfernung auf der Steinmauer zum Innenhof saß. Vor ihm auf dem Boden war eine Gruppe Mädchen versammelt, die wie gebannt an seinen Lippen hing. Layla bemühte sich, nicht spöttisch die Augen zu verdrehen, als sie einige Wortfetzen auffing.
»Natürlich habe ich keine Angst!«, prahlte der Junge und lächelte gewinnend auf eines der Mädchen hinunter. »Der Teppich beschützt mich dort draußen.«
Das Mädchen sah ihn mit offenem Mund an, und auch die anderen schienen das Atmen vergessen zu haben. Layla fiel auf, dass sie alle jünger waren als sie selbst. Im ersten, vielleicht im zweiten Jahrgang. Nur der Junge war etwa in ihrem Alter. Er deutete gerade mit ausgestrecktem Arm auf die Glasscheibe zum Innenhof, hinter der sich schwarze Dunkelheit erstreckte. Sein Haar, ebenso schwarz wie der Tag draußen, fiel ihm bei dieser Bewegung in die Augen und Layla hätte schwören können, ein paar der Mädchen seufzen zu hören.
»Da draußen ist nicht nur Dunkelheit«, sagte der Junge mit einem sehnsüchtigen Ton in der Stimme. »Es gibt dort viel mehr als Luft und Schwärze. Da ist noch etwas. Etwas Geheimnisvolles.«
Jetzt konnte Layla nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Was war so geheimnisvoll an totaler Finsternis? Hinter dem Glas lagen ein paar Schulgebäude, das Städtchen Enés und die ewige Dunkelheit. Und natürlich der Innenhof, der im Moment vom fahlen Licht der Sphären erfüllt war.
Beim Anblick der Lichtquellen erinnerte sich Layla an den Unterricht, der vor ihr lag. Sie würden wieder Stunden damit verbringen, Energie zu kleinen Kugeln zu verdichten, wie sie dort draußen in der Trauerweide hingen und den Baum in gespenstisch weißem Licht erstrahlen ließen.
»Da bist du ja!«
Beim Klang von Hanas Stimme riss sich Layla von den Sphären los und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Was soll das denn heißen?«, fragte sie. »Du bist es doch, die zu spät ist. Noch länger hätte ich mir Aris' Geschichten nicht anhören können. Er hat einen fliegenden Teppich, weißt du?« Sie schmunzelte, aber Hanas Aufmerksamkeit hatte sich bereits bei ihren Worten auf den Jungen gerichtet.
»Ich weiß«, flüsterte sie und zog Layla am Blusenärmel näher an die Gruppe heran. »Ist das nicht toll?«
»Nein, ist es nicht! Du weißt genauso gut wie ich, dass er sich das alles nur ausdenkt, um die Mädchen ins Bett zu kriegen!«, sagte Layla und versuchte, ihre Freundin in Richtung der Mensa zu führen. Aber Hana blieb mitten im Foyer stehen und sah mit träumerischem Blick zu Aris hinüber. Als dieser sie bemerkte, zwinkerte er kurz in ihre Richtung und das verzückte Lächeln auf Hanas Gesicht wurde noch breiter.
Layla stieß ihr unsanft den Ellenbogen in die Seite.
»Hana!«, zischte sie. »Du musst sein Ego wirklich nicht zum Explodieren bringen! Wenn du als eine seiner Bettgeschichten endest, kriegst du kein Mitleid von mir, verstanden?«
Sie zog fester an Hanas Arm und schaffte es schließlich, sie mit sich in die Mensa zu ziehen.
Dank Aris' Märchenstunde war die Schlange an der Essensausgabe denkbar kurz. Schon nach kurzem Warten konnten sich Layla und Hana mit gefüllten Tabletts auf ihre Lieblingsplätze an einem der deckenhohen Fenster setzen. Von draußen fiel das fahle Licht der Sphären in den Raum und mischte sich mit dem flackernden Schein der Feuerbecken. Layla fixierte die faustgroßen Kugeln, die, gefangen von fast unsichtbaren Netzen, über dem Innenhof schwebten. Es waren so viele, dass sie in dem weißen Licht ohne Mühe die etliche Schritte entfernte Hausmauer sehen konnte. Trotzdem leuchteten nicht alle Kugeln gleich hell. Manche waren gleißend helle Bälle, andere so schwach, dass sie kaum zu sehen waren.
»Glaubst du, wir werden einmal so gut wie Professor Ahmed?«, fragte Layla, ohne den Blick abzuwenden. Die Sphären dort draußen waren von Schülern erschaffen worden, die ihre Übungsobjekte nach verrichteter Arbeit in den Baum hängten.
Hana gluckste. »Du bist doch jetzt schon fast so gut wie er. Du verbrennst dich wenigstens nicht mehr jedes Mal!« Sie zog den Ärmel zurück und hielt Layla ihre Handflächen hin. Sie waren gerötet und an manchen Stellen saßen kleinen Brandblasen. »Die dummen Dinger machen einfach nicht das, was ich will.«
»Du schaffst das schon. Bis zu den Abschlussprüfungen sind es noch ein paar Monate. Du hast noch genug Zeit«, erwiderte Layla abgelenkt und fixierte ihr Spiegelbild in der Scheibe. Ihre Haare waren so schwarz, dass sie im Glas fast nicht zu sehen waren, dafür spiegelte sich ihr Gesicht umso deutlicher. Layla hob die Hand und legte die Fingerspitzen an die Narbe auf ihrer rechten Wange.
»Alles okay?«, fragte Hana und Besorgnis war in ihrer Stimme zu hören.
»Ja, ja.« Layla machte eine abwinkende Handbewegung und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Wo bist du mit deinen Gedanken? Doch nicht bei Aris, oder? Der ist nur hier, weil er mit den Mädchen aus dem ersten Jahr noch leichtes Spiel hat. Alle anderen hat er bestimmt schon durch.« Hana zog demonstrativ die Nase kraus, aber Layla wusste genau, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. »Wahrscheinlich gibt es an seiner Schule für feine Schnösel niemanden mehr, der ihm noch zuhört. Oder sie haben ihn rausgeschmissen. Immerhin ist er ständig hier anstatt dort. Und sein Vater sagt nichts dazu.«
Layla tat ihr nicht den Gefallen, auf das Thema einzugehen. Sie hörte nur zu, als Hana fortfuhr: »Aber sein Vater ist ja auch Professor Ahmed. Vielleicht ist ihm egal, was Aris tut. Das schwarze Schaf der Familie ist er sowieso schon.« Hana lachte leise. »Eine ganze Familie von Sphärenmagiern und der eigene Sohn kann nicht mal den kleinsten Lichtnebel produzieren? Das muss ihn hart getroffen haben.«
»Du bist gehässig«, sagte Layla, lächelte aber, als sie die feine Röte sah, die Hanas Wangen überzog. »Und draußen im Foyer hast du ihn noch angehimmelt!«
Hana zuckte die Achseln. »Er sieht nun mal gut aus. Dagegen kannst du nichts sagen!«
»Mache ich auch nicht.« Wieder wanderten Laylas Finger zu ihrer Narbe. »Nur passen Aussehen und Verhalten bei ihm eben nicht zusammen.«
»Als ob du das beurteilen könntest! Wann hast du denn mehr als ein Hallo mit ihm gewechselt? Bestimmt noch nie!«, sagte Hana und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie hatte die Fähigkeit, in Sekundenschnelle zwischen Lobeshymnen und Hasspredigten auf Aris hin und her zu wechseln. Und beide trug sie gleichermaßen leidenschaftlich vor.
»Genau, noch nie. Der Herr ist doch ständig von seinem Hofstaat umgeben. Wahrscheinlich ist er in seiner eigenen Welt Sultan der Geschichten.«
Hana lachte. »Sultan der Geschichten und Prinz der Lü -«. Ihr letztes Wort ging im dumpfen Klang eines Gongs unter, der durch den Raum hallte. Sie stöhnte auf. »Toll, jetzt haben wir unsere Pause mit Gerede über Aris vertrödelt und mein Essen ist kalt geworden.«
Obwohl sie die Mensa sofort nach dem Gongschlag verlassen hatten, gehörten sie zu den Letzten, die das Klassenzimmer betraten. Professor Ahmed stand schon an seinem Pult und blickte sie missbilligend an.
»Was denn? Wir sind doch noch rechtzeitig, oder?«, flüsterte Hana in Laylas Ohr, als sie sich hastig setzten.
Layla verzog den Mund. »Ja, aber so wie Ahmed dreinschaut, denkt er das Gegenteil.«
»Hana!«, unterbrach die scharfe Stimme des Professors ihre Unterhaltung und sie fuhren ertappt auseinander. »Ich hoffe, du hast geübt?« Er machte eine ausladende Armbewegung und Layla sah, wie Hana schluckte. Ihre Hände waren noch vom Vormittagsunterricht gerötet und taten bestimmt noch immer weh. Trotzdem schob Hana ihren Stuhl zurück und ging nach vorne, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Sie faltete die Hände zu einer Kugel zusammen, und es dauerte eine Weile, bis ihre Finger in dem dahinter entstehenden Licht zu leuchten begannen. Sie öffnete die Hände ein Stück und nun waren weißliche Nebelschleier zu sehen, die sich zwischen ihnen bewegten, als schwämmen sie in Wasser. Layla konnte sehen, wie ihre Freundin vor Schmerz das Gesicht verzog, als die Hitze zwischen ihren Händen auf die schon bestehenden Brandblasen traf.
»Konzentriere dich, Hana! Du musst ihnen die Form vorgeben! Sie machen das nicht von selbst!«
Ahmed stand neben Hana, die Augen fest auf ihre Hände gerichtet. Sie schaffte es, die Lichtnebel zwischen ihnen zu halten, aber sie brachen immer wieder aus der Kugel, die Hana ihnen mit einer kreisförmigen Bewegung aufzuzwingen versuchte, heraus. Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass Layla jeden Moment mit Blut rechnete. Nach endlos erscheinenden Augenblicken verließ Hana die Kraft und sie ließ keuchend die Hände sinken. Die Nebel stoben auseinander und lösten sich in Nichts auf.
»Du solltest mehr üben«, kommentierte der Professor ihr Versagen knapp und schickte sie auf ihren Platz zurück. Hana wischte sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn und sank so tief wie möglich in ihren Stuhl.
»Wenn wir uns alle so anstellen würden wie Hana«, wandte sich Ahmed an die Klasse, »wäre es in der ganzen Stadt dunkel. Sie scheint zu vergessen, dass die Menschen auf unser Licht angewiesen sind. Bis zu den Prüfungen ist es nicht mehr lange hin, und wenn auch nur die Hälfte von euch die letzten drei Jahre hier nicht vergeudet haben will, solltet ihr alle mehr üben. Mir ist egal, wie ihr es macht, aber bis morgen schafft es jeder, eine Sphäre zu produzieren. Ich will keine Nebel-schlieren sehen, sondern eine komplette, dichte Sphäre, verstanden?« Die Hand des Professors rückte wie beiläufig den silbernen Turban zurecht, der das traditionelle Kleidungsstück der ausgebildeten Sphärenmagier darstellte. Sein Blick aber traf Hana, die sofort zur Seite sah und finster auf einen Brandfleck auf ihrem Pult starrte.
»Layla.« Layla zuckte zusammen, als Ahmed ihren Namen nannte und riss den Blick von Hana los. »Zeig uns, wie das Ganze aussehen soll.«
Unter den Blicken ihrer Mitschüler stand Layla auf und ging nach vorne. Normalerweise gefiel es ihr, dass ihre Klasse nicht mehr als fünfzehn Schüler umfasste, aber jetzt hieß das nur, dass niemand Probleme haben würde sie zu sehen. Alle beobachteten sie und ihr schoss durch den Kopf, dass wahrscheinlich mindestens einer hoffte, sie würde versagen. Niemand wagte offen gegen die unmögliche Forderung des Professors zu protestieren, aber wenn seine Lieblingsschülerin versagte, würde er es vielleicht selbst einsehen.
Aber sie versagte nicht. Zwar kostete es sie viel Kraft, sich vor all den Leuten zu konzentrieren, und am Ende hatten sich auch auf ihrer Stirn Schweißtropfen gebildet, aber die Lichtnebel nahmen beinahe ohne Widerwillen die Form einer Kugel an. Sie fuhr einige Male mit den Händen rundherum, um die Form zu festigen, dann zog sie sie zurück und ließ die Sphäre frei. Alle Blicke folgten der Kugel, als sie in die Höhe stieg und sich nach wenigen Handbreit in Luft auflöste. Das weiße Licht erlosch und das Klassenzimmer war wieder nur vom Schein der Kerzen an den Wänden erfüllt.
»Na bitte. Wenigstens eine hat ihre Zeit hier nicht verschwendet«, sagte Professor Ahmed anerkennend, bevor er den nächsten Schüler nach vorne rief.
Nachdem noch einige Schüler ihr Können, und in vielen Fällen ihr Versagen, zur Schau gestellt hatten, gingen Layla und Hana über den Innenhof auf das Internatsgebäude zu.
»Niemand ist auf die Sphären angewiesen«, wetterte Hana, auf deren Stirn immer noch eine steile Falte stand. »Die Sphären können sich doch sowieso nur so reiche Schnösel wie Ahmed leisten. Normale Leute begnügen sich mit Feuern.«
Layla wagte nicht zu widersprechen. Zwar war sie der Meinung, dass der Professor nicht ohne Grund so viel von ihnen verlangte, aber im Moment musste sie das ihrer Freundin nicht auf die Nase binden.
»Ich hasse Sphärenerschaffung«, murmelte diese gerade und rieb sich die geröteten Hände. Einige der Brandblasen waren aufgeplatzt und Hana zuckte bei der Berührung zusammen.
»Aber nur, weil du zu ehrgeizig bist.« Layla blieb stehen, zog den Schal von ihrem Hals und wickelte ihn um Hanas Hände. »Ahmed verlangt viel, weil er recht hat. Es dauert nicht mehr lang bis zu den Prüfungen. Und wenn wir nicht bestehen, haben wir wirklich drei Jahre vergeudet.«
Hana schnaubte und zog ihre Hände aus denen Laylas. »Natürlich bist du auf seiner Seite! Du bist ja auch sein Liebling! Ich frage mich, ob er Aris auch so behandelt. Wahrscheinlich hat er Glück, dass er nicht magisch ist. Sonst wäre er Ahmed zu Hause und hier ausgesetzt.«
»Woher weißt du eigentlich, dass Aris nicht magisch ist?«, fragte Layla und überging den Seitenhieb.
Hana begann an dem notdürftigen Verband herum zu zupfen. »Sonst würde er doch hier zur Schule gehen, oder? Aber wie gesagt, eigentlich hat er es doch ganz gut getroffen. Er kann tun und lassen, was er will, ohne dass jemand etwas daran auszusetzen hat.«
»Wärst du lieber ganz normal? Ich finde es schön, etwas Besonderes zu sein. Und lass deine Hände in Ruhe!« Sie packte Hanas Unterarm und hielt ihn fest. »Komm mit, ich habe gestern eine Heilsalbe angerührt, die du jetzt gut gebrauch -«. Weiter kam sie nicht. Ein Ruf hatte ihre Aufmerksamkeit auf das Schultor gelenkt und sie drehte den Kopf so schnell in diese Richtung, dass es in ihrem Nacken knackte.
»Was ist?«, fragte Hana verwundert. Sie sah zu, wie Layla gebannt auf einen Jungen starrte, der durch das Tor auf den Hof gerannt kam. Er sah so jung aus, als könne er unmöglich schon hier zur Schule gehen, trotzdem steuerte er direkt auf das Internatsgebäude zu.
»Zahid, warte doch!«
Ein Mädchen lief mit wehenden Haaren hinter ihm her und rief immer wieder seinen Namen. Aber er ignorierte sie, polterte die Stufen hoch und verschwand durch die hohe hölzerne Flügeltür.
»Layla?« Hana hob die Hand, um sie an der Schulter zu berühren, da schüttelte Layla wie benommen den Kopf.
»Schon gut«, murmelte sie. »Ich dachte nur für einen Moment ...« Wieder brach sie ab. »Zahid«, sagte sie mit einem schwachen Schulterzucken, als erkläre das alles.
Hanas Blick wurde weich. »Du weißt, dass es Tausende von Jungen gibt, die so heißen, oder?«, fragte sie vorsichtig und legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin.
»Ja, ich weiß.« Mühevoll riss Layla sich von den Gedanken los, die sich in ihren Kopf schleichen wollten, und hakte sich bei Hana unter. »Komm, lass uns gehen. Deine Hände müssen dringend behandelt werden.«
Beinahe tat es ihr leid, als sie Hana schon wenig später wieder zur Tür hinausschob. Sie hatte ihre Hände sorgsam, aber doch hastig verbunden, war in Gedanken jedoch nicht wirklich bei der Sache gewesen.
Eigentlich wollte sie sich auf morgen vorbereiten. Üben für Professor Ahmed und lernen für den Geschichtstest bei Professor Médéa. Außerdem war der Brief, den sie sonst regelmäßig an ihren Vater schrieb, schon lange überfällig. Aber jetzt ließ sie sich auf das Bett fallen und zog die Flickendecke über den Kopf.
So lag sie im Dunkeln und kratzte in Gedanken alles zusammen, was sie über ihren verstorbenen Bruder wusste. Leider war das nicht viel. Und noch weniger davon wusste sie aus eigenen Erfahrungen. Er hatte Zahid geheißen, wie der Junge auf dem Hof. Aber er war so viele Jahre älter als Layla, dass sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Sie war noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen, als er die Familie verließ, um auf die Sphärenakademie zu gehen. Das wusste sie von ihrem Vater. Und von da an hatte sie ihn die nächsten Jahre nur selten gesehen. Bis er schließlich gar nicht mehr zurückgekommen war. Irgendwann erfuhren sie, dass er nicht nur aus der Akademie, sondern anscheinend auch aus der Stadt verschwunden war. Man suchte nach ihm, aber als man die Suche schließlich nach Monaten aufgegeben hatte, war ihr Vater am Boden zerstört gewesen. Ab da war Zahid für ihn gestorben. Layla war keine vier Jahre alt gewesen, aber an seine Verzweiflung erinnerte sie sich nur zu gut.
Sie seufzte, zog die Beine an die Brust und schlang ihre Arme darum. Sie vergrub den Kopf im Kissen und schloss die Augen.
* * *
»Geht's dir besser?«, fragte Hana, als sie sich am nächsten Morgen im Waschraum der Mädchen über den Weg liefen. Layla hatte die Nacht schlaflos verbracht, nachdem sie aus einem kurzen Schlummer hochgeschreckt war. Die Erwähnung eines alltäglichen Namens hatte so viel in ihr ausgelöst, dass sie noch an dem Brief für ihren Vater schrieb, als die Kerze auf ihrem Schreibtisch schon fast heruntergebrannt war.
Sie wischte sich müde über die Augen. »Ja. Entschuldige wegen gestern.«
Hana zuckte mit den Achseln und lächelte sie an. »Kein Problem. Ich verstehe dich. Wir wissen ja alle, was passiert ist.«
Layla erwiderte das Lächeln matt und studierte ihr Spiegelbild und die kurze Narbe darin, um ihre Freundin nicht ansehen zu müssen. Ja, jeder wusste, was sie wusste. Für die anderen war es nur eine Geschichte von vielen. Aber für Layla war es etwas Persönliches und Schmerzhaftes.
Sie kämmte ihr Haar und sah zu, wie sich die schwarzen Wellen durch ihre Finger schlängelten.
»Ja«, sagte sie leise, als Hana wahrscheinlich schon längst keine Antwort mehr erwartete. »Alle wissen genauso viel wie ich. Nur dass er mein Bruder war.«
Hana drehte sich zu ihr und sah sie mitfühlend an. Schließlich setzte sie wieder ein Lächeln auf und nahm Layla am Handgelenk. »Komm, ich will Ahmed nicht schon wieder einen Grund geben, mich zu piesacken. Die Brandblasen von gestern sind immer noch nicht verheilt.« Sie hielt zum Beweis ihre Hände in die Höhe, die zwar nicht mehr mit Verbänden umwickelt waren, aber trotzdem immer noch recht mitgenommen aussahen.
»Ich sehe dich drüben, ja?«, sagte Layla langsam und riss sich von ihrem Spiegelbild los. »Ich muss erst noch meine Sachen holen.«
Sie ließ sich Zeit, die Tasche aus ihrem Zimmer im ersten Stock zu holen. Es schien schon spät zu sein, denn auf ihrem Weg kamen ihr Schülerinnen entgegen, die in die entgegengesetzte Richtung liefen. Hinter ihnen ging Nura, die alte Aufseherin des Mädchenstockwerks, und scheuchte sie zum Treppenhaus wie eine Schar Hühner.
»Komm nicht zu spät zum Unterricht, Layla«, ermahnte Nura sie im Vorbeigehen, als wäre das ständig der Fall. In Wahrheit war sie in ihrer ganzen Zeit an der Akademie noch kein einziges Mal zu spät gekommen. Und auch vorher niemals. Vielleicht lag es daran, dass durch die ständige Dunkelheit niemand die Zeit feststellen konnte. Sie standen auf, wenn sie geweckt wurden, und gingen schlafen, wann sie wollten. Der Tag wurde durch die Arbeit und den Unterricht bestimmt. Seit Layla denken konnte, hatte die Natur nichts mehr damit zu tun. Die Worte Sonnenaufgang und Sonnenuntergang kannte sie nur aus den Erzählungen ihres Vaters.
Er und die anderen Erwachsenen konnten mit diesen Wörtern noch etwas anfangen. Sie erinnerten sich noch an die Sonne, die laut ihnen den Tagesablauf bestimmt hatte. Jetzt taten das die Vorschriften.
»Komm Mittagessen«, sagte ihr Vater immer noch, wenn sie ihn zu Hause besuchte. Auch wenn das Wort Mittag für Layla nichts bedeutete. »Mittag war, wenn die Sonne ganz oben am Himmel direkt über uns stand«, sagte ihr Vater dann und deutete mit ausgestrecktem Arm hoch in den rabenschwarzen Himmel. »Es war so hell, als würdest du eine Sphäre erschaffen, die die ganze Stadt und die ganze Dunkelheit dahinter ausleuchten sollte. Und erst die Hitze!« Wehmut lag in seiner Stimme, und Layla fragte sich, warum. In der Stadt war es immer angenehm warm. Sie hatte in ihren langen Röcken und weiten Blusen bisher noch nie gefroren. Trotzdem trug sie beinahe immer den blauen Schal, den ihr Vater ihr einmal geschenkt hatte. Und das mehr aus Sentimentalität als aus Schutz vor der nicht existierenden Kälte. Den Schal, den sie Hana gestern für deren geschundene Hände gegeben hatte.
Dieser Gedanke holte sie in die Realität zurück. Sie beschleunigte ihre Schritte, rannte zu ihrem Zimmer, dann über den Hof und durch die Gänge zum Klassenzimmer von Professor Ahmed. Erst wenige Abzweigungen davor ging sie langsamer, um ihren Atem zur Ruhe kommen zu lassen.
»... aber Zahid ist ...«
Layla blieb wie angewurzelt stehen. Sie war nicht allein in dem Gang. Überall standen Schüler in Gruppen zusammen, oder hasteten auf ihrem Weg zum Unterricht an ihr vorbei. Trotzdem hatte sie den Namen deutlich aus den alltäglichen Geräuschen herausgehört. Unwillkürlich sah sie sich nach dem Jungen von gestern um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Dafür sah sie ein anderer im Vorbeigehen fragend an, weil sie immer noch wie angewurzelt in der Mitte des Gangs stand.
»Hast du etwas vergessen?«, fragte er, wartete die Antwort aber nicht ab. Layla wollte gerade weitergehen, als sie den Namen ein zweites Mal hörte. Diesmal war es eine andere Stimme, aber zweifellos der gleiche Name. Layla lauschte angestrengt, als die Person weitersprach.
»Zahid Ibrahim ist seit Jahren tot, Bruder Ahmed. Er hätte nie überlebt.« Die Stimme war die von Professor Médéa, da war sich Layla sicher. Dieses Piepsen würde sie überall erkennen. Es machte den Geschichtsunterricht beinahe unerträglich. Jetzt aber hatte Médéa die Stimme gesenkt, als wollte sie trotz der anderen Menschen um sie herum nicht gehört werden.
»Anscheinend doch«, antwortete Professor Ahmed. Layla ging langsam auf die Stimmen zu, bis sie am Ende des Gangs um die Ecke sehen konnte. Die Professoren standen nah beieinander vor dem Klassenzimmer für Geschichte, in dem Layla später noch Unterricht haben würde. Sie hielt den Atem an und lauschte, als Ahmed fortfuhr: »Aber das sind nur Gerüchte. Wenn jemand seit über zehn Jahren verschwunden ist, sollte man aufhören, den Leuten Flausen in den Kopf zu setzen. Der Junge hat hier immer noch Familie.«
Médéa lachte leise auf. »Ich kann natürlich verstehen, warum du das willst. Es wäre dumm von uns allen, dieses Gerücht zu unterstützen. Lass uns die Sache vergessen, dann bleibt alles beim Alten.«
Layla sah, wie sie ihm in einer vertraulichen Geste die Hand auf den Arm legte, und der Professor nickte knapp. Dann gingen sie in entgegengesetzte Richtungen davon und Layla beeilte sich, noch vor ihm das Klassenzimmer zu erreichen.
Während des Unterrichts fand Layla keine Anzeichen dafür, dass Professor Ahmed wegen irgendetwas beunruhigt war. Aber vielleicht war sie auch zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Was, wenn Ahmed Recht hatte und Zahid noch lebte? Bisher hatte sich Layla noch nie Gedanken darüber gemacht. Für sie war er immer nur in Erzählungen Teil ihrer Familie gewesen. Sie konnte sich nur darauf verlassen, was ihr Vater sagte. Zahid war genauso eine erzählte Erinnerung, wie ihre Mutter, die bei Laylas Geburt gestorben war.
Nach Stunden, in denen sie den Raum mit halbfesten Lichtschlieren gefüllt hatten, anstatt mit den von Ahmed verlangten Sphären, entließ er sie vorzeitig in die Mittagspause. Sein Gesichtsausdruck war gleichzeitig vorwurfsvoll und resigniert. Er schien einzusehen, dass seine Schüler mit verbrannten Händen noch weniger zustande bringen würden als ohnehin schon.
Layla fühlte sich ausgelaugt. Die Anstrengung setzte ihr wie allen anderen zu, aber heute war es noch schlimmer als sonst. Sie schob sich die Tasche über die Schulter und trat hinter Hana aus dem Klassenzimmer, als sie plötzlich das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu laufen. Getuschel schlug ihr entgegen, und als sie aus jeder Ecke den Namen ihres Bruders zu hören schien, sank ihre Laune in Rekordzeit auf den Nullpunkt.
»Was ist?«, fragte Hana, als sie wie angewurzelt im Foyer stehen geblieben war.
»Warum schauen mich alle so an?«, fragte Layla und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Schüler standen in Grüppchen beisammen und viele von ihnen sahen zu ihr herüber.
»Keine Ahnung. Was hast du gemacht?«
»Gar nichts«, murmelte sie und ging in Richtung Mensa, ohne die neugierigen Blicke zu erwidern. Sie musste an der Mauer zum Innenhof vorbei, auf der wie schon am Tag zuvor Aris mit seiner Schar Bewunderinnen saß. Aber diesmal hingen sie nicht wie sonst an seinen Lippen. Immer wieder sahen einige zu Layla, als sie vorbeiging. Auch Aris' blaue Augen trafen sie und sie wandte schnell den Blick ab. Er hatte sie noch nie beachtet, aber jetzt hatte wohl auch er die Gerüchte über ihren Bruder mitbekommen, die sich scheinbar innerhalb von Stunden wie ein außer Kontrolle geratenes Feuer in der Schule verbreitet hatten.
»Da ist seine Schwester. Vielleicht hat sie von ihm gehört?«, flüsterte ein Mädchen ganz in ihrer Nähe und zeigte mit dem Finger auf sie. In der Stille war ihre Stimme gut hörbar gewesen und Layla war, ohne es zu merken, stehen geblieben. Sie spürte deutlich die Blicke auf sich, aber noch deutlicher war Hanas Hand, die nach ihrer griff.
»Komm, hör nicht hin«, flüsterte sie. »Das ist alles nur erfunden. Genau wie Aris' Geschichten.« Sie lächelte ihr aufmunternd zu und zog an der Hand, bis Layla ihr in Richtung Mensa folgte.
Nach dem Essen gingen sie zurück in den Trakt mit den Klassenzimmern, und während des ganzen Wegs hatte Layla das Gefühl, eine unsichtbare Zielscheibe auf ihrem Rücken zu tragen.
»Haben die nichts Besseres zu tun?«, murmelte sie mit gesenktem Kopf vor sich hin, als sie zum dritten Mal an einer Gruppe tuschelnder Mädchen vorbeigekommen waren. Sie ballte die Hand zur Faust und blieb schließlich stehen. Die Mädchen verstummten schlagartig und Layla sah erstaunt zu ihnen hinüber. Aber es war nicht ihre Anwesenheit, die die Stille ausgelöst hatte, sondern die Professor Médéas. Sie war gerade um die Ecke gebogen und die Gruppe löste sich schnell in alle Richtungen auf. Die Professorin lächelte Hana und Layla zu, aber Layla konnte es nur halbherzig erwidern.
»Bist du mir böse, wenn ich Geschichte ausfallen lasse?«, fragte sie, nachdem Médéa außer Hörweite war. »Ich habe wirklich keine Lust, weiter angestarrt zu werden.«
»Verständlich. Vor allem, weil sie ja alle nur den gleichen Blödsinn von sich geben. Mein Vater sagt ..., Ich habe gehört ...« Hana verdrehte die Augen. »Die haben doch alle keine Ahnung von irgendwas.«
»Ja, genau wie ich«, murmelte Layla und Hana sah sie mitfühlend an. Dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf.
»Ich habe eine Idee! Ich könnte Aris fragen, ob er etwas gehört hat. Er ist ständig hier und kriegt sicher so einiges mit. Rein zufällig habe ich ihn vorhin auf den Stufen ins zweite Stockwerk sitzen sehen.« Das Leuchten in Hanas Augen war nicht zu übersehen und Layla lachte leise.
»Wenn du willst«, sagte sie, wusste aber gleichzeitig, dass ihre Freundin sich nie trauen würde, Aris anzusprechen. Bis jetzt war es immer beim Anhimmeln aus der Ferne geblieben und Layla bezweifelte, dass sich das jetzt ändern würde. Trotzdem grinste sie.
»Klasse!«, rief Hana und klatschte begeistert in die Hände. »Dann verschwinde jetzt, bevor dich noch jemand sieht, und ich denke mir eine Ausrede für Médéa aus. Wir sehen uns später!« Sie schob ihre Tasche höher auf die Schulter und verschwand mit einem enthusiastischen Winken durch die Tür des Klassenzimmers.
Immer noch lächelnd drehte sich Layla um und ging zurück durch das Foyer und den Hof auf das Internatsgebäude zu. Auf dem Weg wich sie den neugierigen Blicken so gut wie möglich aus und atmete erleichtert auf, als sie die Zimmertür hinter sich schloss.
* * *
»Alle reden über Zahid«, berichtete Hana am Abend, als sie es sich auf Laylas Bett gemütlich machte. »Sie sagen, er lebt noch.«
»Und woher wollen sie das wissen?« Layla ging in dem kleinen Zimmer auf und ab und beschäftigte ihre Hände damit, die exotischen Topfpflanzen zu gießen, die jede freie Fläche bedeckten. Zwar hatte sie das in den letzten Stunden schon zweimal getan, aber im Moment hatte sie andere Sorgen als ertrunkene Heilpflanzen. »Sie wissen gar nichts«, murmelte sie weiter und stellte den leeren Krug mit einem lauten Knall auf dem Schreibtisch ab. »Sie wiederholen doch nur das, was sie von irgendjemandem irgendwann einmal gehört haben!«
»Das stimmt«, pflichtete ihr Hana bei und zog die Beine an. »Keiner konnte mir sagen, woher die Informationen stammen. Aber du weißt ja, wie das mit solchen Sachen ist. Irgendjemand erzählt etwas und der nächste setzt noch eins drauf. Wahrscheinlich geht es eigentlich um diesen Jungen, den wir gestern gesehen haben. Er heißt nur zufällig auch Zahid und jemand hat etwas falsch verstanden.«
Layla hielt inne und lächelte ihre Freundin dankbar an. Sie versuchte sie aufzuheitern, aber das hieß nicht, dass sie ihre eigenen Worte glaubte. Oder dass Layla das auch nur ansatzweise tat.
»Aris weiß auch nichts.« Hana sagte das so schnell, dass es offensichtlich war, dass sie diese Information schon längst hatte loswerden wollen. »Ich habe ihn gefragt -«
»Du hast mit ihm geredet?«, unterbrach Layla sie und konnte nicht verhindern, dass sie anfing zu grinsen.
»Sag ich doch!«, fauchte Hana und Röte stieg in ihre Wangen. »Aber er weiß auch nichts. Nur das, was alle wissen.« Sie zuckte entschuldigend die Achseln, bevor sie sich zur Seite drehte und ihr Gesicht in einem bestickten Kissen vergrub. Layla hörte sie etwas murmeln, verstand aber kein Wort.
»Was?«, fragte sie lachend und zog an dem Kissen.
»Er hat gesagt, er wird sich für mich umhören und wenn er etwas weiß, sagt er es mir. Außerdem gehen wir morgen Nachmittag zusammen auf den Bazar«, fügte sie schnell hinzu und ihre Wangen wurden noch eine Spur röter, als sie mit einem Auge zu Layla hinauf linste.
Jetzt lachte Layla laut auf. »Du hast wirklich mit ihm geredet!«
»Sag ich doch!« Hanas Stimme sollte wahrscheinlich beleidigt klingen, aber das glückliche Lächeln auf ihrem Gesicht ließ es nicht überzeugend wirken.
»Also weiß zumindest niemand von den Schülern, woher das Gerücht kommt«, sagte Layla und wurde wieder ernst. »Aber die Lehrer kannten es schon vorher. Ich habe Ahmed und Médéa belauscht.«
»Wirklich? Wann das? Und was haben sie gesagt?«
»Heute früh vor Ahmeds Unterricht. Sie haben nur gesagt, dass Zahid vielleicht noch lebt. Aber gleichzeitig haben sie es als Gerücht abgetan. Und bevor du etwas sagst, ja, sie haben wirklich meinen Bruder gemeint, da bin ich mir ganz sicher.«
Hana runzelte die Stirn. »Wenn sie wirklich etwas wüssten, warum sollten sie es dir verheimlichen? Und deinem Vater.«
»Vielleicht haben sie es ihm schon längst gesagt? Er hat noch nicht auf meinen Brief geantwortet«, sagte Layla und biss sich auf die Unterlippe. »Und ich weiß nicht, ob ich will, dass er überhaupt etwas hört. Es ist doch bestimmt nur ein dummes Gerücht!«
Obwohl sie es Stunden zuvor noch als Gerücht abgetan hatte, achtete Layla die nächsten Tage über auf jeden Gesprächsfetzen, der den Namen ihres Bruders, ihren eigenen oder auch nur annähernd eine Verbindung zu ihrer Familie enthielt. Sie gab Hana den gleichen Auftrag und die beiden wurden schnell fündig.
»Es reden wirklich alle«, stellte Hana fest, als sie sich eines Abends nach dem Unterricht wieder in Laylas Zimmer trafen. »Zwar scheint niemand etwas Genaues zu wissen, aber dass irgendetwas passiert ist, weiß die ganze Schule.«
»Die ganze Stadt«, korrigierte Layla. »Ich war gestern und vorgestern auf dem Bazar. Die Händler reden auch. Aber sie spekulieren nur. Dass er noch lebt, scheint allen klar zu sein. Sie fragen sich nur, wie es sich für sie auswirken könnte. Hast du denn nichts gehört, als du mit Aris dort warst?«
Hana lächelte verlegen. »Nein, tut mir leid. Ich habe ehrlich gesagt auch nicht darauf geachtet ...« Ihre Stimme wurde leiser und über ihre Wangen legte sich die inzwischen vertraute Röte. »Aber ich verstehe auch nicht, warum sich irgendjemand darum kümmern sollte, ob Zahid noch lebt oder nicht! Für dich und deinen Vater wären es gute Neuigkeiten, aber was hätte zum Beispiel der Gewürzhändler davon?«
Layla seufzte und griff an die drei Glasperlen an ihrer Halskette, die ihr Vater ihr vor Jahren zum Geburtstag gemacht hatte. »Ich weiß es nicht. Zahid war mein Bruder, aber ich weiß auch nur das, was man sich seit Jahren erzählt!« Frustriert ließ sie sich auf den Stuhl fallen und starrte ins Leere.
»Hat dein Vater dir denn nie gesagt, was damals wirklich passiert ist?«
Layla schüttelte den Kopf. »Er redet nicht darüber. Zahid ist verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Kurz davor ist meine Mutter gestorben. Ich glaube, er will sich einfach nicht damit beschäftigen und es ist einfacher, ihn für tot zu halten.« Sie lachte bitter. »Ich meine, ich musste erst hierher kommen, um zu erfahren, dass ich überhaupt einen Bruder habe! Selbst nachdem ich zu Hause versehentlich die erste Lichtschliere produziert habe, hat er es mir nicht gesagt! Er wollte mich von alldem hier -« Sie machte eine Handbewegung, die die Akademie einschloss. »fern halten. Und ich bin mir nicht einmal sicher, warum.«
»Weil dein Bruder verschwunden ist«, sagte Hana sachlich. »Er wollte verhindern, dass es dir auch so ergeht. Schließlich weiß niemand, warum er eigentlich verschwunden ist. Es könnte doch auch etwas mit der Schule zu tun haben, oder?«
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich will das alles trotzdem von meinem Vater hören. Er muss doch ebenfalls gemerkt haben, dass Gerüchte umgehen. Jetzt hat er keine Ausrede mehr, mir nicht alles zu erzählen, oder?«
* * *
Sie hielt sich nicht lange mit Vorbereitungen auf. Am nächsten Nachmittag nach dem Unterricht ließ sie die Akademie und damit den nobleren Teil von Enés hinter sich und lief hinunter in die Vororte. Je weiter sie in die Gassen vordrang, desto mehr wurden die Sphären von großen Feuerbecken als Lichtquellen abgelöst. Hier waren die Handwerker zu Hause und ihre schmutzige Arbeit lag so weit von den repräsentativen Orten der Stadt entfernt wie möglich. Laylas Vater war Glasbläser und arbeitete und wohnte in einem niedrigen Lehmhaus nahe der Stadtmauer, seitdem sie denken konnte. Wie überall in den ärmeren Stadtteilen waren auch dort die Mauern von den Feuern geschwärzt, und der Geruch von Rauch vermischte sich mit dem, der aus dem Gerberviertel herüber drang. Hier sähe es noch so aus wie vor der Dunkelheit, sagte ihr Vater manchmal mit Wehmut in der Stimme. Die hübsch anzusehenden Sphären und ihre Macher drangen nicht oft in diese Stadtteile vor. Hier war es egal, ob irgendwo am anderen Ende der Stadt jemand Licht erschaffen konnte oder nicht. Hier könnte es sich ohnehin niemand leisten.
Layla trat aus dem Gewirr der Gassen heraus und sah die Tür der Glasbläserwerkstatt offen stehen. Schnell überquerte sie den flachgetretenen Rasen, blieb dann aber doch abwartend im Türrahmen stehen. Die Gestalt ihres Vaters hob sich schwarz von dem orangen Feuer hinter ihm ab. Er hob eine lange Stange an die Lippen und drehte sie hin und her, während der weiß glühende Ball an ihrem Ende langsam Form annahm.
Er macht Sphären auf seine Art, dachte Layla, und ließ ihren Blick über die Gläser, Scheiben und Arbeitsstücke gleiten, die an den Wänden aufgereiht waren. Ibrahim erledigte nicht nur Auftragsarbeiten. Das würde ihn nicht ausfüllen. Neben den Glasscheiben für die Gewächshäuser und den Gläsern und Karaffen für die Oberschicht formte er Schmuck und Kunstgegenstände für sich selbst. Er liebte seine Arbeit und legte seine Seele in jedes Stück.
Sie wartete, bis das Werkzeug zum Auskühlen in einem Wassertrog lag, und machte sich dann bemerkbar.
»Hallo, Vater.«
Das Lächeln, das sich auf dem Gesicht ihre Vaters ausbreitete, steckte sie an.
»Layla!« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, kam auf sie zu und drückte sie mit starken Armen an sich. »Was treibt dich hierher? Hast du schon genug von der Schule?«
Sie musste schmunzeln, als sie das hoffnungsvolle Aufblitzen in seinen Augen sah. »Nein«, lachte sie. »Tut mir leid.«
Er winkte ab.
»Aber genau darüber würde ich gern mit dir sprechen. Und über Zahid.« Bei der Erwähnung des Namens verschwand das Lächeln schlagartig aus dem Gesicht ihres Vaters und machte Überraschung und Verwunderung Platz.
»Zahid?«, fragte er langsam.
»Mein Bruder, der verschwunden ist, als er auf der Akademie war.« Ihr Vater nickte fahrig, als erinnere er sich nur langsam. Layla sprach schnell weiter: »Ich mache dir keine Vorwürfe, dass du mir nie von ihm erzählt hast, Vater. Aber ich will wissen, was damals geschehen ist. Die Leute reden.«
Letzteres fügte sie nur widerstrebend hinzu. Sie wollte nicht, dass ihr Vater sich unnötig Hoffnungen oder gar Sorgen machte.
»Ich verstehe.« Ibrahim fuhr sich abermals über die Stirn und blickte Layla aus seinen dunklen Augen an. »Gib mir ein paar Minuten. Geh und mache Tee, ich komme gleich nach.«
Damit drehte er sich zum Feuer und begann, sorgsam seine Werkzeuge wegzuräumen.
Layla sah zu, wie die Teeblätter in der bauchigen Glaskanne schwammen, als ihr Vater die Küche betrat. Er hatte sich gewaschen und trug nicht mehr die verschwitzte Arbeitskleidung. Nur das Grau, das seine Haare und Bartstoppeln durchzog, war immer noch da.
Er setzte sich Layla gegenüber an den Tisch und sah ihr direkt ins Gesicht. An der Art seines Blicks erkannte sie, was er dachte. Sie war das letzte Familienmitglied, das er noch hatte, und sie hatte genau den Weg eingeschlagen, von dem er sie hatte abhalten wollen.
»Was reden die Leute?«, fragte er wie beiläufig und goss den Tee in die bereitgestellten Tassen. Layla fragte sich, ob irgendeine Nachricht ihn von seiner Meinung, dass Zahid tot sei, abbringen könnte.
»Ich habe Lehrer gehört, die behaupten, Zahid sei noch am Leben. Ich habe geglaubt, er sei tot. Du hast mir nie etwas anderes gesagt.« Es klang wie ein Vorwurf, auch wenn es nur der Wahrheit entsprach.
»Er ist tot, Layla!« Ibrahim griff nach ihrer Hand. »Dein Bruder ist vor über elf Jahren verschwunden und niemand hat je wieder etwas von ihm gehört.«
»Aber warum? Er kann sich doch nicht von einem Tag auf den anderen einfach in Luft aufgelöst haben! Es muss etwas passiert sein.«
Mit Unbehagen sah sie zu, wie ihr Vater unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Er mied ihren Blick.
»Das stimmt. Natürlich ist er nicht einfach verschwunden. Er wurde entführt.«
»Entführt?«, fragte Layla erstaunt. Sie hatte damit gerechnet, dass Zahid einfach beschlossen hatte, der Stadt den Rücken zu kehren und sein Glück anderswo zu suchen. Eine Entführung war ihr nie in den Sinn gekommen. »Von wem soll er denn entführt worden sein? Wem hat er etwas getan?«
»Niemandem!«, sagte Ibrahim schnell. »Keiner weiß, was das Motiv war. Ich glaube, nicht einmal deine Lehrer wissen es. Obwohl eine ihrer Kolleginnen die Täterin war.«
»Was?« Vor Überraschung stellte Layla die Teetasse, die sie gerade an die Lippen heben wollte, zurück auf den Tisch. Heißer Tee schwappte über den Rand und hinterließ einen nassen Fleck auf der Tischplatte. »Eine Professorin hat Zahid entführt? Aber das macht doch keinen Sinn!«