Die Liebe in Gedanken - Peter Michalzik - E-Book

Die Liebe in Gedanken E-Book

Peter Michalzik

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine atemberaubende Liebesgeschichte in Briefen. Sommer 1926: Boris Pasternaks Leben in Moskau ist bestimmt von Familiendramen und der Suche nach seiner Künstlerrolle innerhalb der UdSSR. Marina Zwetajewa lebt im Exil in Paris, streitet mit der russischen Emigrantengemeinde und macht Ferien am Meer. Rainer Maria Rilke liebt und leidet in der Schweiz. Ihr schriftlicher Gedankenaustausch entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte zu dritt. Peter Michalzik hat die außergewöhnliche Verbindung dieser drei großen Künstlerfiguren erkundet und lässt ihre Stimmen auf faszinierende Weise hörbar werden. Sein Buch zeichnet einen Höhepunkt der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte nach, mit zahlreichen bisher nicht übersetzten Briefen. Es ist das beeindruckende Zeugnis einer Welt im Umbruch. „Michalzik erzählt einfühlsam, uneitel, klug und unterhaltsam.“ Die Welt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 470

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Peter Michalzik

Peter Michalzik, Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in München und war Theaterkritiker und Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Rundschau«. Er veröffentlichte Biografien über Gustaf Gründgens, Siegfried Unseld und Heinrich von Kleist. Peter Michalzik arbeitet am Mozarteum Salzburg und ist Gastprofessor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, wo er mit seiner Familie lebt.

Informationen zum Buch

Eine atemberaubende Liebesgeschichte in Briefen.

Sommer 1926: Boris Pasternaks Leben in Moskau ist bestimmt von Familiendramen und der Suche nach seiner Künstlerrolle innerhalb der UdSSR. Marina Zwetajewa lebt im Exil in Paris, streitet mit der russischen Emigrantengemeinde und macht Ferien am Meer. Rainer Maria Rilke liebt und leidet in der Schweiz. Ihr schriftlicher Gedankenaustausch entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte zu dritt. Peter Michalzik hat die außergewöhnliche Verbindung dieser drei großen Künstlerfiguren erkundet und lässt ihre Stimmen auf faszinierende Weise hörbar werden. Sein Buch zeichnet einen Höhepunkt der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte nach, mit zahlreichen bisher nicht übersetzten Briefen. Es ist das beeindruckende Zeugnis einer Welt im Umbruch.

»Michalzik erzählt einfühlsam, uneitel, klug und unterhaltsam.« Die Welt

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Peter Michalzik

Die Liebe in Gedanken

Die Geschichte von Boris Pasternak, Marina Zwetajewa und Rainer Maria Rilke

Inhaltsübersicht

Über Peter Michalzik

Informationen zum Buch

Newsletter

Teil Eins: 1918–1925

Das Treffen Vorgeschichte, Januar 1918

Vom diskontinuierlichen Vergehen der Zeit 1918 bis 1925

Teil Zwei: März, April 1926

Sie und Du Moskau, 10. März

Zweifel Paris und Val-Mont, 25. bis 27. März

Endgedicht Moskau, 21. bis 27. März

Kleiner Exkurs über die Liebe

Vom Zimmer Paris, 6. April

Teil Drei: April 1926

Ich und Du und Rilke Paris, 9. April

Historiograph Moskau, Februar bis April

Zweiter Exkurs über die Liebe

Familienkomödie Moskau, 21. März bis 14. April

Dritte Person Moskau, 12. April

Exkurs über die Bedeutung Rilkes für Pasternak

Flut Moskau, 14./15. April

Krankheit Val-Mont, April

Teil Vier: Ende April bis Juni 1926

Soll ich kommen? Saint-Gilles-sur-Vie, Moskau, Val-Mont, 20. April bis 2. Mai

Exkurs über Brief, Traum und Engel (Liebesboten)

Zu dritt Saint-Gilles-sur-Vie, Val-Mont, Moskau, bis 10. Mai

Leib und Liebe Val-Mont, Saint-Gilles-sur-Vie, 12. bis 17. Mai

Marinas Schweigen Moskau, 18. bis 23. Mai

Exkurs über das Jahr 1926 (Liebe)

Hin und her, das Meer Saint-Gilles-sur-Vie, 22. bis 26. Mai

Rilkes Elegie Muzot, 1. bis 8. Juni

Teil Fünf: Juni bis Dezember 1926

Boris’ Angst, Marinas Schuld Moskau und Saint-Gilles-sur-Vie, 5. bis 14. Juni

Letzter Exkurs über die Liebe

Unteilbar Moskau und Saint-Gilles-sur-Vie, 21. Juni bis Ende Juli

Einfach – schlafen Bad Ragaz, 20. Juli bis Ende August

Abschiede Saint-Gilles-sur-Vie, Paris, Moskau und Schweiz, August bis Dezember

Anhang

Editorisches Nachwort

Literatur

Anmerkungen

Dank

Impressum

Wiederum für Bernadette

Selbst wenn man sich immer wieder in diese Geschichte versenkt, es bleibt eine der seltsamsten Liebesgeschichten, die es jemals gegeben hat. Die Geschichte ist wahr, sie hat im Frühjahr und im Sommer 1926 stattgefunden. Aber sie spielt nur im Kopf. Die Köpfe befinden sich an weit voneinander entfernten Orten: Moskau, Schweiz, Paris und am Atlantik. Um die drei Köpfe herum tost der Sturm der Weltgeschichte. Sie aber lieben sich, lieben sich leidenschaftlich, schicken beschriebenes Papier hin und her und ihre Gedanken bringen sie fast um den Verstand …

Teil Eins 1918–1925

Das Treffen Vorgeschichte, Januar 1918

In den letzten Tagen des Januar 1918 versammelten sich in der Moskauer Powarskaja 9 einige russische Schriftsteller. Es war das Haus von Michail Ossipowitsch Zetlin, Angehöriger der reichen Tee-Dynastie Wissozkij. Zwei Zeiten trafen hier aufeinander, es versammelten sich nicht nur Dichter einer Gruppe, wie es in den Künstlervereinigungen, Caféhäusern oder Schriftstellerversammlungen in Moskau und Petersburg sonst üblich war, es waren zwei Lager, die im Hause Zetlin zusammenkamen. Diese beiden Lager waren einander nicht unbedingt feindlich gesonnen, aber sie hatten sich wenig zu sagen. Es waren Symbolisten und Futuristen, die Vertreter der Vergangenheit und die Abgesandten der Zukunft. Niemand konnte wissen, was der gemeinsame Abend bringen würde.

Entsprechend beäugten sich die beiden Seiten. Die Symbolisten Balmont, Baltrušaitis, Belyj und Iwanow waren unter den Gästen nicht schwer auszumachen. Der fünfzigjährige Konstantin Balmont saß bequem nach hinten gelehnt in einem der zahlreichen Zetlinschen Sofas. Sein ausladender Oberlippenbart, sein spitzer Kinnbart und sein langes, nach hinten frisiertes Haar zogen die Blicke an. Balmont sah tatsächlich aus wie eine Figur vergangener Jahrhunderte. Er richtete sich auf und blickte sich um, damit jeder sähe, wie dämonisch er schauen konnte. »Stolz wie der Gedanke eines Europäers, schön wie ein südliches Märchen und nachdenklich wie eine slawische Seele«, hatte man über seine Gedichte gesagt. So wollte er auch als Mensch wahrgenommen werden.

Dieser Balmont war eine typische Figur der russischen Oberschicht des 19. Jahrhunderts. Er stammte aus einer adligen Gutsbesitzerfamilie und hatte viel Zeit im Ausland verbracht. Er hatte viel geschrieben, vor allem jene dekadenten Gedichte, in denen die Futuristen eher modriges Parfum als die Luft echten Lebens rochen.

Auf dem Meeresgrund breiten Unterwasserpflanzen bleiche Blätter aus. Und recken sich, wachsen, wie Gespenster, im Schweigen des düsteren Dunkels.

Balmonts Freund Jurgis Baltrušaitis stand neben ihm. Er war Litauer und Literat. Obwohl dieser Baltrušaitis wie immer düster und verbissen schaute, obwohl er ein massives, massiges Gesicht hatte, mürrisch nannte es Belyj, war er in Wirklichkeit ein freundlicher, bescheidener Mensch.

Andrej Belyj dagegen, eine Generation jünger als Balmont und Baltrušaitis, war inzwischen der Star unter den Symbolisten. Sein Talent war sogar für die Futuristen über jeden Zweifel erhaben. Es gab hier niemanden, egal aus welchem Lager, der Belyjs Inspiration und Kreativität infrage gestellt hätte. Wie Balmont war er weltgewandt, viel gereist und entstammte einer Adelsfamilie. In seinem Fall kamen ausgeprägte geistige Neigungen hinzu. Wie sein Vater hatte er Mathematik studiert. Darüber hinaus war Belyj ein großer Erotiker. Zum Zeitpunkt des Treffens bei den Zetlins war er in zwei Dreiecksverhältnissen engagiert. Manche der Versammelten wussten von den Liebesbeziehungen, niemals wäre jedoch jemand auf die Idee gekommen, ihm das zum Vorwurf zu machen oder sich darüber aufzuregen.

Neben Belyj saß die schöne Malerin Margarita Sabaschnikowa, mit ihrem schmalen, feinen Gesicht und ihrer roten Haarmähne. Auch sie hatte bis vor Kurzem ihr Leben im Ausland verbracht. Genauso wie die junge Marina Zwetajewa, die schon in Italien und Deutschland gelebt hatte. Zwetajewa, neben Sabaschnikowa eine der wenigen Frauen im Raum, schrieb seit Jahren Gedichte, hatte auch schon veröffentlicht, war aber noch unbekannt. Sie ging allein durch den Raum, gehörte weder zu den Symbolisten noch zu den Futuristen.

Belyj hatte eine Glatze und einen zerzausten Haarkranz. Manchmal wirkte er ein wenig irr, was seinem Image als Dichter nützte. Als Erstes fielen seine stechend blauen Augen auf. Außerdem war Belyj ein zum Religiösen neigender Mann. In den bedrohlichen Umwälzungen jener Jahre sah er vor allem das Hoffnungsvolle, die Revolution war ihm Möglichkeit geistiger und religiöser Erneuerung. Er war durchdrungen von der historischen, ja welthistorischen Bedeutung Russlands. Außerdem blieb an diesem Abend niemandem verborgen, dass Belyj ein großer Mystiker und leidenschaftlicher Anhänger von Rudolf Steiner war. Er sprach einfach zu gern von ihm und seiner Anthroposophie. Belyj liebte das Mystische in jeder Beziehung. Und so waren auch seine Gedichte beschwörende Buchstabenmagie.

Liebste, siehst du denn nicht, dass alles, was wir sehen, nur ein Abglanz, ein Schatten dessen ist, was Augen nicht schauen.

Es ging den Symbolisten nicht um das sichtbare, wirkliche Leben, es ging um den Schatten und sein Geheimnis. Ihre Dichtung war morbid, mystisch, erotisch und sehr poetisch. Ein Schauder durchzog ihre Verse. Magier wollten sie sein. So schrieben sie abgründig, sensibel und transzendent – und manchmal auch etwas aufgeblasen. Sie liebten den hohen Ton. Noch immer, auch in diesem Revolutionsjahr 1918, wehte ein Hauch des vergangenen Jahrhunderts durch ihre Poesie. Sie waren näher an dem, was hundert Jahre zuvor verfasst worden war, als an dem, was die Futuristen gerade schrieben.

Die Futuristen waren ebenfalls zahlreich vertreten: Antokolskij, Burljuk, Kamenskij, Assejew, Pasternak und Majakowski. Sie waren die neue Zeit, auch das war deutlich. Es waren bartlose Männer mit entschlossenen Gesichtern. Ihr Anführer war Wladimir Majakowski. Alle Futuristen, einschließlich seiner selbst, waren glühende Bewunderer Majakowskis. Der glühendste Bewunderer aber war der 27-jährige Boris Pasternak. Mit Hingabe hing er an den Lippen des Oberfuturisten.

Diese Futuristen, das waren ganz andere Kerle. Der »kleine Antokolskij«, wie er genannt wurde, war ein quicklebendiger Theatermann und Schauspieler, 21 Jahre jung. David Burljuk war eigentlich Maler, er hatte beim Blauen Reiter in München mitgemacht, vor allem aber war er hochbegabter Propagandist. Wassilij Kamenskij war nicht nur Poet, sondern auch Pilot. Nikolaij Assejew war neben Majakowski der führende Kopf der Bewegung. Alle waren sie moderne, manchmal laute Menschen, die an die Revolution glaubten und schnelle Verse in abgehackter Sprache schrieben.

Im Übrigen versuchte sich auch der Gastgeber als Dichter. Amari nannte er sich dann, der Dichtername war zusammengesetzt aus den gleichen Buchstaben wie der Vorname seiner Frau Maria. Zetlin schrieb Verse, Stücke, Prosa und übersetzte. Seine Familie, wenngleich steinreich, hatte eine bemerkenswerte Anzahl Sozialrevolutionäre hervorgebracht. Zetlin selbst hatte ebenfalls solche Neigungen, aber im Gegensatz zur aktiven und lebhaften Maria hatte er etwas Mattes. So jedenfalls sah es Ilja Ehrenburg, der ein paar Mal bei den Zetlins zu Gast gewesen war. Zetlin liebte die Schwermut. Er suchte, sein Leben in gleichmütiger Betrachtung der Dinge zuzubringen. Dafür aber, meinte der quirlige Ehrenburg, waren die Zeiten denkbar ungeeignet.

Ilja Ehrenburg war jung, er war modern, er schrieb, aber er war kein Futurist. Er war ein Medienmensch, gewandt und weltoffen. Auch er war im Ausland gewesen und war auf diesen Abend besonders neugierig. Wie stand es um die Dichtung im Russland der Revolution? So waren bei den Zetlins unterschiedlichste Menschen versammelt, alle aber hatten sie eines gemeinsam – sie schrieben.

Michail Ossipowitsch Zetlin liebte Einladungen, sein Haus war abends oft voll mit Menschen und man hatte das Gefühl, er mochte jeden einzelnen Besucher. Meist war es eine bunte Gesellschaft: Theosophen und Steiner-Jünger, Maler und Sammler, Schauspieler und Dichter. Pasternak war schon seit Jahren immer wieder bei den Zetlins zu Gast. Seit Moskau den Hunger kennengelernt hatte, waren die Einladungen des reichen und freigiebigen Zetlin noch beliebter geworden. Manche Gäste sprachen, anders als Zwetajewa und Pasternak, die beide keine großen Esser waren, den gereichten Speisen ausgiebig zu.

Bei dem Dichtertreffen Ende Januar gab es Tee und Wein, es gab Kalbfleisch in Béchamelsoße (sehr fein) und Stör (wie üblich, je größer desto besser), Fisch in Aspik (sehr traditionell) und mit Walnüssen gemästete Pute (was das Fleisch weiß machte). Und es gab selbstverständlich Kohlsuppe, Bliny oder Borschtsch. Das war nicht mehr das französische Essen, das war kein Champagner und kein Chablis, keine Austern und kein Roastbeef, mit denen sich Moskauer Mägen durch das 19. Jahrhundert geschlemmt hatten und wie es noch die Symbolisten liebten. Das war russisch. Das war jetzt typisch für Moskau.

An dem Abend sollte auch gelesen werden. Zunächst war der Symbolist Iwanow dran, dann kam der Futurist Burljuk. Keiner von beiden sorgte für größere Bewegung. Alle waren gespannt auf Majakowski. Er wollte »Der Mensch« vortragen. Majakowski hatte dieses lange Gedicht bereits vor der Oktoberrevolution geschrieben und hatte es, allerdings mit nur mäßigem Erfolg, in Petersburg vorgetragen. Trotzdem war an diesem Abend die Erwartung groß.

Als Majakowski sich erhob, schien sich ein Schatten über die Versammlung zu legen. Man spürte etwas Düsteres. Der Dichter blickte grimmig durch den Saal, jeder schaute ihn an. Die ihn gut kannten, wussten, wie furchtbar aufgeregt er war. Die anderen sahen den finsteren Hünen. Der Mann hatte etwas Imposantes und Bedrohliches. Als er sein Gedicht vorzutragen begann, erschien er wie ein sprechender Halbriese. Ein vor Energie und Kraft berstender Kerl mit blankem, gewaltigem Schädel.

Der Mensch, den Majakowski jetzt in seinem Werk besang, war dieser Hüne, war er selbst. »Majakowskis Geburt« heißt das erste Kapitel des Gedichts.

Und gerade ich,

ein niemals gesehenes Wunderding,

dessen jede Bewegung

ein unerklärliches,

großes Wunder ist,

darf den Spaß mir,

ein wenig zu prahlen, nicht gönnen?!

Betrachtet mich gründlich.

Bestaunt die fünfstrahligen Degen –

so was nennt man beim Menschen Arme.

Ich habe ein Paar davon.

Betrachtet den Fakt:

Man kann sie von rechts nach links

und von links nach rechts

bewegen –

ich wähl mir den schönsten Hals

und umarme ihn schon!

Öffnet des Schädels Schatulle –

dort blinkt der Verstand,

ein seltenes Juwel –

und nennt mir etwas,

wozu ich nicht fähig wär!

Der Mensch, das war Majakowski, das war aber auch jeder, der ›Ich‹ sagen konnte. Majakowskis Verse hatten nicht viel mit der Revolution zu tun, aber sie waren von einem solchen Optimismus, von einem solchen Selbstbewusstsein, sie wirkten so modern, die Auffassung des Menschen war so neu und direkt und klar, der Mensch schien zum Greifen nah, dass damals viele das Gefühl hatten, die Stimme der neuen Zeit zu hören. Das war Gegenwart. Er, der Mensch, schrieb Majakowski, sei das Wunder des 20. Jahrhunderts.

Das Gedicht ist ein stürmischer Preisgesang eines konkreten, arbeitenden Wesens. Der Mensch war einfach ein Mensch, der schläft, der isst, der Tee trinkt, der durch die Straßen geht und arbeitet. Und er war Majakowski. Das nächste Kapitel »Leben Majakowskis« war dann wie ein Schock: Gold, Geldrausch, leeres Dasein! Geld zerstört die Welt! Der Mensch war bedroht. Es folgte »Majakowskis Himmelfahrt«, darauf »Majakowski im Himmel«, wo er sich langweilte – und »Majakowskis Wiederkehr«: zurück auf die Erde.

Die Zuhörer waren fassungslos. Noch nie hatten sie so etwas gehört. So auftrumpfend, so anmaßend, so bebend! Es ging bis in den Himmel und war doch so diesseitig. Der junge Ehrenburg schaute sich um. Balmont fühlte sich unwohl. Er verstand sehr wohl, was hier vor sich ging, etwas Neues, Großes zeigte sich, aber er verstand es nicht. Iwanow, dessen Lesung keine nennenswerten Reaktionen hervorgerufen hatte, nickte hin und wieder wohlwollend. Bei Baltrušaitis konnte Ehrenburg gar keine Reaktion erkennen. Das überraschte ihn nicht, so kannte er den Litauer. Vor allem Belyj, der mit der Sabaschnikowa in Majakowskis Nähe saß, schien hingerissen und ganz Ohr. Außerdem bemerkte Ehrenburg, wie verliebt der junge Pasternak den noch jüngeren Majakowski ansah.

Menschenliebe, Geschichtsphilosophie, Überlegenheitsgefühl – noch nie waren sie auf solche Weise verbunden worden. Majakowskis Langgedicht, Poem sagen die Russen dazu, war etwa dreißig Seiten lang. Zurück auf der ersehnten Erde landete »Majakowski« im Krieg. Die Stadt, aus der er kam, war vernichtet. Schüsse, dazwischen Stille. Menschen aber lebten noch. An einer geliebten Stelle seiner ehemaligen Stadt wird »Majakowski« angestarrt, als wäre er ein Geist. Majakowski-Straße heiße die Straße schon tausend Jahre, nach demjenigen, der sich damals vor dem Haus der Geliebten erschossen habe. »Was, ich soll mich erschossen haben?« Tatsächlich, »Majakowski«, der Poet, war schon lange aus dem Leben verschwunden, in seiner Wohnung lebte ein Ingenieur. Darin lag eine Ahnung der berühmten sowjetischen Wendung vom Künstler als »Ingenieur der menschlichen Seele«, die ab den 1930er-Jahren gebraucht werden würde. Am Ende des Gedichts steht »Majakowski« allein – und Liebe zu allen Menschen überkommt ihn.

Als der Dichter die Lesung seines Poems beendet hatte, schaute er wieder finster. Majakowski war Streit mit seinem Publikum gewohnt und schien ihn sogar zu suchen. Da sprang Belyj auf, hocherregt, brachte aber kein Wort heraus. Manchem schien er blass vor Aufregung. Auch der Sabaschnikowa neben Belyj rauschte es im Ohr. Sie mochte weder das Ungestüme noch das Arrogante Majakowskis, aber sie war von der Dynamik seiner Sprache hingerissen. Majakowski, dachte sie, schwimmt in der Sprache und beherrscht sie.

Da fand auch Belyj seine Sprache wieder: »Ich konnte mir bisher nicht einmal vorstellen, dass in Russland um diese Zeit ein Poem von solcher Gedankentiefe und Gestaltungskraft geschrieben werden kann«, rief er. In Russland, in dieser Zeit! »Nach langer Zeit gibt es wieder ein großes russisches Poem. Diese Arbeit bewegt die gesamte Weltliteratur ein gewaltiges Stück vorwärts.« Es war ein Symbolist, der das sagte! Da berührten sich die Lager. »Das ist wirklich Poesie und das heißt, es gibt keinerlei Grenzen zwischen Futurismus und Symbolismus, sondern nur Poesie.«

Warum wurde die Versammlung bei den Zetlins eines der legendären Dichtertreffen, von dem später immer wieder erzählt wurde?

Majakowski war entschieden, klar, positiv. Fast ein Jahr lang, seit Februar 1917, hatte sich die Geschichte in Russland nun nicht entscheiden können, in welche Richtung sie sich bewegen sollte. Was später folgerichtig und notwendig erschien, war damals unklar und offen. Es war das vierte Jahr des Krieges, es war ein schrecklicher Winter, es waren die Wochen nach der Revolution. Es war wie ein Riss in der Zeit.

Überall war die Sehnsucht nach Frieden übermächtig, fast genauso stark aber war die Überzeugung, dass die alten Machtstrukturen keine Bedeutung mehr hatten. Das demokratische Amerika war in den Krieg eingetreten, überall gab es pazifistische Friedensinitiativen und in Russland war der Zar Vergangenheit. Das Wort Morgenröte wurde überall verwendet. Bolschewiken hatten die Macht übernommen. Eine neue Welt war denkbar geworden. Es war einer jener bewegenden Momente, in denen man wirklich glauben konnte, dass sich etwas ändern würde.

Tatsächlich ruhte die Hoffnung der Menschheit in diesem langen Jahr, das nun zu Ende ging, auf Russland. Die russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 hatten gezeigt, dass alles möglich war. Arbeiter, Soldaten und Bauern waren immer selbstbewusster geworden. Gleiche Bürgerrechte, gleiche Rechte für alle. Ein zukunftsfroher Geist hatte das kriegsmüde Land beseelt.

Im Westen wirkte dieselbe Kraft. In den Wiener Rüstungsbetrieben wurde im Januar 1918 die Arbeit verweigert, in Berlin und anderswo in Deutschland protestierten und streikten Ende des Monats mehr als eine Million Arbeiter. Demokratie und Parlamentarismus schienen zum Greifen nah. Keine Kriegsreparationen, keine Annexionen: Überall schlossen sich Arbeiter, Soldaten und Bauern den revolutionären Vorstellungen an. Das Selbstbestimmungsrecht war eine machtvolle Verheißung. Es meinte sowohl den Einzelnen als auch die Völker, damals hatte das Wort Volk noch einen verheißungsvollen Klang. Warum sollte die Welt nicht ein besserer Ort werden können? In Russland versuchte man es. Man konnte die Welt aus den Angeln heben und auf ein neues Gleis setzen!

Während sich in Moskau die Dichter bei den Zetlins trafen, verhandelten die Sowjets, jene neue Räteregierung, die niemand einschätzen konnte, und die deutsche Heeresleitung, die sich noch in einer souveränen Position wähnte, über einen Separatfrieden. Deutschland stellte maximale Forderungen an die revolutionsgeschwächten Russen. Es verlangte enorme russische Gebietsabtretungen, zu denen die Ukraine, das westliche Litauen und das Gebiet eines wieder zu gründenden polnischen Staates gehören sollten. In diesen Gebieten lebte ein Drittel der russischen Bevölkerung. Lenin war trotzdem für die Annahme. Trotzki, der russische Verhandlungsführer, zögerte aber eine Entscheidung immer wieder hinaus. Er hatte die Hoffnung, dass Deutschland durch einen Aufstand von innen her demnächst zusammenbrechen würde.

Die Geschichte hatte sich Russland als Spielfeld ausgesucht. Ein Jahr lang war die Partie nun schon offen. Es war ein Moment der Möglichkeiten, die Geschichte schien daran mehr Interesse zu haben als an der Wirklichkeit. Vor einem Jahr hatte die Revolution begonnen, seitdem war Russland ein Provisorium, eine Versuchsanstalt.

Man sprach vom freiesten Land der Erde. Was heute gilt, kann morgen ganz anders sein. Als Nichts wachst du auf, als Revolutionär gehst du zu Bett. Als Bürger gehst du aus dem Haus, als toter Mann kommst du zurück. Es war ein furchtbarer und ein faszinierender Moment. Die Geschichte war sozusagen nackt. Die Zeit selbst wurde spürbar, offen und gewaltig. Niemand wusste, wer handelt. Sind es geheime Gesetze, die am Ende die Dinge bestimmen, sind es die Entscheidungen der Personen, die dann historisch werden? Man weiß es nicht. Die Freiheit war berauschend, überwältigend, ungewiss – und sie erfasste jeden.

Boris Pasternak war dafür besonders empfänglich. Er wollte den Atem der Geschichte spüren. Bei dem Dichtertreffen hatte er sich alles, vor allem aber Andrej Belyj, genau angesehen. Er bewunderte und respektierte ihn fast genauso wie Majakowski, den er liebte, der sein Freund war. Er fühlte sich Belyj nah, denn für Pasternak blieb Dichtung eine Sache des Herzens. Darin war er altmodisch. Er war berührt von Belyjs Begeisterungsfähigkeit und dem Reichtum seiner inneren Welt. Er sei, während die anderen doch irgendwie bei sich blieben, selbstvergessen gewesen und sei fortgetragen worden von Freude über dieses Gedicht Majakowskis, schrieb Pasternak viele Jahre später über den damaligen Moment.

Pasternak hatte gespürt, es war die Zeit, die aus Majakowski sprach. Hier sprach diese nackte Gewalt, die seit einem Jahr durch die Straßen fegte und die man Geschichte nennt. Hier sprach der Optimismus eines neuen Selbstbewusstseins. Hier sprachen der kleine Mann und der große Held. Hier sprach die Geschichte, die sich nun in Petersburg, Moskau und überall im Land so grauenerregend und berauschend zugleich zeigte. Das war es, was die Anwesenden spürten und was den Moment bedeutsam machte.

Trotzdem wurde nach der Lesung weniger über das Gedicht gesprochen, als man meinen möchte. Die Dinge des Alltags, die Sorgen, der Krieg, der Hunger, die Kälte, die Roten, die Weißen, die Politik, die Beziehungen, der Klatsch, vieles drängte in den Vordergrund. Aber es blieb das gemeinsame Gefühl für den historischen Augenblick. Es blieb das Gefühl, einem besonderen Moment beizuwohnen, einem, in dem sich kristallisierte, was alle erlebten, einem Moment echter Gegenwart, in dem sich zwei Zeiten berührten, das alte und das neue Russland.

***

Auch die junge Marina Zwetajewa spürte das. Sie rauchte immer viel, an diesem Abend aber besonders viel. Man merkte, so, wie sie in ihrem blauen schlichten Kleid aufrecht und ungeschützt dastand, dass sie selbstbewusst und fest wirken wollte. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie wirkte fahrig und nervös. Sie gleicht wieder einmal einem auf Abstand bedachten Fräulein und zugleich einem Burschen vom Lande, dachte Ilja Ehrenburg. Er mochte die Zwetajewa, er fühlte sich zu ihr hingezogen, aber er fand auch, sie sei eine merkwürdige Mischung: überheblich und schüchtern zugleich.

Sie unterhielt sich jetzt mit dem »kleinen Antokolskij«. Vor ein paar Tagen hatte sie im Zug gehört, wie sich Soldaten eins seiner Gedichte über die Februarrevolution vorgelesen hatten. Sie war fasziniert gewesen. Die beiden waren sich in die Arme gefallen, als sie sich kennenlernten, sie befreundeten sich gerade, er schrieb genauso süchtig und viel wie sie. Jetzt erzählte er von seiner Begeisterung für das Theater und die Zwetajewa hörte ihm wieder fasziniert zu.

Auch Antokolskij liebte diese kleine Frau, die wie ein Junge und ein Mädchen war. Sie hatte schon verschiedenste Liebesverhältnisse gehabt, mit Frauen, mit jungen Männern, mit älteren Männern, aber niemand wusste, wie diese Verhältnisse waren: erotisch, körperlich, poetisch? Antokolskij liebte, wie klar die Zwetajewa sprechen konnte, wenn sie einmal in Fahrt war: »Ihre Sprache ist schnell, klar, deutlich. Jede Beobachtung, jeder Scherz, jede Antwort auf eine Frage erfolgt bei ihr in mühelos gefundenen, treffenden Formulierungen, die sich genauso leicht und ungezwungen zu einer Verszeile fügen können.« Er liebte diese Person, die so ganz Dichterin war: »Zwischen der alltäglichen, gewöhnlichen Marina und der Dichterin besteht kein Unterschied, die Entfernung zwischen beiden ist nicht zu erkennen und unbedeutend.«

Er war vernarrt in diese ungewöhnliche Frau: »Marina log niemals, niemals übertrieb sie. Ihr Gesichtssinn und Gehör waren anders als bei anderen Menschen, sie war auf ihre eigene Welle eingestimmt. Etwas Leichtes und Geflügeltes ging von ihrer ganzen Erscheinung aus. Sie war voll der Puschkinschen inneren Freiheit in ihrem ständigen, ruhelosen, kühnen Wollen. Wirklich liebte sie nur – nicht sich selbst, sondern die Sprache, das Wort, ihre Arbeit. Aber auch, vollkommen selbstlos, das Wort eines anderen.«

Den anderen Gästen fiel sie nicht nur durch die Zigaretten, die Unsicherheit und den Hochmut auf, sondern auch durch die Strenge ihrer einfachen Kleidung und ihre bergstiefelhaften Herrenschuhe. So streng sie aussah, so heftig sie sein konnte, so zurückhaltend war sie dennoch: Die Zwetajewa sprach damals nicht mit Andrej Belyj, den sie bewunderte, den sie schon lange las, den sie aber erst später in Berlin richtig kennenlernte. Auch mit Konstantin Balmont, mit dem sie später in Paris noch eine enge Freundschaft verbinden würde, wechselte sie nur wenige Worte.

Der junge Pasternak dagegen war aufgeregt und unterhielt sich mit allen. Er erinnerte sich mit Baltrušaitis an den Sommer, den sie vor vier Jahren gemeinsam in Tula verbracht hatten. Auch Iwanow war damals zugegen gewesen. Wie sich doch alles so überraschend entwickelte! Russland, der Krieg, die Revolution, Majakowski, Pasternak sprach über alles. Er zeigte Belyj offen seine Begeisterung für Majakowski, der übrigens mit seinem Bruder Alexander in eine Klasse gegangen sei. Er begrüßte Assejew, in dem er eine echte Künstlernatur sah. Er sprach angeregt mit David Burljuk, dem Futuristen der ersten Stunde.

Er unterhielt sich auch mit Marina Zwetajewa, er sagte ihr, dass er einen großen Roman schreiben wolle. Er benutzte dabei die Worte »Liebe« und »Heldin«. Balzac sei sein Vorbild. Zwetajewa fand das schön und richtig. Sie liebte heldenhafte Figuren. Weitergehende Worte wurden zwischen den beiden damals nicht gesprochen, sie machten kaum Eindruck aufeinander.

Zwetajewa, die wie die Symbolisten doch mit ganzer Seele dafür war, dass die Sprache des Inneren, der Psyche, des Traums wahrer war als die Sprache der Beschreibung, dass sie die einzige wahre Sprache war, hatte durchaus einen Sinn für die Schönheit und Verführungskraft der Körper. Sie liebte die Liebe und sie ahnte, dass in der Liebe das Fleisch am Ende immer stärker ist als der Geist und die Tugend. Sie machte eine originelle Beobachtung über die eigentümliche Kraft der Schönheit: Selbst im Finsteren liegt man lieber mit einem schönen Körper. Sie mochte über sich selbst nicht sagen, dass sie schön sei – aber im Geheimen hoffte und glaubte sie es. Tatsächlich war sie eine kaum zu übersehende Mischung aus femininen und männlichen Zügen.

Pasternak dagegen fand sich selbst hässlich, mit seinem asiatischen Gesicht, seinem zu kurzen Bein und dem orthopädischen Schuh mit dem hohen Absatz. Dabei war er ein großer, schlanker, stolzer und ausgesprochen interessant aussehender Mann. Aber sie mochten beide so schön oder interessant sein, wie sie wollten: Die beiden Körper empfanden an diesem Abend keine Anziehung füreinander.

Dabei waren sie Seelenverwandte. Beide hatten sich in ihrer Jugend den Symbolisten nahe gefühlt, beide waren heute weder Futurist noch Symbolist. Zwetajewa hatte zwar Verbindungen zu Symbolisten, aber sie ging ihre eigenen Wege. Pasternak hatte es ein paar Jahre mit den Futuristen versucht, er hatte wilde Nächte mit ihnen verbracht und großartige Diskussionen in ihrem Kreis erlebt, aber er löste sich mit seiner letzten Majakowski-Liebesaufwallung gerade von ihnen. Auch darüber sprachen die beiden nicht. Pasternak und Zwetajewa schrieben leidenschaftlich an ihren Gedichten, beide waren dabei, eine eigene poetische Sprache zu finden, und beide sagten darüber nichts zueinander.

Zwetajewa meinte später, dass sie damals den Dichter in Pasternak gespürt habe. Sie habe ihn sogar zu sich nach Hause eingeladen, er sei aber nicht gekommen. Pasternak behauptete noch ein paar Jahre später, sie sei ihm wegen ihrer Schlichtheit aufgefallen. Er habe ihre Begeisterungsfähigkeit und Radikalität geahnt. Und er habe ihre Eigenständigkeit gespürt. Darüber haben sie ebenfalls nicht gesprochen.

Sie sprachen auch nicht über die schwierige Stellung, die das Gedicht in Russland jetzt hatte. Literatur war bisher für jeden Russen, trotz Tolstoi, Tschechow und Dostojewski, das Gedicht. Nun aber entschieden sich junge Dichter aus irgendeinem Grund, Romane zu schreiben. Hatte das etwas mit der Geschichte, mit der Revolution, mit der Macht der Wirklichkeit zu tun? War die Prosa dafür besser geeignet? Sogar Belyj schrieb Erzählungen. Selbst Marina Zwetajewa, Dichterin durch und durch, lebenslang leidenschaftliche Poetin, hatte gerade Tagebuchaufzeichnungen in Prosa begonnen. War Prosa die Sprache der neuen Zeit?

Jede Zeit hat ihre eigene Sprache, jeder Zustand hat seine Sprache, jedes Ding hat seine Sprache. Es gibt in jeder Sprache unterschiedliche Sprachen, sie benutzen die gleichen Worte, aber sie haben wenig miteinander zu tun. Da ist, am Anfang, oft eine Sprache der Erde, eine Sprache, die aus der Erde emporzuwachsen scheint wie Pflanzen. Sie drückt sich durch Körper aus, sie ist Orten verbunden, sie ist der Natur nah.

Dann gibt es, zum Beispiel, die Sprache des Rechts. Man muss sich anstrengen, um sie zu verstehen, man muss sie immer wieder neu auslegen. Sie ist eine Sprache, die angewandt wird. Das machen die Richter. Es gibt eine Sprache der Medizin, die eigenständig ist und sehr schwierig sein kann, aber auch eine Verbindung zur Sprache der Erde und zu der der Körper haben muss.

Dann gibt es die Sprache der Macht. Sie ist unverkennbar und unerkennbar, überall und nirgends. Die Sprache der Macht ist nicht verständlich, aber unmissverständlich. Sie ist unbeugsam und unbiegsam. Sie sagt, wie die konkurrierende Sprache der Philosophie, was ist. Die Sprache der Macht kann sehr stark werden und alle anderen Sprachen erdrücken. Dann werden Propaganda, Taktik, Hinterlist ihre Werkzeuge. Zu ihr gehören Wut, Kampagne und falsche Behauptung.

Es gibt Sprachen des Selbst. Es gibt eine Sprache des Selbstmitleids, der Beschäftigung mit sich selbst ohne jede Selbsterkenntnis. Aber es gibt auch eine Sprache des Inneren, eine Sprache der Seele, die ewig zu sein scheint, wenn sie da ist, die einmal eine Sprache der Religion war, dann eine Sprache der Dichter wurde. Niemand vermochte diese Sprache damals so zu sprechen wie Rainer Maria Rilke. In dieser Sprache gab es keine Lüge, sie hatte Verbindung zur Sprache der Erde und zum Himmel. Das war damals die Sprache der Poesie.

Diese Sprache war über die vergangenen Jahrzehnte sehr stark gewesen, aber nun war sie am Welken. Weder Pasternak noch Zwetajewa verstanden das, aber sie spürten es. Auch darüber sprachen sie nicht miteinander.

Die Sprache ist größer, dachten sie beide, viel größer als wir.

Für Marina Zwetajewa gab es letztendlich nur eine Sprache, die Sprache der Liebe. Die Sprache der Liebe hatte ihre eigene Syntax, ihre eigene Rethorik, ihre eigenen Worte. Diese konnten im Gedicht und, wie sie glaubte, nur im Gedicht zusammenfinden. Ohne Gedichte keine Sprache der Liebe, ohne Liebe keine Gedichte. Auch Pasternak hatte gerade diese Sprache entdeckt, aber er war sich ihrer nicht so sicher.

Der größte Dichter der Sprache der Liebe war zu dieser Zeit tief verunsichert. Dem 43-jährigen Schriftsteller, Liebhaber und Dichter Rainer Maria Rilke fehlte die Inspiration. Er blieb offen und neugierig gegenüber Frauen, er schien weiter für Frauen und alle Arten der Liebe zu leben. Seine vornehmen Beziehungen zur Gräfin Thurn und Taxis oder seiner Verlegerin Katharina Kippenberg setzten sich fort. Bald würde seine sehr herzliche und enge Beziehung zu Nanny Wunderly beginnen, genauso wie die sehr sexuelle Liebe zu Claire Goll. Bald würde er Baladine Klossowska kennenlernen. Und irgendwann würde er sogar noch eine Beziehung zu einer Dichterin aus Russland erleben, aus dem Land, das er so tief verehrte … Rilke lebte für die Frauen, er lebte für die Liebe und er schrieb über die Liebe.

Aber jetzt hatte der Meister der Sprache der Liebe seine Sprache verloren. Er konnte sein wichtigstes Werk, die Duineser Elegien, einfach nicht zu Ende bringen. Das ging seit Jahren so. Seit Kriegsbeginn hatte Rilke in der Magengegend ein merkwürdiges, unbestimmbares Übelsein, seit Kriegsbeginn kam er mit den Elegien nicht weiter. Er hatte die Jahre des Krieges vorwiegend in München verbracht, aber diese Stadt war nicht mehr sein Ort. Er lebte in der andauernden Angst, eingezogen zu werden, oft befand er sich in einem Zustand der Lähmung. Rilke suchte nach einem Ort, an dem er das Gefühl hatte, bleiben zu können. Es war, als ob er den Boden unter den Füßen verloren hätte, als ob er wieder Verbindung zur Erde bekommen müsste, um schreiben zu können. Wo aber könnte das sein?

***

Das große Haus der Zetlins auf der Powarskaja (es steht bis heute), das Haus, in dem sich die Dichter Ende Januar 1918 versammelten, würde den Zetlins nur noch kurz als Zuhause erhalten bleiben. Es war ein merkwürdiges Haus, ein Wohnhaus, aber es sah mit der langen Reihe von großen, hohen Fenstern aus wie eine Mischung aus Fabrikhalle und Orangerie. Erbaut worden war es in den Jahren des Baubooms nach dem vaterländischen Krieg gegen Napoleon und dem Brand Moskaus. Vor der Jahrhundertwende, 1892, in den Jahren der nächsten großen Bauphase, als die Kaufleute die Herrschaft in Moskau übernahmen, war es saniert und im Jugendstil umgebaut worden. Zwanzig Jahre später hatten die Zetlins es erworben.

Vor ein paar Tagen (am 18. Januar) hätte in Petersburg im Taurischen Palais die verfassungsgebende Versammlung zusammentreten sollen. Lange dachte man, dass sich hier das Geschick Russlands entscheiden würde. Hier hätte das Ergebnis der Wahlen in Politik umgesetzt werden sollen. Unter undurchsichtigen Umständen war diese Versammlung dann aber von den Bolschewiken aufgelöst worden. Da begannen die Ersten zu begreifen: Die neue Regierung hatte keine Legitimität – aber sie hatte Macht. Diese Macht war keine gewachsene Macht, keine Macht der Verständigung, es war eine Macht der Willkür und vielleicht des Terrors. War Terror die neue Sprache der Macht?

Der Staat begann in diesen Tagen bereits ein System von Abgaben, Sondersteuern und Enteignungen zu etablieren. Privater Landbesitz wurde enteignet. Bürgerliche wurden zu erniedrigenden Arbeiten gezwungen. Es wurde ein Dekret erlassen, Wohnraum für Bedürftige zu öffnen. Darin sahen viele Bürgerliche das, was es in erster Line auch war: ein Mittel zu ihrer Demütigung.

Ende Januar, als das Dichtertreffen bei ihnen stattfand, wollten die Zetlins immer noch nicht glauben, dass es zum Schlimmsten kommen würde. Majakowski war da anderer Ansicht und er sagte es deutlich. Er könne sich nicht vorstellen, meinte er an diesem Abend, dass die Sache mit dem Tee noch lange so weitergehen würde. Die Wissozkijs, zu denen Zetlin gehörte, besaßen die größte Teehandelsfirma der Welt. Zetlin versuchte mit seinen Versammlungen und Einladungen die Stimmung aufrechtzuerhalten. Aber es war vorbei. Zwei Monate später würde er sein Haus verlassen müssen.

Die gewaltige, nackte, kraftvolle Zeit, in der das alles geschah, hatte eine Farbe: Sie war rot. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass fast alles von Rot bestimmt war. Rot war der Krieg. Rot war die Farbe des vernichtenden Feuers in diesem Krieg. Rot war auch das Auftauchen der Morgenröte, jener neuen Hoffnung, die damals so viele Menschen empfanden. Rot war die Farbe der sozialen Bewegung, die viele Länder erfasst hatte. Vor allem war Rot die Farbe der Erregung, der Hitze, der neuen Glut. Rot hieß der große Platz am Kreml. Rot wurde seit der Revolution der Oktober genannt. Rot waren die Fahnen und die Banner, die überall gehisst wurden, rot waren die Garden und rot war die Partei. Die gesamte Politik und Gesellschaft wurde rot in Russland. Es war das erste Mal, dass ein Land eine einzige Farbe hatte. Rot, alles war rot.

Marina Zwetajewa hatte das Bedrohliche dieser Farbe von Anfang an gespürt: »Und einschmeichelnd, fast freudig, wie ein guter Zauberer den Kindern, Bild für Bild – die ganze russische Revolution auf fünf Jahre im Voraus: Terror, Bürgerkrieg, Erschießungen, Straßensperren, Vendée, Verrohung, Gesichtsverlust, die entfesselten Geister der Naturgewalten, Blut, Blut, Blut …«. So hatte sie im November 1917 geschrieben.

Konnte Rot da auch noch ihre Farbe, die Farbe der Liebe und die Farbe der intensiven Empfindung, der Glut, bleiben?

Als der Vogelbeerbaum

Die Blätter verloren,

Flammte er rot:

Ich wurde geboren.

So war Rot vor zwei Jahren gewesen, als sie diese Zeilen geschrieben hatte. Rot war ihre Farbe gewesen. Aber nun schien sich das Farbspektrum zu ändern.

Als Pasternak an diesem Abend vor die Tür der Zetlins trat, waren der Gehweg und die Straße weiß. Er hatte viel geredet, jetzt hatte er das Bedürfnis nach Ruhe. Es ging ein leichter Wind, der ein paar Schneeflocken durch die Luft trug. Kleine Schneehügel auf der Straße erinnerten an die vergangenen Tage mit ihren Unruhen und Straßenkämpfen. Es waren die herausgerissenen Pflastersteine, die mit Schnee bedeckt zu Hügelchen wurden. Die kahlen Linden, die zu beiden Seiten der Powarskaja standen, waren schneeumhüllt, schwarz-weiße Gerippe. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, man hätte in diesem Moment denken müssen, wie gut eingerichtet die Welt doch war. So friedlich und schön lag die Straße im Mondlicht vor ihm, dass er die schneidende Kälte zunächst gar nicht spürte.

Pasternak hatte wie viele russische Dichter ein besonderes Faible für die Stimmung des Moskauer Schnees und dafür, wie sich in ihm die Atmosphäre der Zeit spiegelte. Er konnte sich, wenn er jetzt diese Straße entlangblickte und den gedämpften Hufschlag einer Pferdekutsche und das ferne Brummen eines Motors hörte, einfach nicht vorstellen, dass die Welt jener blutige und bösartige Ort sein sollte, als der sich Moskau in den letzten Wochen gezeigt hatte. Aber es war eiskalt und es war, nach drei Jahren Krieg, der erste wirklich schlimme Winter.

Es gibt keine Qual in der Welt,

die Schnee nicht könnte heilen.

Er wandte sich nach rechts. Pasternak ging, obwohl es hier gehörig zog, über den Arbaskaja-Platz (er wollte die Weite spüren) und den Arbat zur Siwzew-Wraschek. In dieser kleinen Straße hatte er in der Wohnung eines befreundeten Journalisten ein Zimmer gemietet. Pasternaks Familie wohnte zwei Ecken weiter Richtung Kreml, in der Wolchonka, aber er war froh, allein sein zu können.

Er dachte, wie sollte es anders sein, auf dem Heimweg über Gedichte und vor allem über seine Gedichte nach. Was er im letzten Jahr geschrieben hatte, war etwas Neues. Das war ihm klar. Es war etwas Großes und Echtes. Noch wusste niemand davon. (Diese Gedichte, die er »Meine Schwester – das Leben« nennen würde, würden erst in vier Jahren, dann mit dem Untertitel »Sommer des Jahres 1917«, erscheinen.) Er hatte eine berauschende Zeit hinter sich. Seine Arbeit hatte ihn froh gemacht und erfüllt. Das war nicht selbstverständlich für Boris Pasternak, der mit enormen Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. Jetzt aber hatte er das Gefühl, dass ihn etwas ergriffen hatte, das größer war als er. Er glaubte, dass er ein Dichter war. Er empfand den vergangenen Sommer deshalb als eine Geburt, als seine eigentliche Geburt.

»Meine Schwester – das Leben« ist eine Liebesgeschichte aus dem Sommer 1917, vieldeutig eingerahmt von Februar und Oktober. Zwei Liebende treffen sich im Frühjahr in Moskau, wo der Mann lebt. Während des Sommers fährt der Mann zur Frau aufs Land. Im Herbst endet die Beziehung. So lässt sich der umfangreiche Zyklus zusammenfassen. Es sind viele, kurze Gedichte, meist mit vierzeiligen Strophen, die zunächst sehr klassisch und einfach scheinen. Aber es verbinden sich Liebe, Natur und Philosophie in ihnen, eine Vielzahl von Metaphern und ungewöhnliche Reime. Sie schäumen über und sind schwer zu verstehen.

Vor zwei Jahren hatte Pasternak in Jelabuga am Fuß des Ural gelebt. Er hatte sich aus Moskau zurückgezogen, von der literarischen Szene. Dort hatte er sich in Jelena Winograd verliebt und seine Gefühle rein und stark gespürt. Davon lebten diese Gedichte. Pasternak liebte heftige Gefühle schon immer, er liebte sie so sehr, dass er sie auch liebte, wenn sie traurig oder schmerzhaft waren. Viel später, in seinem berühmten Roman Doktor Schiwago, würde es immer wieder Szenen geben, in denen jemand herzzerreißend weint und der Leser dabei das Gefühl hat, dass es für den Autor Momente des Glücks sind.

Trotz seiner überwältigenden Erfahrung mit den neuen Gedichten war Pasternak immer noch unsicher. Sein Vater hatte den Gedichtband Über die Barrieren erstaunlicherweise gemocht. Aber das erlöste ihn nicht von der bohrenden Frage, welche Berechtigung und Bedeutung es hatte, was er tat. Der Vater war die übermächtige Figur seines Lebens, bestimmend und wohlwollend, aber auf irgendeine Weise war dieses Wohlwollen fast immer vergiftet. Jetzt hatte der Vater seine Gedichte zwar gelobt, aber er hatte auch gesagt, dass diese Gedichte mit ihren Anspielungen doch niemand außerhalb der Familie verstehen könnte. Sie wären zu privat. Wen sollte das interessieren?

Pasternak hatte schon damals die Tendenz, sich selbst mit dem Schicksal Russlands zu identifizieren. Christus war wieder auferstanden, das sah mancher so, aber manchmal sah er, Pasternak, sich als diesen neuen Christus, der Leid auf sich nahm, um das Ganze zu heilen. Er, der Jude war, liebte es, die Revolution als Auftakt eines christlichen Sozialismus in Russland zu sehen. Gleichzeitig war er aufgewühlt und verstört. Warum ängstigten und quälten die Bolschewiken die Stadt mit ihrem Terror?

Pasternak war erschüttert über den Mord an den Kadettenführern Kokoschkin und Schingarjow. Sie waren im November als Delegierte für die verfassungsgebende Versammlung nach Moskau gekommen. Noch im November waren sie verhaftet worden, waren Gefangene, dann in Gefangenschaft krank geworden, ins Hospital gebracht und jetzt von den Roten umgebracht worden. Darüber hatte er im Geheimen ein Gedicht geschrieben. Auch das zeigte er niemandem.

Er war vor dem Haus angekommen, in dem er wohnte. Ziegelstein, sechs Stockwerke, ein alleinstehendes Mietshaus im Zentrum Moskaus. Erst jetzt fiel ihm auf, wie kalt es war. Eine über das Kopfsteinpflaster ratternde Droschke geriet in die Schiene der Pferdebahn und quietschte. Er ging langsam die Treppe nach oben. Warum nur wurde er diese verflixte Unsicherheit nicht los? Wer war er?

Morgen würde die Sonne in sein Zimmer scheinen. Viele Jahre später würde er im Doktor Schiwago schreiben: »Die Fenster dieser Etage waren von der Wintersonnenwende an überschwemmt vom blauen Himmel, der wie ein breiter Strom über die Ufer getreten zu sein schien.« Viele Jahre später würde er an die Hoffnung glauben. »Während der ganzen zweiten Hälfte des Winters war die Wohnung von Vorzeichen des nahenden Frühlings erfüllt.«

Marina Zwetajewa wandte sich nach links, als sie kurz nach Pasternak auf die Straße trat. Langsam ging sie die Powarskaja stadtauswärts. Auch sie sah die Schneehügelchen und die weiß ummantelten schwarzen Bäume. Sie war froh, dass der Abend vorbei war, und sie hatte zugleich Angst, nach Hause zu kommen. Sie war nicht nur schüchtern, in Wirklichkeit war sie vollkommen verunsichert. Die Angst, diese schreckliche, anhaltende Angst schüttelte sie hin und her. Sergej, ihr Mann, war nach Süden gefahren. Wer konnte wissen, ob er jemals wiederkommen würde?

Sie war voller Angst und sie war stolz. Wie immer hatte sie widerstreitende Gefühle. Sie war stolz auf Sergej, sie war stolz auf den sich formierenden Widerstand, sie war stolz auf das widerständige 56. Regiment, zu dem Sergej gehörte. Sie beharrte darauf, dass die Welt und das Leben, egal was geschah, ergreifend und hochstimmend sein sollten. Sie wollte das Leben märchenhaft und heroisch. Sie hatte ein Recht darauf, denn sie selbst war es auch.

Sergej hatte Moskau am 18. Januar 1918 verlassen. Marina Zwetajewa notierte dieses Datum immer wieder in ihre Schreibhefte. »Für den Leser sind Daten belanglos, sie schaden nur der künstlerischen Gestalt der Sache«, notierte sie selbst einmal dazu. »Für mich sind sie aber lebensnotwendig und sogar heilig, für mich ist jedes Jahr und sogar jede Jahreszeit jener Jahre mit einer Person verbunden.«

Seit Sergej fort war, spürte sie auch den unausweichlichen Ernst der Situation. Und das warf sie aus der Spur. Zu Hause schliefen die beiden schönen, lieben, guten Kinder, Irina, noch kein Jahr, und Ariadna, fünf Jahre alt. Ariadna, sie nannte sie meist Asja, schrieb, mit Marina zusammen, bereits Tagebuch. Und wie gut!

Marina Zwetajewa schrieb gerade an Gedichten, die sie das Lager der Schwäne nennen würde. Gedichte zum Lob der antirevolutionären weißen Garde, der Schwäne. Sie stand mit ganzem Herzen auf der Seite der Weißen.

Weißgardisten! Gordischer Knoten

Des russischen Mutes

Weißgardisten! Weiße Pilze

Des russischen Liedes.

Weißgardisten! Weiße Sterne!

Streich sie nicht aus dem Himmel.

Weißgardisten! Schwarze Nägel

In die Rippen des Antichrist.

Sie rief jetzt auch ihr geliebtes Moskau auf, Statur zu zeigen.

Du zuckst nicht mit der Schulter, wenn der Usurpator

Mit rotem Haarwuchs sich bemächtigt dein.

Wo ist dein Stolz jetzt, Fürstin? Kluge, wo die Rede?

Nach etwa fünfhundert Metern bog sie in die Borissoglebski-Gasse ein. Wäre sie auf der Powarskaja ein paar Schritte weitergegangen, wäre sie an das Haus gekommen, das Tolstoi als Vorbild für das Haus der Rostows in Krieg und Frieden gedient hatte. Sie liebte dieses Haus. Es erinnerte sie an das ihrer Kindheit in der Dreiteiche-Gasse, ein altes, einstöckiges Haus aus Holz. Im Innenhof standen Pappeln, der Hof war nicht gepflastert. Wenn man zum Brunnen wollte, ging man über die nackte Erde. Die Eingangstüren waren dick mit Tuch beschlagen. Sie war bisher kein Mensch gewesen, der in der Vergangenheit lebte, aber nun, als sie um die Ecke in die Borissoglebski bog, glitten ihre Gedanken wie von selbst zurück zu diesem für immer verschwundenen Haus. Es war ihre Heimat gewesen.

Sie stand vor dem Haus, in dem sie nun allein mit den Kindern leben sollte, ein zweigeschossiges, gewöhnliches Moskauer Steinhaus, wie es in vielen anderen Städten Europas hätte stehen können. Sie spürte die Liebe und sie spürte die Abwesenheit. Liebe würde Marina Zwetajewas Lebensthema sein.

Sie stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür ihrer Wohnung. Sie erschrak. Was sie sonst nie bemerkte, jetzt sprang es ihr ins Auge. Im fahlen Licht, das von draußen hereinfiel, lag alles durcheinander. Kleider, Geschirr und vor allem Bücher und Papier waren überall verstreut. Alles war dreckig, verstaubt und voller Tabakasche. Marina sah die Unordnung. Sie spürte die Liebe und die Einsamkeit. Sie zitterte.

Zur Rechten, zur Linken

Nur blutige Schlünde.

Die Wunden, sie wimmern:

– Mama!

Der weiß war, wurde rot:

Blut hat ihn gestreift.

Der rot war, wurde weiß:

Tod hat ihn gebleicht.

Vom diskontinuierlichen Vergehen der Zeit 1918 bis 1925

Am 31. Januar 1918 wurde in Russland die Zeit umgestellt. Die bolschewistische Regierung hatte sich entschieden, vom alten julianischen auf den neuen gregorianischen Kalender zu wecheln, wie er auch im Westen verwendet wurde. Man schlief am 31. Januar ein und erwachte am 13. Februar 1918. Marina Zwetajewa brauchte Jahre, bis sie diesen Wechsel verdaut hatte. Wirklich daran gewöhnen wollte und konnte sie sich nie: »Seit alle nach dem neuen Kalender leben, weiß ich nie das Datum.« Genauso, wie sie nie die neue Rechtschreibung akzeptieren konnte, die die Sowjets eingeführt hatten.

Nach dem Abend bei den Zetlins trafen sich Marina Zwetajewa und Boris Pasternak viermal. Weder für sie noch für ihn hatten diese Treffen größere Bedeutung. Sie fanden innerhalb der nächsten vier Jahre statt. Zunächst ergab sich eine zufällige Begegnung auf der Straße, als Pasternak ein Jahr später unterwegs war, um »den Solowjow« zu verkaufen. Man verhökerte im Hungerwinter 1919/20 alles Mögliche zu Spottpreisen, Möbel und Bücher wie den »Solowjow«.

Möglicherweise ist Zwetajewas Erwähnung des Solowjow auch ironisch zu verstehen, Solowjow war der Dichterphilosoph der alten Symbolisten gewesen.

Liebste, siehst du denn nicht, dass alles, was wir sehen, nur ein Abglanz, ein Schatten dessen ist, was Augen nicht schauen.

Das waren Solowjows Verse, das war es, was Pasternak loswerden wollte.

Das nächste Treffen kam 1920 zustande, ein Jahr später. Pasternak war bei einer Lesung der Zwetajewa. Er hielt sie zurück, als sie schon gehen wollte. Das Publikum hatte ihr Gedicht nicht verstanden, Pasternak versicherte, dass es klar und deutlich war. Dann kam er im Herbst 1921 zu ihr in die Wohnung in der Borissoglebski-Gasse, um ihr einen Brief von Ilja Ehrenburg zu überbringen. Ehrenburg, der Beobachter aus der Powarskaja, war inzwischen mit beiden Dichtern befreundet. Er lebte in Berlin.

Das letzte der vier Treffen war dann 1922 bei der Beerdigung von Tatjana Skrjabina, der Witwe des Komponisten. Wieder drehte sich das Gespräch um Ilja Ehrenburg: Zwetajewa erzählte Pasternak, dass Ehrenburg ihn grenzenlos liebe. Was Pasternak ziemlich verwirrte. Es stellte sich heraus, dass sie Pasternaks Werk nicht von der eigenen Lektüre kannte, sie hatte nur »fünf, sechs Gedichte« gelesen, sondern von den enthusiastischen Erzählungen Ehrenburgs.

Sie sprachen trotzdem über Pasternaks Hunger-Gedichte. Er gab zu, dass er sich für sie schämte. Es waren Auftragsarbeiten, und er bereute sie geschrieben zu haben. Er erzählte ihr, dass Majakowski ihre Arbeit sehr gefalle. Dann verschwand er grußlos und unbemerkt in einem unbeobachteten Moment, was sie nachhaltig irritierte.

Wir wissen über diese Treffen trotz ihrer Beiläufigkeit gut Bescheid, da Marina Zwetajewa sie in einem Brief erwähnte.

Dies, lieber Boris Leonidowitsch, ist unsere Geschichte.

Sie schrieb ihm das, als halte sie es für gut möglich, dass er es vergessen hatte. Es war ihr erster Brief an Pasternak. Sie schrieb ihn am 29. Juni 1922 aus Berlin, wo sie ihren Mann Sergej treffen wollte. Marina Zwetajewa war, zusammen mit ihrer Tochter Ariadna, bald nach der Beerdigung der Skrjabina, im Mai 1922, emigriert.

Sie hatte eine schreckliche Zeit hinter sich. Die vergangenen vier Jahre waren Jahre der Einsamkeit gewesen, Jahre des Hungers, des Überlebens. Sie hatte nur ihre Kinder, keinen Mann, keine Angehörigen und musste in der Wohnung in der Borissoglebski-Gasse Fremde aufnehmen. Die Zimmer, die ihr blieben, verwahrlosten. Trübes Licht, kein Holz für den Ofen, ein kahles, unbezogenes, großes Bett und altes Kinderspielzeug, das an den Wänden hing. Staub und Dreck. Das Moskau, das sie kannte, existierte nicht mehr. Alle gingen fort. Die Zetlins waren schon 1919 ausgewandert, nachdem ihnen das Haus genommen worden war. Was aus Holz war, Zäune, Möbel, Wandbeschläge, wurde zersägt und verfeuert. Es waren die Jahre des großen Hungers, drei schreckliche Winter. Man fraß den Kitt von den Fenstern und den Putz von den Wänden, die deutschen Ausdrücke beschreiben die Situation anschaulich.

Marina Zwetajewas zweite Tochter Irina starb 1920 in einem Kinderheim. Sie war schlicht verhungert. Wir wissen nicht wirklich, was das für die Mutter bedeutete. Wie groß, wie bleibend, wie traumatisch war das Erlebnis? Wurde sie von schlechtem Gewissen geplagt, weil sie sie ins Heim gegeben hatte? Kam sie darüber hinweg? Und was würde Sergej sagen, wenn er wieder auftauchen würde? Mit der toten Tochter war ein weiteres Stück der Verbindung zu ihrem Ehemann Sergej, der immer noch irgendwo im Bürgerkrieg kämpfte oder längst tot war, dahingegangen.

Der russische Bürgerkrieg war das bestimmende Ereignis jener Jahre. Er zog sich endlos hin. Begonnen hatte er, noch bevor für Russland der große Krieg mit dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 zu Ende gegangenen war, und er war für Russland schlimmer als der Erste Weltkrieg. Dieser Bürgerkrieg, obwohl es ja um die Befreiung des Proletariats ging, die Kommunisten gegen die Royalisten kämpften, die Roten gegen die Weißen, hatte nichts Heroisches. Er war überhaupt nicht so, wie Marina Zwetajewa ihn sich anfangs vorgestellt hatte. Er war ein Knäuel aus Grausamkeiten, Missverständnissen, Opportunismus, falschen Hoffnungen, fehlgeleitetem Heldentum. Die schauderhafte Selbstzerfleischung eines Volkes, eine endlose Zeit ohne Sinn und Entwicklung.

Die Grausamkeit erreichte ungeahnte Ausmaße, Niedertracht zeigte sich offen und war staatlich unterstützt. Politik wurde zu Terror und die Farbe Rot bekam diesen aggressiven und depressiven Ton. Alles, was einmal Morgenröte war, schien sich aufgelöst zu haben. Rot wurde eine Farbe des Schreckens.

Marina Zwetajewa war mit ihren Kindern in diesen Jahren nur auf sich gestellt. Ihre Eltern waren tot, von Sergej wusste sie nichts. Sein Regiment, das 56., war von der Roten Armee auf die Krim zurückgedrängt und aufgerieben worden. Es existierte nicht mehr. Einige Soldaten, davon immerhin erfuhr man in Moskau, hatten sich in die Türkei retten können. Am 14. Juli 1921, nach dreieinhalb Jahren Ungewissheit, erhielt Zwetajewa, noch in Moskau, dann endlich einen Brief von ihm. Nun wusste sie, dass er lebte.

»All die Jahre unserer Trennung – jeden Tag, jede Stunde – warst Du bei mir, in mir«, schrieb er.

Die dreieinhalb Jahre, die sie ausgehalten hatte, die sie unter größten Mühen und Entbehrungen durchgestanden hatte, waren also nicht sinnlos gewesen. So lange hatte sie die Luft angehalten und die Zeit verstreichen lassen. Und nun sollte das alles einen glücklichen Ausgang nehmen.

Ein Jahr später, am 7. Juni 1922, trafen sich Sergej und Marina tatsächlich in Berlin. Es war so dramatisch und emotional, wie man es sich nur vorstellen kann. Die Tochter Ariadna berichtete später davon. Sergej wollte schnell weiter nach Prag, an der Karls-Universität konnte er studieren und würde ein Stipendium bekommen. Exilrussen wurden von der neuen tschechischen Regierung finanziell unterstützt. Die wiedervereinten Eheleute entschieden, dass er gehen solle und sie nachkommen würde.

Nach den Jahren der Entbehrung, die Marina Zwetajewa durchlebt hatte, wurde 1922 für die Dichterin ein gutes Jahr. In Moskau erschien ihr Gedichtband Wersty, »Werstpfähle«, übersetzt vielleicht am besten mit »Meilensteine«. Es war ihr bis dahin wichtigster Zyklus. Zum Teil waren es Gedichte aus der Zeit der Lesung bei den Zetlins. Weitere Bücher erschienen kurz darauf. Man interessierte sich für sie, sie wurde sowohl in Moskau als auch im Exil bekannt.

Auch von Boris Pasternak war gerade ein Buch erschienen, Meine Schwester – das Leben, sein wahrscheinlich wichtigster Gedichtband. Auch hier fanden sich, fünf Jahre danach, Gedichte aus der Zeit der Majakowski-Lesung. Pasternak wurde ebenfalls bekannt, wenn auch nur in Moskau. Manche meinten, dass er mit Meine Schwester – das Leben zum ersten russischen Lyriker aufgestiegen war.

Einen knappen Monat nachdem sie aus Moskau emigriert war, las Pasternak dort Marina Zwetajewas »Meilensteine«, die alten, neuen Gedichte. Er las das Buch am 7. Juni, an jenem Tag, als sie sich in Berlin mit Sergej traf. Aber das wussten sie natürlich nicht. Pasternak war voller Bewunderung.

Liebe Marina Iwanowna, in diesem Moment habe ich mit zitternder Stimme begonnen, meinem Bruder Ihr »Ich weiß, dass ich beim Sonnenuntergang sterben werde, aber bei welchem …« vorzulesen und war überwältigt …

So bebend begann er am 14. Juni 1922 seinen ersten Brief an sie. Es war der erste Brief zwischen den beiden, noch vor dem Brief, in dem sie die vier Treffen schilderte. Kaum hatte sie Moskau verlassen, kaum waren sie räumlich getrennt, schrieben sie sich, und der Ton zwischen ihnen wurde leidenschaftlich. Er nahm mit diesen Worten entschieden Kontakt zu ihr auf. Er suchte ihre Nähe. Ihr Brief, in dem sie die vier Treffen erinnerte, war die Antwort darauf.

Pasternak war nach der Lektüre der »Meilensteine« aufgewühlt, zitierte begeistert ihre Verse, nannte sie »golden, geliebt, unvergleichlich«. Er zeigte offen seine Begeisterung. Er war von der Dichte, der emotionalen Kraft und der Souveränität ihrer Sprache ungeheuer beeindruckt und wollte das deutlich machen. Er spürte, sie war ihm als Dichterin mindestens ebenbürtig.

Unklar bleibt, warum er ihr gerade jetzt schrieb, sie gerade jetzt entdeckte, wo sie doch vor ein paar Tagen Moskau verlassen hatte. Unklar bleibt ebenfalls, welche Rolle es spielte, dass sie sich in diesen Versen als wilde und erotische Figur zeigte. Sie imaginierte sich als selbstbewusste Frau, als reisende Zigeunerin, die das Lager teilt, mit wem sie will.

Schon in diesem, seinem allerersten Brief an sie erwähnte Pasternak Rilke. Warum? Swinburne, meinte er, auch wenn sie ihn nicht kenne, ein englischer Dichter, bewege sich frei in ihr, genauso, wie Russland sich frei in Rilke bewege. Ein zwingender Vergleich sieht anders aus, das war ausgesprochen weit hergeholt. Es war so, als ob Rilke einfach dazugehören müsse, als ob er unbedingt genannt werden müsse, als ob Pasternak irgendeine Möglichkeit gesucht habe, das Wort »Rilke« in seinem Brief unterzubringen.

Der »Rilke«, der sich bei dieser Gelegenheit zeigte, war etwas Ungreifbares und Inspirierendes. Er war ein anderes Wort für Kreativität. Dieser Rilke war ein Phantasma, eine bloße Idee, die Pasternak tief in seinem Inneren wie einen geheimen Schatz mit sich herumtrug, er war seine Idee vom wahren Dichter.

Der wirkliche Rainer Maria Rilke suchte dagegen immer noch nach seiner Sprache. Als der Krieg auch in Deutschland vorbei war, wurde es für ihn schlimmer statt besser. Er wusste, er wollte, er konnte nicht in München bleiben. Ganz Deutschland stieß ihn inzwischen ab. Es ekelte ihn, wie es sich schon nach kurzer Zeit in Selbstgerechtigkeit und Großmannssucht einrichtete. Der Krieg hatte ihn entwurzelt oder aus der Bahn geworfen. Er suchte eine Wohnung, ein Haus, eine Bleibe. Er suchte einen Ort, an dem er seine Sprache wiederfinden konnte. Aber er wusste keinen Ort, wohin er gehen konnte. Frankreich war unmöglich, niemals hätte er damals ein Visum bekommen. Österreich-Ungarn existierte nicht mehr. Auch für die Schweiz würde er keine längere Aufenthaltserlaubnis bekommen. Deutschland erschien Rilke wie ein Gefängnis.

Den Ausschlag, München zu verlassen, gab eine Hausdurchsuchung. Am frühen Morgen drangen schwerbewaffnete Polizisten in seine Wohnung ein. Politisch sympathisierte Rilke (der gemeinhin als unpolitisch oder erzkonservativ gilt) damals mit der Münchner Räterepublik. Er versuchte, Kontakt zu Kurt Eisner aufzunehmen, was durch dessen Gefangennahme verhindert wurde. Die Entfremdung von Deutschland hatte durchaus auch politische Gründe.

1919 entschied Rilke sich zu einer Lesereise in die Schweiz. Er hatte inzwischen eine Einreiseerlaubnis, konnte nun eine mehrmals vertagte Lesung in Zürich halten und würde einer Einladung an den Genfer See folgen können. Einmal in der Schweiz, interessierte er sich sehr für das Land, das ihn bisher nicht besonders angezogen hatte, von Anfang an mit dem Gedanken, ob sich nicht hier eine Bleibe für ihn finden lasse.

Im Sommer 1921, zwei Jahre später, fand er im Wallis, oberhalb des Ortes Siders, ein uraltes Haus, ein »Schlösschen«, wie er es nannte, das Château de Muzot (was man »Müsott« ausspricht).

Kurz darauf, im Februar 1922, vollendete er tatsächlich die so lange aufgestauten Duineser Elegien, die er 1912, ein ganzes Jahrzehnt früher, begonnen hatte, und an denen weiterzuarbeiten er während des Krieges und danach unfähig gewesen war. Gleichzeitig mit den Duineser Elegien entstanden innerhalb weniger Wochen die Sonette an Orpheus. Die beiden umfangreichen Zyklen sind der Höhepunkt von Rilkes Werk. Es ging ausgesprochen glücklich weiter. Bereits im Mai 1922 kaufte Rilkes Mäzen, der Schweizer Unternehmer Werner Reinhart, das Schlösschen Muzot und überließ es dem Dichter – lebenslang – mietfrei. Nach Deutschland ist Rilke nie mehr zurückgekehrt.