18,99 €
Ödön von Horváth, Marianne Hoppe, Adolf Hitler und das Phänomen der Masse
Was verbindet den weltberühmten Schriftsteller Ödön von Horváth, die Schauspielerin Marianne Hoppe und den Diktator Adolf Hitler? Anhand dieser drei Figuren geht Peter Michalzik dem Phänomen ihrer Zeit auf den Grund: der Ausprägung der Masse. Horváth versuchte die Masse in seinen Werken zu erfassen, Hoppe verzauberte sie auf der Leinwand – und beide waren ein heimliches Paar, während Hoppe mit Gustaf Gründgens verheiratet war. Auf unterschiedliche Weise waren Horváth und Hoppe wiederum fasziniert von dem Mann, der die Masse führte und verführte. Peter Michalzik hat Marianne Hoppe persönlich kennengelernt, Archive durchwühlt, Horváths Werke und die Reden Hitlers studiert: Sein Buch ist eine außergewöhnliche Zeitreise, ein ungewöhnliches Porträt à trois und die beeindruckende Erkundung eines Phänomens, das an Aktualität keineswegs verliert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 429
Über das Verhältnis von Ödön von Horváth und Marianne Hoppe ist wenig bekannt. Sicher ist: Sie lernten sich kennen kurz nach der Machtübernahme Hitlers und Hoppe wurde von ihm schwanger. Horváth selbst hat nie etwas darüber gesagt. Marianne Hoppe war offiziell mit Gustaf Gründgens liiert, galt als NS-Schauspielliebling und hatte durchaus eine Verbindung zu Hitler und zu Goebbels. Ihre Entwicklung, das Geflecht aus Faszination und Widersprüchen, wird anhand von Fotos erzählt. Hitler wird durch seine Reden vergegenwärtigt. Horváths Biographie wird anhand seiner Literatur nachvollzogen. Alles wird miteinander verbunden über ein Thema, das damals seine volle Bedeutung entfaltete: die Masse. Der Mensch erschien erstmals als Masse. Hoppe verführte sie, Hitler spielte sich als ihr Dompteur auf, Horváth versuchte sie zu erfassen. Die Masse war das bestimmende Moment der damaligen Politik – was Sigmund Freud, Elias Canetti und viele andere analysiert haben. Wie aber beschreibt man die Masse? Horváth, Hoppe und Hitler haben sehr unterschiedlich auf sie reagiert. All das erkundet dieses Buch – in Zeiten, in denen die Masse wieder eine neue Bedeutung erfährt.
Peter Michalzik, Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in München und war Theaterkritiker und Redakteur im Feuilleton der "Frankfurter Rundschau". Er veröffentlichte Biografien über Gustaf Gründgens, Siegfried Unseld und Heinrich von Kleist. Peter Michalzik arbeitet am Mozarteum Salzburg und ist Gastprofessor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, wo er mit seiner Familie lebt.
Im Aufbau Verlag liegt von ihm „Die Liebe in Gedanken. Die Geschichte von Boris Pasternak, Marina Zwetajewa und Rainer Maria Rilke“ vor.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Peter Michalzik
Horváth, Hoppe, Hitler
1926 bis 1938 – Das Zeitalter der Masse
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
VORWORT
VORGESCHICHTEN
Augen
Bild der Frau (I)
München 1914, Odeonsplatz (Masse I)
Das Jahr 1919
München 1919: Hitler redet
Die Alpen
Frankfurt 1922 (Masse II)
Hoppes Geburt, 1909
Murnau
Prostituierte
1925–1927
Bild der Frau (II)
Bamberg, 14. Februar 1926
Hitler in Hamburg (Masse III)
Horváth und der Dialekt (Bayerisch I)
Der nicht endende Krieg
Hoppe im Janker (Bayerisch II)
Deutsches Nationaltheater, 4. Juli 1926, 14–15 Uhr (Weimar I)
Revolte auf Côte 3018 – Die Bergbahn
Metropolis (Masse IV)
Zur schönen Aussicht
Die Versuchung
München, Circus Krone, 9. März 1927
Beim Maler (Weimar II)
Einbürgerung (Murnau II)
NSDAP-Versammlung in München, 3. Juni 1927
Tod aus Tradition (Bayerisch III)
Wien 1927 (Masse V)
Hamburg, 6. Oktober 1927
Sladek
1928–1929
Skizzen
Hoppes Spiel (Masse VI)
Bild der Frau (III)
Generation 1901
Bild der Frau (IV)
Berlin, Sportpalast, 16. November 1928
Mädchenhandel
Skizzen mit Fräulein
Berlin (Marlene und Alice)
Wer geht nach Berchtesgaden?
36 Stunden
München, Löwenbräukeller, 29. November 1929
Tempo (Bild der Frau V)
Berlin
1930–1932
Bild der Frau (VI)
Gas
Berlin, Sportpalast, 10. September 1930
Bild der Frau (VII)
Ortega y Gasset 1930 (Masse VII)
Murnauer Saalschlacht, 1. Februar 1931
7. April 1931, München
Der Biberpelz
Italienische Nacht in Wien 1931
Der Wiener Wald im Deutschen Theater
Schwindel
Kreaturenkabinett
Die Wiesenbraut
Kleinbürger
Nazis (I)
Nazis (II)
Das H von HOLLYWOOD (Die Geschichte des H I)
Bild der Frau (VIII)
Tierisch
Volksstück I (Masse VIII)
Die Ratten
Volksstück (II)
Polizei
27. Februar 1932, NSDAP-Versammlung in Berlin
Mehring
1933
1933 (eine Chronologie der Ereignisse)
1933 (Bruch)
Das Zündholz
Masse und Macht (Masse IX)
Berlin, Sportpalast, 10. Februar 1933
Irrungen
Heidegger und Hitlers Hände (Die Geschichte des H II)
Berlin, 12. März 1933 (Henndorf I)
Pauli, Hoppe, Mann
Kinder (I)
Kinder (II)
Deutsche
Nazis (III)
Der Judas von Tirol
Die Unbekannte aus der Seine
München, 15. Oktober 1933, Haus der Kunst
Massenpsychologie des Faschismus (Masse X)
Heideschulmeister
Dummheit (der Mensch)
Heirat
Der Schimmelreiter
1934–1935
Jung bleiben (Bild der Frau IX)
Porträtfotografien von Horváth
Frauen und Horváth
Jolanthe
Reichsparteitag, Nürnberg, 8. September 1934
Schwarzer Jäger
Wera Liessem
Horváth beim Film
Hoppe und Hitler
Hoppe und Goebbels
Nürnberg, Reichsparteitag, 14. und 15. September 1935
Gretchen
Holzwege (Die Geschichte des H III)
Bild der Frau (X) im Dritten Reich
Capriolen
Der Herrscher
Henndorf (II)
Henndorf (III)
1936–1938
Emilia Galotti
Neger
Zeesen
Ein Kind unserer Zeit
Helga, Hildegard, Helmut, Holdine, Hedwig und Heidrun (Die Geschichte des H IV)
Wien, Hotel Imperial, 14. März 1938
Zuckmayers Wien (Masse XI)
Adieu, Europa
ANHANG
ANMERKUNGEN
Vorgeschichten
1925–1927
1928–1929
1930–1932
1933
1934–1935
1936–1938
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSNACHWEIS
DANK
Impressum
Ein Buch wie eine Ausstellung. Ein Buch wie eine Ausstellung, in der man der Chronologie der Ereignisse folgen, in der man sich aber auch frei bewegen kann. Ein Buch wie eine Ausstellung, in der sich das Gefühl einer Epoche vermittelt. Genau das schwebte mir vor: Zusammen mit meinen Leserinnen und Lesern möchte ich der Zeit vor und nach 1933 nahekommen, ihrer gefährlichen Erregung, die uns so sehr an Heute erinnert und die sich in manchem zu wiederholen scheint.
Marianne Hoppe, die große Theater- und Filmschauspielerin, begann damals ihre Karriere und spielt eine wichtige Rolle in dieser Ausstellung. Sie scheint mir sehr typisch für ihre Zeit, als würde sie wie eine Art Erscheinung dieses Zeitalter verkörpern. Also bin ich für mein Buch von dieser Erscheinung ausgegangen: von den unzähligen Bildern, die von ihr gemacht worden sind.
Ende der 1990er Jahre habe ich Marianne Hoppe, knapp 90 Jahre alt, noch kennengelernt. Auch das war ein Bild. Bei unseren Treffen in ihrer Berliner Wohnung war sie krank, aber es blieb sogar dann dabei. Sie war eine klare und humorvolle Frau, die mich nicht nur aufgrund ihres Alters beeindruckte. Sie thronte in ihrem Bett und vermittelte keinen Eindruck von Schwäche.
Ich war damals wegen Gustaf Gründgens zu ihr gefahren, mit dem sie verheiratet gewesen war, sie aber wollte von Horváth sprechen, und zwar mit Nachdruck. Dass Horváth für sie eine solche Bedeutung hatte, war mir damals nicht bewusst gewesen. Die beiden hatten 1933 eine enge Beziehung gehabt – aber was für eine? Dazu sagte sie nichts.
Horváth wird bis heute im Theater sehr viel gespielt. Aber wer war der Mann, der 1938, gerade als er auswandern wollte, vom Baum erschlagen wurde? Horváth zeichnete wie niemand sonst die Masse der Menschen. Seine Dramen und Prosastücke sind voller Skizzen damaliger Charaktere, aber wer er selbst war, ist bis heute undeutlich. Wie kein anderer Schriftsteller konnte er die Sprache seiner Zeitgenossen imitieren, vor allem die der Süddeutschen. Diese Fähigkeit ist ihm nach 1933 verloren gegangen, davon bin ich für dieses Buch ausgegangen.
Und Hitler, nun ja, Hitler gehört dazu. Er prägte diese Zeit, er dachte, er wäre ein neuer Messias, und viele folgten ihm darin. Er predigte in dem bekannt eifernden und besserwisserischen, belehrenden Ton, der heute so beunruhigend wiederkehrt. Deshalb habe ich entschieden, Hitler in seinen Reden selbst sprechen zu lassen. Er wird so spürbarer in seiner Gefahr, aber auch in seiner Gewöhnlichkeit. Er kommt uns auf diese Weise näher, wird bedrohlicher. Manchmal hat man das Gefühl, er sei heute weg- oder totkommentiert, eben das wollte ich vermeiden.
Ein Buch mit drei Perspektiven, die miteinander verbunden sind. Durch drei Biographien diese Zeit begreifen, sie mit ihren drei Augenpaaren betrachten. Ein Buch wie eine Ausstellung eben. Der zentrale Punkt ist dabei das Jahr 1933, in dem Horváth aus dem Gleis geriet, in dem Marianne Hoppes Filmkarriere begann und in dem Hitler an die Macht gelangte.
Ein Buch wie eine Ausstellung, und in der Mitte steht, wie eine Art Sphinx, die Masse. In der Mitte steht die Masse der Menschen – die Vielen, unübersehbar und nicht verstehbar. Das ist es, was am stärksten an unsere Gegenwart erinnert. Die dauererregte Masse in den sozialen Medien und auf den Demonstrationen, die meint sich selbst gefunden zu haben, diese Masse, die aber niemand, der ihr zusieht, verstehen kann.
Was ist diese Masse? Soviel scheint klar: Heute wehrt die Masse sich gegen etwas. Was das aber ist, ist so schwer greifbar wie die Masse selbst. Vielleicht wehrt sie sich gegen das Gefühl, dass ihr das Leben aus der Hand genommen wird, dass sich der Staat oder was man für ihn hält (Eliten, Lobbyisten, Beamte und Apparate, Institutionen inklusive Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Medien) verselbständigt.
Und damals, Anfang des vergangenen Jahrhunderts, als die Masse entstand? Was war die Masse, als sie begann, die Wahrnehmung der Gesellschaft von sich selbst zu prägen, als sie in Aufmärschen, in Stadien, auf Plätzen und schließlich im Krieg so nachdrücklich in Erscheinung trat?
Eine der wenigen Erinnerungen an den jungen Ödön von Horváth stammt von seiner Mutter. »Wie neugierig dieses Kind auf die Welt war.« Sie erzählte Ödöns Freundin Gustl: »Immer wenn Menschen zu Besuch kamen, wenn Empfänge waren, ging mitten in der Nacht leise die Tür auf, und Ödön stand im Türrahmen, im Spitzennachthemd, und staunte die Menschen an, still, beobachtend und todernst. Es war ihm nicht abzugewöhnen. Man versuchte alles, wartete, bis er in tiefem Schlaf war, und konnte es nicht fassen, dass er trotzdem plötzlich dastand, lautlos und aufmerksam, mitten unter den fremden Menschen.«1
Horváth lernte Gustl Schneider-Emhardt, wie sie später mit vollem Namen hieß, im Alter von zwölf Jahren kennen. Sie war ein Jahr jünger als er. Er schrieb Liebesgedichte an sie, die beiden blieben lebenslang befreundet, und sie wurde – durch die Heirat mit dem Bruder Lajos von Horváth – seine Schwägerin. Vieles, was wir über Horváths Familiengeschichte wissen, stammt von ihr.
Das Faszinierende an der Erinnerung der Mutter ist das, was Emhardt mit den Worten »still, beobachtend und todernst« wiedergibt. Die fast beängstigende Betrachtung der Erwachsenen durch ein Kind, ein intensives Schauen, die großen Augen, die man vor sich zu sehen meint. »Ödön stand im Türrahmen … und staunte die Menschen an« – das erinnert an ein gerahmtes Erinnerungsgemälde. Er staunte nicht nur, er staunte an.
Gustl Schneider-Emhardt gab ihrem Erinnerungsbericht von 1983 ein Foto bei und schrieb dazu: »Wenn man dieses faszinierende Kinderbild betrachtet, weiß man, dass diese Geschichte wahr sein muss. Es kann gar nicht anders gewesen sein.«2 Es ist ein Bild, bei dem man wirklich denken kann, dieser kleine Ödön glaubt nicht, was er hier zu sehen bekommt. Er fühlt sich fremd. Er kann nicht wegsehen. Er schaut und schaut und schaut. Man fragt sich unweigerlich: Was sah dieses Kind, wenn es die fremden Menschen anschaute, die sich abends bei den Eltern versammelt hatten? Was faszinierte ihn daran? Was zog ihn so sehr an, dass er schauend im Türrahmen verharrte?
Was für ein Gesicht! So wach, so anwesend. Und so würde sie bald aussehen. Im Jahr 1909 wurde Marianne Hoppe geboren. Auf dem Foto dürfte sie etwa 20 Jahre alt sein.
Wie zart dieses Gesicht ist! Wie aufgeschlossen, wie freudig sie ins Leben blickt, in das große Kommende, das vor ihr liegt. Wie erfrischend sie wirkt, wie stark. Und wie fein ihre Gefühle sind. All das meint man hier zu erkennen oder zu ahnen.
Wie mag es gewesen sein, als der Fotograf, vielleicht sogar die Fotografin (es gab sie durchaus!), dieses Bild aufgenommen hat? Es war ein Studio, die Lampen waren wahrscheinlich vorinstalliert, die Haare, kurz aber weiblich, schnell gerichtet, nein, das ist kein Bubikopf mehr.
Ich lasse sie etwas nach oben schauen, denkt der Fotografierende. Dann wirkt sie noch präsenter. Ich sage ihr, dass sie den Mund leicht geöffnet lassen soll, und irgendetwas ansehen soll, das sich oberhalb von ihr befindet, etwas, das sie gerade erst bemerkt hat. Schön, denkt der Fotograf, man denkt, dass sie alles um sich herum wahrnimmt.
Das Erstaunliche an diesem Gesicht sind nicht die klassische Schönheit, das Zarte, das Kraftvolle, das Präsente, das Offene. Das Erstaunliche sind die Möglichkeiten, die es birgt. Ausdrucksstark und unbeschrieben. Marianne Hoppe und die damalige Bildindustrie – Kino, Fotografen, Illustrierte – begannen gerade, dieses Gesicht zu erkunden. Sie gaben ihm immer neue, unterschiedliche Erscheinungsweisen. »Masken« wäre dafür der falsche Ausdruck. Es wurde nichts verborgen, immer wieder wurde eine neue Seite aufgeblättert. Sie lasen es. Sie erprobten, was aus diesem Gesicht gemacht werden kann.
Dieses Bild, zeitlich schwer einzuordnen, es stammt wohl von 1928 oder 1929, kann für die Möglichkeiten des Kommenden stehen. Gleichzeitig ist es nur eine der unzähligen Aufnahmen, die von Marianne Hoppe gemacht wurden.
Sie trägt auf diesem Bild einen weißen Rundkragen. Weiße Krägen sind gut geeignet, um den Kopf daraus hervorstechen oder hervorblühen zu lassen. Marianne Hoppe muss diese weißen Krägen geliebt haben, sie tauchen auf auffallend vielen Fotos von ihr auf.
Bevor wir weiter schauen, sehe man sich dieses klare und sachliche Gesicht noch einmal an. Was sehen wir? Wir sehen nicht nur das Gesicht, wir sehen auch einen anderen Frauentypus: Die Zeit der großen Hysterikerinnen ist vorbei, der theatralischen Gebärden, der Ausstellung von Gefühlen, der Konversion und Inversion, das ganze Seelentheater. Wir sehen eine klare, selbstbewusste, entdeckungslustige Person. Es gab nun einen Typ Frau, der bei sich sein konnte, ohne Züge von Leid, von etwas Verstecktem, einer ungelebten Sexualität oder Emotionalität.
Es ist aber auch nicht die kühle Sinnlichkeit, die das Bild ausmacht und die ein Zeichen der Zeit war, dieses Bild ist offener, wärmer.
Beim Betrachten solcher Bilder stellt sich eine alte Frage neu: Ist ein solches Gesicht ein Spiegel des Inneren? Erzählen solche Gesichter eine Geschichte? Kann man aus diesen Gesichtern ablesen, was in jemandem vorgeht? Sieht man dem Gesicht an, wie jemand gelebt hat? Wir wissen es nicht. Aber wir handeln bis heute jeden Tag so, als wäre es so. Wir lesen, beurteilen Gesichter, wir reagieren auf sie, wir erinnern sie wie nichts anderes. Gesichter sind die selbstverständlichste – und härteste – Währung im Umgang von Menschen miteinander.
Noch einmal, das Bild ist licht und klar. Vergleicht man es mit Bildern und Fotos aus dem 19. Jahrhundert oder auch aus der Zeit bis 1914 oder sogar 1928, wird deutlich, wie unverschleiert diese Frau wirkt. Es ist tatsächlich etwas Neues, das sich hier ankündigt und in diesem Blick zeigt. Das Bild hat eine bemerkenswerte Offenheit. Es ist so hell, dass man fast meint, es sei gemacht, um die wahre Bedeutung der Fotografie zu zeigen. Ein Gesicht, das endlich klar macht, was ein Foto sein kann.
Aufgenommen wurde dieses Foto gut zehn Jahre, bevor unsere Geschichte richtig beginnt. Ein Foto aber, das unbedingt zu dieser Geschichte gehört. Es wirkt wie ein Bullauge in eine andere Welt, ein Guckloch in eine eigentlich verschlossene Vergangenheit. Allein dass es dieses Foto gibt, grenzt an ein Wunder, denn es ist ein unglaublicher Zufall. Es zeigt eine riesige Menschenmenge auf dem Münchner Odeonsplatz, gesehen von der Feldherrnhalle aus. Links thront einer der steinernen Löwen an der Treppe. Man hat den Eindruck, die gesamte Stadt, soweit sie männlich ist, drängt sich in dieser Menschenmenge. Mit Mühe lassen sich ein paar Frauen ausmachen.
Weil die Menge so unübersehbar ist, scheint die Theatinerkirche dahinter merkwürdigerweise mächtiger als sie ist. Wenn man in Wirklichkeit vor ihr steht, wirkt sie nicht so gewaltig. Aber auf diesem Bild steht sie wie die steinerne barocke Ewigkeit über der bildfüllenden Masse von Menschen.
In dieser Masse, in der man nur wenige Personen wirklich unterscheiden kann, befindet sich ein junger Mann, dessen Gesicht sehr gut zu erkennen ist. Er schaut beschwingt, freudig, erwartungsfroh. Wenn man weiß, dass die Menschenmenge sich am 2. August 1914 auf dem Odeonsplatz versammelt hat, um die Kriegsproklamation zu feiern, braucht es keine besondere Phantasie, um sich vorzustellen, warum der Mann so guter Dinge ist. Er freut sich auf den kommenden Krieg. Endlich! Endlich ist es soweit!
Erstaunlich bleibt, dass der 25 Jahre alte Mann auf dem Bild so gut zu erkennen ist. Man sieht ganz deutlich, dass es Adolf Hitler ist. Man kennt ihn von späteren Abbildungen. Wer hätte sich überhaupt dafür verbürgt, dass er auf einem so frühen Bild gleich auf den ersten Blick als Hitler zu erkennen sein würde? Hitler blickt vertraut aus einer Zeit herüber, als es Hitler im eigentlichen Sinn noch gar nicht gab. Dieser junge Hitler hat sogar ein Hitlerbärtchen!
Man kann sich die Erregung und Überraschung des späteren Entdeckers gut vorstellen, wie er das Bild betrachtete und dachte: Das gibt’s doch nicht, das kann doch nicht wahr sein, das ist doch der Hitler da vorn in der Menge! Er sah in der Menge eine einzelne Figur – und dann ist das auch noch Hitler.
Heinrich Hoffmann, der später bekannte Führer-Fotograf, hat (wahrscheinlich) dieses Bild aufgenommen (als er sicher noch nichts von Hitler wusste). Es ist möglich, dass Hitler ihn später ermunterte, seine alten Aufnahmen zu durchforsten, und Hoffmann Hitler dann entdeckte, weil er nach ihm suchte. So hat er es erzählt: »Ich ging in die Dunkelkammer und legte eine der Platten vom 2. August 1914 in den Vergrößerungsapparat. Mit höchster Spannung suchte ich unter den Zehntausenden nach einem Gesicht, das Hitler gehören könnte.« Das Zitat stammt aus den fünfziger Jahren.3
Das Foto erschien erstmals 1932 im »Illustrierten Beobachter«, einen Tag vor der Reichspräsidentenwahl am 13. März. Die Bildunterschrift lautete: »Adolf Hitler, der deutsche Patriot. Als am 1. August 1914 Zehntausende von Münchnern auf dem historischen Boden vor der Feldherrenhalle ergriffen den Klängen der letzten Standmusik lauschten, da brandete plötzlich das Deutschlandlied über den Platz. Mitten in der Menge stand mit leuchtenden Augen – Adolf Hitler.«
1936 erschien eine Propagandabroschüre mit dem Titel »Adolf Hitler. Ein Mann und sein Volk«, in der die Fotografie wieder abgedruckt war. Die Bildunterschrift lautete jetzt: »Der Mann in der Menge«. Das Bild wurde eindeutig als Propagandamaterial benutzt.
In jüngerer Zeit wurde die Authentizität des Bildes bezweifelt. Der Historiker Gerd Krumeich und andere Forscher haben Indizien für eine Manipulation der angeblich authentischen Aufnahme gesammelt. Das Negativ des Bildes ließ sich, im Gegensatz zu anderen aus der Serie, nicht finden. Möglicherweise ist die Aufnahme eine Montage Hoffmanns.
Aufregend ist das Bild in jedem Fall. Es zeigt den Mann, der später die Massen lenken und missbrauchen würde, als »Mann in der Menge«. Hitler geht auf diesem Bild in der Masse auf. Und doch ist er, schon im Jahr 1914, unverkennbar.
Das Bild unterhält ein eigenartiges Verhältnis zur Zukunft. Es wirkt heute, als wäre es aufgenommen, um von Adolf Hitler zu erzählen: vom Individuum und den Vielen, dem Mann und der Masse. Was den Fotografen Heinrich Hoffmann keinen Moment beschäftigt haben kann, wenn er das Bild denn so aufgenommen hat. Er hat Hitler auf dem Bild gar nicht wahrnehmen können. Nicht einmal Hitler selbst wusste zu dieser Zeit, wer Adolf Hitler sein würde. Wir aber können es gar nicht anders betrachten.
Falls es dagegen eine Fotomontage ist, hat Hoffmann mit dem Bild aktiv am Hitler-Mythos gearbeitet. Dann ist der Vorgriff in die Zukunft in die dargestellte Vergangenheit durch die Manipulation eingebaut. Dann erzählt das Bild das, was wir ohnehin in ihm sehen: Hitlers Kriegsbegeisterung, den Mann als Teil der Menge, der ihr zuruft: Ich bin einer von Euch!
Hitler konnte wie jeder andere nicht in die Zukunft schauen, auch wenn er einen anderen Eindruck zu erwecken suchte. Das gerade machte etwas von dem Nimbus aus, den er mehr als ein Jahrzehnt zu erzeugen wusste, dass er anscheinend, getragen von seinem Willen, frühzeitig die Lage richtig eingeschätzt und den Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung vorhergesehen habe.
So sehen wir auf diesem Bild eine vergangene Zukunft. Man sieht zwar nichts von dem Grauen, das kommen würde, das sich aus dem Verhältnis zwischen dem Mann und der Masse, in der er sich so wohl zu fühlen scheint, entwickeln würde. Aber man kann es trotzdem spüren, es scheint für uns auf diesem Bild bereits ahnbar zu werden, es scheint sich für uns in diesem Mann in der Masse abzuzeichnen.
Man meint die Bewegung der Menge zu sehen, jene Kraft, die Jahre später so unheilvoll aufbrechen würde, man meint zwischen der Masse der vielen Menschen auf dem Odeonsplatz und dem freudig blickenden einzelnen Mann eine Verbindung zu spüren, als wenn sie zueinander gehören würden.
Fünf Jahre später, der Krieg ist vorbei. Ödön von Horváth machte 1919 in Wien das Abitur (bzw. die Matura), dann kam er nach München und schrieb sich hier an der Universität ein. Gustl Schneider-Emhardt war inzwischen nicht mehr mit ihm, sondern mit Lajos, seinem Bruder, liiert. So traf sie Ödön wieder, den sie eine Zeit lang aus den Augen verloren hatte. Sie gehörten nun zu einer Münchner Clique, die all das tat, was Cliquen meistens tun. Sie waren unterwegs und besuchten vom Oktoberfest bis zum Schwabinger Café alle möglichen Orte gemeinsam.4
Diese Zeit nach dem Krieg, das Jahr 1919, wird bei Horváth in den folgenden Jahren immer wieder vorkommen. Sein Stück Don Juan kommt aus dem Krieg etwa, geschrieben 1936, spielt in den Jahren 1918/19. Der Titel beschreibt es: Don Juan kommt zurück und bildet sich ein, durch den Krieg ein anderer Mensch geworden zu sein. Die Großmutter sagt zur Magd: »In der Zeitung steht, seit gestern ruhen die Waffen, jetzt wird geplündert, auch bei uns. Sie haben den Metzger erschlagen und den Holzhändler verletzt. Schließ die Fenster, schließ die Türen, aber doppelt, dumme Gans!« Die Magd fährt sie an: »Ich bin keine dumme Gans, verstanden?! Jetzt gibt’s eine andere Zeit, auch bei uns …«5 So also schrieb Horváth 17 Jahre später über das Jahr 1919.
In Entwürfen zu einem frühen Roman notierte Horváth über die Zeit des Krieges: »… da sprach der liebe Gott: »Es werde Weltkrieg!« Und es geschah also. Und Gott sah, daß er gutgetan. Die Horizonte waren rot von den Flammen der brennenden Dörfer, er regnete Granaten, Schrapnells, Bomben und Kugeln, in den Wassern explodierten Torpedos und Minen und über das Leben kroch das Gas. Rund zwölf Millionen Menschen wurden erschossen, erstochen, erschlagen, ersäuft, erwürgt, verbrannt, vergiftet, verschüttet, zertrampelt, zerquetscht, zerstückelt, zerrissen und über die Erde kollerten herrenlose Arme, Beine, Schenkel, Finger, Zehen, Hände, Gedärme, Gehirne, Zungen, Ohren, Nasen, Augen, Köpfe, es war Hausse in Prothesen und Baisse in Brot. Fabriken, Bergwerke, Städte, Brücken, Straßen, Wasserleitungen, Krankenhäuser, Denkmäler, Kirchen, Wälder, Wiesen, Äcker, Fluren, Gärten wurden plangerecht zerstört und an ihrer Stelle mit übermenschlichen Qualen stilvolle Wüsten angelegt.«6
Die Menschheit hatte sich aufgelöst, der Tod hatte die Menschen auf alle möglichen Arten gleichgemacht, die Körper waren in ihre Glieder zerfallen. Das hatte Horváth zehn Jahre nach dem Krieg, um 1928 herum, geschrieben.
Fünf Jahre nach dem Bild in der Menge, ein Jahr nach dem Krieg, als Horváth seine Matura machte und Marianne Hoppe zehn Jahre alt war. Wir befinden uns im Jahr 1919. Das Jahr, das Horváth so wichtig fand. Auch für Hitler war es eine prägende Zeit: Krieg, Niederlage, Ende der Monarchie und der Vertrag von Versailles vom Mai 1919. Hitler beschloss damals, wie er später sagte, Politiker zu werden. Darin liegt Hitlers Verwandtschaft mit Millionen anderen, und darin zeigt sich auch eine gewisse Nähe zu Ödön von Horváth, der Krieg und Nachkriegszeit als prägende Erfahrung seiner Generation begriff.
1919 trat Hitler, während einer politischen Bildungswoche, auch erstmals als Redner auf. Der Historiker Karl Alexander von Müller hat ihn dabei beschrieben: »Festgebannt um einen Mann in ihrer Mitte, der mit einer seltsam gutturalen Stimme unaufhaltsam und mit wachsender Leidenschaft auf sie einsprach: ich hatte das sonderbare Gefühl, als ob ihre Erregung sein Werk wäre und zugleich wiederum ihm selbst die Stimme gäbe. Ich sah ein bleiches, mageres Gesicht unter einer unsoldatisch hereinhängenden Haarsträhne, mit kurzgeschnittenem Schnurrbart und auffällig großen, hellblauen, fanatisch kalt aufglänzenden Augen.«7
Unabhängig von der Frage, wieviel von dieser 1954 veröffentlichten Erinnerung Rückprojektion war, der magische Austausch zwischen der kleinen erregten Gruppe und dem leidenschaftlichen Redner wurde das Modell der Hitlererfahrung von Millionen – als auch der späteren Hitler-Deutung.
Die Aufnahme vom sprechenden Hitler auf dem Münchner Marsfeld ist drei bis vier Jahre später entstanden, beim ersten Reichsparteitag der NSDAP am 28. Januar 1923. Auch diese Fotografie wurde von Heinrich Hoffmann gemacht.
Horváth lebte in München und liebte die Berge. Und er liebte Wanderungen in den Alpen. Aus der Höllentalhütte im Wettersteingebirge schickten der Neunzehnjährige und sein Bruder von einem Wanderurlaub eine Karte an die Eltern. Ein Jahr später, 1921, schrieb Ödön allein von der Coburger Hütte am Drachenkopf.
Zu dieser Zeit machte er auch Bergwanderungen mit Gustl Emhardt und anderen Freunden. Öfter besuchten sie dabei ein älteres Ehepaar, mit dem sie sich befreundet hatten, in dessen Bergbauernhof im abgelegenen Hinterhornbach.8
Horváth bewältigte damals den Grat zwischen Alp- und Zugspitze, eine Tour von acht Stunden, ein langer, sehr schmaler Bergweg, nicht ganz einfach. Es war eine Klettertour, von der sein Freund und Bergkamerad Hans Geiringer noch Jahrzehnte später schwärmte. »Es war die schönste Tour meines Lebens.«9
In den Bergen (wie vor dem Meer) erfährt sich der Mensch auf besondere Weise als Einzelner, allein gegenüber der gewaltigen Natur. Das ist sozusagen die klassische Bergerfahrung. Horváth sah es anders, moderner. Sein Stück Revolte auf Côte 3018, spielt ausschließlich in den Hochalpen, während des Baus der Zugspitzbahn. Die Alpen bildeten für Horváth die Kulisse, um eine eigene Dramaturgie und Sprache zu entwickeln. (Revolte auf Côte 3018 sei sein erstes Stück, hat Horváth selbst gesagt. Was aber nicht ganz stimmt, es gibt mehrere dramatische Versuche aus früherer Zeit. Revolte auf Côte 3018 hat er 1926/27 geschrieben.)
Die Berge sind bei Horváth der Ort, an dem der Mensch kein eigenständig Handelnder ist, sondern ein Spielball. Hoch oben in den Bergen arbeiten kleine arme Leute, denen nichts anderes übrigbleibt, als dort ihr Leben zu riskieren. Ihnen galt Horváths Sympathie. Horváths Entdeckung in Revolte auf Côte 3018 war dabei: Die Großkopferten, die Bessergestellten, die Geldigen, die aus der Stadt, die Hochdeutsch sprechen und sich für etwas Besseres halten, sind in den Bergen, wenn der Sturm beginnt, genauso lächerlich und hilflos wie die kleinen Leute. Die Berge machen alle gleich. Das interessierte ihn, und das gefiel ihm.
Bekannt ist auch sein kleiner Text Aus den weißblauen Kalkalpen. Der Begriff »Kalkalpen« wird bei ihm mit Vorliebe verwendet. Horváth, der in den bayerischen Alpen zum Touristen und zum Autor wurde, schätzte den Ausdruck »Kalkalpen« sehr. Er gab dem Gebirge etwas Geologisches und Erdgeschichtliches, den menschlichen Geschicken entzogen. Kalkalpen, das klingt groß und unberührt und ein wenig distanziert.
Horváths Zuneigung zu den Alpen und den Wanderungen war ein typisches Phänomen. Es war die Zeit des beginnenden Tourismus. Die Berge wurden bevorzugter Ort für Ausflüge, Reisen, Erlebnisse, es entwickelte sich damals eine Bewegung, die dann immer mehr zu einer Massenbewegung werden würde.
Die Masse war groß, hatte keine Gestalt, sie war anonym. Sie wogte und strömte hin und her, sie füllte die Städte, Straßen und Plätze. Sie litt an Hunger und Armut. Sie kam aus den großen Fabriken. Die Masse transportierte die Gerüchte, in ihr wuchsen die Meinungen, blühten die Vorurteile.
Obwohl sie dergestalt präsent war, war die Masse bis in die zwanziger Jahre kein großes Thema. Die politische Linke sah in ihr die revolutionäre Kraft. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky erwähnten sie, aber sie reflektierten nicht in eigenen Aufsätzen oder Reden über sie. Sie war da, aber sie wurde nicht eigens zum Thema gemacht. Bücher wurden nur ganz wenige über sie geschrieben, mit allerdings bedeutenden Ausnahmen: 1921 war in Wien Siegmund Freuds Aufsatz Massenpsychologie und Ich-Analyse erschienen, in dem er versuchte, individualpsychologische Erkenntnisse auf große Menschenmengen zu übertragen. Ernst Tollers Masse Mensch war 1920 in Nürnberg uraufgeführt worden. Psychologie der Massen, das Buch des Franzosen Gustave Le Bon, in dem das Thema erstmals bearbeitet worden war, gab es seit 1895.
Für den Chemiestudenten und angehenden Schriftsteller Elias Canetti, ein 1905 in Bulgarien geborener Jude, wurde die Masse in den zwanziger Jahren zu einem bestimmenden Thema. Sein Werk kreist um Erfahrungen, die er als junger Mann in Frankfurt und Wien mit der Masse gemacht hat. 1922, noch keine 18 Jahre alt, spürte er nach der Ermordung Walter Rathenaus in Frankfurt am Main, wo er lebte, erstmals die Gewalt der Masse. Sie erschien ihm rätselhaft und mächtig. Sie war für ihn nicht Trägerin konkreter Ideen, revolutionärer Vorstellungen oder bürgerlich-konservativer Ängste, Canetti nahm die Masse sozusagen kreatürlich wahr, wie ein eigenes Lebewesen.
Etwas später, November 1923, putschten in München der schon damals durch und durch antisemitische Adolf Hitler, die SA und NSDAP. Hitler wurde verhaftet, die NSDAP verboten. Etwa zu dieser Zeit begann Ödön von Horváth, immer noch in München wohnend, bei den Eltern in der Türkenstraße, an einem seiner (tatsächlich) ersten Stücke zu schreiben. Es war eine »Chronik aus dem Jahr 1495«, die er Dósa nannte – nach einem ungarischen Bauernführer.
Auch hier taucht die Masse auf. Am Ende der vierten Szene sagt Dósa, der Bauernführer, zum Kanzler Báthory vor dem Kronrat in Buda: »Du hast mir nichts zu befehlen! Nur mein König und der Kardinal!« Niemand erwidert etwas darauf, der Kardinal nickt lediglich, der König erhebt sich. Da beginnt Dósa, der kleine Mann, der Bauer, in die Stille des Kronrats hinein zu lachen. Dieses laute Lachen, das könnte so etwas wie Horváths Grundton sein, unheimlich, autoritätsverachtend, befreiend. Und es ist ein Geräusch der Masse. »Dósa lacht immer stärker unheimlich – sein Lachen wird eins mit dem Geheul der Massen in der Ferne – etwas brennt wieder.«10
Horváth schrieb Dósa wohl 1924, ein wenig später, etwa 1925, begann Elias Canetti sich ernsthafter mit dem Thema Masse auseinanderzusetzen. Die Masse hatte ihn gepackt. Gleichzeitig wirkte er noch unentschieden und zurückhaltend: Als ob er gewusst hätte, dass er hier ein Schlüsselerlebnis und einen Schlüsselbegriff in der Hand hielt und dass ihn die Masse nicht mehr loslassen würde. In den dreißiger Jahren kam für ihn die Macht als zweites Thema zur Masse hinzu, und ein Buch, das er noch viel später schreiben würde, begann sich erstmals abzuzeichnen. Canetti versagte sich dichterische Arbeit, konzentrierte sich ganz auf sein Werk über die Masse und die Macht, las sich jahrelang durch entlegene ethnologische, soziologische und anthropologische Literatur, forschte, hörte, erlebte und dachte über die Masse nach.
Felsenhagen ist nicht Marianne Hoppes Geburtsort, das ist Rostock. Aber hier, es ist das elterliche Gut Felsenhagen in Brandenburg, ist Marianne Hoppe aufgewachsen. Sie wird, anders als Ödön von Horváth, sehr alt werden und erst im Jahr 2002 in Siegsdorf in Oberbayern sterben.
Sie sei 1911 geboren worden, sagte Marianne Hoppe. Sie hatte dieses Geburtsjahr selbst festgelegt. In Wahrheit war sie bereits 1909 geboren. Sie machte sich damit, schon als sie noch sehr jung war, jünger als sie war, und hielt daran ein Leben lang fest. Ist das Selbstbetrug oder Selbstbeherrschung, Lüge oder Spiel, verachtens- oder bewundernswert? Es geht um das Selbst als Erfindung, und so, als bewusste Erfindung, bleibt sich das Ich ein wenig fremd.
»Ich bin mit zwölf Jahren weg von Zuhause. Zuvor bin ich sozusagen in freier Wildbahn aufgewachsen. Das war herrlich. Mit dem Leben, das ich dann später geführt habe und auch, ja fast noch als Kind, mit ausgesucht habe, war das aber nur sehr schwer zu vereinbaren.«11
Marianne Hoppe war als Kind wohl das, was man einen »Wildfang« nannte, naturverbunden, frei, eigensinnig, störrisch. Und sie wuchs in behütetem Hause auf, hatte zwei ältere Geschwister, es gab ein Stubenmädchen und eine Kinderfrau. Der Krieg und seine Auswirkungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit berührten ihr Leben nur wenig. Der Vater war zwar einberufen worden, aber bereits 1915 zurückgekehrt. Die fehlenden Feldarbeiter waren durch Kriegsgefangene ersetzt worden. Es gab Änderungen, aber es ging doch auch alles seinen gewohnten Gang.
In Felsenhagen, ein ländliches Idyll, wo man barfuß laufen konnte, wo sie ein eigenes Pony hatte, wo sie mit dem Vater ausritt, war so kaum etwas von den großen Umwälzungen und Bewegungen zu spüren, die nun das Leben der meisten anderen Menschen so sehr beeinflussten.
Im Alter von nur vierzehn Jahren aber, 1924, kam Marianne Hoppe nach Berlin-Dahlem zur Erziehung.
In diesem Jahr 1924, als Marianne Hoppe nach Berlin kam, als Hitler geputscht hatte und deswegen in München zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde, begann Ödön von Horváth als Schriftsteller zu arbeiten. Damals, im Alter von 23 Jahren, wählte er Murnau als seinen Wohnort. Die Familie hatte das große Dorf – oder die kleine Stadt – 1920 entdeckt, sie hatte hier ein Grundstück gekauft und eine Villa gebaut, in der Horváth nun für zehn Jahre leben würde. Eltern und Bruder waren weiterhin meist in München, wo der Vater arbeitete. Ödön war in Murnau. Die Gründe dafür sind schnell gefunden. Hier gefiel es ihm, hier waren die Berge nah, hier fand er Raum und Konzentration für seine Arbeit. Ob er bereits am Anfang die Nähe der oberbayerischen Bevölkerung suchte, oder ob er sie erst hier zu einem wesentlichen Teil seiner schriftstellerischen Arbeit machte, muss offenbleiben. Es ist aber auch nicht entscheidend.
Murnau hatte damals knapp 3000 Einwohner. Blickte man die Hauptstraße, die auch Marktstraße war, hinunter, sah man die Alpen. Über das Kopfsteinpflaster fuhren in Horváths Murnauer Jahren Pferdewagen genauso wie Automobile. Der Ort war groß genug, um eine gewisse Anziehungskraft auf die umliegenden Gemeinden auszuüben: eine Marktgemeinde mit Touristen, ein neues Strandbad, kulturelle Veranstaltungen, Hotels. Im Hotel »Post« gab es ein Radio, vor dem sich die Dorfbewohner versammelten. Die Zugverbindung nach München war hervorragend, nach Garmisch und in die Berge ebenfalls. Die herausragenden Freizeitmöglichkeiten wie Wandern, Bergsteigen, Schwimmen, Eisstockschießen zogen nicht nur Fremde an, sie wurden auch von Horváth allesamt gern wahrgenommen. Wobei er das Wandern in den Bergen besonders schätzte.
Murnau war klein genug, dass es noch als ganz und gar ländlich durchgehen konnte, mit den Vorzügen des persönlichen und beschaulichen Lebens. Man kennt in solchen Verhältnissen viele der Menschen, auch die, die man nicht kennt – also noch nicht gesprochen hat. Der soziale Zusammenhang ist spürbar, die Dorfbewohner bilden eine – wie gut auch immer funktionierende – Gemeinschaft. Die überragende Rolle der Versammlungsorte, der Wirtschaften und Biergärten (Hotel Post, Hotel Schönblick, Strand-Hotel, Gaststätte Kirchmeir, Pantlkeller, die Cafés Seerose und Almrose) ist für Horváth wie für Murnau zu Recht immer wieder hervorgehoben worden.
»Wissen’S, da sin mir Mädel immer in die Post, Hotel Post, zum Tanzen gangen. Und da ham ma einige Male mit ihm getanzt. Das war ein großer strammer Mensch, sonst weiter ham man ja nicht gekannt, gei, aber ein sehr, wie sog i denn, feiner Mann. Das war a Schriftsteller, seine Eltern ham ja hier gewohnt, in der Bahnhofstrasse hatten’s a Villa. Mehr wollt er nicht.« So erzählte eine Murnauerin 1978 in einem Film des Bayerischen Rundfunks über Horváth.
Diesen Ort also hat Horváth gewählt, um Schriftsteller zu werden und zu sein. Hier fühlte er sich wohl, hier konnte er so schreiben, wie er wollte. Er konnte sich konzentrieren, er kam mit Menschen zusammen, die ihn interessierten, die Art des Kontakts entsprach ihm. Man muss dabei im Kopf behalten, es wäre kein Problem gewesen, in der Münchner Wohnung in der Martiusstraße zu wohnen – einen guten Kilometer entfernt von der oberen Schellingstraße, die er sich bald für seine Arbeit vornahm (er hatte zeitweilig auch in der Türken-, Ludwig- und der Arcisstraße gewohnt).
Der wichtigste Grund für Murnau als Wohnsitz könnte jedoch gewesen sein: Das kleine Murnau diente Horváth als Modell der Gesamtgesellschaft. Es wurde sein Muster. Selbst in Horváths späteren Arbeiten, nach 1933, als er nicht mehr hier wohnte, taucht Murnau als Folie auf. Man kann sagen, Murnau bilde eine Keimzelle und den Kern seines gesamten Werkes. Jugend ohne Gott, der Roman von 1937, den er schrieb, als er Murnau bereits seit Jahren verlassen hatte, spielt in einem dörflichen Kosmos, der dem Murnauer entspricht. Man kann sagen, das damalige Murnau ist das Modell von Horváths Welt.
Möchte man sich vom Murnauer Leben Horváths ein Bild machen, sind die zahlreichen Fotografien, die aus dieser Zeit überliefert sind, ebenso sprechendes Material wie die Erinnerungen. Von Horváth gibt es Murnauer Bilder im Fuhrwerk, genauso wie an einem Auto. Man sieht ihn arbeiten, man sieht ihn wandern, man sieht ihn beim Baden, beim Ringkampf im Strandbad, man sieht ihn trinken und feiern. Und man sieht den gutsituierten Villenbesitzer, vor dem Portal mit Freitreppe, mit Familie und Hund.
Horváth bewegte sich in dieser Welt ebenso im Anzug mit Krawatte wie in Lederhose mit Kniestrümpfen. Selbst aus den Hochalpen findet sich ein Bild, auf dem er im Anzug zu sehen ist. Das vielleicht schönste Foto zeigt ihn mit Freunden 1929 an einem Tisch der Fürst-Alm, eines wunderbar gelegenen Biergartens außerhalb von Murnau. Horváth lacht in die Kamera, eine aufgekratzte Frau hat ihren Arm um seinen Hals gelegt, daneben Freunde, vor ihnen Weinflaschen und ‑gläser. Die Stimmung scheint sehr fröhlich und gelöst. Man kann von Glück sprechen. »Ich sehne mich nach der Fürst-Alm, um mit Dir Schach spielen zu können«, schrieb Horváth im Januar 1929 aus Berlin an seine damalige Murnauer Freundin Lotte Fahr.12 »Nirgends in ganz Oberbayern hat man solch einen instruktiven Überblick über eine typisch oberbayerische Landschaft«, schrieb er in einer Skizze über den Ort.13
Manches Foto von Murnauer Faschingsbällen und aus dem Murnauer Strandbad zeigt Horváth in größeren Gruppen, Frauen wie Männer, Alte und Junge. Die Gruppen machen einen ausgesprochen lebenslustigen Eindruck. Horváth ist dabei, aber er befindet sich immer ein wenig am Rand, schaut mal distanziert in die Kamera, blickt von oben auf die anderen, blickt zu Boden, fast nie aber ist er so munter wie die anderen. Ein Bild aus dem Strandbad gibt es, da legt er den Zeigefinger an seine Nasenspitze und scheint einen momentanen Scherz zu machen. Auf einem anderen hält er ein Kind, was man aber leicht übersehen kann. Horváth kann verschmitzt aber auch melancholisch sein, das zeigen die Fotos mehr als deutlich. Und auch das: Er gehörte dazu, hielt sich aber am Rand auf.
Horváth vorne links als Matrose beim Fasching 1926.
Gustl Emhardt, die Freundin aus München, erinnerte, wie sich die Brüder Horváth am Seestrand mit Damenmützen und Bademänteln »hüftewiegend« in das Damenbad schlichen. Horváth sagte von sich: »Wenn sie mir einen Matrosenanzug mit kurzen Hosen und einer Matrosenmütze anziehen, dann schau ich aus wie ein rausgefressener Konfirmand in einer Riesenfamilie.« Das war ziemlich bayerisch gesagt. Luise Ullrich, die diese Äußerung überliefert hat, kommentierte sie so: »Das war Ödön. Das war skurril, und es stimmte. Er hatte ein dickes, breites Kindergesicht mit großen braunen, ängstlichen Augen. Ängstlich? Nein, eigentlich mit erstaunten Augen, erstaunt über die Menschen und sich selbst.«14 Immer noch ist da dieser Blick, dieses Anstaunen, von dem die Mutter gesprochen hatte.
Wenn das Leben für das Werk eines Künstlers Bedeutung haben sollte, dann ist das im Fall Horváths vor allem das Murnauer Leben. Die langjährige Leiterin der Monacensia, des Literaturarchivs der Stadt München, und Murnauer Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Tworek macht seit etwa 35 Jahren darauf aufmerksam. In zahlreichen Aufsätzen, Büchern und mit immer neu entdeckten Dokumenten und Details weist sie auf die Bedeutung Murnaus und damit Oberbayerns für Horváth hin. Trotzdem hält sich bei Horváth hartnäckig das Bild eines österreichischen, ein wenig aristokratisch-schmuddeligen Autors. Horváth ist im allgemeinen Bewusstsein bis heute ein Semi-Bohemien mit k. u. k.-Anstrich. Aber er war ein bayerischer Zugezogener, er wurde zum Oberbayer, der sich für ein paar Jahre ganz ordentlich in die Murnauer Dorfgemeinschaft integrierte – und sich dabei von dieser Gemeinschaft sein eigenes Bild machte.
In einem weiteren von Horváths frühen Stücken, Mord in der Mohrengasse, geschrieben wohl 1923/24, nach Dósa und vor Revolte auf Côte 3018, der Autor war 22 Jahre alt, beginnt der zweite Akt mit »Drei Dirnen« und dem »Verwachsenen«, bald treten noch eine »Altmodische« und ein »Polizist« auf. Es ist bereits ein für Horváth typisches Personal. Sein Faible für abseitige Figuren, für kleine Leute, seine Liebe zu eigenartigen Kreaturen, hatte der Autor von Anfang an. Dazu gehörten auch Prostituierte, die Bewohnerinnen der Straße – ein bevorzugter Spielort Horváths.
Der Wohnort Murnau bedeutete für Horváth keinen Rückzug aus der gesellschaftlichen und politischen Realität. Die Frau als Ware, dieses zentrale Thema seines Werkes, in dem sich die Ökonomie und »das Fräulein« überschneiden, war von Anfang an ein Thema und blieb es in Murnau. 1921 hatte Horváth an der Münchner Universität einen Vortrag zum Mädchenhandel besucht, der ihn anscheinend nachhaltig beeindruckte.
Zu Beginn der 3. Szene von Ein Wochenendspiel, geschrieben 1928, treten wieder Prostituierte auf, diesmal sind es nur zwei. Auch sie befinden sich in einer Straße, einer Seitengasse. Ein Teil ihres Dialogs verläuft so: »Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. Mit dem Lippenstift. Für mich sind am besten Gemäldeausstellungen, überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht.« Pause »Eigentlich ist der Krieg dran schuld.« »An was denn?« »An mir.« »Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg!«15
In Italienische Nacht, der endgültigen Fassung des Stoffes, lautet dieser Dialog dann fast genauso. In solchen Gesprächsfetzen, dem beiläufig Dahingesagten, spricht sich, quasi nebenbei, bei Horváth das Wesentliche aus. Darin liegt die (hier beginnende) Kunst dieses Dramatikers. So machte er die Menschen sichtbar, die nicht gelernt haben, sich auszusprechen. Im Dialog aus dem Wochenendspiel kann man eine wesentliche Aussage über den Ersten Weltkrieg finden. Der Krieg bestimmte, was nach ihm kam, er diente allgemein als Entschuldigung und Rechtfertigung für das, was in diesen Jahren geschah.
Prostituierte, die Straße, das Bordell, waren dabei zentral. In den Entwürfen von Horváths Roman Herr Kobler wird Paneuropäer sagt Schmitz: »So ein Bordell, die Atmosphäre regt mich immer an. Es wirkt auf mich irgendwie künstlerisch.«16 Und im Kapitel 50 des zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Romans 36 Stunden schrieb Horváth: »Seit es Götter und Menschen, Kaiser und Knechte, Herren und Hörige, Beichtväter und Beichtkinder, Adelige und Bürger, Aufsichtsräte und Arbeiter, Abteilungschefs und Verkäuferinnen, Familienväter und Dienstmädchen, Generaldirektoren und Privatsekretärinnen - - kurz. Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: »Im Anfang war die Prostitution!««17
Horváth scheint durchaus vertrauten Umgang mit Prostituierten gehabt zu haben. Zu Hertha Pauli sprach er – nach 1933 – etwas ironisch von den »braven Huren«, sein Freund Karl Frucht berichtet von einer Szene, wo sie, er und Horváth, Prostituierte auf dem Schoß gehabt hätten, »nichts weiter«. Prostituierte sind Figuren zwischen Typ und Kreatur, denen Horváth eine eigene, umfassende Zuneigung entgegenbrachte.
Im Wochenendspiel (und dann in Italienische Nacht) findet sich neben den »Dirnen« auch eine weitere, spezielle Spielart der Prostitution. Martin schickt Anna auf »den politischen Strich«, sie soll dem politischen Gegner schöntun und ihn so ausspionieren. Die Gegner, das sind die Faschisten, ein Linker verscherbelt hier also eine Frau für die »gute Sache«.
Horváth hatte Lust daran, zu zeigen, wie sexuelle Ausbeutung überall, auch in verborgenen Strukturen steckt und funktioniert. Irgendwie prostituiert sich jeder, das lässt sich als verborgene Tendenz in Horváths Werk ausmachen. Ein weiteres Beispiel ist das Schaufenster der Puppenklinik im Wiener Wald, wo Marianne zwischen Scherzartikeln und Skeletten die Auslage arrangiert. Alfred betrachtet sie dabei wohlgefällig durch die Scheibe, für den Zuschauer erinnert die Szene an eine Peepshow. Er kann sich so – im Theater sitzend – selbst als Voyeur erkennen.
Im Wiener Wald, wo der norddeutsche Student Erich von der älteren Valerie ausgehalten wird, und in Zur Schönen Aussicht, wo die Freifrau Ada das männliche Hotelpersonal aus- und sich zur sexuellen Verfügung hält, gibt es die männliche Prostitution. Prostitution ist bei Horváth tatsächlich allgegenwärtig, sie bestimmt die Beziehungen.
Auch in späteren Werken tauchen Prostituierte immer wieder auf. Eine moralische Verurteilung der Prostitution, überhaupt irgendeine Form ihrer Verurteilung, gibt es bei Horváth nicht. Eher schien ihn zu interessieren, möglichst viele Beispiele von offener und verdeckter Prostitution zu sammeln. Er schien sie ganz nüchtern betrachten zu wollen, die Prostituierte als Person, die nicht davor zurückschrickt, Liebe in Geld zu tauschen. Alle scheinen bei Horváth Angst zu haben, sich zu prostituieren, allein die Prostituierten nicht.
Für Adolf Hitler, auch er wurde schriftstellerisch tätig, war Prostitution dagegen besorgniserregend. Nicht aufgrund des Wohls der Frauen, sondern wegen der Knaben und jungen Männer. In Mein Kampf schreibt er: »Wer will sich da wundern, daß schon in diesen Alterskreisen die Syphilis ihre Opfer zu suchen beginnt? Und ist es nicht ein Jammer, zu sehen, wie so mancher körperlich schwächliche, geistig aber verdorbene junge Mensch seine Einführung in die Ehe durch eine großstädtische Hure vermittelt erhält? Nein, wer der Prostitution zu Leibe gehen will, muß in erster Linie die geistige Voraussetzung zu derselben beseitigen helfen. Er muß mit dem Unrat unserer sittlichen Verpestung der großstädtischen ›Kultur‹ aufräumen, und zwar rücksichtslos und ohne Schwanken vor allem Geschrei und Gezeter, das natürlich losgelassen werden wird.«18 Hitler hatte Mein Kampf 1924 in der Festungshaft begonnen, der zweite Band erschien 1926.
Hitler sah – quasi als Gegenstück zu Horváth – Prostitution als verderbten Auswurf großstädtischer Kultur, als Produkt der modernen Massengesellschaft. Horváth verurteilte sie nicht, für Hitler war sie eines der großen Übel. Horváth sah sie überall, Hitler nur im Sündenpfuhl Großstadt. Die Felder, auf denen sich Horváth und Hitler bewegten, waren so weit entfernt voneinander nicht – nur die Wahrnehmung war eine vollkommen andere.
Mit diesem Bild befinden wir uns im Jahr 1925. Marianne Hoppe ist nun bereits 16 Jahre alt. Sie selbst sagte, nur zur Erinnerung, sie sei damals 14 Jahre alt gewesen, und sie sei mit zwölf nach Berlin gegangen. Die Aufnahme stammt aus der Schulzeit am Königin-Luise-Stift in Berlin Dahlem. Von 1924 bis 1926, das war Marianne Hoppes erste Berliner Zeit. Sie kam vom Land, dem elterlichen Gut, wo sie das freie Leben geliebt hatte, direkt in die Großstadt.
Sie ging einen Weg, den damals nicht viele Frauen gingen, aber es begann doch so etwas wie eine Bewegung, vom Land in die Stadt, Frauen taten das, was bisher nur Männer getan hatten, sie gingen allein, sie behaupteten sich.
Das Königin-Luise-Stift war 1811 gegründet worden. Es war eine Höhere-Töchter-Schule, mit typischer Zucht und strenger Erziehung. Die Mitschülerinnen waren meist von Adel und kamen von den ostelbischen Landgütern. Die Erziehungsideale waren traditionell: Ordnung, Häuslichkeit, Schlichtheit. Hier, in solchen Anstalten, nahm das seinen Lauf, was man »Zurichtung eines Fräuleins« nennen könnte. Das wäre dann mit Horváths Augen gesehen. Marianne war der Meinung, man lerne an dem Stift nichts, auch wenn es Unterricht nicht nur im rechten Benehmen, sondern auch in Englisch, Französisch und Geschichte gab. Zur Stiftungstracht gehörten hochgestecktes Haar und hochgeschlossene Bluse. Die junge Stiftsschülerin begegnete dem mit Kurzhaar.
Auf den ersten Blick wirkt sie nordisch, streng, kühl. Aber das ist nicht das, was an diesem Bild fasziniert. Vielleicht ist es die Andeutung von etwas Undurchschaubarem, etwas Unzugänglichem, etwas verschlossen Eigenem. Dieses Mädchen ist zurückgenommen, es wirkt alles andere als offensiv, es bleibt trotzdem der Eindruck, dass sie selbstbewusst ist und bei sich. Sie wird sich vielleicht noch über sich selbst wundern.
Die riesige Schleife über dem weißen Kragen sieht aus, als sei sie angeklebt. Als ob man sie zu einem Präsent machen wollte – sie aber sieht so aus, als sei sie schon woanders. Nur dass der Wille, so es ihn denn schon gibt, so er erst reifen sollte, in ihr versteckt ist, nicht nach außen drängt. Was da wohl kommen wird?
1926 war Hitler schon länger aus der Haft entlassen, hatte aber noch Redeverbot. Er war eine halbwegs bekannte Figur in der Weimarer Republik, wurde aber nicht ganz ernst genommen. Auch in der NSDAP war er noch nicht als unumschränkter Führer etabliert.
Was hatte Hitler allen anderen Mitgliedern der NSDAP voraus, dass er nicht nur die Partei in seine Gewalt brachte, sondern auch die Macht im gesamten Staat zusammen mit der Partei, die immer mehr seine wurde, erlangte? Orientiert man sich an den Aussagen der Zeitgenossen, war es vor allem seine Fähigkeit als Redner.
Diese Fähigkeit als Redner aber war nicht eine Fertigkeit des Sprechens oder des Auftretens, der Formulierung oder der Sprache, es war eine Fähigkeit mit dem Wesen zu kommunizieren, das Canetti die Masse nannte. Gern wird das Wort auch im Plural verwendet, die Massen (so wie später die Gelder, die Börsen), was wenig Sinn ergibt, da die Einzahl schon alle umfasst.
Was aber ließ im Volk bzw. in der Masse das Gefühl entstehen, ihm folgen zu wollen, in seinem Willen aufgehoben zu sein, die Verantwortung an ihn zu delegieren? Warum ließ man sich von ihm führen?
Diese Frage ist auch dann wichtig, wenn man die Folie der Weimarer Republik auf die heutige Situation projizieren will. Hitler wurde in der Bundesrepublik jahrzehntelang als Führer stilisiert, damit man sich von eigenen Schuldgefühlen ablenken konnte. Heute aber kann die Beschreibung des psychosozialen Vorgangs, in dem sich Hitler die Masse zu eigen machte, aufschlussreich sein. Hitlers Gefolgsleute wollten am Anfang nicht das, was später geschah. Subjektiv erlebten sie, dass er sie dorthin mitnahm, sie meinten tatsächlich in einem Führerstaat zu leben.
Im Februar 1926 fand in Bamberg eine Tagung der NSDAP statt, deren Ziel und Verlauf parteiintern nicht klar kommuniziert war, die aber für die weitere Geschichte der NSDAP entscheidende Bedeutung erlangte. Im Kern ging es bei der Tagung um die Rolle Hitlers. Sollte er der unumschränkte Führer der Partei sein, die maßgebliche Instanz, oder gab es andere Faktoren, zum Beispiel eine Programmatik, die seine Kompetenzen, seinen Wirkungskreis, seine Führungsrolle einschränken sollten?
Hitler erkannte das wohl genau. Die norddeutschen Teile der Partei erarbeiteten ein Programm, das bei der Bamberger Tagung diskutiert werden sollte. Albert Krebs, Gauleiter der NSDAP in Hamburg, der den Vorgang aus seiner Perspektive schilderte, der aber an der Tagung selbst nicht teilnahm, sprach von einer norddeutschen »Verfassung«, die Hitler aufgezwungen werden sollte.1 Die Vertreter Norddeutschlands, zu denen auch Goebbels gehörte, wollten die Richtlinien, die sie erarbeitet hatten, vorlegen und – wahrscheinlich in einer Diskussion und der nachfolgenden Abstimmung – durchsetzen.
Goebbels aber, so Krebs, habe Hitler den Plan verraten, woraufhin dieser ergebene NSDAP-Unterführer aus Franken zu der Tagung hinzugezogen habe, die jede Abstimmung gegen ihn unmöglich machten. Krebs’ Darstellung ist in den Details nicht ganz tatsachengetreu, sie zeigt aber deutlich, in welch angespannter Atmosphäre diese Tagung aus norddeutscher Sicht stattfand.
Die Frage ist, was geschah, dass die norddeutsche Vereinigung hinterher in der Bedeutungslosigkeit versank und Hitler auf seinem Weg zu unumschränkter Führungsgewalt einen entscheidenden Schritt weiterkam. Die Versammlung hatte 60 bis 65 Teilnehmer, fand im Gasthof Stöhren statt und wurde von Hitler geleitet. Seine Rede ist nicht überliefert. Es wurde allerdings eine Zusammenfassung, zehn Tage später, im Völkischen Beobachter (25. 2. 1926) veröffentlicht. Darin kann man lesen: