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Wie man die Oberhand behält Wo es um Beeinflussung und Überzeugung geht, wird immer manipuliert. Einer ist dabei obenauf, der andere hat das Nachsehen. Wer sich die dahinterliegenden Prozesse bewusst macht, ist in der Lage, sie vorteilhafter zu gestalten. Der Strategieprofi Johannes Steyrer schärft die Wahrnehmung kleiner und großer Manipulationen. Seine Erkenntnisse verknüpft er mit höchst amüsanten Alltagsgeschichten und belegt sie mit aktuellen Forschungsergebnissen aus der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften. Der Autor zeigt vor allem, wie man das große Spiel der Manipulation für sich entscheidet. Nicht immer, aber immer öfter.
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Seitenzahl: 318
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Johannes Steyrer
Wie man sich durchsetzt,wie man sich schützt
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
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1. Auflage
© 2018 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH,
Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Lektorat: André Pleintinger
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus Palatino, Honda, Garage
ISBN 978-3-7110-0166-5
eISBN 978-3-7110-5231-5
1.Wie wirkmächtig ist Manipulation?
2.Das Räderwerk der Beständigkeit
Der Fall Lena, die ihren hartgesottenen Vater aufs Kreuz legt
2.1Salamitaktik oder Fuß-in-die-Tür-Technik
2.2Das Ködern der Menschenfischer
2.3Das Sesam-öffne-dich der Manipulation: Freiheit und indirekter Zwang
2.4Die Tür vor der Nase zuknallen oder die »Glühheiß-Handwarm-Manipulation«
2.5Beständigkeitsfalle: Anwendung und Selbstschutz
3.Das eherne Prinzip der Gegenseitigkeit
Der Fall Pankraz und die gesalzene Erbschaft
3.1Egoismus und Ichsucht auf dem Prüfstand
3.2Das Prinzip der Gegenseitigkeit: Anwendung und Selbstschutz
4.Der Kontrasteffekt und irrationale Entscheidungen
Der Fall Becky und Chantal, Vanille-Latte und die Saint-Michel-Tasche
4.1Kontrasteffekt: Anwendung und Selbstschutz
5.Der Ankereffekt und irrationale Entscheidungen
Der Fall Boris, das geklaute Rad und das angedrehte Mountainbike
5.1Ankereffekt: Anwendung und Selbstschutz
6.Verlustabneigung und Lust-/Frustbilanzen
Der Fall Evi und warum das Leben Sirtaki tanzt
6.1Der irrationale Widerwille gegen Verluste
6.2Verlustabneigung: Anwendung und Selbstschutz
7.Belohnung und/oder Bestrafung als Zuchtmeister
Der Fall Hubert und das Geschäftchen von Cockerspaniel Arko
7.1Mehr Kohle, mehr Leistung!?
7.2Der Sisyphos-Autopilot: »Genug-ist-nicht-genug«
7.3Die Motivationskiller
7.4Belohnung und Bestrafung: Anwendung und Selbstschutz
8.Mimikry, Übereinstimmung, empathisches Mitgehen und Führen
Der Fall Victoria, die verpatzte Präsentation und die Krokodilstränen
8.1Mimikry, Spiegeln und Führen: Anwendung und Selbstschutz
9.Mixed Pickles der Manipulation
9.1Psychologie der Knappheit, Torschlusspanik und Krautfleckerln
9.2Soziale Bewährtheit und Mainstream-Guidelines
9.3Ähnlichkeiten und gemeinsame Merkmale als Basis für gute Beziehungen
9.4Körperkontakt und Thomas Gottschalk
10.Übungsbeispiele und Praxisfälle
11.Gut und Böse, Cyber-Manipulation und Pippi Langstrumpf
Anmerkungen
Südtiroler Eltern wollten Asyl in Österreich beantragen. Warum? »Wir werden unsere Kinder nicht vergiften!«1, sagten sie. Geht es hier etwa um illegale Giftmülldeponien der Mafia? Mitnichten! In Italien gibt es seit 2017 eine gesetzliche Impfpflicht. Rationale Argumente von Ärzten wie »Die Forschung zeigt, dass es keine schädlichen Nebenwirkungen gibt« überzeugen Impfgegner nur wenig.
Manipulative Tools, Tipps und Tricks können hingegen oft Wunder wirken: Sie sind dreimal wirksamer als rationale Argumente, um die Einstellung von Impfgegnern zu ändern. Sie verursachen bei Schulkindern, zumindest kurzfristig, einen Leistungszuwachs um das Zweieinhalbfache. Sie verdoppeln die Bereitschaft, aus Ökogründen einen Monat lang Mülltagebücher zu führen. 21 richtige Worte bringen Mitarbeiter dazu, immerhin für eine Woche, um 51 Prozent härter zu arbeiten. Ihr Einsatz verzweifacht die Zuwendungen für Krebshilfe und die Bereitschaft zu Prostatauntersuchungen. Sie lassen fast 100 Prozent der Österreicher nach irreversiblem Hirntod ihre Organe spenden, während das nur zwölf Prozent der Deutschen tun. In einem Mahnschreiben, das an säumige Steuerzahler ergeht, genügt nur ein einziger Satz, um den Anteil derer, die die Abgaben überweisen, um 50 Prozent zu steigern.
Diese Tools, Tipps und Tricks verbessern die Chancen beim Anbandeln um das Fünffache, und wenige richtige Worte puschen die Erfolgsquote von Freundschaftsanträgen auf Facebook um sagenhafte 240 Prozent. Wer sie anwendet, erscheint auf einen Schlag um 20 Prozent sympathischer und erhöht den Anteil derer, die ihm aus der Patsche helfen, um das Dreifache.
Durch ihre Handhabung kann in Verhandlungen um 25 Prozent mehr herausgeholt werden. Sie helfen den Verkaufserfolg bis zum Fünffachen zu maximieren und bewirken, dass der Prozentsatz jener, die sich für das billigere Produkt entscheiden, um die Hälfte schrumpft. Sie verursachen, dass Konsumenten um über 50 Prozent mehr den Verkaufsempfehlungen folgen, und ihr Gebrauch lässt Kunden für ein und dasselbe Produkt doppelt so viel hinblättern.
Dilettantische Beeinflussung ist hingegen ein Schuss ins Knie: Wenige Minuten Videoaufzeichnung von Ehepaaren, die aufeinander Einfluss nehmen, genügen, um mit über 90-prozentiger Sicherheit zu prognostizieren, ob das Paar in drei Jahren geschieden ist. Über sechs Millionen Dollar Leistungsprämien für Schüler haben auf deren Noten keine Auswirkung, und Geld fürs Blutspenden lässt die Spenderquote um 40 Prozent hinunterrasseln.
Von der Macht der Manipulation, wie sie funktioniert, worauf sie beruht und wie sie sich davor schützen, lesen Sie in diesem Buch.
Was bedeutet Manipulation? Manipulation im klassischen, engen Sinn ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: Erstens: Manipulation beeinflusst andere zum eigenen Vorteil und gegen deren Interessen. Zweitens: Die Einflussnahme geht so vonstatten, dass das Gegenüber sie nicht bemerkt. Drittens: Der Beeinflusste hat das Gefühl, sich frei entschieden zu haben.2
Zweifelsohne, das ist harter Tobak, amoralisch und ethisch fragwürdig. Aber machen wir uns nichts vor. Unablässig beeinflussen Menschen andere Menschen, damit sie etwas tun oder unterlassen, damit sie anders denken oder fühlen – egal ob es sich dabei um Partner, Kinder, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Käufer, Schüler, Patienten oder Klienten handelt. Dabei sind immer, direkt oder indirekt, eigene Vorteile im Spiel. Was die Interessen der anderen betrifft, stellt sich überhaupt die Frage, ob – unterm Strich – Menschen stets wissen, was sie wollen. Stimmt die pauschale Sichtweise, dass wir das tun, was wir wollen? Ist es nicht genau andersherum: Wollen Menschen nicht das, was sie tun? Jedenfalls teilen wir alle einen Hang zum Wunschdenken und Schönreden. Was also kommt beziehungsweise kam zuerst: Motivation oder Manipulation? Auch empfinden wir offen zutage tretende Beeinflussungen als Bauernfängereien. Darauf reagieren wir höchst allergisch. Das setzt Gegenwehr und Widerstand in Gang. Geht es daher auch ohne Tarnen und Täuschen? Menschen setzen sich schließlich, wenn es nicht um ihre unmittelbaren Bedürfnisse geht, nur selten von selbst in Bewegung. Dazu sind, wie es der Wirtschaftsnobelpreisträger 2017 Richard Thaler nennt, gewisse Anstöße (»Nudges«) nötig.3 Schließlich geht es um die Art der Ziele, die es zu erreichen gilt. Schockbilder auf Zigarettenpackungen sind Manipulation pur. Trotzdem sind sie für die meisten legitim.
Noch etwas kommt hinzu. Offene, freie Gesellschaften ersetzen, wo immer das geht, Zwang durch mehr oder weniger freien Willen. Stellen Sie sich vor, wer Seife statt Duschgel benutzt, bekäme Fernsehverbot, wer sich die Beine nicht epiliert, öffentlichen Badeausschluss, Sitzenbleiber in der Schule hätten dem Klassenprimus zu dienen, Raucher die Straßen zu kehren, und wer die Schlagerparade von Florian Silbereisen schwänzt, den verdonnert man zu Fahrverbot in Bayern. Und wer in letzter Konsequenz Kim Jong-un nicht als gottähnlich verehrt, kommt ins Straflager!
Last, but not least stellt sich eine persönliche Frage: Sitzen Sie an den Schalthebeln der Macht? Können Sie andere Leute mit den Worten »You’re fired!« nach Belieben über die Klinge springen lassen? Ist das nicht der Fall, dann müssen Sie die Strippen anders ziehen. Dann sind für Sie Tools, Tipps und Tricks der Manipulation eine Frage der Selbstdurchsetzung.
Alles in allem sind die Grenzen zwischen Manipulieren und Motivieren, Verführen und Führen fließend und nicht immer leicht zu ziehen. Daher wird der klassische, enge Manipulationsbegriff um eine Facette erweitert. Er soll auch Beeinflussungen inkludieren, deren Ziele aus Sicht des Beeinflussers legitim sind, eigentlich dem Adressaten nützen, aber trotzdem von ihm nicht gewollt, ja sogar mehr oder weniger abgelehnt werden. Das Beispiel des Impfboykotts ist so ein Extremfall.
Machen wir uns aber nichts vor: In unserem sozialen Leben begegnen wir immer wieder auch der dunklen Seite manipulativer Macht. Dann sind wir die Gelackmeierten, Hereingelegten, Getäuschten und übers Ohr Gehauenen. Wer es versäumt, sich mit Manipulation zu beschäftigen, wird ihre willfährige Beute. Wissen ist da Schutzimpfung und Gegenmittel zugleich.
Bevor wir beginnen, sollten Sie sich aber auch darüber im Klaren sein, dass schlagkräftige Manipulation schwer zu demaskieren ist. Sie setzt tief in uns verwurzelte Reiz-Reaktions-Muster in Gang. Sie wirft in uns Autopiloten an, die kaum auszuschalten sind. Menschen verhalten sich in vielen Situationen, so paradox das auch klingt, irrational, aber dennoch vorherseh- und damit lenkbar. Beispielsweise bremst spontane Emotion überlegten Verstand nur allzu oft aus. Sind wir traurig, nehmen wir für ein und dasselbe Produkt um 29 Prozent mehr Geld in die Hand.4 Bringen Kellner die Rechnung auf einer herzförmigen Tasse, stecken sie im Vergleich zur eckigen um 15 Prozent mehr Trinkgeld ein.5 Sozialer Status löst in uns Herdentriebe aus. Im Normalfall gehen 16 Prozent der Fußgänger bei Rot über die Ampel. Tut dies vor ihnen ein Anzug- und Krawattenträger, folgen 55 Prozent. Hat derjenige aber Bluejeans und ein zerlöchertes T-Shirt an, gehen nur neun Prozent mit.6 Wir sind für uns selbst der Nabel der Welt. Selbstverliebt nehmen wir Mehrkosten von 17 Prozent in Kauf, nur um über uns selbst statt über andere oder Sachfragen reden zu dürfen.7 Von diesem Faktum leben ganze Branchen. Zu guter Letzt agieren wir völlig aberwitzig, wenn uns die Evolution ein Schnippchen schlägt. Sie hat uns auf Vermehrung getriggert. Daher stecken Männer Sexdarstellerinnen während ihres Eisprungs 49 Prozent mehr Trinkgeld ins Höschen als während der Menstruation. Ihr Autopilot ließ sie das machen, denn keinem war das bewusst.8
Dennoch ist Achtung geboten, raffinierte Manipulation setzt zwar – wie von Zauberhand – Automatismen in Betrieb, aber fix ist nix. Ob man sich Ihnen unterwirft oder nach Ihrer Pfeife tanzt, ist bloß mehr oder weniger wahrscheinlich und niemals absolut sicher.
Dieses Buch erläutert die wirksamsten Techniken der Beeinflussung und skizziert den aktuellen Forschungsstand. Besonderes Augenmerk wird auf die Anwendung in Alltag und Berufsleben gelegt sowie auf die Frage, wie man sich vor Manipulation schützt. Zu diesem Zweck werden anschauliche Geschichten zum Start jedes Kapitels, aber auch zwischendurch erzählt, die die Tauglichkeit der Tools, Tipps und Tricks und die damit verbundenen Stolperfallen in der Praxis illustrieren.
Wir starten gleich mit der ersten Story, und zwar mit dem Fall Lena.
Der Fall Lena, die ihren hartgesottenen Vater aufs Kreuz legt
Frau Mama hat sich schon an das Rap-Gedröhn aus dem Dachgeschoss gewöhnt. Dort hat sich Lena ihr Rückzugsnest eingerichtet. Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter ist also noch halbwegs intakt. Weniger Verständnis hat ihr Vater für die zickig-fordernde »Eltern sind doof«-Phase seiner Lena. Töchterliche Aufmüpfigkeit und väterliche Untersagungen gehen demzufolge Hand in Hand. Nunmehr steht für Lena die Schulabschlussparty vor der Tür. Sie glaubt zu wissen, dass die ganze Klasse bis weit nach Mitternacht wegbleiben darf. Allerdings hängt über ihr, wie ein Damoklesschwert, das in Stein gemeißelte Gesetz: »Bevor du nicht 16 bist, hast du um Punkt 22 Uhr zu Hause zu sein!« Vor den anderen offenbaren zu müssen, wie ein Kleinkind behandelt zu werden, wäre Blamage und Bloßstellung zugleich. Ihr drängender Versuch, eine mütterliche Berechtigung, wenigstens bis 23 Uhr, einzuholen, ist fehlgeschlagen. Frau Mama hat einen nicht einbekannten Bammel vor Kollateralschäden, verweigert Seitenabsprachen und beschränkt sich auf den wohlmeinenden Rat: »Versuch’s halt beim Papa! Du wirst sehen, wenn du ihn weniger frech bittest, gibt er schon nach.«
Nach Nettsein ist Lena zwar nicht zumute, aber sie hat keine Alternative. Käme sie demonstrativ unfolgsam zu spät nach Hause, dreht der werte Papa mit Sicherheit ihren Sommertrip ab. Sie muss es strategisch angehen: »Papa, alle, wirklich alle in unserer Klasse dürfen beim Schulabschlussfest bis nach Mitternacht bleiben. Nur ich nicht! Ich mache mich lächerlich.« »Lena, du weißt genau«, erklärt ihr der um Contenance bemühte Vater, »dass das ein Präzedenzfall wäre. Also nein. Jetzt wartest du noch das eine Jahr. Dann bist du 16, und dann sehen wir weiter.« Allerdings hat Lena so etwas antizipiert und kontert mit dem schlagenden Argument: »Papa, eigentlich ist jetzt Sommerzeit, und 23 Uhr ist 22 Uhr. Niemand verletzt also die Regel, und es gibt damit auch keinen Präzedenzfall! Im Herbst haben wir dann ja wieder Normalzeit.« Mit diesem Winkelzug hat ihr Papa nicht gerechnet. Er fühlt sich entwaffnet, ist aber gleichzeitig auch stolz auf die Raffinesse seiner Tochter. Zudem fühlt er sich erleichtert, ohne Gesichtsverlust seine väterliche Toleranz zu demonstrieren: »Okay, das überzeugt auch mich. Also sei’s drum. Dann kommst du halt einmal erst um 23 Uhr nach Haus!« Lena triumphiert über den Etappensieg. Mutig legt sie tags darauf ein Schäuferl nach: »Du, Dad«, spricht sie ihn, versöhnlich wie schon lange nicht, an: »Du, Dad – ich könnte mit der Mama von Clarissa nach Hause fahren. Wär‘s nicht gescheit, wenn ich gleich mit ihr fahre? Aber bitte entscheide du selbst, ob du das willst.« Das Vaterherz antizipiert die nächtliche Marscherleichterung und gibt klein bei: »Ja super, da brauch ich dich nicht abzuholen. Ja, meinetwegen.« Daraufhin lässt Lena, ihren Sieg vor Augen, die Katze aus dem Sack: »Danke, Dad! Das ist super. Aber ich glaube, die Mama von Clarissa holt uns erst später, so gegen Mitternacht, ab.«
Ihr Dad spürt zwar, dass er jetzt in Toleranzzonen hineinschlittert, die jenseits davon liegen, was er für rechtens hält, will aber die soeben errungene friedliche Koexistenz nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. Er willigt also ein. Zwei Tage später outet sich Lena: »Dad, Scheiße – Clarissas Mama ist verhindert und kann nicht fahren.« Darauf der kalt erwischte Papa: »Dann hol ich dich um 23 Uhr ab.« Lena dazu: »Das geht jetzt nicht mehr, denn ich hab allen schon gesagt, dass ich auch bis Mitternacht bleiben darf.« In einem Moment resignierter Selbstaufgabe kapituliert das Vaterherz und gibt nur mehr ein grantig in sich hineingebrummtes: »Mach, was du halt glaubst!« von sich.
Im Herbst steht die Halloween-Party an. Mit der alten Tour kann Lena nicht mehr kommen. Diesmal setzt sie auf eine neue Taktik: »Dad, nächste Woche ist die Halloween-Party. Ich komm erst am Sonntag so gegen 22 Uhr nach Hause.« Wachsam stellt ihr Vater fest: »Sonntag! Das ist mir zwar nicht recht wegen der Schule, aber das geht okay.« Lena darauf empathisch: »Ja, das mit der Schule am Montag kann ich gut verstehen. Aber mach dir keine Sorgen. Das Fest beginnt schon Freitag um Mitternacht. Wahrscheinlich wird’s Sonntag eh nicht so spät.« Dass diesem kecken Ansinnen eine forsche Absage erteilt wird, war Lena sonnenklar. Aber sie konnte darauf bauen, dass ihr besorgter Papa sein gewieftes Töchterchen freitagnachts um drei Uhr früh, leicht schlaftrunken, heimbringen wird.
Lena setzte clever und subtil ihre Interessen durch. Wie sie dabei vorging, wird in der Manipulationsforschung die Fuß-in-die-Tür-Technik, das Ködern und die Aber-Sie-sind-frei-Technik genannt. Zur Durchsetzung der Halloween-Party wandte sie die wirksame Tür-vor-den-Kopf-Technik an. Was steckt hinter diesen abstrus klingenden Methoden, und wie werden sie zum Einsatz gebracht?
Wir glauben zu wissen, andere Menschen seien in der Hauptsache durch Zureden, Einreden, Überreden, Überzeugen, ja bis hin zum Breitschlagen, also durch direkte Beeinflussung, dazu zu bringen, anders als bisher zu denken, zu fühlen oder zu handeln. Das ist jedoch weitgehend ein Irrtum. Als Beeinflusser sind Sie erfolgreicher, wenn der Beeinflusste sich selbst dazu verpflichtet, was Sie wollen. Um das ins Rollen zu bringen, sind gewisse Starthilfen notwendig.
Zunächst gilt es, die Fehlannahme über Bord zu werfen, hinter menschlichem Handeln stünden immer Absichten. Natürlich verfolgen Menschen Pläne, Ziele und Intentionen. Aber auch das Gegenteil trifft zu. Menschen wollen das, was sie tun! Daraus ergibt sich, den Fokus der Einflussnahme weniger auf Einstellungen, Werte oder Gefühle zu lenken, sondern auf das Handeln.
Handeln Menschen, wollen sie das Getane vor sich selbst und gegenüber anderen rechtfertigen. Vorheriges und Nachheriges sollen folgerichtig und sinnvoll aufeinander bezogen sein. Wir haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Übereinstimmung, Durchgängigkeit und Konsistenz. Genau das ist der springende Punkt bei der Beständigkeitsfalle. Jedes Handeln engt Optionsräume ein. Haben wir einen Entschluss gefasst, uns auf eine Linie, ein Ziel eingeschworen, lassen wir davon schwerlich wieder ab. Der Knackpunkt ist: »Wer A sagt, muss auch B sagen!« Aber nicht nur das. Hartnäckig überzeugen wir uns selbst davon, das Richtige, Vernünftige, Gute und Sinnvolle zu tun beziehungsweise getan zu haben, bis hin zur starrsinnigen Irrationalität.
Das hört sich noch ziemlich allgemein und theoretisch an. Wie funktionieren also diese »selbst auferlegten Zwänge« im Detail?
Der gesunde Hausverstand lehrt, Menschen handeln gemäß ihrer Einstellungen. Gläubige gehen sonntags häufiger in die Kirche. Befürworter einer Aidsprävention verwenden mehr Präservative. Mit der Arbeit Unzufriedene wechseln ihren Job. Grün-Wähler sind keine Vielflieger. All das hat seine Richtigkeit, aber nur in einem bescheidenen Ausmaß. Der Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten ist, das ist in vielen Studien gezeigt worden, unbedeutender als vermutet.9
Beispielsweise hatten Testpersonen die Alternative zwischen a) einer spannenden Aufgabe mit einer möglichen Belohnung von 30 Dollar und b) einer langweiligen Aufgabe ohne Belohnung. Sie hatten zu entscheiden, ob sie sich selbst oder einem Kameraden Aufgabe a) oder b) zuordnen. Zuvor wurde ihre Fairnesseinstellung gemessen. Nur einer von 20 (also fünf Prozent) war der Ansicht, es sei moralisch in Ordnung, sich die gute und dem Kollegen die schlechte Option zuzuteilen. Trotzdem handelten 80 Prozent gegen ihre Überzeugung und teilten sich selbst die interessantere, bezahlte Aufgabe zu.10 Die Fairnesseinstellung hatte also kaum einen Einfluss auf die Entscheidung.
Wann beeinflussen Einstellungen unser Verhalten? In der Forschung werden bis zu 40 Faktoren diskutiert.11 So viel ist gewiss, auf die Situation kommt es an. Versetzen Sie sich in Frank. Der hat gerade einen Finance-Master absolviert. Zudem ist er Mitglied der Jungen Union. Erst gestern hat er sich bei der Deutschen Bank beworben. Am Wochenende lernt er seine potenziellen Schwiegereltern kennen. Die entpuppen sich als eingefleischte Linke und Alt-68er. Schon nach dem ersten Zuprosten schimpfen sie über die Oligarchie des globalen Finanzkapitals und die kannibalische Profitmaximierung multinationaler Konzerne. Dummerweise hat sich Frank für Anzug und Krawatte entschieden. Innerlich geißelt er seine Künftige, ihn nicht vorgewarnt zu haben. Auch Selbstvorwürfe bleiben nicht aus, denn ihre Message »Meine Eltern finden Verlobungen nur etwas für Spießer« hätte er als Warnung deuten können. Zwischendurch flüchtet er auf die Toilette. Dort lockert er seinen Krawattenknopf und erspäht an der Klotür dutzende Anti-AKW-Sticker. Mit dem guten Vorsatz »Nur ja in kein Fettnäpfchen mehr treten« kehrt er zurück. Schließlich stimmt Frank, als Erbe von drei Eigentumswohnungen, der Einführung einer gepfefferten Erbschaftssteuer zu. Zum Schluss bekommt er eine Che Guevara-Biografie zum Lesen mit. Galant bedankt er sich und tut kund, er freue sich auf die Lektüre und sehe einer spannenden Diskussion entgegen. Das Setting, so viel ist jedem klar, hat sein Verhalten beeinflusst, mehr als seine Geisteshaltung.
Ein reichlich konstruiertes Beispiel, werden Sie sagen. Aber überlegen Sie, wer darüber bestimmt, wie rasch Sie auf einen Brief, eine E-Mail, eine SMS oder auf WhatsApp-Nachrichten reagieren? Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielt das Medium für Ihre Reaktionsdauer eine größere Rolle als Ihre Einstellung zu zweckmäßigen Antwortfristen.
Hier liegt der Einspruch nahe: »Je wichtiger jemandem etwas ist, desto mehr beeinflusst das sein Verhalten!« Aber auch das stimmt nur teilweise. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Neuen Testament wird ein Mann auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern ausgeplündert. Schwer verletzt bleibt er liegen. Keiner, nicht einmal ein Priester, kümmert sich um ihn. Erst ein Samariter, eigentlich Feinde der Juden, erbarmt sich seiner, versorgt die Wunden und nimmt ihn zur Herberge mit. Diese biblische Botschaft sollte wohl vor allem für künftige Priester richtungsweisend sein. Ob sie es tatsächlich ist, ist überprüft worden. Angehende Theologen hatten entweder einen Vortrag über Karrierechancen oder eine Predigt über das Samaritergleichnis zu halten. Auf ihrem Weg zum Referat lag ein verwundeter, stöhnender Mann. Bloß 40 Prozent halfen, also nicht einmal die Hälfte! Diejenigen, die über Karriere sprechen sollten, halfen überhaupt nur in 29 Prozent der Fälle. Von denen, die eine Samariterpredigt vorzubereiten hatten, halfen immerhin 53 Prozent. Aber man bedenke, was das heißt: 47 Prozent derer, die vor der biblischen Verkündung selbstloser Hilfe standen, verweigerten den Beistand. Was für ein eklatanter Widerspruch. Auch weitere situative Einflüsse wurden untersucht. Personen unter Zeitdruck halfen nur in zehn Prozent, die mit mittlerem Zeitdruck in 45 Prozent und die ohne Zeitdruck in 63 Prozent der Fälle.12
Einstellungen scheinen also nur in bescheidenem Ausmaß das Verhalten zu bestimmen. Aber wie sieht der umgekehrte Zusammenhang aus?
In Abbildung 1 sind sechs Frauenpaare zu sehen. Vergleichen Sie die Paare. Welche Frau erscheint Ihnen attraktiver? Nehmen wir an, Sie entscheiden sich oben ganz links für die rechte Frau. Hinterher müssen Sie Ihre Bevorzugung begründen. Ihre Antwort: »Schönere, ovale Gesichtsform. Feiner geschnittene Augen. Sinnlichere Lippen.« Genau das hatten Testpersonen zu tun.13
Abbildung 1: Welche Frau in den gezeigten Paaren ist attraktiver?
So weit, so unspektakulär. Aber die Forscher wandten einen Kartentrick an. In ihrer linken Hand hielten sie das erste und in ihrer rechten Hand das zweite Foto der Bilderpaare. Gleichzeitig hatten sie das andere Frauenbild hinter dem nach vorne gezeigten Bild versteckt. Entschied sich eine Person für eine Frau, wurde entweder das gewählte oder in einigen Fällen das nicht gewählte Bild ausgehändigt. Wie das gemacht wurde, kann auf YouTube verfolgt werden.14
Im Schwindelfall mussten also die Getesteten Entscheidungen begründen, die sie gar nicht trafen. Jetzt werden Sie sagen, niemand lasse sich ein A für ein B vormachen, jedem fielen derartige Fakes sofort auf und der Unwille sei groß, im Widerspruch zur eigenen Wahl zu argumentieren. 87 Prozent der Getesteten merkten bei spontaner Reaktion die Inkorrektheit nicht. All die Reingelegten erfanden mithin Gründe für eine Bevorzugung, die gar nicht die ihrige war.
Doch es kommt noch frappanter. In einer Nachfolgestudie wurde die Wirkung der ersonnenen Begründung für die höhere Attraktivität des nicht gewählten Fotos untersucht. Es zeigte sich, dass bei einer Folgeentscheidung mehrheitlich diejenigen Personen den Zuschlag bekamen, die zuvor eine Abfuhr erhielten. Die erzwungene Scheinargumentation führte also dazu, dass sich die bekundete Präferenz änderte.15 Conclusio: Das Verhalten änderte die Einstellung.
Diese zwei Studien räumen Ihre Zweifel vielleicht nicht aus. Aber hinter den Befunden steht eines der wichtigsten Konzepte der Sozialpsychologie, nämlich die Theorie der kognitiven Dissonanz, die ein Pionier des Faches, der US-Amerikaner Leon Festinger (1919–1989), in den 1950er-Jahren entwickelt hat.16 Seither wird ihre Grundannahme in unzähligen Studien bestätigt: Menschen wollen in Harmonie mit sich und ihren Überzeugungen leben. Lassen sich Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Absichten oder Wünsche schwer vereinbaren, wird das als unangenehm erlebt. Wir setzen dann alles daran, daraus resultierende Spannungen beziehungsweise Dissonanzen zu tilgen, um wieder ins Gleichgewicht zu geraten. Wird ein Raucher mit stark erhöhtem Lungenkrebsrisiko konfrontiert, sollte ihm angst und bange werden. Aber nur wenige lassen sich davon belehren. Entweder sie meiden und verdrängen derartige Fakten oder bringen sich mit fadenscheinigen Ausreden, wie »Ich lebe kürzer, aber intensiver«, »Wer lange raucht, wird auch alt«, wieder in eine Balance. Neueren Befunden zufolge drosseln zumindest die gruseligen Schockbilder auf den Zigarettenpackungen den Neueinstieg und in bescheidenen Maßen den Konsum.17 Aber nicht nur das: Menschen wollen partout nicht wissen, was tatsächlich der Fall ist, sondern sie wollen recht behalten. Zu den größten Herausforderungen der Menschheit gehört zweifelsohne der Klimawandel. In einer Studie hat man Befürworter und Gegner des Pariser Klimaabkommens mit Daten von Experten konfrontiert, die bis 2100 entweder eine starke (3,8 bis 6,1 Grad) oder moderate Zunahme der Temperatur (0,5 bis 2,7 Grad) vorhergesagt haben. Daraufhin hat man die Verfechter und Opponenten des Abkommens eine eigene Abschätzung abgeben lassen. Es hat sich gezeigt, dass die Experten keinen Einfluss auf die vorgefassten Meinungen gehabt haben. Die Besorgten haben sich ausschließlich von den alarmierenden und die Gegner von den beruhigenden Informationen beeinflussen lassen.18
Zurück zur obigen Präferenzwahl und nachherigen Bevorzugung der ursprünglich nicht gewählten Frau. Hier wird man an Aesops Fabel erinnert, in der ein Fuchs liebend gern Trauben verzehrt hätte, aber sie nicht erreicht. Statt sich sein Versagen einzugestehen, wertet er den Leckerbissen als zu sauer, eigentlich ungenießbar und der Mühe nicht wert ab. Das oben geschilderte Experiment repräsentiert gewissermaßen die Umkehrung: Die Testpersonen bekamen saure Trauben untergeschoben, redeten sich diese schön und schlossen sie hernach in ihr Herz.
Im Leben bekommen wir oft nicht das, was wir wollen, sondern wollen das, was wir bekommen. Jedes Sagen, Handeln, Tun zieht allmählich auch das dazugehörige Glauben, Denken, Wissen nach sich, selbst wenn wir ursprünglich vom Gegenteil überzeugt gewesen sind. In Abbildung 2 werden verschiedene Sichtweisen über die angenommene Richtung der Beeinflussung veranschaulicht. Die Diskussion darüber, was zuerst kommt – Henne oder Ei –, ist allerdings müßig. Handlungen beeinflussen Einstellung und Wollen, Einstellung und Wollen beeinflussen Handlungen. Allerdings hocken Menschen auf ihren Einstellungen und Denkweisen wie brütende Hennen auf ihren Eiern. Wer sie dabei aufscheucht, erntet Abwehr und Aggression. Daher ist es ratsamer, sie mit Futter zu locken und so aus vermeintlich freien Stücken zum Sprinten, Flattern und Fliegen zu bringen.
Abbildung 2: Wechselwirkung zwischen Einstellung und Handlung
Aber es kommt noch desillusionierender, weil es gar keiner untergeschobenen rationalen Begründung bedarf, um das zu mögen, wonach uns zunächst gar nicht war. Vielmehr genügt bereits die irrige Annahme, dass wir dafür etwas übrighaben.
In einer Studie ging es in einem Wahrnehmungsexperiment um Präferenzen für Urlaubsziele. Nur kurz sollten am Bildschirm zwei Ferienorte erscheinen. In Wirklichkeit war aber nichts zu erkennen. Dann hatten die Personen zu befinden, in welchem der beiden Urlaubsdomizile sie sich glücklicher fühlen würden (rein intuitiv, denn zu sehen war ja nichts). In der Anschlussrunde waren die Alternativen tatsächlich zu sehen. Wiederum mussten die Präferenzen angegeben werden. Mit einem Sternchen war aber markiert, wofür man sich zuvor entschied. Auch in der Zweitrunde bekam mehrheitlich das erstgewählte Domizil den Zuschlag.19 Was ist daraus zu folgern? Das Räderwerk der Beständigkeit funktioniert auch auf unbewusster Ebene. Ein vorheriges Schönreden ist gar nicht erforderlich. Haben wir uns einmal für etwas entschieden, selbst wenn wir dafür gar keine Entscheidungsgrundlagen gehabt haben, dann bleiben wir dabei! Wir folgen automatisch und gedankenlos dem Muster: »Neue Entscheidungen sollen alte Entscheidungen rechtfertigen.«
Eine Wahl zwischen zwei Urlaubszielen ist harmlos. Aber wie verändert aggressives Verhalten unsere Einstellung? Noch drastischer formuliert: Wie verändert Töten unsere Einstellung zum Töten? Sind wir danach eher bereit, (noch) willfähriger zu töten, und wie fühlen wir uns dabei? Gibt es also eine Eskalationsspirale des Tötens, wie sie in Kriegen beobachtbar ist?
In einem raffinierten Experiment hatten Personen Käfer zu töten, und zwar entweder einen oder fünf. Dann stand es ihnen frei, weitere Käfer in einer elektrischen Kaffeemahlmaschine zu zerkleinern. Die Zerkleinerungsprozedur dauerte pro Insekt 20 Sekunden. Bei jedem Käfer-Abmurksen war drei Sekunden lang der Einschaltknopf zu drücken. Diejenigen, die zuvor fünf Käfer umbrachten, töteten nachher signifikant mehr als diejenigen, die zuvor nur einen auf dem Gewissen hatten. Noch bedenklicher: Die Serienkiller erlebten bei ihrem Tun weniger negative Emotionen (zum Beispiel ängstlich, angespannt, schuldig) und mehr positive (zum Beispiel aktiv, wachsam, begeistert) als diejenigen, die nur einen Käfer kaltgemacht hatten.20 Die Käfer waren übrigens, zu Ihrer Beruhigung, allesamt Attrappen.
All das illustriert das langsame Hineinschlittern in einen Zyklus der Selbstverstärkung, der umgangssprachlich durch die »Salamitaktik« ins Rollen kommt. Scheibchenweise wird uns nach und nach mehr und mehr abverlangt, bis wir uns – nichtsahnend – unversehens in der Beständigkeitsfalle befinden. Genau das läuft ab, wenn die Fuß-in-die-Tür-Technik zum Einsatz kommt.
Sie besitzen in einer bürgerlichen Wohngegend ein Haus. Würden Sie in Ihrem Garten eine Hinweistafel aufstellen, die die Sicht auf Ihr Haus verstellt, auf der steht: »Fahren Sie vorsichtig!«? Obwohl Sie vielleicht ein Tempolimit in Ihrer Straße begrüßen würden, wären Sie dafür wahrscheinlich nicht zu haben. In einer derartigen Studie waren auch nur 17 Prozent bereit, das zu tun. Zum Unterschied dazu wurden andere zuvor gebeten, auf ihrem Auto einen Sticker anzubringen, auf dem stand: »Sei ein sicherer Autolenker!« Fast jeder erfüllte die Bitte. Später gaben sich die Forscher als Mitglieder einer Bürgerbewegung aus, die sich um sicheres Autofahren kümmert. Die Personen mit dem Sticker stellten in über 50 Prozent der Fälle das Schild auf.21 Warum ist das so? Eine kleine Einwilligung schafft die Rechtfertigung für die größere. Der Sticker löst eine Kaskade von Argumenten aus: »Ja«, sagen sie sich plötzlich, »gegen die Raserei muss etwas unternommen werden!« Das macht sie nachgiebig und willfährig für die nächsthöhere Stufe. Wie in einem Getriebe greifen die Zahnräder ineinander.
Welche anderen wünschenswerten Ziele konnten mit der Technik verfolgt werden? Die Spendenrate für Krebshilfe wurde durch das vorherige Tragen einer Anstecknadel fast verdoppelt.22 Auch die Bereitschaft zu Vorsorgeuntersuchungen gegen Brustkrebs wurde gesteigert23, und es meldeten sich mehr Menschen für potenzielle Organspenden an.24 Bei Internetusern kam es sogar zu einer Verdreifachung der Spendenrate für Landminenopfer, nachdem zuvor eine Petition zu unterschreiben war.25
Man könnte meinen, die Salamitaktik wirke nur dann, wenn sozial allgemein anerkannte Ziele beziehungsweise verborgene Eigeninteressen angesprochen werden. Wer spräche sich gegen langsameres Autofahren in Wohngegenden aus, wer gegen Krebsvorsorge und Kriegsopferhilfe? Aber dem ist nicht so. Wenn ein Schnorrer Sie auf der Straße um Geld anpumpte, wären Sie spendabel? Immerhin gaben 28 Prozent der Angesprochenen einen kleinen Obolus. Fragte man sie zuvor nach der Uhrzeit, waren es 43 Prozent. Außerdem wurde um rund ein Drittel mehr gegeben.26 Die Beständigkeitsfalle schnappt somit auch dann zu, wenn keine Ihrer Interessen auf dem Spiel stehen. Handeln erzeugt weiteres Handeln!
Sicher, fremde Leute um Geld anzupumpen, ist nicht so Ihr Ding. Ihnen ist zu Recht nach mehr Real Life zumute. Dann übernehmen Sie die Rolle eines jungen, attraktiven Mannes, der gerade an der französischen Atlantikküste (dort wurde die nachfolgende Studie durchgeführt), sagen wir in Nantes oder Pornichet, unterwegs ist. Feiner Sand, wilde Küste, lauschige Straßencafés. Sie wollen, wer könnte es Ihnen verdenken, mit einer attraktiven Frau den Abend verbringen. Was ist das richtige Balzverhalten? Wie geht erfolgreiches Anbandeln?
Variante a) direktes Anbaggern: »Hallo, bist du heute Abend sehr beschäftigt? Wenn nicht, dann könnten wir ja gemeinsam auf einen Drink gehen.« Variante b): »Hättest du vielleicht Feuer für mich?« Nach einem Ja oder Nein wurde obige Einladung ausgesprochen. Variante c): »Entschuldige die Störung, aber ich suche den Place de Libération.« Dem folgte wiederum die Einladung. Die direkte Tour war eine Bauchlandung mit einer Erfolgsquote von bescheidenen drei Prozent. Variante b) erzielte hingegen eine erfolgreiche Flirtrate von 15 Prozent und c) eine von 16 Prozent.27
Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Niemals gleich mit der Tür ins Haus fallen. Irgendwie ins Gespräch kommen. Worüber gesprochen wird, ist eher sekundär. Noch ein Tipp: Romantische Love-Hits sind zeitlose Burner! Weibliche Singles warteten auf eine Konsumentenbefragung. Im Hintergrund spielte entweder neutrale Musik oder »Je l’aime à mourir« (»Ich vergehe vor Liebe«) von Francis Cabrel, also ein gefühlvoll lyrisches Liebeslied. Bat sie in einer Pause ein junger, attraktiver Mann um ihre Telefonnummer, war er bei neutraler Musik in 28 Prozent der Fälle erfolgreich. Die romantische Musikuntermalung ließ den Erfolg in lichte Höhen schießen, und zwar auf 52 Prozent.28 Daraus folgt: Willst du Kopf und Herz gewinnen, stets mit dem Herzen beginnen.
Vertiefen wir unsere Analyse. Damit die Beständigkeitsfalle zuschnappt, ist es essenziell, dem Gegenüber irgendeine aktive Handlung abzuverlangen – und sei es nur ein »Ja, danke!« oder aber auch ein »Nein, danke!«. Jedes aktive Tun verstärkt die Verkettung zwischen Handeln, Denken und Entscheiden. Erstaunlich ist dabei, dass eine Verbindung zwischen der Äußerung und der späteren Forderung unerheblich ist. In einer Telefonumfrage erklärten sich in der ersten Runde bescheidene zehn Prozent bereit, Keksplätzchen zugunsten der Welthungerhilfe zu kaufen. Nach der Frage »Wie geht es ihnen heute Abend?« und einer entsprechenden Antwort waren es 25 Prozent.29 Diese Methode wird nach einer englischen Redewendung für unbedachte Äußerungen »Foot-in-the-mouth-Technik« (Fuß-in-den-Mund-Technik) genannt. Die »automatisierte« Antwort auf eine gebräuchliche, unverbindliche, aber amikale Floskel (»Wie geht’s?«, »Darf ich Sie kurz stören?« oder Ähnliches) sorgt dafür, dass man selbst auf »Vertraulichkeitsmodus« schaltet und für Ansuchen empfänglicher wird.
Wer mag schon lästige Telefonumfragen? In einem solchen Fall ging es um Einstellungen zu einer Tageszeitung. In Variante a) wurde gefragt: »Hallo, ich bin ein Student vom technischen Collège in Vannes. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?« Anschließend wurde Zeit gegeben, darauf zu antworten. In Variante b) wurde nach dieser quasi rhetorischen Frage gleich die direkte Bitte nachgeschossen: »Haben Sie ein wenig Zeit für eine Befragung (…)?« Eine Antwort auf die Frage wurde also bewusst vereitelt. In der dritten Variante c) wurde ohne Einleitung gleich direkt die Bitte formuliert, an der Umfrage teilzunehmen. Erster unerwarteter Befund: Nur zwei Prozent reagierten auf die Floskel »Ich hoffe, ich störe Sie nicht« negativ und antworteten zum Beispiel: »Ja doch, Sie stören!« Die weiteren Ergebnisse belegen die Wirksamkeit der Technik. In Variante a) (Frage plus Antwort) waren 25 Prozent bereit, das Interview zu machen. In Variante b) (Frage ohne Gelegenheit zur Antwort) waren es 19 Prozent. Die direkte Bitte – Variante c) – war in 17 Prozent der Fälle erfolgreich.30
Mit der gleichen Technik konnte in einer telefonischen Blutspendeaktion der Prozentsatz derjenigen, die tatsächlich zum Termin erschienen, von 62 Prozent auf 81 Prozent erhöht werden, indem man anmerkte: »Gut, wir rechnen mit Ihnen, okay?« und die Reaktion abwartete.31
Kann mit portionsweise ansteigender Etappentechnik auch ein Verhalten getriggert werden, das rechtliche Normen verletzt? Versetzen Sie sich gedanklich in folgende Situation: Ein Junge steht vor einem Zeitungsstand und fragt Sie (Stufe eins): »Entschuldigen Sie, würden Sie mir bitte behilflich sein, das Magazin von dort oben herunterzuholen. Ich bin nicht groß genug.« Dann zeigt er mit seiner Hand auf ein Pornoheft (Stufe zwei) und sagt: »Es ist das rote Heft, können Sie es sehen?« Als Nächstes flüstert er Ihnen zu (Stufe drei): »Können Sie mir bitte noch einmal helfen. Ich darf das Magazin nicht kaufen, weil ich noch nicht volljährig bin.« Anschließend reicht er Ihnen das Geld (Stufe vier) und teilt Ihnen mit: »Ich warte draußen, damit niemand sehen kann, was Sie da für mich tun.« Somit lag eine vierstufige Verführung vor. In der anderen Bedingung formulierte der Junge nur zwei Bitten (Stufe eins): »Entschuldigung, können Sie mir helfen? Ich kann das Magazin (wieder zeigt er auf das Pornoheft), das rote, nicht kaufen. Können Sie es sehen? Weil ich noch nicht volljährig bin, würde ich Sie bitten, es für mich zu kaufen.« Dann reicht er Ihnen das Geld, und es folgt der Hinweis, dass er vor der Tür auf Sie warte (Stufe zwei). Generell hatte das männliche Geschlecht mehr Einfühlungsvermögen für das Begehren des Jungen, denn unabhängig vom Setting assistierten 21 Prozent der Männer, aber nur sechs Prozent der Frauen. Aber wie wirkungsvoll war die vierstufige Fuß-in-die-Tür-Technik im Vergleich zur zweistufigen? Das Ergebnis bei den Männern: 33 Prozent Unterstützungsquote im Vergleich zu zehn Prozent. Das entspricht mehr als einer Verdreifachung.32 Die Wirksamkeit dieser Technik wurde noch in zahlreichen weiteren Studien belegt; einen Überblick bieten zum Beispiel einschlägige Metaanalysen (Zusammenfassungen des bisherigen Forschungsstandes33).
Angler kennen eine breite Palette Naturköder wie Fleischmaden, Tauwürmer oder Muscheln. Aber es gibt auch Kunstköder, die Wobbler oder Glider heißen, und Gummifrösche oder Insektenimitate in den schrillsten Farben. Als meinen kleinen Sohnemann die Anglermanie packte, war ich oft in entsprechenden Spezialgeschäften. Einmal fragte ich einen Berater leicht erstaunt: »Sagen Sie, stehen Fische überhaupt auf so was?« Er schmunzelte nur und meinte: »Wir verkaufen diese Dinger nicht an Fische!« Aber wie auch immer der Köder aussieht, er dient dazu, Fische mit wirklicher oder scheinbarer Kost anzulocken und den arglistigen Haken zu tarnen. Wer zugebissen hat, kommt nicht mehr los und liegt demnächst als Essen auf dem Teller.
Lassen sich auch Menschen ködern? Bei der Fuß-in-die-Tür-Technik wird ratenweise, Stück für Stück, mehr abverlangt. Es liegt ein stetiges Mehr in ein und dieselbe Richtung vor, und es ist ein roter Faden erkennbar. Zuerst Unterschrift und Anstecknadel für die Krebshilfe, dann Bitte um Spende. Hingegen werden beim Ködern (auch Low-Ball-Technik genannt) die wahren Kosten verschwiegen, die mit einem Verhalten verbunden sind. Auch Menschenfischer tarnen also ihr eigentliches Ziel. Im Unterschied zum Fisch verbeißen sich Menschen aber nicht in Haken, sondern in die subjektive Logik ihrer zuvor getroffenen Entscheidungen, selbst wenn sie dabei objektiv betrachtet Kopf und Kragen riskieren.
Wie bringt man Studierende dazu, um sieben Uhr früh an einem Experiment teilzunehmen? Legte man die Früh-am-Morgen-Tortur offen auf den Tisch, erklärten sich 31 Prozent bereit zu kommen. Fragte man die Studis, ob sie an einem Experiment teilnehmen möchten, und klärte sie erst nach einem Ja über den Frühtermin auf, waren 56 Prozent willens, das zu tun. Aber das ist noch nicht alles. Denn von den geköderten Studis erschienen 53 Prozent. Diejenigen, die gleich mit der Wahrheit konfrontiert wurden, erschienen nur in 27 Prozent der Fälle.34 Aber warum verhielten sich die Getäuschten besonders entscheidungskonform? Wahrscheinlich spielte sich in ihrem Kopf Folgendes ab: »Verdammt, um sieben Uhr früh. Das tut weh. Aber ich bin ein zuverlässiger Mensch. Wer A sagt, muss auch B sagen.« Schwuppdiwupp, und sie waren in der Beständigkeitsfalle gefangen, und zwar stärker als diejenigen, die gleich über die unmenschliche Zeit Bescheid wussten. Warum? Sie mussten vor sich und anderen deutlicher einbekennen, verlässlich zu sein.
Eine andere Studie bezog sich auf telefonisches Fundraising unter Studierenden: »Hallo! Wir sammeln Fünf-Dollar-Spenden, um Stipendien für arme Studierende zu finanzieren. Für deine Spende bekommst du einen Gutschein für einen Smoothie.« Nach der Zusage ergänzte der Anrufer: »Warte einen Moment, bitte. Ich sehe gerade, dass uns die Gutscheine ausgegangen sind.« Mit dem versprochenen und dann zurückgezogenen Gutschein waren 77 Prozent zu einer Spende bereit. Ohne Gutschein waren es bloß 42 Prozent.35
Vielleicht wenden Sie jetzt ein: »Gut, die Studenten hatten Angst vor der nächsten Prüfung, daher nahmen sie, trotz Widerstand, den Termin wahr, und gegenüber der eigenen Peergroup ist die Hilfsbereitschaft halt groß.« Diesen Einwand widerlegt folgender Szenenwechsel: öffentliches Krankenhaus, Eingangshalle vorm Empfang. Ein junger, durchschnittlich gekleideter Mann kommt auf Sie zu. Er hält einen acht Kilo schweren Hund an der Leine. In Variante a) fragt er Sie: »Entschuldigen Sie, ich muss meine Großmutter im Krankenhaus besuchen. Da sind Hunde nicht erlaubt. Können Sie bitte eine halbe Stunde lang auf ihn aufpassen, damit ich zu ihr kann?« Der Hundebesitzer fiel also gleich mit der Tür ins Haus und formulierte sofort eine dreiste Forderung. In Variante b) bittet er Sie ohne Hinweis auf die Dauer und fügt erst nach Ihrer Zustimmung hinzu: »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich bin rasch wieder da und werde nicht länger als eine halbe Stunde ausbleiben.« In Variante a) akzeptierten zwölf Prozent den harten Tobak. In Variante b) waren es mehr als 2,5-mal so viel, nämlich 30 Prozent.36