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Die Jagd geht weiter - Der zweite Band der Erfolgsserie "Das Erbe von Lorien".
Ich habe ihn in den Nachrichten gesehen. John Smith, irgendwo da draußen, auf der Flucht. Für die Welt ist er ein Mysterium. Für mich ist er einer von uns. Ich kann es fühlen. Und ich weiß, dass ich ihn finden muss. Sie haben Nummer Eins, Zwei und Drei getötet. Sie versuchten es bei Nummer Vier. Sie haben versagt. Sechs von uns leben noch. Wir sind bereit zum Kampf. Und unser Erbe entwickelt sich.
Nummer Sieben lebt mit ihrer Cêpan in Spanien. Von dort verfolgt sie die Ereignisse in Paradise. Sie ist sicher: John Smith ist einer der ihren. Als sie sich auf die Suche nach ihm macht, wird sie von den Mogadori aufgehalten. Währenddessen kämpft auch John gegen die Mogadori – und gegen seine Gefühle für Sechs. Ist er doch dazu bestimmt, mit einer Frau von Lorien zusammen zu sein? Was ist mit Sarah? Und wo stecken die Restlichen der Garde?
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Seitenzahl: 477
Pittacus Lore
Die Macht der Sechs
Das Erbe von Lorien Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Brunstermann
Pittacus Lore, Die Macht der Sechs
Die Originalausgabe unter dem Titel
„The Power of Six“
erschien 2011 bei HarperCollins Publishers.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0412-7
ISBN PDF 978-3-8412-2412-5
ISBN Printausgabe 978-3-351-04155-7
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2011 by Pittacus Lore
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung Kathrin Schüler, Berlin
unter Verwendung des Covermotivs von Penguin Books Ltd (UK)
und eines Bildes von flyfloor@istockphoto
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Die Ereignisse in diesem Buch entsprechen der Wirklichkeit. Namen und Orte wurden geändert, um die sechs Loriener zu schützen, die weiter im Verborgenen leben.
Andere Zivilisationen existieren.
Einige von ihnen trachten danach, euch zu zerstören.
Mein Name ist Marina. Marina wie die Königin der Meere. Doch so sollte ich erst viel später genannt werden.
Zu Beginn war ich nur unter dem Namen Sieben bekannt, als eine der neun überlebenden Garden vom Planet Lorien, dessen Schicksal in unseren Händen lag und immer noch liegt.
In den Händen derer, die nicht verloren sind.
In den Händen derer, die noch leben.
Ich war sechs Jahre alt, als wir landeten. Als das Schiff zitternd auf der Erde aufsetzte, spürte ich trotz meiner jungen Jahre, wie viel für uns – neun Cêpan und neun Gardisten – auf dem Spiel stand, und dass unsere einzige Chance hier zu finden war. Wir waren inmitten eines Sturms, den wir selbst erschaffen hatten, in die Atmosphäre des Planeten eingedrungen. Ich erinnere mich an die Dampfschwaden des Schiffs und die Gänsehaut auf meinen Armen, als unsere Füße zum ersten Mal die Erde berührten. Seit Jahren hatte ich den Wind nicht mehr gespürt und draußen war es eiskalt.
Jemand wartete auf uns. Ich weiß nicht, wer er war. Ich weiß nur, dass er jedem Cêpan zwei Bündel Kleidung und einen großen Umschlag überreichte. Noch immer habe ich keine Ahnung, was sich darin befand.
Unsere kleine Gruppe kauerte sich zusammen. Wir wussten, dass wir einander vielleicht nie wieder sehen würden. Wir sprachen Abschiedsworte und umarmten uns. Dann teilten wir uns wie vorab besprochen auf und gingen paarweise in neun verschiedene Richtungen davon. Ich schaute über meine Schulter, während sich die anderen immer weiter entfernten, bis sie, sehr langsam, einer nach dem anderen verschwunden waren.
Dann waren nur noch Adelina und ich übrig. Mit schweren Schritten betraten wir eine Welt, von der wir so gut wie gar nichts wussten. Heute ist mir klar, wie verängstigt Adelina gewesen sein muss.
Ich erinnere mich an ein Schiff, das uns an ein unbekanntes Ziel brachte. Danach zwei oder drei Züge. Adelina und ich kuschelten uns in dunklen Ecken aneinander und hielten uns abseits von allem und jedem. Per Anhalter fuhren wir von Stadt zu Stadt, über Berge und Felder, klopften an Türen, die uns vor der Nase zugeknallt wurden. Wir waren hungrig, müde und verängstigt. Ich erinnere mich, dass wir auf einem Gehsteig hockten und um Kleingeld bettelten. Ich erinnere mich auch, dass ich weinte anstatt zu schlafen. Ich bin sicher, dass Adelina ein paar unserer wertvollen Edelsteine aus Lorien opferte, nur um ein Essen zu bekommen. Vielleicht hat sie auch alle weggegeben. So groß war unsere Not. Dann fanden wir diesen Ort in Spanien.
Eine streng aussehende Frau, die ich später als Schwester Lucia näher kennenlernen sollte, kam an die schwere Eichentür. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte Adelinas Verzweiflung schon allein an ihren herabhängenden Schultern.
»Glaubst du an das Wort Gottes?«, fragte die Frau auf Spanisch, schürzte die Lippen und sah Adelina prüfend an.
»Gottes Wort ist mein Gelübde«, erwiderte Adelina mit ernstem Nicken. Ich weiß nicht, woher sie diese Antwort kannte. Vielleicht hatte sie sie gehört, als wir Wochen zuvor im Keller einer Kirche hausten.
Die Antwort war richtig. Schwester Lucia öffnete die Tür.
Seit diesem Tag sind wir hier. Elf Jahre in diesem steinernen Konvent mit seinen muffigen Räumen, zugigen Fluren und Böden wie Eisschollen. Abgesehen von wenigen Besuchern ist das Internet mein einziger Zugang zu der Welt außerhalb unseres kleinen Dorfes; ständig durchkämme ich das Netz, suche nach irgendeinem Hinweis darauf, dass die anderen da draußen sind, dass auch sie auf der Suche sind und vielleicht sogar kämpfen. Forsche nach einem Zeichen, dass ich nicht allein bin, denn mittlerweile kann ich nicht mehr sagen, ob Adelina noch an uns glaubt und für mich da ist.
Irgendwo auf dem Weg über die Berge hat Adelina sich verändert. Vielleicht lag es an einer der Türen, die zugeknallt wurde und eine hungernde Frau und ein Kind ein weiteres Mal der kalten Nacht überließ. Was immer es war, Adelina hat die nötige Achtsamkeit verloren. Ihr Glaube an die Wiederauferstehung Loriens scheint vom Glauben der Klosterschwestern abgelöst worden zu sein. Ich erinnere mich an den veränderten Ausdruck in Adelinas Augen, ihre plötzlichen Vorträge über Führung und Struktur, die wir bräuchten, wenn wir überleben wollen.
Mein Glaube an Lorien ist unerschütterlich. Vor anderthalb Jahren berichteten vier verschiedene Personen von einem Jungen in Indien, der Objekte allein mit der Kraft seines Geistes bewegen konnte. Nachdem man dem Ereignis zunächst keine große Beachtung geschenkt hatte, verursachte das plötzliche Verschwinden des Jungen viel Unruhe in der Region. Der Junge wurde gejagt. So weit ich weiß, wurde er nicht gefunden.
Dann, vor ein paar Monaten, gab es Berichte über ein Mädchen in Argentinien, das nach einem Erdbeben einen fünf Tonnen schweren Betonblock angehoben hatte, um einen darunter eingepferchten Mann zu retten; als sich die Berichte über diese Heldentat vermehrten, verschwand das Mädchen. Wie der Junge in Indien wird auch es noch immer gesucht.
Dazu all die Nachrichten über dieses Vater-Sohn-Gespann aus Ohio, das jetzt von der Polizei gesucht wird, nachdem die beiden angeblich ein ganzes Schulgebäude aus eigener Kraft zerstört und dabei fünf Menschen getötet haben sollen. Auch von ihnen keine Spur, nur ein paar mysteriöse Aschehaufen blieben zurück.
»Es sieht so aus, als hätte hier eine Schlacht stattgefunden. Anders kann ich mir das nicht erklären«, wurde der leitende Ermittlungsbeamte zitiert. »Aber unterschätzen Sie uns nicht. Wir werden der Sache auf den Grund gehen und Henri Smith und seinen Sohn John finden.«
Vielleicht ist John Smith, wenn er denn so heißt, auch nur ein Junge mit viel Wut im Bauch, weil man ihn zu sehr herumgestoßen hat. Aber daran glaube ich nicht. Mein Herz pocht, wann immer ich ihn auf dem Bildschirm sehe. Ich werde von tiefer Verzweiflung ergriffen, die ich nicht erklären kann. Ich kann in meinen Knochen spüren, dass er einer von uns ist. Und ich weiß, dass ich ihn irgendwie finden muss.
Ich lege meine Arme auf die kalte Fensterbank und sehe den Schneeflocken zu, die vom dunklen Himmel herabfallen und sich über den Abhang verteilen. Vereinzelte Pinien, Korkeichen und Buchen wachsen dort zwischen schroffen Felsformationen. Der Schnee hat den ganzen Tag nicht nachgelassen, und die Leute sagen, dass es auch die ganze Nacht durchschneien wird. Ich kann im Moment nicht viel weiter sehen als bis zum Rand des Dorfes im Norden – die Welt hat sich in einen weißen Dunstschleier aufgelöst. Wenn der Himmel klar ist, kann man tagsüber den blauen Schein des Golfs von Biskaya sehen. Aber nicht bei diesem Wetter, und ich frage mich, was wohl in all der weißen Unendlichkeit außerhalb meines Blickfelds lauert.
Ich drehe mich um. In dem zugigen Raum mit den hohen Decken gibt es zwei Computer. Um sie benutzen zu können, müssen wir uns auf einer Liste eintragen und warten, bis wir an der Reihe sind. Am Abend dürfen wir zehn Minuten am Computer sitzen, wenn ihn nach uns noch jemand benutzen will, zwanzig Minuten, wenn keiner wartet. Die beiden Mädchen sitzen nun schon seit einer halben Stunde davor. Mein Geduldsfaden wird dünner. Das letzte Mal habe ich die Nachrichten gecheckt, als ich mich heute vor dem Frühstück kurz hierher geschlichen habe. Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Neuigkeiten über John Smith. Und doch zittere ich förmlich vor Aufregung. Was mag in der Zwischenzeit geschehen sein? Nachdem die Geschichte erst einmal aufgetaucht war, gab es bisher jeden Tag eine neue Enthüllung.
Santa Teresa ist ein Kloster, das auch ein Waisenhaus für Mädchen betreibt. Ich bin jetzt das älteste von siebenunddreißig Mädchen; eine Position, die ich seit sechs Monaten innehabe, nachdem die letzte junge Frau, die achtzehn wurde, aus dem Kloster verschwand. Mit achtzehn müssen wir uns entscheiden, ob wir uns ein selbstständiges Leben aufbauen oder eines unter den Fittichen der Kirche führen wollen. Von all den Mädchen, die volljährig wurden, ist nicht ein einziges geblieben. Ich kann es ihnen nicht verdenken.
Der Geburtstag, den Adelina und ich uns bei unserer Ankunft für mich ausgedacht haben, wird in weniger als fünf Monaten sein. Dann werde auch ich achtzehn. Wie die anderen beabsichtige ich ebenfalls, dieses Gefängnis hinter mir zu lassen, unabhängig davon, ob Adelina mich begleitet oder nicht. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie mit mir kommt.
Das Kloster wurde im Jahr 1510 aus Stein erbaut und ist viel zu groß für die wenigen, die hier leben. Die meisten Zimmer stehen leer. Die bewohnten Räume sind durchdrungen von einer feuchten, erdigen Atmosphäre und unsere Stimmen hallen von der Decke wider. Das Kloster ruht auf dem höchsten Berg oberhalb des Dorfes, dessen Namen es trägt und das sich tief unter den Gipfeln der Picos de Europa im nördlichen Spanien an die Felsen schmiegt.
Wie das Kloster ist auch das Dorf aus Stein errichtet, und es gibt viele Häuser, die direkt in die Felsen hineingebaut wurden. Wenn man über die Hauptstraße des Dorfs läuft, die Calle Principal, ist es kaum möglich, den Verfall zu ignorieren. Als hätte die Zeit diesen Ort vergessen; als hätten die vergangenen Jahrhunderte nur moosgrüne und braune Schattierungen hinterlassen, während ein durchdringender Geruch von Moder in der Luft hängt.
Bereits vor fünf Jahren habe ich Adelina zum ersten Mal angefleht, diesen Ort zu verlassen und weiterzuziehen, so wie man es uns gesagt hatte. »Ich werde bald mein Erbe empfangen, und das möchte ich nicht hier unter all diesen Mädchen und Nonnen erleben«, hatte ich gesagt. Sie hatte abgelehnt und aus der Reina-Valera, einer spanischen Bibelübersetzung aus dem Jahre 1569, zitiert, dass wir uns ruhig verhalten müssten, um Erlösung zu erlangen.
Seitdem bettele ich jedes Jahr aufs Neue, und jedes Jahr sieht sie mich mit leeren Augen an und wehrt mich mit einer neuen Bibelstelle ab. Doch ich weiß, dass meine Rettung hier nicht zu finden ist.
Hinter den Kirchenpforten und unterhalb des sanft abfallenden Hügels kann ich die schwachen Lichter des Dorfs erahnen. Inmitten dieses Schneesturms sehen sie aus wie ineinanderfließende Halluzinationen. Obwohl ich die Musik aus den beiden Cantinas nicht hören kann, bin ich sicher, dass sie voller Menschen sind. Abgesehen von ihnen gibt es noch ein Restaurant, ein Café, einen Markt, eine Bodega sowie einige Händler, die ihre Waren an den meisten Morgen und Nachmittagen auf der Calle Principal anbieten. Am Fuße des Hügels, am südlichen Ende des Dorfs, befindet sich die Backsteinschule, die wir alle besuchen.
Mein Kopf fährt herum, als die Glocke läutet: In fünf Minuten wird das Abendgebet gesprochen, danach geht es direkt ins Bett. Panik überkommt mich. Ich muss wissen, ob es neue Nachrichten gibt. Vielleicht ist John gefasst worden. Vielleicht hat die Polizei etwas anderes gefunden, was für die Zerstörung der Schule verantwortlich war, etwas, das bisher übersehen wurde. Auch wenn es nichts Neues gibt, muss ich es wissen. Sonst finde ich keinen Schlaf.
Ich richte meinen starren Blick auf Gabriela García genannt Gabby, die an einem der Computer sitzt. Gabby ist sechzehn und sehr hübsch, mit langem dunklen Haar und braunen Augen. Wann immer sie sich außerhalb des Klosters befindet, trägt sie extrem knappe Blusen, die ihren gepiercten Bauchnabel zeigen. Jeden Morgen zieht sie sich etwas Weites und Luftiges an, doch sobald wir außer Sichtweite der Schwestern sind, zieht sie die Sachen wieder aus und enthüllt ein eng sitzendes, knappes Outfit darunter. Auf dem Schulweg trägt sie dann immer Make-up auf und richtet ihr Haar. Und wenn der Tag zu Ende geht, wischt sie sich auf dem Heimweg die Schminke vom Gesicht und schlüpft wieder in ihre ursprünglichen Klamotten.
Dasselbe gilt für ihre vier Freundinnen, von denen drei ebenfalls hier leben.
»Was?«, fragt Gabby in pampigem Tonfall und glotzt zurück. »Ich schreibe eine E-Mail.«
»Ich warte schon länger als zehn Minuten«, erwidere ich. »Außerdem schreibt du keine E-Mail. Du siehst dir halbnackte Jungs an.«
»Na und? Willst du mich etwa verpetzen, du kleine Tratschtante?«, fragt sie spöttisch, so als spreche sie mit einem Kind.
Das Mädchen neben ihr, das Hilda heißt, doch von den meisten in der Schule nur La Gorda – ›die Dicke‹ – genannt wird, fängt an zu lachen.
Gabby und La Gorda sind ein unzertrennliches Paar. Ich beiße mir auf die Zunge, drehe mich wieder zum Fenster und verschränke die Arme. Innerlich schäume ich, weil ich erstens an diesen Computer muss und zweitens nie weiß, was ich Gabbys Spötteleien entgegensetzen soll. Es sind noch vier Minuten übrig. Meine Ungeduld geht in pure Verzweiflung über. Jetzt gerade könnte es Neuigkeiten geben – eine Eilmeldung! –, aber ich werde es nicht erfahren, weil diese egoistischen Ziegen keinen der Computer freigeben.
Noch drei Minuten. Ich zittere vor Wut. Doch dann kommt mir eine Idee. Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Es ist eine riskante Idee, die sich aber lohnt, wenn sie klappt.
Ich drehe mich so weit herum, dass ich Gabbys Stuhl im Augenwinkel habe. Ich hole tief Luft, konzentriere all meine Energie auf ihren Stuhl und benutze Telekinese, um ihn ein Stück nach links zu rücken. Dann stoße ich ihn ganz schnell nach rechts, sodass er beinahe umfällt. Gabby springt auf und kreischt. Scheinbar überrascht sehe ich zu ihr.
»Was ist los?«, fragt La Gorda.
»Ich weiß nicht. Es hat sich angefühlt, als hätte jemand an meinem Stuhl gerückt. Hast du auch was gemerkt?«
»Nein«, antwortet La Gorda. Kaum hat sie das Wort ausgesprochen, bewege ich ihren Stuhl ein paar Zentimeter rückwärts und stoße ihn dann hart nach rechts, wobei ich die ganze Zeit meinen Platz am Fenster nicht verlasse.
Diesmal schreien beide Mädchen auf. Ich schiebe Gabbys Stuhl umher, dann noch mal den von La Gorda. Ohne einen weiteren Blick auf den Bildschirm zu werfen, flüchten die Mädchen schreiend aus dem Raum.
»Ja!«, rufe ich triumphierend, haste an den Computer, den Gabby benutzt hat, und gebe die Web-Adresse des Nachrichtensenders ein, der mir am vertrauenswürdigsten erscheint. Ungeduldig warte ich, bis sich die Seite hochlädt. Das langsame Internet in Kombination mit den alten Computern ist der Fluch meines hiesigen Daseins.
Der Browser arbeitet. Zeile für Zeile formt sich die Seite. Als ein Viertel davon geladen ist, läutet die letzte Glocke. Noch eine Minute bis zur Andacht. Ich spiele mit dem Gedanken, die Glocke zu ignorieren, selbst auf die Gefahr einer möglichen Bestrafung hin. In diesem Moment ist es mir egal. »Noch fünf Monate«, sage ich flüsternd zu mir selbst.
Die halbe Seite ist jetzt hochgeladen und zeigt die obere Hälfte von Johns Gesicht. Er sieht nach oben. Seine dunklen Augen wirken selbstsicher, auch wenn ihr Ausdruck ein Unbehagen verrät, das fast unwirklich scheint. Ich hocke auf der Kante meines Stuhls und warte. Die in mir aufkommende Erregung lässt meine Hände zittern.
»Nun mach schon«, versuche ich vergeblich, den Bildschirm anzutreiben. »Mach schon, mach schon, mach schon.«
»Marina!«, bellt plötzlich eine Stimme von der Tür her. Ich wirbele herum und entdecke Schwester Dora, eine beleibte Frau, die als Küchenchefin arbeitet. Sie sieht mich vorwurfsvoll an. Das ist nichts Ungewöhnliches. Jedes einzelne Mädchen, das mit seinem Tablett an der Essensausgabe wartet, wird von ihr normalerweise so vorwurfsvoll angestarrt, als wäre die Notwendigkeit unserer Versorgung eine persönliche Beleidigung für sie. Sie presst ihre Lippen zu einem perfekten Strich aufeinander und kneift die Augen zusammen. »Komm! Sofort! Und ich meine jetzt sofort!«
Ich seufze und weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als zu gehorchen. Also lösche ich die Chronik des Browsers und schließe ihn, dann folge ich Schwester Dora durch den dunklen Gang.
Es gab irgendwelche News; ich weiß es ganz einfach. Warum sonst hätte Johns Gesicht die komplette Seite einnehmen sollen? Nach anderthalb Wochen sind alle Nachrichten alt und abgestanden. Es muss also eine entscheidende Neuigkeit aufgetreten sein, wenn ihm so viel Platz auf dem Bildschirm eingeräumt wird.
Wir gehen zur Klosterkirche. Sie ist riesig. Ihre Stützpfeiler führen zu einer hohen, gewölbten Decke, bunte Glasfenster zieren die Wände. Hölzerne Kirchenbänke nehmen den ganzen Raum ein. Bis zu dreihundert Menschen können hier sitzen. Schwester Dora und ich betreten die Kirche als Letzte. Ich setze mich allein in eine der mittleren Bankreihen.
Schwester Lucia, die Adelina und mir einst die Tür öffnete und das Kloster noch immer leitet, steht auf der Kanzel. Sie schließt die Augen, neigt den Kopf und hält ihre gefalteten Hände vor den Brustkorb. Alle anderen folgen ihrem Beispiel.
»Padro divino«, beginnt das Gebet der murmelnden Stimmen. »Que nos bendiga y nos proteja en su amor …«
Ich blende sie aus und schaue auf die Hinterköpfe in der Reihe vor mir, die alle in Andacht geneigt sind. Oder einfach nur geneigt. Ich entdecke Adelina, die sich etwas rechts von mir sechs Reihen weiter vorn in der ersten Bankreihe befindet. In tiefer Meditation versunken kniet sie. Ihr braunes, zu einem dichten Zopf geflochtenes Haar fällt ihr auf den Rücken. Nicht ein einziges Mal sieht sie auf, unternimmt keinen Versuch, mich weiter hinten im Raum ausfindig zu machen, so wie sie es in den ersten Jahren hier immer getan hat. Damals, als sich angesichts unseres Geheimnisses jedes Mal ein Lächeln auf unsere Lippen schlich, wenn sich unsere Blicke trafen. Noch immer teilen wir dieses Geheimnis, doch irgendwann auf dem Weg hat Adelina aufgehört, an es zu glauben. Irgendwo unterwegs ist unser Plan, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, bis wir uns stark und sicher genug fühlen würden, das Kloster zu verlassen, von Adelinas Wunsch abgelöst worden, ganz einfach zu bleiben. Oder schlichtweg von der Angst zu gehen.
Bevor die Meldungen über John Smith in den Nachrichten erschienen und ich Adelina davon erzählte, haben wir zuletzt vor ein paar Monaten über unsere Mission gesprochen. Im September hatte ich ihr meine dritte Narbe gezeigt – das dritte Signal, das uns den Tod eines weiteren Garden verkündete und uns einen Schritt näher an den Punkt brachte, selbst von den Mogadori gejagt und getötet zu werden. Sie hatte so reagiert, als sei nichts geschehen. Als ob wir beide nicht wüssten, was die Zeichen bedeuteten. Und als ich ihr von John erzählte, verdrehte sie nur die Augen und riet mir, nicht länger an Märchen zu glauben.
»En el nombre del Padre, y del Hijo, y del Espíritu Santo. Amen«, murmeln sie und beim letzten Wort bekreuzigen sich alle in der Kirche, so wie ich es selbst der Wahrung des Scheins halber tue: Stirn, Nabel, linke Schulter, rechte Schulter.
Ich hatte geschlafen und davon geträumt, mit ausgestreckten Armen einen Berg hinunterzulaufen, so als ob ich jeden Moment losfliegen würde. Dann aber war ich von dem stechenden Schmerz und dem Aufglühen der dritten Narbe erwacht, die sich an meinem Knöchel bildete. Das Licht hatte ein paar der Mädchen geweckt, aber Gott sei Dank nicht die Aufmerksamkeit der Schwestern erregt. Die Mädchen dachten, ich hätte eine Taschenlampe und eine Zeitschrift unter der Bettdecke und würde das Gebot der nächtlichen Ruhe missachten. Vom Bett nebenan hatte Elena – ein stilles sechzehnjähriges Mädchen mit pechschwarzem Haar, das es sich beim Sprechen oft in den Mund steckt – mich mit einem Kissen beworfen. Meine Wunde hatte Blasen geworfen und der Schmerz war so intensiv gewesen, dass ich auf den Zipfel meiner Bettdecke beißen musste, um ruhig zu bleiben. Ich konnte mir nicht helfen und weinte, weil irgendwo da draußen Nummer Drei sein oder ihr Leben verloren hatte. Jetzt waren noch sechs von uns übrig.
Heute Abend verlasse ich die Kirche in Reih und Glied mit den anderen Mädchen und trotte auf die Schlafräume zu, die mit knarrenden, in gleichmäßigem Abstand voneinander aufgestellten Betten bestückt sind. Doch in meinem Kopf verfolge ich einen Plan.
Zum Ausgleich für die harten Betten und die eisigen Fußböden in jedem Raum sind die Bettlaken weich und die Bettdecken schwer. Der einzige Luxus, der uns zugestanden wird. Mein Bett steht in der hinteren Ecke, am weitesten von der Tür entfernt. Es ist der am meisten begehrte Platz, dort ist es ruhig. Lange hat es gedauert, ihn mir zu erkämpfen. Mit jedem Mädchen, das das Kloster verließ, konnte ich ein Bett weiter vorrücken.
Nachdem nun alle im Bett liegen, sind die Lichter ausgeschaltet. Ich liege auf dem Rücken und starre auf die gezackte Verzierung der hohen Decke. Ein gelegentliches Flüstern durchbricht die Stille, doch wer immer es verursacht, wird von der diensthabenden Schwester sogleich zur Ruhe ermahnt. Ich halte meine Augen offen und warte ungeduldig darauf, dass alle einschlafen. Nach einer halben Stunde ist das letzte Flüstern erstorben und von den sanften Geräuschen des Schlafs abgelöst worden. Aber noch wage ich es nicht. Zu früh.
Weitere fünfzehn Minuten vergehen ohne ein auffälliges Geräusch. Dann kann ich es nicht mehr aushalten.
Ich halte den Atem an und schiebe meine Beine ein paar Zentimeter über die Bettkante, während ich auf den Rhythmus von Elenas Atemzügen neben mir lausche. Bei der Berührung des eisigen Bodens werden meine Füße sofort kalt. Ich stehe langsam auf, um das Quietschen des Betts zu vermeiden, und schleiche mich dann auf Zehenspitzen quer durch den Raum. Dabei lasse ich mir Zeit und achte sorgfältig darauf, nicht gegen eines der Betten zu stoßen. Ich erreiche die offene Tür, haste in den Flur und laufe hinunter zum Computerraum. Dort nehme ich mir einen Stuhl und schalte den Computer ein.
Nervös hin- und herzappelnd warte ich darauf, dass der Computer hochfährt. Dabei werfe ich immer wieder einen Blick in Richtung Flur, um mich zu vergewissern, dass mir niemand gefolgt ist. Endlich kann ich die Internet-Adresse eingeben. Der Bildschirm wird weiß. Dann tauchen in der Mitte der Seite zwei Bilder auf, umgeben von Text und einer Überschrift in schwarzen Großbuchstaben, die zu unscharf sind, um sie lesen zu können. Mittlerweile sind es also zwei Bilder. Ich frage mich, was inzwischen geschehen ist, seitdem ich zuletzt versucht habe, die Seite aufzurufen. Und dann schließlich kann ich es erkennen.
International gesuchte Terroristen?
John Smith, mit seinem kantigen Kinn, den strubbeligen blonden Haaren und den blauen Augen nimmt die linke Seite des Bildschirms ein, während sein Vater – oder wohl eher sein Cêpan – Henri auf der rechten Seite erscheint. Allerdings sind es keine Fotos, sondern von einem Künstler angefertigte Bleistiftzeichnungen in schwarzweiß. Ich überfliege die Details, die ich bereits kenne – eine zerstörte Schule, fünf Tote, das plötzliche Verschwinden – und stürze mich direkt auf die ganz neu veröffentlichte Nachricht.
In einer aufsehenerregenden Aktion sind Ermittler des FBI heute auf die Ausstattung eines anscheinend professionellen Fälschers gestoßen. Verschiedene Geräte, die normalerweise für die Erstellung von Dokumenten verwendet werden, wurden im Haus von Henri und John Smith in Paradise/Ohio in einer Luke unterhalb der Dielenbretter im Hauptschlafzimmer gefunden. Die Ermittler befürchten eine Verbindung zum internationalen Terrorismus. Nachdem Henri und John Smith in der Gemeinde von Paradise erhebliche Unruhe verursacht haben, sind sie nun verdächtig, die nationale Sicherheit zu gefährden. Die Verdächtigen befinden sich auf der Flucht. Die Ermittlungsbeamten bitten um Hinweise, die Aufschluss auf den derzeitigen Aufenthaltsort der Gesuchten geben können.
Ich scrolle zurück zu Johns Bild. Als ich seinem Blick auf dem Foto begegne, beginnt meine Hand zu zittern.
Obwohl es nur eine Zeichnung ist, kommen mir seine Augen vertraut vor. Wie könnte ich mich an sie erinnern, wenn ich sie nicht auf der jahrelangen Reise gesehen hätte, die uns hierherbrachte? Jetzt kann mich niemand mehr davon abbringen, dass er einer der sechs übrig gebliebenen Garden ist, die in dieser fremden Welt noch leben.
Ich lehne mich zurück, puste mir die Ponyfransen aus der Stirn und wünschte, ich könnte mich selbst auf die Suche nach ihm machen. Natürlich sind Henri und John Smith dazu fähig, sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen; elf Jahre lang haben sie sich versteckt gehalten, genau wie Adelina und ich. Wie könnte ich darauf hoffen, sie zu finden, wenn die ganze Welt nach ihnen sucht? Wie könnte irgendeiner von uns darauf hoffen, wieder mit den anderen zusammenzutreffen?
Die Augen der Mogadori sind überall. Ich weiß nicht, wie sie Eins oder Drei finden konnten, aber ich glaube, sie haben Zwei wegen des Blogeintrags aufgespürt, den er oder sie geposted hatte. Fünfzehn Minuten lang hatte ich überlegt, wie ich darauf antworten könnte, ohne mich selbst zu verraten. Obwohl der Eintrag an sich sehr merkwürdig war, schien er doch für uns Andere ganz offensichtlich:
Neun, jetzt acht. Seid ihr anderen irgendwo da draußen?
Die Nachricht war von einem Account mit der Bezeichnung Zwei verfasst worden. Meine Finger flogen über die Tastatur und schrieben eine kurze Antwort, doch gerade als ich sie online stellen wollte, erneuerte sich die Seite – jemand anderer war mir zuvorgekommen.
Wir sind hier, stand da.
Mit offenem Mund saß ich eine Weile völlig schockiert da. Angesichts dieser beiden Nachrichten keimte Hoffnung in mir auf. Doch gerade als ich einen neuen, anders lautenden Eintrag verfasst hatte, erschien ein helles Leuchten an meinem Fuß und das brutzelnde Geräusch von verbrennendem Fleisch drang an mein Ohr. Ein höllischer Schmerz überkam mich. Ich fiel zu Boden, wand mich vor Schmerzen und schrie aus Leibeskräften nach Adelina, während ich meinen Knöchel mit den Händen bedeckte, damit niemand etwas bemerkte. Als Adelina schließlich kam und ihr klar wurde, was passiert war, deutete ich auf den Bildschirm. Doch er war leer. Beide Einträge waren gelöscht worden.
Ich wende den Blick von John Smiths vertrauten Augen auf dem Bildschirm ab. Neben dem Computer steht eine kleine vergessene Blume. Sie wirkt müde und verwelkt, ist auf die Hälfte ihrer Normalgröße zusammengeschrumpft und an ihren Blättern hat sich ein brauner, trockener Rand gebildet. Einige Blütenblätter sind abgefallen und liegen nun verschrumpelt neben dem Blumentopf auf dem Schreibtisch. Noch ist die Blume nicht gestorben, aber sie ist kurz davor. Ich beuge mich nach vorn, lege meine Hände um sie und bringe mein Gesicht so nahe an sie heran, dass meine Lippen den Rand der Blätter berühren. Dann blase ich warme Luft auf sie. Ein eisiges Gefühl durchfährt meine Wirbelsäule und wie zur Antwort wird die Blume zu neuem Leben erweckt. Sie richtet sich auf, ein zartes Grün umfängt Blätter und Stängel, und neue Blütenblätter, erst farblos, doch dann leuchtend violett, wachsen aus ihr hervor. Ein verschmitztes Grinsen umspielt meine Lippen. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Schwestern reagieren würden, wenn sie so etwas sähen. Doch das lasse ich nicht zu. Sie würden es missverstehen und ich will nicht in die Kälte hinausgeworfen werden. Dazu bin ich noch nicht bereit. Bald werde ich es sein, aber jetzt noch nicht.
Ich schalte den Computer aus und beeile mich, zurück ins Bett zu kommen, während meine Gedanken um John Smith kreisen. Irgendwo da draußen ist er. Pass auf und bleib in deinem Versteck, denke ich. Wir alle werden uns wieder finden.
Ein leises Flüstern erreicht mich. Die Stimme klingt kalt. Ich kann mich irgendwie nicht richtig bewegen, lausche aber intensiv.
Ich schlafe nicht mehr, bin aber auch noch nicht wach. Ich bin gelähmt, und während sich das Geflüster verstärkt, wird alles von der undurchdringlichen Dunkelheit des Motelzimmers verschluckt. Die Elektrizität, die ich verspüre, als sich die Vision über meinem Bett abzeichnet, erinnert mich daran, wie ich in Paradise/Ohio mein erstes Erbe, Lumen, empfing. Es brachte meine Handflächen zum Leuchten.
Damals, als Henri noch lebte und bei mir war. Aber Henri ist nicht mehr da. Er kommt nicht mehr zurück. Selbst in meinem jetzigen Zustand kann ich der Realität nicht entkommen.
Ich tauche in die Vision über mir ein, erleuchte ihre Düsternis mit meinen Händen, doch der Schein wird von den Schatten verschluckt. Dann erstarre ich. Alles wird still. Ich hebe meine Hände, berühre jedoch nichts. Meine Füße sind über dem Boden, ich schwebe in einer allumfassenden Leere.
Noch mehr Geflüster in einer Sprache, die ich nicht kenne, aber trotzdem irgendwie verstehe. Angsterfüllt brechen die Worte hervor. Die Dunkelheit lichtet sich und die Welt, in der ich mich befinde, wird erst grau und verwandelt sich dann in ein so strahlendes Weiß, dass ich die Augen zukneifen muss. Ein Nebel erscheint. Als er sich wieder auflöst, sehe ich einen großen offenen Raum, an dessen Wänden brennende Kerzen aufgereiht sind.
»Ich … ich weiß nicht, was schiefgelaufen ist«, sagt eine ziemlich erregte Stimme.
Der Raum ist lang und breit und hat die Größe eines Fußballplatzes. Beißender Schwefelgeruch dringt in meine Nase und lässt meine Augen tränen. Die Luft ist heiß und stickig. Und dann sehe ich sie am Ende des Raums: zwei in den Schatten verborgene Gestalten. Eine ist viel größer als die andere und wirkt noch aus der Ferne bedrohlich.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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