Die Magie des Herrschers - Markus Heitz - E-Book
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Die Magie des Herrschers E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Nach langen Jahren des Krieges sehnt sich auch Lodrik, der übermächtige Kabcar von Tarpol, nach Frieden. Allein die Bastionen der Rogogarder und Kensustrianer leisten ihm noch Widerstand, und der Traum von einem geeinten Reich scheint in greifbare Nähe zu rücken. Lodriks Berater aber, der durchtriebene Mortva Nesreca, schmiedet im Hintergrund gefahrvolle Ränke – und der Herrscher gerät in einen Hinterhalt … Erstmals in der lang erwarteten ungekürzten Fassung – die Fortsetzung der großen Saga »Ulldart – Die Dunkle Zeit«.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

9. Auflage 2009

ISBN 978-3-492-95215-6

© Piper Verlag GmbH, München 2010

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: Ciruelo Cabral, Barcelona

Karten: Erhard Ringer

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

LODRIK BARDRIȻ: Kabcar von Tarpol

NORINA MIKLANOWO: Brojakin

ALJASCHA RADKA BARDRIȻ: Großcousine Lodriks, Vasruca von Kostromo und Kabcara Zvatochna, Krutor und Govan: Lodriks Kinder

MORTVA NESRECA: Berater des Kabcar

HEMERÒC: Handlanger Nesrecas

PAKTAÏ: Handlangerin Nesrecas

SINURED: legendärer Kriegsfürst

CHOS JAMOSAR: Hof-Cerêler in Ulsar

TCHANUSUVO: tarpolischer Adliger

DORJA BALASY: Magd am Hof Lodriks

TOKARO: ihr Sohn

ROVO: Anführer einer Räuberbande

MEISTER HETRÁL: Bogenschütze und Kommandant von Windtrutz

NERESTRO VON KURASCHKA: Mitglied des Ordens der Hohen Schwerter, Verehrer des Gottes Angor; Großmeister

HERODIN VON BATASTOIA: Vertrauter Nerestros, Mitglied des Ordens der Hohen Schwerter, Verehrer des Gottes Angor, Seneschall

KALEÍMAN VON ATTABO: Mitglied des Ordens der Hohen Schwerter

ALBUGAST: Knappe

KÖNIG PERDÓR: Herrscher von Ilfaris

FIORELL: Hofnarr und Vertrauter Perdórs

MOOLPÁR DER ÄLTERE UND VYVÚ AIL RA´AZ: kensustrianische Botschafter

FARRON UND OLLKAS: zwei kensustrianische Astronome

TOBÁAR AIL S´DIAPÁN: Anführer der Kriegerkaste

SOSCHA: tarpolisches Medium

SABIN: tersionischer Minenarbeiter und Magiefähiger

STOIKO GIJUSCHKA: einstiger Vertrauter Lodriks

ALANA II.: Regentin von Tersion

LECONUC: Vorsitzender der »Versammlung der Wahren«

LAKASTRE (BELKALA): Mitglied in der »Versammlung der Wahren«

ESTRA: ihre Tochter

PASHTAK: Sumpfkreatur, Versammlungsmitglied, Inquisitor

SHUI: Pashtaks Gefährtin

KIÌGASS: Versammlungsmitglied

BOKTOR: ehemaliger Vorsitzender der »Versammlung der Wahren«

BOKTAR: Bruder des Boktor

OZUNOPOPP: Obrist in Braunfeld

WOGOCA: Soldat in Braunfeld

DOKALUSCH: Verwalter des Schädelhauses in Braunfeld

TORBEN RUDGASS: rogogardischer Freibeuter

VARLA: Piratenkapitänin

NEGIS: Maat von Rudgass

JONKILL: Hetmann Rogogards

COMMODORE LUCARI BARALDINO: Befehlshaber der Güldenstern

COMMODORE HAMANDO NELISSO: Offizier an Bord der Schalmei

FORKÚTA: Magodan (tzul. Befehlshaber) der Schalmei

LORIN: Norinas Sohn

WALJAKOV: ehemaliger Leibwächter, Lorins Waffenlehrmeister

MATUC: Mitglied des Ulldrael-Ordens

FATJA: borasgotanische Schicksalsleserin und Geschichtenerzählerin

AKRAR: Schmied

BLAFJOLL: Walfänger

KALFAFFEL: Cerêler (Bürgermeister)

STÁPA: Stadtälteste

JAREVRÅN: Stápas Enkelin

ARNARVATEN: Geschichtenerzähler

KIURIKKA: Kalisstra-Priesterin

SOINI: Pelzjäger

RANTSILA: Führer der Bürgermiliz

BYRGTEN: Fischersohn

Kontinent Kalisstron, Jökolmur,

Winter 457/58 n. S.

Torben Rudgass schwebte und schwebte. Die Luft strich ihm übers Gesicht, er fühlte sich so leicht wie eine Feder. Grinsend breitete er die Arme aus und wedelte damit. Ich kann fliegen! Das ist wunderschön! Endlos fliegen und schweben. Ich …

Dann schlug er in kaltes Wasser ein. Jäh kehrte sein Verstand zurück, und während er noch mit den Armen ruderte, um an die Oberfläche zu gelangen, zog man ihn mithilfe eines Seiles, das um seinen Oberkörper geschlungen war, in die Höhe.

Prustend tauchte er aus den eisigen Fluten auf, spuckte Salzwasser und spie Verwünschungen gegen die Unbekannten aus, die ihm eine solche Behandlung angedeihen ließen.

Von irgendwo über sich hörte er vielfaches raues Gelächter. Die Planken eines Schiffes huschten an seinen Augen vorbei, als er am Seil hinaufgezogen wurde. Und mit jeder Planke kehrte ein Stück Erinnerung zurück. Jedenfalls Bruchstücke von Erinnerungen.

Er sah den Schankraum vor sich, die Kanne mit dem Kräutersud, die er in einem Zug geleert hatte … Von dem Augenblick an war er nur mehr in der Lage, Schemenhaftes aus seinem Gedächtnis abzurufen.

»Da haben wir ja den neuen Kalisstragläubigen«, rief ihm Varla von der Reling aus zu. »Los, an Bord mit dir, du Njossfass.« Sie fasste ihn unter den Achseln und half ihm, über das Geländer zu klettern. Noch fühlte Torben sich recht unsicher auf den Beinen.

Die Kapitänin bugsierte ihn in die Kajüte, wo er sich abtrocknen und frische Kleidung anziehen konnte.

»Was ist denn geschehen?«, fragte Torben vorsichtig, als er das Hemd zuknöpfte. »Ich weiß nicht mehr viel …« Angestrengt dachte er nach. »Ich bin hinter einem Mann hergelaufen … Verdammtes Njosszeugs!«

Varla lachte leise. »Wir sind alle gespannt, welche Geschichten man hier von dir erzählen wird. Ich hatte dir vor der Kneipe gesagt, du sollst den Sack festhalten.«

»Ja, genau«, rief Torben, und ein Strahlen ging über sein wettergegerbtes Gesicht. »Und dann kam jemand, der ihn mitnehmen wollte. Ich glaube, ich habe ihn nicht loslassen wollen, und bin einfach mitgegangen.«

»Raffiniert, du Pirat. Das wird das erste Mal in deinem Leben gewesen sein, dass du getan hast, was man dir aufgetragen hat«, grinste Varla. »Als ich zurückkam, warst du jedenfalls verschwunden. Ich habe alle Mann nach dir suchen lassen. Einer der Einwohner gab uns schließlich einen Hinweis, wo wir dich finden könnten. Du lagst völlig erschöpft in einem Hauseingang und unterhieltest dich mit der Klinke … Übrigens habe ich einen kleinen Vorrat an Njoss an Bord bringen lassen, falls du mal wieder das Bedürfnis haben solltest, Kalisstra deine Ehrfurcht zu erweisen.«

»Ich werde dieses Gebräu nie wieder anrühren«, schwor er und ließ sich ins Bett fallen. »Varla, ich habe das Gefühl, als hätte sich unterwegs etwas ereignet, was mir ziemlich wichtig war.« Er schloss die graugrünen Augen und seufzte. So sehr er sich konzentrierte, es wollte ihm nicht einfallen.

»Ich habe schon von den seltsamsten Begebenheiten gehört, die Leuten mit einem ausgewachsenen Njossrausch widerfahren sind. Haben vielleicht die Pflastersteine mit dir gesprochen? Oder haben sich die Wände um dich herum in Butter verwandelt und verlangt, dass du sie ableckst? Das würde deinen Mundgeruch erklären«, zog sie ihn feixend auf. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und zupfte an seinen geflochtenen Bartsträhnen. »Ruh dich aus. Ich lasse die Segel setzen und ablegen. Den Kurs nach Tarvin kenne ich besser als du. Die Dharka wird wie von selbst in meine Heimat finden, da brauche ich keinen berauschten Piraten auf der Brücke. Also schone dich.« Mit diesen Worten verließ sie die Kabine.

Bald darauf hörte Torben die gedämpften Befehle über das Deck hallen. Die Schritte der Besatzung polterten auf den Planken, und das Rasseln der Ankerkette klingelte in seine Ohren. Eine leichte Bewegung ging durch das Schiff; die Dharka stach in See und war im Begriff, Jökolmur zu verlassen. In Torbens Innerem begehrte alles gegen den Aufbruch auf, gerade so als wüsste sein Unterbewusstsein sehr wohl, was sein Geist nicht abrufen konnte.

Gib dir Mühe, Rudgass, spornte er sich selbst an und klopfte sich mit den Fäusten gegen den Schädel, doch vergebens. Benommen von den letzten Auswirkungen des Kräutersuds, sank er schon bald in einen dämmrigen Halbschlaf.

Er sah Gassen, eine so ähnlich wie die andere, die Gesichter von lachenden Menschen, die an ihm vorbeigingen, Unterwäsche, die über ihm im Wind flatterte. Dann erinnerte er sich an seinen verrückten Tanz unter der Wäscheleine. Er hatte eine Melodie gehört. Eine seltsam vertraute Melodie …

Natürlich! Mit einem Schlag wurde er wach und stand auf, um Varla von seinen Erinnerungen zu berichten. Als er das Deck erreichte, erkannte er mit Schrecken, dass der Zweimaster unter Vollzeug über das Wasser glitt und längst Kurs auf das offene Meer nahm.

»Varla!«, rief er zum Steuer hinauf, wo seine Gefährtin Posten bezogen hatte. »Dreh um! Wir müssen auf der Stelle zurück. Norina ist dort.«

»Du bist zu schnell aufgestanden«, meinte sie. »Du hast noch immer einen Rausch.«

»Nein«, begehrte er auf und erklomm die Stufen, die hinauf zum Ruder führten. »Ich weiß wieder, was passiert ist. Ich hatte Norina damals vor unserer Abfahrt aus Rundopâl eine Spieluhr geschenkt, und es war genau dieselbe Melodie, die ich in der Gasse gehört habe!« Er blickte sehnsüchtig zurück zu der immer kleiner werdenden Stadt. Nur zu gut erinnerte er sich an die Frau, die er vor der Rache des Herrschers von Tarpol hatte in Sicherheit bringen wollen. Wieder hatte er die Seeschlacht vor Augen und sah sein sinkendes Schiff; er sah Norina mitsamt dem Neugeborenen in den Schrankkoffer steigen, und er sah, wie der Koffer mit der Brojakin und dem Kind über Bord ging. Sie hat überlebt. Sie muss überlebt haben! »Ich bin mir sicher, dass Norina dort ist.«

»Und wenn es nur eine Eingebung deines Rausches war?«, hakte Varla nach, während sie hinauf in die Wanten schaute. »Es würde unsere Reisepläne noch mehr durcheinander bringen, wenn wir umkehrten.«

»Selbst wenn es nur ein vager Verdacht wäre, Norina ist es wert«, hielt Torben dagegen und weckte damit das Misstrauen und die Eifersucht der Tarvinin. Doch sie sagte nichts. »Bitte, lass das Schiff umkehren. Vielleicht finden wir auch die anderen bei ihr.«

»Und wo genau sollen wir sie suchen?«, hakte Varla unwirsch nach. »Hast du dir in deinem berauschten Gemüt merken können, welche Straße es war? Und würdest du sie im wachen Zustand wieder finden?«

»Für mich gibt es keinen triftigen Grund, es nicht wenigstens auf einen Versuch ankommen zu lassen«, widersprach Torben.

»Meinetwegen«, gab die Kapitänin auf und befahl der Mannschaft die Rückkehr nach Jökolmur. »Dennoch solltest du den eigentlichen Grund unserer Reise nicht vergessen«, sagte sie an Torben gewandt und blickte ihn ernst an. »Deine Heimat führt Krieg gegen einen beinahe übermächtigen Feind, und du, Torben Rudgass, sollst Verbündete suchen. Wenn sich diese Frau wirklich in der Stadt aufhält, ist sie sicherer als deine Landsleute.« Mit diesen Worten kehrte sie ihm den Rücken zu und ging ihren Leuten zur Hand.

Torben schaute ihr verwundert hinterher. »Natürlich vergesse ich das nicht«, antwortete er verspätet, ohne dass sie ihn hören konnte. Dann ging ihm ein Licht auf. Sie ist eifersüchtig! Kein Wunder, so wie ich einst von Norina geschwärmt habe.

Heimlich fragte er sich, ob die Gefühle, die er vor vielen Jahren für die Brojakin empfunden hatte, für immer erloschen waren oder ob sie wieder hervorbrechen könnten – trotz der glücklichen Verbindung mit Varla.

Pah, so weit kommt es noch. Ich, der Held der Freibeuter, und mich von Frauenzimmern verwirren lassen … Eilig kehrte er in die Kajüte zurück, streifte die restlichen Kleider über und bereitete sich auf den Landgang vor. Er hatte keine Ahnung, wo er seine Suche beginnen sollte. Möge Taralea die Allmächtige meine Schritte in die richtige Richtung lenken, betete er und trat hinaus.

Torben suchte tagelang in den Gassen der Stadt, die sich ihm – zumindest seiner Ansicht nach – aus purer Bosheit viel größer als in seinem berauschten Zustand präsentierte.

Schon nach dem ersten Tag hatte er sich einen handzahmen Esel gemietet, um seine Füße zu schonen. Da er nicht einmal selbst genau wusste, worauf er zu achten hatte, machte er sich allein auf den Weg; doch für einen Einzelnen schien diese Aufgabe beinahe unlösbar. Und natürlich bewegten ihn dabei die unterschiedlichsten Gedanken.

Zum einen wusste er nicht, ob es zwangsläufig eine Spur von Norina war, die er entdeckt hatte. Spieluhren gab es viele, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet in Kalisstron auf eine solche mit einer tarpolischen Melodie zu stoßen, sehr gering war.

Seine Hoffnung aber erstarb trotz scheinbar erfolglos verlaufender Suche nicht. Am vierten Tag endlich meinte er, die Gasse oder zumindest die richtige Wäscheleine gefunden zu haben.

Der Rogogarder umrundete das dreistöckige Haus, das auf den ersten Blick einen recht wohlhabenden Eindruck machte. Wer auch immer darin lebte, er würde der Brojakin einen angemessenen Lebensstil bieten können. Vielleicht will sie ja gar nicht mehr zurück?, durchfuhr es ihn beim Anblick der beeindruckenden Fassade.

Seine Hand näherte sich dem Türklopfer. Was sollte er überhaupt sagen? »Guten Tag, ich will der Besitzerin der Spieluhr meine Aufwartung machen und sie samt der Dose mitnehmen«? Mit Wucht schlug er den Eisenring gegen das Holz. Mir wird schon etwas einfallen, sagte er sich. Verdammt, ich kann kein Kalisstronisch!

Als sich die Eingangstür öffnete, starrte der Freibeuter in das übel gelaunte Gesicht eines Angorjaners. Seine Statur erinnerte ihn an einen Gewichtheber, wie er sie von den Märkten her kannte. Gekleidet war er in einen aufwändig geschneiderten Rock nach palestanischem Vorbild; auf dem Kopf thronte eine weiße Lockenperücke, die einen scharfen Kontrast zu der schwarzen Haut bildete. Der Mann sagte nichts.

»Taralea sei mit Euch«, stammelte Torben völlig überrumpelt auf Ulldart. »Ist denn der Hausherr da?«

»Ich bin der Hausherr«, schnaubte der Angorjaner mit palestanischem Akzent. »Was willst du, Bursche?« Seine Augen verengten sich. »Du siehst aus wie ein Rogogarder.«

»Äh«, machte der Freibeuter und schielte über die Schulter ins Innere des Hauses, wo er die Gestalt Norinas zu entdecken hoffte. »Kann ich mit Euch sprechen?«

»Was denkst du, was du gerade tust?« Der Angorjaner verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich suche eine Frau«, begann Torben, der sich allmählich wieder fing.

»Dann bist du bei mir falsch«, fiel ihm der Mann ins Wort. »Ich handele nicht mit Sklaven, nur mit Strandgut.« Er wollte die Tür ins Schloss werfen, aber der Rogogarder setzte den Fuß in den Spalt.

»Nein, Ihr versteht mich falsch. Ich habe neulich die Melodie einer Spieluhr gehört, und ich denke, ich kenne die Besitzerin.«

Der Angorjaner blickte auf den Schuh, der die Tür blockierte. »Aha. Und wer soll das sein?«

Innerlich atmete Torben auf. »Sie heißt Norina Miklanowo und stammt aus Tarpol. Sie war mit mir zusammen an Bord meines Schiffes, als es sank. Ich suche sie und ihre Freunde schon seit Jahren. Nun scheine ich sie wohl gefunden zu haben.« Er legte eine Hand an die Tür und wollte sie aufdrücken. »Darf ich sie sehen?«

»Bursche, ich kenne niemanden, der diesen Namen trägt. Du nimmst sofort deine Zehen von der Schwelle, oder ich quetsche sie dir zu Muß«, drohte der Angorjaner. »Die Besitzerin der Spieluhr ist in meinen Diensten und verrichtet gute Arbeit.«

»Ihr habt sie angestellt? Sie ist eine Brojakin, eine Großbäuerin, eine Dame von Rang!«, empörte sich Torben und verstärkte den Druck. »Es ist wohl das Beste, ich nehme sie gleich mit. Sie ist zu schade, um Euch die Klinken zu putzen.«

»So, so, eine Dame von Rang?«, meinte der Angorjaner abschätzend. »Ich mache dir einen Vorschlag. Du zahlst mir die doppelte Summe, die ich den Lijoki gegeben habe, und darfst sie mitnehmen. Na, was hältst du davon?« Er drückte die Tür nach vorn und quetschte Torbens Fuß unangenehm zusammen. »Oder warte … Wenn sie eine so hoch gestellte Persönlichkeit in Tarpol ist, wird man gern noch mehr Münzen auf den Tisch legen, vermute ich.«

»Gebt sie frei, und wir trennen uns in aller Freundschaft«, keuchte Torben, der sich mit aller Kraft gegen die Tür stemmte. Seine Zehen klemmten inzwischen fest, sodass er den Fuß nicht mehr zurückziehen konnte. »Oder Ihr werdet es bereuen.«

»Das ist wirklich sehr geschickt von dir, dem Mann zu drohen, in dessen Tür du gerade deinen Fuß stecken hast«, lachte der Angorjaner. Torben glaubte, ein Knirschen aus seinem Stiefel gehört zu haben. »Verschwinde, Rogogarder.« Er gab den Eingang frei, damit der ungebetene Gast seinen Fuß in Sicherheit bringen konnte. Einen Lidschlag später krachte die Tür zu und hätte dem Freibeuter mit Sicherheit einen oder mehrere Knochen gebrochen, hätte er nicht rechtzeitig reagiert.

Wütend trat Torben gegen das Holz. »Gebt sie frei!«, rief er. »Das ist gegen das Gesetz!«

Über ihm öffnete sich ein Fenster, und das schwarze Gesicht des Hauseigentümers erschien.

»Verschwinde, bevor ich den Kalisstri sage, was da durch die Gassen strolcht.« Der Inhalt eines Nachttopfs verfehlte den Rogogarder um Haaresbreite, dann klappten die Flügel des Fensters lautstark zu.

Nun gut, von mir aus, dachte Torben und kratzte sich am Bart. Dann eben anders.

Im nächtlichen Jökolmur schlichen zehn schwarz gekleidete Gestalten durch die Gassen, um sich vor dem Haus zu sammeln, an dem Torben an diesem Tag bereits vergeblich vorgesprochen hatte.

Bitte lass sie fest genug sein, flehte der Freibeuter und beförderte den Enterhaken mit Schwung in die Höhe, wo er sich in den Wäscheleinen verfing.

Einer ersten Belastung hielten die dünnen Seile stand. Ganz vorsichtig, ohne größere Pendelbewegungen zu verursachen, zog sich Torben in die Höhe. An den Wäscheleinen hangelte er sich bis zum Fenster des dritten Stockwerks, aus dem er die Töne der Spieluhr damals vernommen hatte, und fuhr mit einem dünnen Metallstift zwischen den Rahmen entlang, um die innere Verriegelung der Fenster nach oben zu drücken.

Als das Fenster sich öffnen ließ, winkte er seinen Begleitern zu und verschwand leise im Inneren des Hauses. Die anderen sollten auf ihn warten und ihm den Rücken freihalten, falls es zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten käme.

Er schien auf Anhieb das richtige Zimmer gefunden zu haben. Im Bett erkannte er im schwachen Schein der Monde einen schwarzen Haarschopf, der nur der Brojakin gehören konnte. Allerdings musste sie während der letzten Jahre durch die harte Arbeit ein breiteres Kreuz bekommen haben. Leise pirschte er sich heran.

»Norina?«, wisperte er.

Die Gestalt im Bett ruckte hoch, die Haare fielen zu Boden. »Wusste ich es doch, dass du zurückkommen würdest«, rief der Angorjaner und warf sich auf den verdutzten Freibeuter.

Beide Männer gingen zu Boden und rollten miteinander ringend auf den Dielen hin und her.

»Dir zeige ich, was Stehlen bedeutet«, drohte der Schwarze und prügelte auf Torben ein, der sich mit aller Kraft zur Wehr setzte. Doch der Hausherr packte ihn am Kragen und schleuderte ihn durch das Fenster nach draußen.

Im letzten Augenblick gelang es dem Rogogarder, nach den Wäscheleinen zu greifen, die den Sturz in die Tiefe auffingen.

»Seht, da hängt ein schmales Handtuch zum Trocknen«, rief der Angorjaner vom Fenster aus. »Dann bringen wir dich mal wie ein Fähnchen zum Flattern.« Mit beiden Händen rüttelte er an den Seilen, sodass sein Opfer wüst durchgeschüttelt wurde.

»So leicht wirst du mich nicht los!« Mit einer Hand zog Torben seinen Dolch und kappte das Seil hinter sich. »Ich komme wieder!«

Er schwang nach vorn und krachte durch das Fenster des zweiten Stockwerks, was ihm eine kleine Schnittwunde an der Schulter einbrachte. Der Aufprall auf das Pflaster aber hätte ihm mit Sicherheit das Leben gekostet.

Leicht benommen rappelte er sich auf und sah auch schon den rasenden Hausherrn auf sich zustürmen.

Mit einer Bewegung, die dem tarpolischen Tänzerfigürchen aus der Spieluhr würdig gewesen wäre, wich er aus, schnappte sich einen Stuhl, den er zufällig zu fassen bekam, und zertrümmerte das Möbelstück auf dem Rücken des tobenden Angorjaners. Dieser brach mit einem Schnauben zusammen und rührte sich nicht mehr.

»Du wolltest es so«, sagte Torben schwer atmend zu dem Bewusstlosen, ließ den Stuhl fallen und lauschte dann. Doch im Haus blieb alles still.

Der Freibeuter durchforstete das zweite Stockwerk, ohne auf Widerstand zu stoßen. Im ersten Zimmer des obersten Stocks hörte er ein verräterisches Rumpeln aus einem Wandschrank. Grinsend öffnete er ihn. »Norina! Endlich habe ich Euch gefunden …«

Der Besenstiel krachte ihm gegen den Schädel, und vor seinen Augen tanzten kleine Sterne. Schon prasselte der Griff des Kehrwerkzeugs ein weiteres Mal auf ihn nieder, da erkannte Torben durch die zum Schutz erhobenen Arme die Brojakin, die mit erboster Miene auf ihn eindrosch.

Irgendwann gelang es ihm, den Stiel zu fassen. Dafür bekam er einen Tritt in die Weichteile, gefolgt von einem Haken gegen die Nase. Stöhnend sank er auf den Boden.

»Verdammt, Norina, ich bin es«, nuschelte er. »Torben Rudgass, erinnert Ihr Euch? Der Kapitän der Grazie, die Euch und die anderen aus Tularky brachte …«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Halunke«, erwiderte sie. »Verschwinde! Auf der Stelle. Die Miliz wird dich in Ketten legen, wenn sie dich erwischt.«

Verwirrt betrachtete Torben die Frau, weil er fürchtete, einer Verwechslung aufgesessen zu sein. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Die hoch gewachsene Großbäuerin war ein wenig älter geworden, aber das Gesicht mit den hohen Wangenknochen hatte sich nicht verändert; noch immer trug sie das schwarze Haare lang, und zudem machte sie die Narbe an ihrer Schläfe unverwechselbar. Die braunen Mandelaugen ruhten aufmerksam auf ihm.

»Wenn Ihr nicht Norina Miklanowo seid, wer seid Ihr dann?«, erkundigte er sich und stand vorsichtig auf.

Nun wurde der Blick der Frau unsicher. »Ich bin … ich weiß nicht … Die Leute nennen mich Tenka.«

»Und seit wann seid Ihr hier?«

»Ich bin …« Sie griff sich mit einer Hand an die Schläfe. »Die Lijoki haben mich hierher gebracht.« Sie schaute ins Nichts und schwieg unvermittelt, während ihre Lippen sich lautlos bewegten.

Von draußen war ein lang gezogener Pfiff zu hören, das Warnzeichen, falls die Stadtwachen auftauchen sollten.

»Wir müssen gehen. Wo ist Euer Kind?«, fragte Torben ungeduldig und nahm ihre Hand. »Wir haben keine Zeit mehr.«

Hastig warf er einige ihrer Kleider und etwas Wäsche in einen großen herumliegenden Sack, packte noch ein paar Wertgegenstände als Ausgleich für seinen erlittenen Schaden ein und rannte, die seltsam apathische Brojakin im Schlepptau, die Treppen hinunter.

Widerstandslos ließ sie sich aus dem Haus führen und lief zusammen mit den Männern im Schutz der Dunkelheit zum Hafen. Ihr abwesender Blick wurde nicht klarer.

Kurz nach ihrer Ankunft legte der Zweimaster ab, und als der Angorjaner in Begleitung der Milizionäre den Hafen erreichte, fand er lediglich eine leere Mole vor.

Die Seherin spürte, dass der Zweifler ihr keinen Glauben schenkte. ›Ich sehe noch etwas‹, sagte sie zu ihm. ›Ein Mann in einer goldenen Robe will, dass du stirbst. Er hat Meuchelmörder ausgesandt, die auf dem Weg nach Tscherkass sind, um dich dort zu erwarten und dich umzubringen. Ein Geheimnis soll geschützt werden. Dein Tod soll verhindern, dass jemals irgendjemand dem Oberen auf die Spur kommt. Niemand soll beweisen können, dass er dich gesandt hatte, den Kabcar zu töten.‹

Und weil sie von Dingen sprach, die sonst niemand wissen konnte, glaubte ihr der Zweifler endlich.«

BUCH DER SEHERIN

Kapitel IX

Kalisstron, Bardhasdronda,

Winter 457/58 n. S.

Kalisstra hat ihre Gnade endgültig von uns genommen. Nur die Fremdländler sind daran schuld«, hörte Lorin einen Mann zu Akrar, dem Schmied, sagen. »Und du hast den Jungen auch noch bei dir in die Lehre genommen.«

»Beruhige dich«, versuchte Akrar den Unbekannten zu beschwichtigen.

»Nein, ich denke nicht daran«, empörte sich der Mann. »Ihretwegen sind die Fischströme ausgeblieben, und die Pelzjäger klagen ebenfalls. Sie sagen, dass die Zobel und Schneemarder weniger geworden sind als in den Jahren zuvor.«

»Wenn ich wie Soini von morgens bis abends in der Kneipe säße und mich lieber am Feuer herumdrückte, als nach meinen Fallen zu schauen, hätte ich auch keine Pelze, die ich verkaufen könnte«, hielt der Schmied dagegen. »Wir wissen beide, dass Soini ein faules Stück ist, dem der Vorwand nur recht kommt, oder?«

»Aber die Fische sind weg!« Der für Lorin unsichtbare Sprecher blieb hartnäckig. »Da, nimm die Münzen und gib mir die Nägel, die ich bestellt habe.«

Der Knabe kam aus der Werkstatt, den Beutel mit den Nägeln in der Hand. »Hier, werter Herr. Da habt Ihr Eure Ware. Dreißig lange Nägel.«

Der Mann, offensichtlich ein Angehöriger der Zimmermannszunft, warf ihm einen bösen Blick zu. »Da haben wir ja den Grund für die schlechte Lage der Stadt.« Unfreundlich nahm er Lorin das Säckchen aus der Hand und prüfte einen der Eisenstifte. Zufrieden packte er ihn zurück. »Gute Arbeit, Akrar.«

»Die hat der Junge gemacht«, meinte der Schmied tonlos. »Er ist geschickt, wenn es um die Feinarbeit geht.«

Der Zimmermann wog die Nägel abschätzend in der Hand, dann steckte er sie ein. Grußlos stapfte er hinaus und kämpfte sich durch den Neuschnee, der knöchelhoch in den Gassen und Straßen von Bardhasdronda lag.

»Würde die Bleiche Göttin uns Fische ebenso großzügig wie dieses weiße Zeug aus den Wolken schicken, könnten wir ein Jahrhundert lang von Trockenfisch leben«, seufzte Akrar und fuhr Lorin mit der breiten, schwieligen Hand über den Kopf. »Hör nicht auf die Leute. Sie suchen einfach jemanden, dem sie die Schuld geben können.«

»Das sagt Arnarvaten auch«, meinte der Junge und ging hinüber zur Esse, um dem Farbenspiel der glühenden Kohlestücke zuzusehen. Für ihn wirkten sie, als wären sie und das Feuer, das sie entfachten, lebendig. »Aber sie werfen immer noch unsere Scheiben ein, sogar jetzt, nachdem wir in den Hafen umgezogen sind. Matuc traut sich schon gar nicht mehr, die Läden zu öffnen. Und Geld für neues Glas haben wir auch keines mehr.« Er betätigte den Blasebalg; mit einem Fauchen erwachten die kleinen Flammen zum Leben, eine Funkenwolke stob auf und tanzte den Schlot des Kamins empor.

»Den Menschen hängt der Magen in den Kniekehlen, da werden sie schnell ungerecht«, versuchte der Schmied das Verhalten seiner Landsleute zu erklären. »Aber wenn die neuen Getreidelieferungen ankommen, werden sie ganz schnell wieder friedlich, du wirst schon sehen.« Er reichte ihm ein langes Stück Eisen. »Komm, ich zeige dir, wie man ein Messer schmiedet. Man muss das richtige Gespür dafür haben, und so wie es aussieht, hast du mehr Begabung für die wirklich feinen Arbeiten.«

Unter Akrars Anleitung formte Lorin nach und nach ein recht akzeptables Schneidewerkzeug aus der Rohform. Danach setzte er sich an den Schleifstein, um dem Stahl die richtige Schärfe zu geben.

Stolz präsentierte er seinem Meister die vollbrachte Arbeit, und Akrar nickte anerkennend.

»Dein erstes Messer ist dir ordentlich gelungen, Lorin.« Er schaute dem eher schmächtigen Jungen in die blauen Augen. »Ich denke, du wärst ein viel besserer Schmuckmacher als ein Schmied. Die Feinarbeit liegt dir mehr. Zumal du – ohne es böse zu meinen – für den schweren Hammer wohl nicht unbedingt geschaffen bist.«

Das Gesicht seines Lehrlings wurde lang. »Dann tauge ich also nichts?«

»Doch, doch«, beeilte sich Akrar zu versichern. »Du wärst wahrscheinlich ein guter Schmied, aber du müsstest für die schweren Arbeiten wie das Beschlagen von Pferden immer einen Gehilfen haben.« Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Natürlich kannst du weiter bei mir bleiben. Aber wenn du möchtest, höre ich mich um, ob einer der Gold- und Silberschmiede dich aufnehmen würde.«

»Ha, ja sicher, Akrar«, winkte Lorin ab. »Den kleinen Fremdländler, der den Kalisstra-Gamur getötet hat und schuld an allem Unglück ist, das in der Stadt geschieht, den wollen bestimmt alle in ihrer Werkstatt haben.«

Der Schmied musste lachen. »Sei nicht so schwarzseherisch. Und nun lauf nach Hause und zeige Matuc und Fatja das Messer.«

»Ja, gut. Bis morgen, Akrar.« Lorin warf sich die Winterjacke über und lief hinaus.

Er dachte nicht im Traum daran, auf das Hausboot zu gehen. Zuerst wollte er seinen neuen Strandsegler ausprobieren, den er zusammen mit Blafjoll gebaut hatte.

Das Gefährt war viel besser als das, welches ihm Byrgten zertrümmert hatte. Gerne hätte er es in einem Rennen gegen andere Jungs aufgenommen, aber niemand wollte ihn dabeihaben. Sein Ruf, allem und allen Unglück zu bringen, wurde in Bardhasdronda mittlerweile schon legendär.

Der Großteil des Hafens lag in einer Eisschicht gefangen; nur ein Stück der künstlich geschaffenen Bucht blieb befahrbar, und jeden Morgen sorgten der Hafenmeister und seine Angestellten dafür, dass es so blieb. Die Getreideschiffe, die vom Süden heraufkamen, benötigten Platz zum Anlegen.

Ansonsten wirkten die Piers seltsam verwaist. Die kleineren Kähne waren aus dem Wasser gehoben worden, und die langen Walfangboote lagen unter einer dicken Schicht Schnee begraben.

Die Fischer hatten nichts zu tun, außer in den Bootshäusern ihre Netze zu flicken und neue zu knüpfen, in der Hoffnung, die Bleiche Göttin werde endlich die Fische schicken, auf die die Bevölkerung so dringend angewiesen war. Die Schornsteine der Räuchereien ragten in den Himmel, ohne Qualm und den typischen, köstlichen Geruch in der Umgebung zu verbreiten.

Lorin fühlte sich ein wenig schuldig, wenn er die trostlosen, menschenleeren Plätze sah. Er wusste nicht mehr, wie oft er gebetet hatte, anfangs nur zu Kalisstra, dann irgendwann auch zu Ulldrael dem Gerechten und zu Taralea, der allmächtigen Göttin. Aber offensichtlich schien keine der Gottheiten gewillt zu sein, etwas Gutes geschehen zu lassen.

Vielleicht würde es besser werden, wenn wir die Stadt wirklich verließen?, fragte er sich gewiss zum hundertsten Mal. Seit sie gehört hatten, dass eine seltsame Frau, deren Beschreibung auf Paktaï passte, an Bord eines Schiffes gegangen war, das nach Tarpol segelte, lebten sie etwas angstfreier. Dennoch blieb die Sorge, was wohl als Nächstes von Nesreca und seinen Helfern drohte. Auch fragten sie sich, ob Paktaï ihren Aufenthaltsort vor ihrer Abreise in Erfahrung gebracht hatte. Und ob sie zurückkehren würde.

Matuc hatte einen Ortswechsel schlichtweg abgelehnt. Er fühlte sich berufen, dem Glauben an den Gerechten im schicksalsträchtigen Bardhasdronda zum Durchbruch zu verhelfen.

Seine große Schwester wollte bei Arnarvaten bleiben, und Waljakov hatte mit einem Brummen deutlich gemacht, dass er keinen Grund sehe, die »Flucht vor ein paar Kleingläubigen zu ergreifen« – wie er es nannte.

In Gedanken versunken schob der Junge den Strandsegler hinaus auf den vereisten Sand und tauschte die Rollen gegen die Kufen aus, die bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen angebrachter waren.

In einiger Entfernung sah er bereits andere Gefährte über den Schnee und das Eis zischen. Er wickelte sich den Schal mehrmals ums Gesicht, ließ nur einen winzigen Spalt für die Augen frei und hopste in den schmalen Sitz. Kaum füllte sich das Segel mit Wind, sauste Lorin auch schon los. Die Stadt und seine Sorgen blieben zurück.

Dank seines geringen Eigengewichtes und der hohen Geschwindigkeit, die der Neubau erreichte, gehörte er zu den Wenigen, die es in voller Fahrt versuchen konnten, sich mit den breiten Kufen für wenige Augenblicke aufs Wasser zu wagen. Trotzdem war dieses Manöver gefährlich, denn wenn die Böe nur geringfügig nachließ, würde er in dem eisigen Meer untergehen.

Aber Lorin fand diesen Reiz ungeheuer aufregend. Er war der Einzige, der es schaffte, mehr als 100 Schritte über Wasser zu flitzen. Dabei verbot er sich selbst, mithilfe seiner magischen Fertigkeiten einzugreifen. Er nutzte sie lediglich, um sich die Steuerung des Strandseglers zu erleichtern. Wenn andere an den Seilen ziehen mussten, konzentrierte er sich kurz, und schon korrigierte sich die Leinwand wie von selbst.

Die anderen Kinder bemerkten ihn und lenkten ihre Gefährte in einem Bogen zurück zum Hafen.

Umso mehr Platz für mich, dachte er grimmig und schwenkte das Segel mit seinen magischen Fertigkeiten so, dass es sich voll in den Wind legte. Eisiger Wind peitschte ihm entgegen, aber er jauchzte nur freudig.

So lange wie selten zuvor raste Lorin den verschneiten Strand entlang; hin und wieder schweifte sein Blick dabei zu den Feuertürmen, die alle fünf Meilen auf den Klippen wie Zeigefinger drohend nach oben in das Grau des Himmels wiesen.

Dort saßen Wachmannschaften, die beobachteten, ob und wann sich Schiffe oder Wracks nahe der Küste zeigten. Mithilfe von Rauch- oder Feuerzeichen, die von Stadt zu Stadt unterschiedlich waren und des Öfteren geändert wurden, signalisierten sie, was auf die Siedlungen zukam oder ob es fette Beute zu machen galt.

Von diesem steinernen Thron herab hatte man damals auch das Wrack seines Ziehvaters und seiner großen Schwester entdeckt. Ihnen verdankte er es also in gewissem Maße, dass er überhaupt noch am Leben war. Und dafür habe ich euch nur Unheil gebracht.

Als er bei der nächsten Gelegenheit die schroffen Felsabhänge hinaufsah, bemerkte er eine kleine Rauchsäule, die vom Turm aufstieg, aber sofort wieder erlosch.

Das war ungewöhnlich.

Lorin wusste, dass jede Mannschaft nur aus den zuverlässigsten Männern bestand, die sich mit der Handhabung der Signalvorrichtungen bestens auskannten. Fehler wie das zufällige Auslösen eines Signals kamen einfach nicht vor.

Er verlangsamte die Fahrt, schwenkte seinen Segler und steuerte ihn zu den Stufen, die beinahe senkrecht in die Klippen gehauen worden waren.

Behutsam machte er sich an den Aufstieg. Ein falscher Tritt bedeutete einen Sturz, den man kaum überleben würde. Je höher er kam, desto vorsichtiger wurde er. Der Wind zerrte an ihm, die trotz der Handschuhe steif gefrorenen Finger spürte er kaum mehr. Doch umkehren wollte er nicht, dafür hatte er sich schon zu weit nach oben gekämpft.

Mühsam erklomm er die letzten Treppen und ließ sich in den Schnee plumpsen, um zu Atem zu kommen. In zweihundert Schritt Entfernung stand der Feuerturm, das Ziel seiner kurzen, aber anstrengenden Kletterpartie. Lorin erhob sich ungelenk und bahnte sich einen Weg durch den hohen Schnee. Hier oben auf den Felsen kam es ihm noch kälter vor als am Strand, und er beeilte sich, um hinter die schützenden Mauern des runden Gebäudes zu kommen.

Auf der Aussichtsplattform erschien eine Gestalt, und Lorin winkte ihr fröhlich zu.

Etwas zögernd erwiderte der Mann den Gruß und verschwand im Innern des Turmes. Als der Junge die Tür erreichte, wurde sie ihm auch schon geöffnet. Ein typischer Kalisstrone mit grünen Augen und dem ausrasierten Bärtchen hielt den Vorhang hinter der Tür zur Seite und bat ihn freundlich herein.

»Du hast den Aufstieg bei dem Wetter gewagt?«, fragte er erstaunt.

»Ja«, bibberte Lorin, und seine Zähne schlugen aufeinander. Dankbar nahm er den Becher mit Tee entgegen, den der Mann ihm reichte.

»Und das hast du ganz allein geschafft?« Der Junge nickte; sein Gesicht fühlte sich an, als wäre es zu Eis erstarrt. »Wie heißt denn der tapfere Mann?«

»Lorin«, stotterte er und erwartete, dass die Freundlichkeit des Mannes erstarb. Doch zu seinem Erstaunen änderte sich nichts im Verhalten des Wärters.

»Willst du später auch einmal ein Türmler werden?«, erkundigte er sich und beobachtete den Tee trinkenden Jungen aufmerksam.

»Gern. Noch lieber würde ich zur Miliz. Sie werden mich aber nicht lassen.«

»Wieso denn das? Ein so mutiger Junge wie du hätte es schon verdient. Oder sind deine Augen womöglich zu schwach?«

Nun war Lorins Misstrauen geweckt. Seinen Namen kannte jeder in der Stadt, und spätestens jetzt hätte der Wärter wissen müssen, dass er als Fremdländler niemals die Erlaubnis für den Dienst in der Bürgerwehr erhalten würde. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Was war denn vorhin mit dem Feuer los?«, wollte er wissen.

Das Gesicht des Mannes verriet plötzlich aufkommende Anspannung. »Wieso? Hat man die Rauchsäule weit sehen können?«

»Ich weiß es nicht«, log der Knabe und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Es schien soweit alles in Ordnung zu sein. »Vielleicht haben sie schon den Alarm weitergegeben.«

»Verdammt«, entfuhr es dem Wärter. »Ich meine, das wäre verdammt schlecht. Ich bin aus Versehen gegen die Schale mit dem Öl gekommen, als ich meine Runden auf der Plattform drehte, und bevor ich etwas tun konnte, entstand ein bisschen Qualm.«

»Dann schickt doch einfach das Entwarnungssignal hinterher«, schlug Lorin vor. »Die drei kurzen Punkte.«

»Gute Idee, Kleiner. Das sollte ich wohl tun, was?« Hastig erhob sich sein Gastgeber und lief die Stufen hinauf. »Nimm dir Tee, so viel du möchtest.«

Der Junge dachte nicht daran. Das Zeichen, das er dem Wärter genannt hatte, bedeutete »Alarm«. Und die Tatsache, dass der Mann die einfachsten Signale nicht kannte, verhieß nichts Gutes.

Schnell stellte er den Becher auf den Tisch und folgte dem falschen Wärter.

Nach gut dreißig Stufen kam ihm ein dünnes, rotes Rinnsal entgegen. Blut?, dachte Lorin erschrocken. Er tastete nach seinem Messer, das er unter der dicken Felljacke trug, und zerrte es hervor.

In einer Mischung aus Angst, Neugier und nie gekannter Aufregung schlich er die restlichen Stufen nach oben. Das Herz pochte ihm bis zum Hals.

Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm, vor sich die große überdachte Feuerschale, in der keine Flammen züngelten, und versuchte, die verloschenen Kohlestücke wieder zum Brennen zu bringen. Rechts und links von ihm lagen drei Tote, deren warme Blutlachen in der klirrenden Kälte dampften.

Lorin hielt sich den Mund zu, um den Schrei zu unterdrücken. Was sollte er nur tun?

Das Feuer erwachte mit einem Fauchen zum Leben. Die Hand des Mörders wanderte zur Kette, die den Mechanismus mit dem Klappdach und dem Ölgefäß verband.

Lorin würgte leise, und der Mann wandte sich um.

»Da ist wohl jemand neugierig geworden, was?« Er zog seinen Dolch unter der Jacke hervor und kam auf ihn zu. »Dein Pech, Kleiner.«

Der Junge drehte sich auf dem Absatz um und hastete die Stufen hinunter, rannte zur Tür und riss sie auf. Dann sprang er hinter den Vorhang in Deckung.

Sein Verfolger flog an seinem Versteck vorbei, fiel auf die List herein und hastete ins Freie.

Lorin schlug die Tür zu. Die schweren Riegel legten sich krachend vor den Eingang. Ich muss die Stadt warnen, was auch immer der Mann beabsichtigt hat!

Keuchend lief er die Treppe hinauf und warf zunächst einen Blick von der Plattform die Klippen hinab.

Den Teil des Strandes hatte er auf seiner Fahrt nicht einsehen können, und so erstarrte er, als er die vielen Schiffe sah, die sich weit unter ihm versammelt hatten.

Das müssen Lijoki sein, durchzuckte es ihn. Allem Anschein nach waren die Strandräuber gerade dabei, mehrere plump wirkende Wassergefährte, die mit dem Kiel auf dem Sand lagen, ihrer Fracht zu berauben.

Als einer der Säcke ein wenig aufriss, verstand er, was die Lijoki da unrechtmäßig zu ihrem Eigentum machten. Wertvolle Körner rieselten in die See. Sie haben die Getreidelieferung in einen Hinterhalt gelockt! Ich muss die Miliz benachrichtigen!

Als Lorin sich umwandte, stand der Mörder der Türmler mit gezückter Waffe vor ihm und stieß zu.

Der Knabe unterlief den Stich, wie es ihm Waljakov gezeigt hatte, und rutschte dem Mann durch die Beine.

Dann sprang er auf und zog an der Kette, um einen Schwall Öl in die Flammen zu gießen. Es ging längst nicht mehr darum, eine konkrete Nachricht auf den Weg zu schicken; die anderen Feuertürme sollten nur aufmerksam werden. Er hakte den Zug fest, sodass unentwegt brennbare Flüssigkeit in die Schale floss.

Eine gewaltige schwarze Wolke stieg auf, die größer und größer wurde.

Fluchend kam der Lijoki auf Lorin zu. Der Absatz des Knaben traf den Angreifer wuchtig auf den Spann. Mit seinen magischen Fertigkeiten versetzte er ihm einen Stoß, dass er gegen das Ölbehältnis taumelte. Seine rechte Seite war mit dem Brennstoff befleckt.

Mit der Messerspitze nahm der Knabe ein Kohlestück auf und schleuderte es gegen den Mann.

Augenblicklich stand dessen Jacke in Flammen. Kopfüber sprang der Strandräuber über die Zinnen des Turmes, um das Feuer im hohen Schnee zu löschen.

Lorin entdeckte den Wurfhaken und das Seil, mit dem der Lijoki offenbar auf den Turm gekommen war und die Wärter überrascht hatte. Kurzerhand zog er das Tau in die Höhe, während sich der qualmende Strandräuber im Schnee wälzte.

Auch am Strand war man auf die schwarze Wolke aufmerksam geworden, das Umladen ging nun hektischer vonstatten. Von den anderen Feuertürmen wuchsen ebenfalls Rauchsäulen in den Himmel. Man verlangte eine Erklärung und löste gleichzeitig Warnzeichen aus.

Vor seinem geistigen Auge sah Lorin, wie die Mannschaftsstrandsegler mit Milizionären besetzt wurden und die kleine Streitmacht aufbrach.

Und er sah voraus, dass die Kalisstri ihn für das Geschehen verantwortlich machen würden.

Dennoch erfüllte ihn der Stolz darüber, dass er es war, dem die Aufdeckung des schändlichen Überfalls und die Rückeroberung des Feuerturmes gelungen waren. Damit sollte aber jede weitere Beteiligung von seiner Seite abgeschlossen sein. Eingreifen konnte er von dem Aussichtsturm nicht, und so musste er tatenlos mit ansehen, wie die Lijoki ihre Boote bemannten und sich mit der Beute aus dem Staub machten, während die ersten Segel der Gleiter am Strand auftauchten.

Die Miliz kam zu spät. Lediglich der Mörder der Turmwächter, der seinen Abstieg nicht rechtzeitig begonnen hatte, konnte festgenommen werden.

Bürgermeister Kalfaffel umrundete mit sorgenvoller Miene die verbliebenen fünfzig Säcke mit Getreide, die von der Miliz in dem städtischen Lagerhaus abgeladen worden waren. »Das wird niemals ausreichen, um alle Bewohner durch den Winter zu bringen«, schätzte der Cerêler bitter. »Es kommt aber auch wirklich alles zusammen.«

Rantsila, der Führer der Bürgerwehr, machte ein verärgertes Gesicht. »Als ob die Lijoki genau gewusst hätten, wann die Lieferung ankommen soll.« Er trat gegen einen der Säcke. »Vermutlich wussten sie es auch, weil ihnen jemand aus der Stadt Bescheid gegeben hatte.«

»Verrat?«, fragte der kleinwüchsige Heiler ungläubig. »Bei allem Respekt, aber ich glaube wirklich nicht daran, dass auch nur einer der Städter so etwas tun würde. Schließlich sitzen wir alle in einem Boot.«

»Wir müssen nur nachschauen, in welchem Haus in den nächsten Wochen kein Hunger ausbrechen wird, und ich bin mir sicher, wir haben den Schuldigen entdeckt.« Rantsila schüttelte den Kopf. »Ohne einen Hinweis auf den Tag der Lieferung wäre den Lijoki dieser Überfall niemals geglückt. Sie haben alles genau geplant, einschließlich der Ermordung der Türmler.«

Kiurikka wollte den Mund öffnen, aber Kalfaffel hob die Hand. »Hohepriesterin, wenn Ihr nun sagen wollt, dass das alles nur wegen der Lästerung der Fremdländler geschehen sei, so spart Euch Euren Atem. Ausnahmsweise dürfte eine Person aus Bardhasdronda an unserer Lage schuld sein. Ihr werdet das auch nicht wegdiskutieren können, dafür seid Ihr zu schlau und zu einsichtig. Betet lieber, dass wir innerhalb der nächsten Tage von irgendwoher etwas zu essen bekommen.«

Die drei Menschen schauten sich in der leeren Lagerhalle um. Sie hätte inzwischen voller Getreide sein sollen, aber nun stand die Stadt vor der schlimmsten Katastrophe der letzten Jahrzehnte.

»So wie ich die Sache sehe, werden die Einwohner zunächst ihre Haustiere essen müssen«, überlegte die Hohepriesterin laut. »Danach schicken wir die Milizionäre auf Rattenfang. Sollte uns das Ungeziefer ausgegangen sein, bevor Hilfe eintrifft, dann wisst Ihr, was Bardhasdronda bevorsteht.« Unheilvoll hallte ihre Stimme durch das fast leere Gebäude. Sie stieß das Ende ihres Stabes auf den Boden. »Auch wenn Ihr es nicht hören wollt, Bürgermeister, die Fremdländler haben Ulldrael und damit den Zorn Kalisstras auf uns gebracht. Mag sein, dass sie nichts mit dem Überfall zu schaffen haben. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie allein aus Bosheit mit den Strandräubern gemeinsame Sache gemacht haben. Bedenkt, wer zuerst da draußen war und das Geschehen meldete, als es bereits zu spät war.«

Der Cerêler schaute sie böse an. »Ihr werdet solche Äußerungen schön für Euch behalten. Eure Vermutungen sind derart verworren, dass selbst ein kleines Kind sie als Unsinn erkennen würde.«

»Ich bin mir sicher, dass viele Menschen in der Stadt anders denken«, widersprach die Hohepriesterin schneidend. »Im Übrigen ist mir aufgefallen, dass keiner der Fremdländler den Winter über hungern musste, obwohl sie kaum Geld haben dürften, während bei manch anderen dank der Rationierung des Getreides die Kleider vom dürren Leib fallen.«

»Zu schade, dass die Cerêler nichts gegen Hunger machen können«, bedauerte Rantsila. »Aber vielleicht sollten wir das Boot der Fremdländler wirklich durchsuchen. Wenn wir bei ihnen Getreidesäcke finden, haben wir wenigstens Schuldige, die wir dem Volk zeigen können.«

»Ihr macht es Euch alle sehr einfach, wenn es um die Suche nach dem oder den Verrätern geht, wie?«, schalt Kalfaffel sie aufgebracht. »Es wäre zu schön, die passenden Sündenböcke parat zu haben, ich weiß. Aber findet Euch damit ab, dass die Verantwortlichen aus unseren eigenen Reihen stammen und wahrscheinlich mit Hingabe über die Fremdländler schimpfen, während sie schon an den Kuchen und das Brot denken, das sie sich in aller Heimlichkeit backen werden. Es soll ihnen im Halse stecken bleiben!«

Nach dem Ausbruch des Bürgermeisters wagte keiner der Anwesenden etwas zu sagen.

Der tosende Wind strich um das Gebäude, wackelte und rüttelte am Gebälk, brachte weiteren Frost und noch mehr Schnee mit sich. Innerhalb der nächsten Stunden würde die Stadt restlos im Weiß versunken sein.

»Ich bleibe dabei, Bürgermeister«, beharrte Kiurikka schließlich. »Beraumt eine Untersuchung an, weshalb die drei im Winter niemals zu darben brauchen, obwohl sie kaum Geld haben. Ihr werdet bald sehen, dass sie die Verräter sind. Und dann nehme ich Eure Entschuldigung gern an.«

Das Tor zur Halle wurde geöffnet, und Matuc und Lorin traten ein, dick mit Pelzen behangen, um sich gegen den tobenden Schneesturm zu schützen.

»Das passt ja hervorragend«, murmelte Rantsila durch die Zähne und richtete sich ein wenig auf. »Damit haben wir uns einen Weg gespart.«

»Meinen Gruß, werte Dame und meine Herren. Ulldrael der Gerechte möge Eure Schritte behüten und Euch Nahrung geben«, rief der Geistliche von weitem, während er auf sie zu humpelte. Lorin lächelte schüchtern dem Bürgermeister zu, der sein Lächeln erwiderte. »Mein Ziehsohn hat mir von seinem Abenteuer berichtet.«

»Durch deine Schuld«, zischte Kiurikka Matuc an, »ist die Stadt dem Untergang geweiht, es sei denn, Kalisstra wird durch ein Opfer versöhnlich gestimmt.«

»Was wäre, wenn Ulldrael denn ein Wunder geschehen ließe?«, entgegnete der Mönch freundlich.

»Du und der Gerechte tragt doch die Verantwortung für all das«, schmetterte die Hohepriesterin ihn ab, aber der Cerêler war aufmerksam geworden.

»Ich vermute, Matuc«, begann er, »dass dein Weg dich nicht nur zufällig in dieses Gebäude geführt hat.«

»So ist es, Bürgermeister.« Matuc schaute in die Runde. »Als Lorin mir erzählte, die Getreideladung sei an die Lijoki verloren gegangen, wusste ich, dass meine Gelegenheit gekommen ist zu zeigen, wie Ulldrael in seiner Güte uns alle retten kann.«

»Und wie sollte er das bewerkstelligen?«, verlangte Kiurikka zu wissen. Ihre grünen Augen spuckten Gift und Galle in Richtung des Geistlichen, der die Unfreundlichkeit großzügig überging. »Lässt er Korn regnen oder es auf den Dächern wachsen?«, höhnte sie.

Als Antwort nahm Matuc seine Rechte aus der Manteltasche und bot eine birnengroße Frucht mit dunkelbrauner Schale auf der ausgestreckten Handfläche dar. »Ulldrael der Gerechte war mit mir, schon seit letztem Jahr.«

»Was soll das sein?«, fragte der Führer der Miliz und nahm die Frucht in die Hand. »Es ist hart.« Vorsichtig roch er an der Schale. »Und es riecht nach nichts.« Er reichte es an den Bürgermeister weiter. »Erklärt uns das.«

»Als wir vor vielen Jahren durch Ulldraels Gnade an Land gespült wurden, hatten wir beinahe unser vollständiges Hab und Gut verloren«, erzählte Matuc. »Außer unserem Leben konnten wir einen Sack mit etwas retten, das es in Kalisstron nicht gab. Ihr haltet es gerade in Euren Fingern. Das, was so unscheinbar aussieht, ist eine Süßknolle.«

»Und?«, meinte Kiurikka mürrisch und beäugte das Gewächs.

»Wenn man sie in Salzwasser kocht, schmeckt sie hervorragend und vertreibt den Hunger«, erklärte Matuc mit einem Strahlen im Gesicht. »Stellt Euch vor, aus einer dieser Knollen, wie wir sie schon seit Jahrhunderten in Tarpol anbauen, erhält man zehn bis zwanzig neue.«

»Zum Pflanzen wird es wohl ein wenig zu spät sein«, meinte Rantsila spitz. »Und eine Knolle reicht kaum aus, um alle Städter zu ernähren. Das Messer müsste schon sehr scharf sein, um solch dünne Scheiben zu schneiden.«

»Der Vorteil der Süßknolle ist, dass sie selbst im eisigsten Klima gedeiht. Sie braucht kein Licht, nur ein wenig Erde.« Der betagte Mann konnte sich die triumphierende Miene nicht verkneifen. »Die alte Stápa hat mir all ihr Land überlassen, um die Süßknollen zu pflanzen, und keiner von Euch hat jemals etwas bemerkt. Jahr für Jahr habe ich angebaut, und als ich im Sommer hörte, dass die Fische ausblieben, ging ich ein Wagnis ein.« Matuc setzte sich auf einen kleineren Stapel Säcke. »Ich habe alle meine Knollen gesetzt. Sie müssten nun reif sein, der Frost hat sie haltbar gemacht. Alles, was wir tun müssen, ist die Erde aufzutauen und die Knollen auszugraben. Ulldrael der Gerechte hat uns gerettet.«

Kiurikka schwieg, Kalfaffel blinzelte den Geistlichen überrascht an, und Rantsila schaute zur Hohepriesterin, als wollte er etwas sagen.

»Das ist der Grund, weshalb Ihr keinen Hunger leiden müsst, richtig?«, vermutete der Cerêler erleichtert. »Ihr hattet Süßknollen eingelagert.«

Der Knabe nickte. »Auch wenn uns das Geld an allen Ecken und Enden fehlt, die Ernte gab genügend her, dass wir von der Rationierung nicht betroffen waren. Ich habe unseren Anteil immer dem Kalisstratempel gespendet, damit die Armen etwas zu essen haben.«

Die Gesichtszüge der Hohepriesterin entgleisten, und sie senkte beschämt den Blick.

Der Führer der Miliz trat vor und reichte dem verdutzten Geistlichen die Hand. »Auch wenn Ihr es vorhin nicht hören konntet, so sprach ich schlecht über Euch. Nehmt dafür meine Entschuldigung an.« Die grünen Augen des Milizionärs blickten aufrichtig und ehrlich.

»Das tue ich mit Freude«, schlug Matuc ein und erhob sich von den Säcken. »Ich habe mir noch etwas überlegt.«

»Nur zu«, nickte Kalfaffel. »Ich weiß gar nicht, wie ich und die Stadt Euch danken sollen.«

»Herr Rantsila hat mich auf eine Idee gebracht. Wenn etwas von den Knollen übrig wäre, könnte man sie doch neu anpflanzen.« Matuc stampfte mit dem Holzbein auf den Hallenboden.

Der Cerêler begriff. »Wir schaffen die aufgetaute Erde in die Halle und setzen ein paar von den Knollen?« Er klatschte begeistert in die Hände. »Wir könnten uns einen nachwachsenden Vorrat anlegen. Aber wie schnell gedeihen sie?«

»Sie brauchen zum Ausreifen zwei bis drei Monate«, schätzte Matuc. »Aber wenn wir es schaffen, die Temperatur in dem Gebäude in die Höhe zu treiben, könnte es uns schneller gelingen. Es käme auf einen Versuch an.«

»Dann sollten wir es wagen«, lachte Kalfaffel. »Das ist ein historischer Augenblick auf Kalisstron. Zum ersten Mal zeigt eine andere Gottheit ihre Gnade. Es ist eine glückliche Fügung, dass ausgerechnet Bardhasdronda in diesen Genuss kommt.«

»Ich denke, dass der Gerechte an der Stadt noch etwas gut zu machen hatte.« Der Mönch wiegte den Kopf hin und her. »Eine Bedingung stelle ich aber.«

»Und die wäre?«, fragte der Bürgermeister vorsichtig.

»Kein Geld, nein, das wäre nicht rechtens«, beruhigte Matuc den Mann. »Ich verlange lediglich, dass die Menschen erfahren, durch wen sie die Süßknollen bekamen und dass es Ulldrael der Gerechte war, der sie vor dem Hungertod bewahrte. Das soll auch schon alles sein.«

»Ich sorge dafür«, nickte der Milizionär. »Kiurikka wird sicher nichts dagegen haben«, meinte er und wandte den Kopf zur Seite.

Doch die Hohepriesterin war in aller Stille gegangen.

»Das war übrigens sehr tapfer, was du getan hast«, sagte Rantsila und beugte sich zu Lorin hinunter.

»Darf ich denn dann zur Miliz, wenn es so weit ist?«, traute sich der Knabe zu fragen, um die günstigen Umstände auszunutzen.

Der Mann wechselte einen schnellen Blick mit dem Cerêler. »Nein, junger Mann. So weit würde ich nicht gehen. Die Bestimmungen sagen, dass kein Fremdländler in die Reihen der Verteidiger treten darf, egal wie beliebt oder unbeliebt er ist.«

»Gibt es denn keine Möglichkeit?« Enttäuscht kniff Lorin die Lippen zusammen. »Ich wünsche es mir so sehr.«

»Vielleicht ließe sich etwas machen«, meinte Kalfaffel geheimnistuerisch. »Wärst du mit einem Posten als Türmler einverstanden?« Rantsila schaute ihn nachdenklich an. »Die Statuten beschränken sich nur auf die Miliz, wenn ich mich recht erinnere«, erklärte er. »Und da er sich schon einmal als sehr aufmerksam erwiesen hat, wäre diese Aufgabe seiner würdig, denke ich.« Er blickte zu Lorin. »Na, junger Mann, wie sieht es aus? Ist das eine Sache, die dir entgegenkommt?«

»Es ist zwar nicht die Miliz«, meinte der Knabe, den die Vorstellung aufmunterte, »aber es würde mich freuen. Oder, Matuc? Bitte, sag ja. Und Waljakov frage ich auch. Wir wären ein tolles Gespann, das über die Stadt wacht und die Bewohner vor allen Gefahren warnt.«

Der Geistliche lächelte. »Aber sicher, Lorin.«

Der Junge warf sich seinem Ziehvater an den Hals. »Danke. Ich kann auch schon alle Zeichen auswendig, die man als Türmler wissen muss.« Wie ein Wasserfall zählte er die Signale auf, bis Rantsila ihn bremste.

»Ja, ja, ich sehe schon. Das wird einer der besten Wächter, den wir jemals auf einem der Türme sitzen hatten«, lachte der Mann. »Aber mehr ist nicht drin, Lorin. Den Wunsch nach der Miliz werden wir dir nicht erfüllen können.«

Kalfaffel klappte die Aufschläge seines Mantels nach oben. »Ich kehre ins Rathaus zurück und lasse gleich die Ausrufer durch die Stadt eilen. Es muss ja einiges organisiert werden, wenn wir die …«

»Süßknollen«, half Matuc lächelnd.

»Genau, die Süßknollen vom Acker bringen wollen.« Der Bürgermeister war völlig aus dem Häuschen. »Matuc, ich sah die Stadt bereits ein zweites Mal untergehen, aber nun wird sie durch Eure Vorsehung bewahrt.«

»Und die Gnade des Gerechten, die wir bei aller Freude nicht vergessen wollen«, fügte der Mönch hinzu. »Ich begleite Euch und erkläre, wie ich mir die Anpflanzung in der Halle vorgestellt habe.«

Kurz bevor sie den Ausgang erreichten, wandte sich der Cerêler um. »Ich möchte Euch keine falschen Hoffnungen machen, Matuc. Ihr dürft wahrscheinlich mit nur wenig Dank rechnen. Kiurikka sorgt mit Sicherheit dafür, dass die Gaben Ulldraels bald schon als Kalisstras Gnade angesehen werden.«

»Ich bin zuversichtlich, Bürgermeister, dass immerhin einige der Städter in Erinnerung behalten werden, wem sie ihr Leben zu verdanken haben. Und diese wenigen reichen mir aus, das Wort des Gerechten nach ganz Kalisstron zu tragen.«

»Ich sehe schon, Ihr habt viel vor«, meinte Kalfaffel. »Ich respektiere Eure Absichten, aber ich zweifle an ihrem Gelingen.« Seine kleine Gestalt verschwand nach wenigen Schritten in den wirbelnden Flocken des Schneegestöbers.

Wir werden sehen, dachte Matuc gelassen. Der Glaube wird Früchte tragen, ganz wie die Süßknollen. Bekehre ich nur einen der Kalisstri, wird er zehn weitere auf die Seite von Ulldrael dem Gerechten bringen, und das voller Überzeugung.

»Woher wussten die Lijoki eigentlich, dass die Ladung mit dem Getreide kommen sollte?«, fragte Lorin Rantsila, als dieser gerade die Halle verlassen wollte.

»Du bist doch ein aufgeweckter Bursche«, gab der Milizionär zurück. »Was denkst du?«

Der Knabe überlegte einen Moment, dann richtete er seine blauen Augen auf den Mann. »Es wird ihnen wohl jemand gesagt haben.«

»Das denken wir auch. Hoffentlich finden wir den Kerl, bevor er eines Nachts die Stadttore für die Halsabschneider öffnet und sie uns im Schlaf die Gurgeln durchschneiden.«

»Matuc, weißt du was? Du missionierst die Kalisstri, und ich finde zusammen mit Waljakov den Verräter«, verteilte Lorin die Aufgaben neu, was den Mönch sehr amüsierte. »Wenn ich erst den Überläufer ausgemacht und Bardhasdronda gerettet habe, werden mich die Leute ganz von selbst in die Bürgerwehr stecken.«

»So einen Helden müssten wir natürlich in unsere Reihen aufnehmen«, lachte Rantsila. »Und nun pass auf, dass der Wind dich halbe Portion nicht davonträgt. Sag deiner Schwester einen schönen Gruß von mir.« Der Anführer der Miliz verschwand. Lorin aber glaubte gesehen zu haben, wie der Mann einen roten Kopf bekam.

»Das wird Arnarvaten aber gar nicht gefallen«, murmelte er feixend. »Das Schwert gegen die Verse. Das wird noch lustig werden.«

»Komm schon, du vorlauter Lausebengel«, befahl ihm Matuc. »Wir müssen deiner Schwester die guten Neuigkeiten erzählen.«

Großreich Tarpol, Königreich Barkis

(ehemals Tûris),

Verbotene Stadt, Frühjahr 458 n. S.

Pashtak eilte zielstrebig durch die Straßen der Stadt, ohne einen Blick nach rechts und links zu werfen, wie er es sonst tat, um sich am Fortschritt zu erfreuen.

Der innere Kreis der Stadt Sinureds war vollständig wieder aufgebaut worden. Die Gebäude übertrafen sich förmlich an Pracht; alte Ornamente, die von den Eroberern vor mehr als 450 Jahren in mühsamer Arbeit zerschlagen worden waren, prangten an den Wänden, und der Tempel zu Ehren Tzulans reckte sich in voller Schönheit empor.

Doch Pashtak widmete auch der polierten Fassade aus schwarzem, rot geäderten Blutstein von Sinureds Palast und den mächtigen Granitmauern der auferstandenen Festung des »Tieres« keine Aufmerksamkeit. Grübelnd, den Kopf gesenkt, marschierte er schnurstracks zur »Versammlung der Wahren.« Der Grund, weshalb sich die Tzulani und die Sumpfkreaturen trafen, blieb mit schöner Regelmäßigkeit der gleiche.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er die Treppen zum Versammlungsgebäude hinauf und betrat schwungvoll den Raum, in dem sich bereits die übrigen Mitglieder des Gremiums eingefunden hatten.

»Verzeiht, aber ich musste dem Jüngsten noch schnell die Windeln wechseln«, murmelte er eine Entschuldigung und warf sich in seinen Sessel.

Der Vorsitzende, ein Tzulani namens Leconuc, nickte ihm zu und setzte seine Rede fort. »Alle anderen Fortentwicklungen in der Stadt bringen nur wenig, wenn diese Morde weitergehen. Wir haben den Sumpf zu einem großen Teil trocken gelegt, wir haben die Fläche der Stadt ausgedehnt und gerodet, um Getreide anbauen zu können. Wir gewinnen Torf, den wir in der näheren Umgebung verkaufen können, und auch unsere Salben und Tinkturen erfreuen sich einer gewissen Beliebtheit. Wir sind dank des Kabcar sogar rechtlich gleich gestellt.« Er deutete auf die Kleidungsstücke, die auf dem Tisch lagen. »Aber jedes Mal, wenn ein Mensch einem Mord zum Opfer fällt oder in der Nähe unserer Stadt verschwindet, gehen die Geschäfte auf Null zurück. Und es kostet uns einen Monat oder mehr, um ein paar Wagemutige zu finden, die sich in die Mauern wagen.«

»Diese Morde müssen endlich ein Ende finden«, rief einer aus dem Gremium in den Raum. »Wir sollten die Nymnis endlich zur Verantwortung ziehen. Ihre Lügen können wir nicht länger dulden.«

Die anderen murmelten ihre Zustimmung, außer Pashtak und Lakastre, die den Ausführungen des Vorsitzenden aufmerksam gelauscht hatten.

»Korrigiert mich, wenn ich etwas verpasst habe, aber die Nymnis kommen für die Taten nicht infrage«, meinte Pashtak leise und pulte sich mit dem Nagel des kleinen Fingers ein Stückchen Fleisch aus den spitzen Fangzähnen. »Sicher, es sind gefräßige Mitbewohner, aber gleichzeitig von erschreckend geringem Geist. Sie würden die Knochen der Opfer herumliegen lassen oder sich bei jeder passenden Gelegenheit anderen gegenüber verraten. Bisher haben wir jedoch kaum Hinweise auf die Morde, außer vereinzelte Blutspuren oder ein Kleidungsstück. Es muss eine andere, listigere Kreatur am Werk sein.« Alle Augen richteten sich auf ihn. »Was seht ihr mich so an? Ich habe mir nur meine Gedanken gemacht.«

»Das sehe ich, Pashtak. Und offensichtlich mehr als der hoheitliche Beamte, der die Fälle im Namen des Kabcar untersuchen soll«, sagte Leconuc. »Wie wäre es, wenn du ihm zur Hand gehen würdest?«

»Nein, danke. Ich muss mich schon um den Wiederaufbau der Bibliothek kümmern«, erwiderte er und hob abwehrend eine der klauenbewehrten Hände, während ihm ein leises Grummeln entfuhr.

»Es wäre wirklich das Beste, wenn sich einer aus unseren Reihen der Sache annehmen würde«, unterstützte Kiìgass den Vorschlag. »Pashtak kennt sich in der Stadt aus, er weiß um die Eigenarten der verschiedenen Mitbrüder und -schwestern, und er gehört zu denen, die von Anfang an den Aufbau geleitet haben. Ich stimme dafür, dass er unsere eigene Kommission leitet, die parallel zu den Untersuchungen des Obristen ermittelt.«

Die Arme der anderen schnellten zustimmend in die Höhe. Lakastre warf Pashtak ein schadenfrohes Grinsen zu.

»Angenommen«, verkündete Leconuc. »Ich werde mich mit der Bibliothek beschäftigen.« Eindringlich schaute er Pashtak in die gelben Augen mit der roten Pupille, die wenig Begeisterung über die neue Aufgabe verrieten. »Hiermit verleihe ich dir den Titel Inquisitor. Es ist sehr wichtig, dass wir bald zu einem Ergebnis gelangen. Die Entlarvung des Mörders hat Vorrang vor allem anderen. Ich möchte nicht, dass sich die Menschen aus den Städten der Umgebung zusammenschließen und voller Empörung hier einfallen. Da würden sich die Soldaten des Kabcar vermutlich eher ihnen anschließen, als uns zu verteidigen.«

Die »Versammlung der Wahren« löste sich auf, ohne dass auf die Proteste Pashtaks eingegangen wurde. Seine Arme sanken herab.

»Wie soll ich das Shui erklären?«, seufzte er und stützte die knochigen Wangen in beide Hände. Unglücklich schaute er aus dem Fenster, doch auch der Anblick des Säulenmonuments zu Ehren des Gebrannten Gottes mit der Kugel obenauf – eine architektonische Meisterleistung – vermochte seine Laune nicht zu heben. Etwas reflektierte die gleißenden Strahlen der Sonnen, und er schloss geblendet die Augen.

Sie haben es mit dem Polieren der Granitkugel wohl etwas übertrieben, befand er und erhob sich, um seiner Gefährtin seine neue Stellung zu beichten. Um ein Haar wäre er dabei in Lakastre hineingerannt, die unbemerkt neben ihm gestanden hatte.

»Hoppla«, meinte er und blinzelte. »Entschuldigung, ich bin noch ein wenig blind.« Er rieb sich die Augen. »Ich sollte nachts unterwegs sein.«

»Das wirst du bestimmt in nächster Zeit sehr oft sein. Ich wollte dir zu deiner neuen Stellung gratulieren«, sagte sie freundlich. »Inquisitor. Das klingt sehr gewichtig.«

»Mal sehen, was Shui davon halten wird.« Pashtak musterte die Witwe Boktors. »Du siehst hervorragend aus, Lakastre.«

»Das macht der Frühling«, erklärte sie. »Ich halte es ganz wie die Natur. Ich blühe auf, wenn die Sonnen wieder öfter vom Himmel herabstrahlen und uns mit ihrer Wärme verwöhnen.« Das Bernsteinfarbene ihrer Augen glomm schelmisch. »Zu schade, dass du wenig davon haben wirst. Die Nächte sind immer noch sehr kalt.«

»Wer sagt denn, dass der Mörder im Dunkeln unterwegs ist?«, widersprach Pashtak. »Oder war das eben beinahe ein Geständnis?« Etwas an ihr ist anders als sonst, sagte er sich im Stillen.

Die Frau lachte, ihre scharfen Eckzähne wurden sichtbar. »Nun übertreibe es nur nicht mit deinen Verdächtigungen.«

Pashtak lächelte ebenfalls; die bedrohliche Ansicht seines Kiefers und der entblößten Beißwerkzeuge erzielte jedoch keinerlei einschüchternde Wirkung bei Lakastre. »Wie geht es deiner Tochter? Hat sie den Tod ihres Vaters überwunden?«

Die Frau wurde ernst, das warme Feuer um ihre Pupillen erlosch. »Dass Boktor ausgerechnet jetzt, wo wir die Sümpfe beinahe ausgerottet haben, wie sein Bruder Boktar am Fieber sterben musste, ist schon mehr als grausame Ironie. Das versteht sie nicht. Doch dass man den Tod nicht umgehen kann, hat sie inzwischen akzeptiert.«