Die Märchen-Traum-Reise geht weiter - Thilo Rehn - E-Book

Die Märchen-Traum-Reise geht weiter E-Book

Thilo Rehn

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Beschreibung

Vier Jahre ist es inzwischen her, seit es die Familie Herbert und Lilo Roller mit den Zwillingen Lucie und Tom in die geheimnisvolle Herberge "Zum Alten Märchenschloss" verschlagen hat – natürlich nur dank der Träume ihres Familienoberhauptes. Damals geschah dies eher unfreiwillig, weil sie sich in einem Wald nahe der Landstraße verfahren hatten. Doch dieses Mal ist der Grund eine überraschende Einladung, von Hänsel und Gretel persönlich. Dass Tom sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen will, darüber selbst zu schreiben, stößt auf Papa Herberts bewundernde Anerkennung, und Vater und Sohn liefern sich ständig neue Einfälle. Auch in der Familie Roller selbst sowie in deren Freundeskreis bahnen sich im Vorfeld des gemeinsamen Geburtstages am 29. Februar 2012 weitreichende Veränderungen an.

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Seitenzahl: 535

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Inhalt

Impressum 2

Erster Teil - Die Märchen-Traum-Reise geht weiter 3

Zur Einleitung 3

1 - Die Einladung 4

2 - Das Wiedersehen 8

2.1 78

2.2 178

3 - Eine unverhoffte Begegnung 244

4 - Ein Abschied und neue Gäste 251

Zweiter Teil - Der große Tag … 266

5 - Der große Tag rückt näher 266

6 - Aber Herr Rehn! 345

Nachwort 352

2016 – Rück- und Ausblicke 353

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-110-3

ISBN e-book: 978-3-99130-111-0

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Yaroslavnaa, Vertyr | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Erster Teil - Die Märchen-Traum-Reise geht weiter

Zur Einleitung

Alsobevorwir zur eigentlichen Geschichte kommen, sei an dieser Stelle zunächst einiges zu erklären, um den Leser mit dem vertraut zu machen, was sich zuvor im ersten Buch – in der „Märchen-Traum-Reise“ – ereignet hatte.

Dieses begann ja damit, dass wir die Familie Roller – also Papa Herbert, Mama Lilo und die Zwillinge Tom und Lucie – überhaupt erst kennengelernt hatten.

Daher wissen wir auch um die besondere Fähigkeit von Herbert, in Fortsetzungen träumen zu können.

Wohl dem also, der das Vergnügen hatte, dieses erste Buch bereits zu lesen. Der wird sich bestimmt noch gut an die unglaublichen Erlebnisse der Familie erinnern können – natürlich jene, die einst Papa Herbert in seinen Träumen durchlebte und eines Tages damit begonnen hatte, sie aufzuschreiben. Das alles ist mittlerweile vier Jahre her.

Nun soll es – übrigens nach dem Willen von Tom – eine Fortsetzung geben. Er hatte sich spontan vorgenommen, ganz zum Erstaunten und zur Überraschung seines Vaters – ihre neuen „Erlebnisse“ in jener altehrwürdigen „Herberge Zum Alten Märchenschloss“ diesmal aus seiner Sicht zu erzählen.

Entsprechend anders und irgendwie moderner wollte er diesmal seiner Fantasie freien Lauf lassen und, wie er selbst sagte, nicht erst auf irgendwelche Träume warten.

1 - Die Einladung

Ich wollte gerade meinen Laptop ausschalten, als plötzlich eine eingegangene Nachricht angezeigt wurde. Neugierig geworden klickte ich mich in unser Postfach, welches ich mir seit langem mit meiner Schwester Lucie teilte, und las zunächst den Namen des Absenders:

Hans-Peter Holzer …

Angestrengt dachte ich nach. Hans-Peter … woher kommt mir dieser Name nur so bekannt vor? Ich wollte sogleich meine Schwester Lu fragen, ob sie …

Doch dann überkam mich jäh ein Gedanke, den ich noch nicht richtig fassen konnte. Ich stieß einen überraschten Schrei aus, als mir klar wurde: Hey, das ist doch nicht etwa … Hänsel …? –

Dadurch ist meine Schwester schließlich doch aufmerksam geworden und meinte erschrocken:

„Bei dir kriegt man ja gleich ’nen Herzschlag, Tommi! – Ist was passiert?“, fragte sie neugierig.

Ich konnte zunächst nicht anders, als nur stumm auf den Laptop zu zeigen. Schließlich kam sie näher und las ebenfalls den Namen. Im nächsten Moment dachte ich, sie könnte damit nichts anfangen. Aber ich sollte mich gründlich getäuscht haben! Denn unvermittelt sprach sie kaum hörbar aus, was ich kurz vorher nur ungläubig zu denken gewagt hatte:

„Hey, Mensch Tommi, das ist doch Hänsel …!“

Also doch! Als ich auch noch in der Betreffzeile nur das eine Wort las: „EINLADUNG“, da wusste ich es!

Ich sprang spontan auf, schnappte mir den Laptop und rannte aufgeregt nach unten. Dabei nahm ich beinahe eine Treppenstufe zu viel auf einmal, konnte mich aber im letzten Augenblick noch fangen.

Lu kam zum Glück nicht weniger aufgeregt hinter mir her gestolpert und konnte das Schlimmste verhindern, indem sie mich am Kragen meines Pullovers festhielt.

Das dabei von uns verursachte Poltern auf der Treppe ließ Papa und Mama mit erschrockenen Gesichtern aus dem Wohnzimmer eilen, wo deren Schreck augenblicklich vorwurfsvollem Tadel Platz machte.

Ich ließ sie jedoch nicht zu Wort kommen, stammelte mehr unverständlich Erscheinendes zusammen, so dass sie nicht gleich begriffen, was ich denn eigentlich wollte.

Papa versuchte zunächst, mich zu beruhigen. Fast musste er wohl denken, dass etwas Schlimmes vorgefallen sei. Auch Mama vergaß in diesem Moment, dass sie uns gerade noch Vorwürfe wegen unseres, wie sie meinte, ungebührlichen Verhaltens machen wollte.

Als ich mich soweit beruhigt hatte, dass ich einigermaßen klar denken konnte, war ich trotz allem noch nicht in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Deshalb stellte ich nur den Laptop auf den Tisch und zeigte auf die eingegangene Nachricht, welche ich in meiner Aufregung noch nicht mal geöffnet hatte.

Papa übernahm es dann, die Nachricht zu öffnen. Ich sah ihm sein anfängliches ungläubiges Staunen an, als er begann vorzulesen:

„Liebe Familie Roller, an dieser Stelle möchten wir – Hans-Peter und Margarethe Holzer – euch ganz herzlich einladen, uns nach langer Zeit wieder einmal zu besuchen. Nachdem unsere umfangreichen Bau- und Rekonstruktionsarbeiten nach über zwei Jahren endlich zum Abschluss kamen, sind wir glücklich, dass uns nun der Status ‚Waldherberge Zum Alten Märchenschloss‘ zuerkannt wurde. Mit einem Klick auf den Link am Schlussdes Schreibens könnt ihr sehen, wie sehr sich bei uns alles verändert hat. –

Übrigens: Dass wir euch die Einladung auf diesem Wege zukommen lassen konnten, verdanken wir der damals freundlichen Überlassung eurer Adressen einschließlich der Mail-Adresse von Tom. Natürlich spielt auch eine wichtige Rolle, dass wir uns im Laufe der Zeit so gut mit der Technik nicht nur ausgestattet, sondern sogar schon gut angefreundet haben. –

Nun bitten wir, uns mitzuteilen, wann wir mit eurem Kommen rechnen dürfen. Gern möchten wir euch für einen Zeitraum eurer Wahl als liebe Gäste in unserem Hause begrüßen können.

Bis dahin herzliche Grüße

von eurem Hänsel und meiner Schwester Gretel.“

Daraufhin herrschte zunächst eine Weile gespannte Stille. Diese wurde erst durch den Jubelschrei von Lu beendet. Doch zu mehr war sie unter dem Eindruck des gerade Gehörten nicht in der Lage.

Als schließlich Papa jenen Link öffnete, starrten wir auf das Bild des uns nur zu gut bekannten Schlosses. Und wiederum herrschte minutenlange Stille, bis ich ergriffen stöhnte:

„Uff! Genau – das ist sie: unsere Schloss-Herberge von damals! Hätte nie gedacht, von da jemals wieder was zu hören. Und nun diese Einladung! Ich muss nachher unbedingt rauskriegen, wo genau das Schloss liegt, damit wir das gleich in deinem Navi eingeben können …!“

Papa bremste meinen Eifer zunächst einmal, indem er lachend sagte:

„Nun schön langsam mit den jungen Pferden. Immer eines nach dem anderen! Zunächst einmal müssen wir das Ganze richtig realisieren. Dann müssen wir uns darauf einigen, ob und vor allem wann wir dahin fahren wollen. Und schließlich und letztendlich erwarten unsere Gastgeber eine Antwort von uns. Ich schlage vor, dass wir das alles morgen in Ruhe und wohlüberlegt in Angriff nehmen, einverstanden?“

Daraufhin meldete sich erstmals Mama zu Wort:

„Wenn ich dazu auch mal etwas sagen dürfte …“

Aber weiter kam sie im Augenblick nicht. Zu sehr war sie von all dem überrumpelt. Doch dann nickte sie und meinte nur:

„Ich denke, Papa hat Recht. Reden wir morgen darüber, wenn wir das Ganze überschlafen haben.“ –

Kurz und gut, wir einigten uns am nächsten Tag, kurz nach dem Beginn unserer Sommerferien zu fahren, genauer: am Samstag in der zweiten Juliwoche, für etwa 5 bis 8 Tage …

Mir wurde die große Ehre zuteil, die Antwort an Hänsel zu schreiben. Wenige Minuten später erhielten wir überraschend dessen Rückantwort:

„… Gern heißen wir euch in der von euch vorgeschlagenen Zeit bei uns willkommen …“ –

***

2 - Das Wiedersehen

DerTag unserer Abreise – es war der vereinbarte zweite Samstag im Juli – begann mit strahlendem Sonnenschein. Wir waren bereits um 7 Uhr aufgestanden, frühstückten gemütlich und fuhren kurz nach 9 Uhr los.

Nach gut anderthalb Stunden zügiger Fahrt fanden wir schnell jenen Abzweig von der zur Autobahn führenden Landstraße wieder. Inzwischen ist der frühere Waldweg eine überraschend gut ausgebaute Straße geworden.

Ein Wegweiser mit der Aufschrift „Waldherberge Zum Alten Märchenschloss“ stand an der Abbiegung.

Bis hierher hatte uns Papas Navi zuverlässig geleitet. Dessen Anzeige wies nun auf jene Linksabbiegung hin. Wenig später war zu unserer Erleichterung die abschließende Ansage zu hören:

„Nach vierhundert Metern halten Sie sich bitte rechts.“ – dann: „Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht.“

Nach der knappen Hälfte des Weges hielt Papa plötzlich an. Mama fragte daraufhin besorgt:

„Na hallo, Herbie! Was ist denn jetzt passiert?“

Papa antwortete, uns beruhigend zulächelnd:

„Jetzt ist natürlich nichts passiert, worüber ihr euch Sorgen machen müsstet. Aber versucht euch doch zu erinnern … damals … war nicht fast an dieser Stelle der Blitz in den Baum eingeschlagen?“ –

„Na klar, ich erinnere mich noch daran“, warf ich ein und plötzlich war das Geschehen von damals mir wieder gegenwärtig: der grelle Blitz und dann das ohrenbetäubende Donnern … Papas schnelle Reaktion, welche das Auto fast einen Satz nach vorn machen ließ … dann das Krachen, als hinter uns der Baum quer über den Weg stürzte und uns den Rückweg abschnitt …

Mir stieg sogleich eine mächtige Gänsehaut den Rücken rauf, als ich daran dachte. Als ich die Anderen ansah, war ich mir sicher, dass es ihnen auch nicht viel besser erging. –

Nach einigen Minuten beendete Papa schließlich das Schweigen, indem er schmunzelnd sagte:

„Na dann wollen wir mal wieder! Wir werden bestimmt erwartet und ich denke, wir müssten bald da sein.“

Und tatsächlich: Nach einer leichten Rechtsbiegung des Weges kamen wir bereits an jene Einfahrt zum Schloss. Im Gegensatz zu früher durchfuhren wir ein großes zweiflügliges Tor, welches einladend offen stand.

Die Efeuhecke gab es zwar immer noch, jedoch war sie ordentlich geschnitten und wucherte nicht wie damals am Gebäude empor. Das Schloss selbst war in der Tat nicht wiederzuerkennen. Die Fassade erstrahlte in hellem Ocker-Ton, der sehr gut mit den roten Ziegeln des Daches harmonierte.

Gerade als mein Blick auf das Wappen über dem Eingang fiel, welches mir damals entgangen sein musste oder – was noch wahrscheinlicher erschien – erst später neu angebracht worden war, wurde unsere Aufmerksamkeit auf die sich öffnende große zweiflüglige Tür gelenkt.

Wir trauten unseren Augen nicht, als wir sie sahen: Hänsel, Gretel sowie deren drei Freundinnen Rapunzel, Dornröschen und Schneewittchen traten in diesem Augenblick heraus. So, als hätten wir sie erst vor wenigen Wochen verlassen, schienen sie sich überhaupt nicht verändert zu haben!

Papa steuerte das Auto langsam bis vor die breite Treppe, wo er schließlich anhielt und den Motor abstellte. Mama flüsterte uns noch zu:

„Ob die sich noch an uns erinnern können? Immerhin ist es ja vier Jahre her, als wir hier waren.“

Ich wollte gerade vor Lachen losprusten, konnte mich aber noch im letzten Moment beherrschen und erwiderte stattdessen nur:

„Aber Mama! Hätten sie uns dann diese Einladung geschickt, wenn sie uns mit der Zeit vergessen hätten? Und außerdem: Was sind schon vier Jahre …“

Mama sah mich an und meinte schließlich:

„Ja, Tom, du hast wohl Recht. Vier Jahre sind ja weiß Gott keine Ewigkeit. Wenn ich oder besser gesagt wir uns noch recht gut an die Zeit unseres damaligen Aufenthaltes erinnern können, dann wird es ihnen bestimmt nicht anders ergehen, will ich meinen.“

Papa öffnete schließlich entschlossen die Fahrertür und schickte sich an auszusteigen. Uns blieb daher nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun.

Als wir am Fuße der Treppe anlangten, kamen sie uns etwas entgegen und bildeten zusammen mit den soeben hinzugekommenen 7 Zwergen ein Spalier …

„Herzlich willkommen, liebe Familie Roller!“, ertönte plötzlich von oben eine freundliche Stimme.

Als ich überrascht aufsah, trat der alte König mit seiner Frau aus der Tür. Unter dem Jubel der Spalierstehenden stiegen wir die Stufen hinauf. Von uns hatte bisher noch keiner ein Wort hervorgebracht. Ich schrieb dies unserer Überraschung über den überaus herzlichen Empfang zu.

Ein warmer Händedruck riss mich aus meiner Gedankenversunkenheit und ließ mich den freundlich blickenden Augen der Königin begegnen. Beinahe hätte ich sie herzlich umarmt, doch im letzten Moment besann ich mich anders und wollte mich ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugen. Das leise „Entschuldigung, Frau Königin“, welches ich hervorbrachte, hatte sie dennoch gehört und antwortete lächelnd:

„Aber lieber Tom, bitte keine übertriebene Bescheidenheit. Ich sehe es dir an, wie sehr du dich über unser Wiedersehen freust. Na komm schon her und lass dich umarmen …“

Mir verschlug es aufs Neue die Sprache und ich ließ es einfach geschehen …

Der König begrüßte mich anschließend mit einem überraschend kräftigen Händedruck, klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte:

„Unsere Wiedersehensfreude beruht sicher auf Gegenseitigkeit, mein junger Freund. Und außerdem, so möchte ich meinen, Gefühle sind nach meiner Überzeugung dazu da, auch gezeigt zu werden.“

Dem konnte ich nichts ernsthaft entgegensetzen. Stattdessen meinte ich etwas verlegen:

„Aber eigentlich bin ich doch nicht das Oberhaupt meiner Familie, sondern mein Papa hätte ja …“

Lachend unterbrach mich der Alte König – ich entsann mich soeben, dass wir ihm damals den Namen „Albert“ gegeben hatten – mit den Worten:

„Na immerhin schienst du es eilig gehabt zu haben, nach oben zu kommen. Dies hatte wohl die ganze ‚Etikette‘ bissel durcheinandergebracht. Aber Etikette hin, Etikette her – so streng halten wir es damit schon seit langem nicht mehr, wenn du verstehst, was ich meine.“

Diesen letzten Worten ließ König Albert ein vergnügtes Augenzwinkern folgen. Ich realisierte im nächsten Moment, dass ich tatsächlich bei den ersten Stufen der Schlosstreppe gleich zwei auf einmal genommen hatte …

Als ich mich nach den Anderen umsah, waren inzwischen ein allgemeines Händeschütteln und Umarmen im Gange. Ich sah gerade noch, wie meine Schwester Lucie von allen der sieben Zwerge einen Schmatz auf ihre Wangen bekam. Ich gönnte es ihr neidlos, auch mit dem für mich einigermaßen tröstlichen Gedanken, dass ich dadurch schließlich als Erster die entsprechend herzliche Begrüßung durch Beatrix und Albertfür mich in Anspruch nehmen konnte. –

„… Na hallo, Tom – du scheinst ja mächtig in Gedanken versunken gewesen zu sein …“

Erschrocken sah ich auf und blickte in das amüsierte Gesicht von Gretel. Ich musste verwundert eingestehen, dass ich plötzlich tatsächlich wiederum etwas abwesend wirkte. Das Ganze war mir äußerst peinlich und hatte zur Folge, dass ich verwirrt abermals um Entschuldigung bat, woraufhin Gretel noch mehr erheiterte. Gleich darauf strich sie mir jedoch tröstend übers Haar und sagte:

„Na, na, lieber Tom, das ist kein Grund, zu verzagen. – Doch nun möchte ich euch meinerseits recht herzlich willkommen heißen. Schön, dass ihr unserer Einladung gefolgt seid.“

Meine Eltern und Lu waren mittlerweile herangekommen. Und meine Schwester konnte es sich nicht verkneifen, mir mit spöttischem Blick zuzuraunen:

„Konntest es wohl nicht erwarten …?“

Doch sie musste ihren Satz unvollendet lassen, da nunmehr sie selbst völlig überraschend einen Zuruf erhalten hatte, nach welchem sie sich suchend umwandte:

„Na so eine Überraschung auch! Ist das nicht die Lucie, die mit ihrem Bruder Tom am gleichen Tag Geburtstag hat?“

Aus der Tür trat freudestrahlend Frau Edelgard Amalia Holle. Gleich nach ihr folgten Annemarie und Marianne, und alle drei begrüßten uns mit großer Herzlichkeit. Meine Schwester umarmte Anne und Marie und ergänzte danach an Frau Holle gewandt:

„Und natürlich auch unsere Eltern.“

„Ja, genau – jetzt erinnere ich mich wieder – war das nicht an diesem … 29. Februar? Welch ein seltenes Glück, dass es gleich die ganze Familie trifft. Aber … mir ist so, als hätte ich noch von jemand anderem gehört, an ebendiesem Tage zur Welt gekommen zu sein …“, überlegte sie und blickte nachdenklich vor sich hin.

Überraschend meldete sich Lu zu Wort:

„Ich glaube, ich weiß, wen du meinst: Wenn ich mich nicht irre, könnte das nur Rapunzel gewesen sein …“

Mit triumphierendem Blick sah sie zuerst mich und dann Frau Holle an. Nun fiel es auch mir wieder ein, was uns Rapunzel damals erzählt hatte.

Und wie auf Verabredung trat diese inmitten ihrer beiden Freundinnen auf uns zu und meinte verwundert:

„Wie schön, dass ihr das alles noch wisst! Ja, ihr habt euch nicht geirrt – und die diesjährige Feier war für mich eine besonders schöne, da ich sie nach unendlich langer Zeit wieder im Beisein meiner lieben Eltern verbringen konnte. Das war das schönste Geschenk, welches ich mir zuvor nicht zu wünschen gewagt hatte und das endlich doch in Erfüllung gegangen war.“

Nach diesen Worten herrschte eine kurze Stille des Erinnerns, in welche hinein schließlich Gretel alle freundlich ermahnte:

„Aber nun möchten wir doch endlich unsere Gäste hereinbitten. Mein Bruder wird so lieb sein, euch“, so sagte sie mit Blick auf uns, „in eure Zimmer zu begleiten.“

Das ließ sich Hänsel nicht zweimal sagen und meinte mit einladender Geste:

„Na dann kommt bitte mit. Es wird euch sicher freuen, zu hören, dass wir euch die gleichen Zimmer reserviert haben, in denen ihr damals schon das Vergnügen hattet, wohnen zu können.“

Ich musste nicht lange überlegen, als ich fragte:

„Also wieder in der ersten Etage die beiden tollen Zimmer mit den ebenso tollen Bädern, stimmt’s?“

Hänsel blickte mich erstaunt an und meinte lächelnd:

„Das wisst ihr noch? Ja, Tom, du hast richtig erraten – genau diese nebeneinanderliegenden Zimmer sind es wieder. Ich hoffe, ihr freut euch darüber. Ihr werdet erstaunt sein, was wir im Laufe der Rekonstruktion daraus gemacht haben.“

Und wirklich: Er hatte uns nicht zu viel versprochen. Als wir vor der Tür unseres Zimmers standen, zögerten wir einen Moment, diese aufzumachen.

Hänsel forderte uns daher lächelnd auf:

„Na, macht schon auf, ich sehe euch ja eure gespannte Neugier an.“

Meine Schwester fasste sich endlich ein Herz und öffnete langsam die Tür. Uns blieb vor Überraschung der Mund offen stehen, als wir einen ersten Blick hineinwar­fen. Die Schlichtheit der damals als vorläufig gedachten Gestaltung und Ausstattung war einem fast prunkvoll zu nennenden Aussehen gewichen. Nur das riesige Doppelbett und die Kommode von damals waren geblieben. Die Zimmerdecke schloss an den Wänden mit einer breiten filigranen gold-rosé-farbigen umlaufenden Stuckleiste ab. Über dem zwölfarmigen Leuchter in der Raummitte zierte eine große Stuckrosette die Decke, welche farblich passend gestaltet war.

Ich warf sogleich einen Blick in das angrenzende Bad, bevor mich die neue Pracht unseres Zimmers allzu sehr zu überwältigen drohte. Als ich die dortige Tür öffnete, fiel mir auf, dass sich darin eigentlich nichts geändert hatte, außer dass alles in frischen Farben wie neu erstrahlte.

An Lu gewandt fragte ich schmunzelnd:

„Erinnerst du dich noch, was uns Mama damals sagte, als wir uns auf unser erstes Duschen freuten?“

Und ob sie sich daran erinnerte!

„Und planscht mir nicht zu sehr herum, damit ihr nicht das ganze Schloss unter Wasser setzt!“, zitierten wir beide wie aus einem Munde und mussten herzlich lachen.

Mama und Papa hatten mittlerweile auch ihr Zimmer in Besitz genommen. Und wie nicht anders zu erwarten, kannte auch ihre Begeisterung keine Grenzen.

Mit einem Blick auf die Uhr – es war mittlerweile nachmittags halb drei – meinte Hänsel:

„Ich schlage vor, wir sehen uns in einer halben Stunde im Saal wieder. Dann erwarten wir euch zum Kaffeetrinken.“

Da wir diesmal unser Gepäck gleich mitgebracht hatten, begannen wir zunächst das Wichtigste auszupacken und uns etwas frischzumachen. Lu lief anschließend zum Fenster und rief erfreut:

„Hey, Tommi! Da unten scheint sich seit damals nichts wirklich geändert zu haben oder fällt dir irgendwas auf?“

Nachdem ich mir nochmals die Haare gekämmt hatte, trat ich aus dem Bad ans Fenster. Sosehr ich mich auch anstrengte, etwas zu entdecken, so schien auch mir – verglichen mit meinen Erinnerungen von damals – nichts aufzufallen. Zu Lu meinte ich daher:

„Vielleicht müsste man nur mal wieder einen Erkundungsgang machen, oder so …“ –

Ich wurde in meinen Überlegungen unterbrochen, als plötzlich Papa durch die Verbindungstür zu uns hereinkam. Lu beschwerte sich sogleich schmollend:

„Hättest auch erst mal anklopfen können, bevor du bei uns reinschneist, Papa!“

Der guckte nur erstaunt und erwiderte:

„Entschuldige bitte, ich dachte gerade nicht daran, dass hier eine gewisse … Etikette angebracht ist.“

Mama erschien hinter ihm und fragte verwundert:

„Habe ich richtig gehört? Was soll mit der Etikette gemeint sein?“

Als sie unsere grinsenden Gesichter gewahrte, lachte sie und meinte mit gespielter Entrüstung zu Papa:

„Aber Herbie, du scheinst vergessen zu haben, dass wir uns hier auf königlichem Terrain befinden. Da ist wohl ein bisschen Etikette als durchaus angemessen zu betrachten.“

Papas Gesichtsausdruck sah in diesem Moment sowas von zum Schießen komisch aus, dass Lu und ich uns nicht mehr halten konnten und prustend loslachten.

Ehrlich gesagt tat er mir in dem Augenblick tatsächlich ein bissel leid. Doch endlich ging ihm auf, dass wir alle uns gerade auf seine Kosten köstlich amüsierten.

Ich trat schließlich auf ihn zu und meinte versöhnlich:

„Entschuldigung, Papa. Aber die anfängliche Bemerkung von Lu wegen des Anklopfens war sicher nicht so krass gemeint, wie sie sich zunächst anhörte. Und das mit der Etikette … du hast ja vielleicht gehört, was König Albert vorhin diesbezüglich gesagt hatte …“

Aber der winkte nur gelassen ab und ermahnte uns stattdessen scherzhaft:

„Wir täten besser daran, uns umgehend in den Saal hinunter zu begeben. Denn Unpünktlichkeit ist mit Sicherheit ein nicht zu verzeihender Etikettenverstoß.“

Also machten wir uns auf den Weg nach unten. Wir langten gerade am Fuße der unteren Treppe an, als plötzlich die Saaltür aufging und ein hagerer kleiner Mann, dessen Alter nicht sogleich eindeutig zu bestimmen war, sich anschickte, an uns vorbei nach oben zu eilen. Als er uns sah, blieb er jedoch sichtlich überrascht stehen. Diese Überraschung beruhte, wie ich unschwer sehen konnte, auf Gegenseitigkeit.

Lu erholte sich als Erste davon und rief:

„Ich glaub, ich sehe nicht recht – ist das nicht …?“

Weiter kam sie aber nicht, denn der Hagere verneigte sich leicht vor ihr und sprach:

„Verzeihung, junge Dame, sollten wir uns tatsächlich kennen? Oh, ich wollte soeben nach oben eilen, um …“

Diesmal war es meine Schwester, die ihn nicht ausreden ließ, indem sie lächelnd fragte:

„Ich irre mich doch nicht, wenn ich in Ihnen den Helden einer meiner Lieblingsgeschichten wiederzuerkennen glaube? Der zwei Riesen vertrieb und ein Einhorn überlistete? Und natürlich, Ihr Gürtel mit der großen ‚7‘ darauf verrät, dass ich wohl Recht habe: Ihr müsst das Schneiderlein sein, dessen Tapferkeit einst so sehr gerühmt wurde und welche bis heute unvergessen blieb.“

Der Angesprochene vergaß mit einem Male, dass er soeben noch so sehr in Eile gewesen war.

Er reichte meiner Schwester mit einer galanten Geste die Hand und erwiderte lächelnd:

„Ich staune immer wieder, dass man sich meiner noch so gut erinnert, obgleich es doch schon so lang her ist. Als ich gestern hier anreiste, dauerte es auch nur kurze Zeit, bis mein Name hier in aller Munde war. Das lag sicher an dem besagten Gürtel, welchen ich noch immer mit Stolz zu tragen pflege und an welchem auch Ihr mich sogleich erkannt habt.“

Als er merkte, dass wir noch immer vor der Tür zum Saal standen, öffnete er diese rasch und bat uns den Vortritt lassend einzutreten.

Da wir offensichtlich noch nicht die Letzten waren, kam uns Gretel erfreut entgegen und stellte fest:

„Hallo, wie ich sehe, habt ihr bereits mit unserem neuen Gast Bekanntschaft geschlossen. Ich möchte fast meinen, dass ihr ihn ebenso schnell wiedererkannt habt wie wir, als er am gestrigen Vormittag überraschend hier eintraf. – Doch nun nehmt bitte Platz, noch habt ihr dafür die freie Auswahl …“

Unvermittelt wurde Gretel unterbrochen, als gerade Hänsel hereinkam, um einen neu eingetroffenen Gast anzukündigen. Ich bat ihn jedoch, diesen zunächst eintreten zu lassen. Ich wollte mir wieder einmal das Vergnügen nicht nehmen lassen, selbst zu erraten, wer da so überraschend angekommen war. Lu schüttelte zwar den Kopf wegen meiner – wie sie es nannte – Rate-Manie. Doch dann wollte sie mich schließlich doch gewähren lassen. Wir blickten nunmehr gespannt zur Tür.

Hänsel trat beiseite und bat mit einer wortlosen Verbeugung den Gast herein.

Der erschrockene Aufschrei Rapunzels ließ mich augenblicklich ahnen, wer die Alte sein könnte, die soeben eintrat. Ich selbst traute meinen Augen nicht recht, als ich sie sah: die längst tot geglaubte Zauberin Gothel …!

Die ebenfalls an der Kaffeetafel sitzenden Eltern von Rapunzel sprangen erschrocken auf und wollten sich schützend vor ihre einzige Tochter stellen. Nur zu gut erinnerten sie sich noch daran, wie die Alte Gothel sie ihnen einstmals kurz nach deren Geburt fortgenommen und später jahrelang in jenem berüchtigten Turm gesperrt hatte. –

Im Anbetracht dieser unerwartet entstandenen angespannten Unruhe beschloss ich, meine ursprünglichen Rate-Absichten aufzugeben, ging stattdessen zu meinem Platz zurück und verfolgte gespannt die weitere Entwicklung der Dinge. –

Die alte Zauberin stand noch immer wenige Schritte von der Tür entfernt. Ihr suchender Blick blieb schließlich auf Rapunzel ruhen, welche nach einigem Zögern langsam auf sie zutrat.

Ihren Eltern bedeutete sie zuvor mit beruhigender Geste, dass diese unbesorgt sein könnten. Dann begann sie, mit verhaltener Stimme zu sprechen:

„Sagt bitte, was führt Euch hierher nach dieser langen Zeit? Ich hoffe sehr, dass Ihr nicht beabsichtigt …“

Die Alte unterbrach sie an dieser Stelle, indem sie die Hand ums Wort bittend erhob und sich ebenfalls um zwei Schritte Rapunzel näherte. Ihre Stimme wollte ihr anfangs nicht recht gehorchen, als sie begann:

„Es ist wohl wahr: Seit damals sind inzwischen unzählige Jahre vergangen. Jahre, welche auch an mir nicht spurlos vorübergezogen sind – und das nicht nur das Alter betreffend, sondern für mich hauptsächlich eine Zeit des Nachdenkens und der Rückbesinnung waren. – Als ich dich damals von deinen Eltern einforderte, ließ ich mich noch von meinem Zorn leiten, welchen ich in Unkenntnis der Not deiner Eltern empfand. Ich versprach ihnen, dich wie eine Mutter lieben zu wollen. Doch im Verlauf der Jahre strafte mich mein Verhalten Lügen … Ebenso ungnädig verhielt ich mich auch noch, als ich deinem späteren Erretter, diesem jungen Prinzen, gegenüberstand. Ich war nicht bereit, dich mit ihm ziehen zu lassen, auf dass ihr wirklich glücklich miteinander würdet. Mein mir später immer mehr bewusst gewordener Egoismus bereitete mir schließlich außerordentlich große Seelenpein und Gewissensbisse, so dass ich mich fortan entschloss, euch wenigstens etwas Wiedergutmachung angedeihen zu lassen …“

An dieser Stelle stockte die Erzählung der Alten zunächst. Nachdenklich verharrte sie regungslos. Ihr Blick wandte sich langsam einem der großen Fenster zu, durch welches die Nachmittagssonne hereinstrahlte. Es schien, als wenn sie dort draußen nach einer Antwort auf das suchte, was sie noch sagen wollte. Daher herrschte einen Augenblick lang gespannte Stille im Saal. –

Ich selbst war in diesem Moment nahe dran, zu glauben, dass es beinahe irgendwelche Parallelen zu damals gäbe, als Schneewittchen und ihre Eltern sich nach langer Zeit ebenso unverhofft wiederfanden. Doch letztendlich hatte ich für mich beschlossen, zunächst keine voreiligen Schlüsse ziehen zu wollen und lieber alles weitere abzuwarten … –

Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit wieder voll in Anspruch genommen, als endlich die alte Zauberin ihr faltiges Antlitz Rapunzel wieder zuwandte und zu sprechen fortfuhr.

Ihre Stimme schien etwas an Festigkeit gewonnen zu haben, als sie sprach:

„Auch wenn es noch lange dauerte, mein damaliges Tun aufrichtig zu bereuen, so begann ich schließlich zunächst, dem Ganzen eine völlig neue Bedeutung beimessen zu wollen. Ich beschloss, es als Lohn für eine bestandene Prüfung eurer aufrichtigen und von ganzem Herzen kommenden wahren Liebe zu betrachten, dass dein Prinz dich einst in jener Wüstenei finden konnte und zugleich zwei deiner Tränen ihm das zuvor unglücklich verlorene Augenlicht zurückgaben. Als ich gewahr wurde, dass alles gut gelungen war, glaubte auch ich, allem in meiner Macht Stehenden und meinem Gewissen gerecht geworden zu sein. Meine Strafe für mich sah ich darin, dass ich am nächsten Tage feststellen musste, meine einstigen Zauberkräfte ein für alle Mal verloren zu haben. Ich brauchte daraufhin nicht allzu lange zu überlegen, ob ich dies mit Bestürzung oder eher mit gewisser Erleichterung und Demut aufnehmen und akzeptieren sollte. – Nun, liebe Rapunzel, ist es an dir, deine dir richtig erscheinenden Schlüsse zu ziehen. Ich jedenfalls wünsche mir nichts sehnlicher, als dass für alle Zeiten meine Schuld beglichen sei und du und deine Eltern mir vergeben können, was ich ihnen und dir einst angetan hatte.“

Als die Zauberin nun schwieg, herrschte noch minutenlange Stille. Die wurde erst durch ein hörbares Aufatmen aller im Saal Anwesenden beendet, als sich Rapunzels Eltern an die Seite ihrer Tochter begaben. Noch schienen diese unschlüssig zu sein, was sie im Anbetracht des gerade Gehörten tun oder sagen sollten.

Doch dann war es Rapunzel selbst, die der alten Frau Gothel beide Hände reichte und sie zunächst nur stumm drückte. Als ihre Eltern nach einigem Zögern ihrem Beispiel folgten, war es um Rapunzels Selbstbeherrschung geschehen. Noch immer konnte sie kein Wort hervorbringen. Stattdessen brach sie in Tränen aus … –

Was kurz darauf geschah, erinnerte mich sehr stark – wie ich es vorhin bereits vermutete – an die Ereignisse von vor vier Jahren. Ich dachte in diesem Moment bei mir: „Sollte es möglich sein, dass am Ende das Gute nicht ausschließlich in unseren Märchen siegt, sondern dass manch böses Ende auch lange danach noch gut werden könne, wenn nur der ehrliche Wille vorhanden sei und das Schicksal es gut meint?“

Letztendlich musste ich’s mir selbst eingestehen, dass wohl auch ein gewisses Wunschdenken im Spiel war …

Ich wurde plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, als meine Schwester mich aufgeregt anstieß und mit unterdrückter Stimme meinte:

„Tommi! Sieh doch mal: Das ist ja fast so wie damals!“

Ich nickte nur und antwortete ebenso leise:

„Du wirst es nicht glauben, liebe Lu, aber genau dasselbe habe ich auch eben gerade denken müssen. Ob das vielleicht was zu bedeuten hat?“

Sie sah mich daraufhin nachdenklich an, sagte jedoch nichts. Ich konnte mir aber recht gut vorstellen, was ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein mochte.

Durch unser leises Zwiegespräch abgelenkt, bemerkten wir erst jetzt, dass sich König Albert und Beatrix erhoben hatten und auf die Gothel zugingen. Albert legte der alten Frau behutsam die Hand auf die Schulter und sprach:

„Welch ein wundersamer Wink des Schicksals uns doch heute wieder zuteilwurde, verehrte Frau Gothel! Ja, ich meine es so, wie ich sagte: Euch gebührt meine ehrliche Bewunderung und Hochachtung! Und mit ‚Wieder‘ meine ich, dass uns beiden – mir, dem Vater von Schneewittchen und ihrer Stiefmutter – vor fast genau vier Jahren Ähnliches widerfuhr, nämlich dass wir durch aufrichtige Reue und den beiderseitigen Wunsch und Willen nach Vergebung wieder zu einer glücklichen Familie geworden sind.“

Ich konnte in dem Moment nicht mehr länger an mich halten, trat rasch hinzu und ergänzte begeistert:

„Das kann ich voll und ganz bestätigen, denn meine Familie und ich waren damals auch zufällig hier zu Gast. Und … wenn Sie noch nicht alles glauben können, so fragen Sie doch einfach mal den Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter. Dieser hängt übrigens draußen im Foyer rechts neben der Saaltür …“

Lu bedeutete mir mit Kopfschütteln, dass ich mir diese voreiligen Bemerkungen wohl hätte sparen können. Aber nun war es heraus und leider nicht mehr zu ändern.

Ich wollte mich gerade etwas beschämt für mein vorlautes Verhalten entschuldigen, doch die Alte Gothel warf mir einen erstaunten Blick zu und meinte:

„Ja … aber ja doch! Ich entsinne mich soeben eines merkwürdigen Momentes … Als ich vor dieser Tür stand und wartete hereingebeten zu werden, sah ich in diesen Spiegel … nur, dass … ich mich selbst darin nicht sehen konnte, so, als wäre ich nicht da …“

Verwirrt hielt sie inne, denn sie wusste sich das Ganze nicht zu erklären. Da trat Königin Beatrix an ihre Seite und versuchte es mit einer ihr plausibel erscheinenden Erklärung:

„Vielleicht – aber dafür möchte ich mich nicht verbürgen – vielleicht ‚wollte‘ er Euch nicht sehen … noch nicht, meine ich … Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, galt – und gilt noch heute – sein unerschütterlicher Grundsatz: Wer in ihn hineinblicket, wird stets das Wahrhaftige erkennen, wer im Zweifel ihn frage, dem werde ebenso stets die reine Wahrheit verkündet. Es mag also durchaus sein, dass er in Eurem Falle vorhin noch nicht bereit oder in der Lage dazu war … – Ich selbst mag heute gar nicht mehr daran denken, dass ich ihn einst in Stücke schlug, als ich seine Wahrheit in meiner Verblendung und Eitelkeit lange nicht bereit war, zu akzeptieren …“

Doch König Albert erwiderte ihr:

„Ach bitte, liebe Beatrix, denk doch nicht mehr an diese unschöne Zeit zurück! Wichtig ist doch für uns, dass wir nach langer Zeit unseren Frieden miteinander haben und wieder eine glückliche und von allen geachtete Familie sein dürfen … Und Euch, liebe Frau Gothel“, wandte er sich an diese, „sei es vom Herzen zu wünschen und zu gönnen, dass auch Ihr Euren Frieden mit Rapunzel und ihren Eltern finden könnt.“

Die alte Zauberin senkte daraufhin nachdenklich ihren Blick, sah schließlich zuerst Rapunzel in die Augen und suchte dann hoffnungsvoll in den Mienen von deren Eltern nach ersten versöhnlichen Anzeichen. Als einen Augenblick lang nichts weiter geschah, glaubte sie alle Hoffnung verloren zu haben. Doch dann begann Rapunzels Mutter überraschend zu sprechen:

„Ich selbst sollte es wohl als Erste sein, welche Euch zu vergeben hätte. Denn hätte ich dazumal nicht solch großes Verlangen nach den Rapunzeln in Eurem Garten gehabt, dann hätte mein armer Mann diese nicht immerzu holen und dann hätte unsere liebe Tochter nicht die langen Jahre in diesem Turm verbringen müssen. Letztendlich hattet Ihr es doch noch wohlmeinend bewirkt, dass die große und wahrhaftige Liebe von Rapunzel zu ihrem Prinzen und späteren Gemahl den erhofften Lohn fand. So sei es denn von nun an, dass nicht länger Groll unsere Herzen bedrücken möge.“

Rapunzels Vater fand nicht sogleich die rechten Worte, so dass er nur sichtlich aufatmend wiederholte:

„So sei es denn …“

Und Rapunzel selbst? Die nahm die alte Zauberin an die Hand und beide begaben sich aus dem Saal. Es dauerte auch nicht lange, als aus dem Foyer ein überraschter Aufschrei zu hören war. Fast zur gleichen Zeit, als Rapunzels Eltern daraufhin nach draußen eilen wollten, kam ihre Tochter mit der Zauberin in den Saal zurück. Letztere brachte auf Grund des soeben Erlebten noch kein Wort heraus. Doch dann sprudelte es nur so aus ihr heraus:

„Ich kann es noch nicht richtig glauben … Es muss ein Wunder geschehen sein, dass … als ich in den Spiegel schaute … ich habe es doch nicht nur geträumt oder? Ist es wahr“, wandte sie sich noch immer zweifelnd an Rapunzel, „dass ich mich auch wirklich in dem Spiegel gesehen habe …?“

Die konnte zunächst nur wortlos nicken. Da kam ihr die Königin zu Hilfe, reichte der Zauberin lächelnd die Hand und sprach:

„Ich bin mir sicher, dass dies ein gutes Zeichen für Euch sein muss, denn nun ist auch der Spiegel davon überzeugt, dass Ihr wahrhaftig gesprochen habt und er Euch vertrauen kann. Damit steht wohl der Vergebung und dem Miteinander-Versöhnen nichts mehr im Wege. ‚So sei es denn‘, kann auch ich nun wiederholen, und dies sei Euch, liebe Frau Gothel, sowie dir, Rapunzel, und deinen Eltern für alle Zeiten vom Herzen gegönnt.“

Ich war von dieser glücklichen Wendung der Ereignisse so beeindruckt, dass ich beinahe vergaß, in den wohlwollenden Beifall aller Anwesenden einzustimmen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass meiner Schwester ein paar Tränen der Rührung die Wange herabkullerten, die sie verstohlen wegzuwischen versuchte. Ich ließ sie nicht merken, dass ich es dennoch gesehen hatte. Zugegeben: Ich selbst war auch nicht weit davon entfernt, musste mit meinem Kloß im Hals alleine klarkommen. Doch zum Glück hatte das keiner gemerkt, glaubte ich jedenfalls … –

Doch dann meldete sich Gretel zu Wort, indem sie uns daran erinnerte, dass Kaffeezeit sei – wenn auch etwas verspätet. Ich sah auf meine Uhr und musste feststellen, dass unmerklich eine Stunde verstrichen war. Und wie auf Verabredung öffnete sich die Tür zur Küche und die Sieben Zwerge schoben vier Servierwagen in den Saal. Deren Auftauchen sorgte für überraschte bis erheiterte Ausrufe.

Das Tapfere Schneiderlein rief jedoch mit gespieltem Entsetzen aus:

„Oh je! Diesen Sieben ließe sich bestimmt nicht auf einen Streich beikommen! Aber wozu auch? Diese kleinen Kerlchen könnten gewiss keiner Fliege etwas zuleide tun. Eher würde ich mich wohl mit ihnen anfreunden, als ihnen den Garaus machen zu wollen.“ –

„Immerhin hatte ihnen Schneewittchen einst ihr Leben zu verdanken und nicht zuletzt auch deshalb ist es ihnen vergönnt, seit langer Zeit ständige Mitbewohner dieses Schlosses zu sein“, wandte ich mich an das Schneiderlein und ergänzte:

„Und das Schönste ist ja, dass sie sogar ihr damaliges Häuschen von hinter den Sieben Bergen, wo sie einst zu Hause gewesen sein sollen, hier im großen Schlosshof wiedererrichtet haben …“

Das rief natürlich des Schneiders Interesse wach und er nahm sich vor, den Kleinen bei erstbester Gelegenheit einen Besuch abzustatten. Ich konnte mich daraufhin nicht enthalten, ihn noch grinsend vorzuwarnen:

„Doch bevor Ihr dort eintretet, solltet Ihr unbedingt auf das über der Tür des Häuschens angebrachte Schild achten. Dieses wurde vor vier Jahren erst dort angebracht, nachdem meinem Vater ein zum Glück glimpflich verlaufenes Missgeschick widerfuhr …“

Ich schilderte kurz, was sich damals ereignet hatte. Als wir daraufhin beide herzlich darüber lachen mussten, war es ausgerechnet mein Papa, welcher sich nach dem Grund für unsere plötzliche Erheiterung erkundigte. Ich bekam fast ein schlechtes Gewissen, dass wir uns womöglich wiederum auf seine Kosten amüsiert haben könnten. Doch er schüttelte nur schmunzelnd den Kopf und meinte:

„Man könnte glattweg denken, dass diese Geschichte fast ebenso unsterblich werden könnte, wie die Märchen der Grimm’schen Sammlungen es ohnehin schon sind.“

Glücklicherweise wurden wir einer weiteren Auslassung über das Thema enthoben, als uns die großen Teller mit köstlichem Gebäck und Kuchen auf den Tisch gestellt wurden. Gretel, Dornröschen und Schneewittchen kamen bald darauf mit bauchigen Kannen herum und schenkten je nach Wunsch Kaffee, Tee oder heiße Schokolade ein.

Wie ich sehen konnte, saß die alte Zauberin einträchtig zwischen Rapunzel und deren Mutter. Und erst beim genaueren Hinsehen fiel mir auf, was ich vorhin bei der ganzen Aufregung übersehen hatte: Die Gothel wirkte augenscheinlich etwas jünger und ihre Haltung erschien mir deutlich aufrechter als bei ihrer Ankunft! Sollte der Spiegel – wie damals bei Schneewittchen und ihren Eltern – etwas Ähnliches bewirkt haben? Vielleicht auch deshalb der überraschte Aufschrei der Zauberin und nicht nur wegen des Sich-sehen-Könnens, als sie mit Rapunzel davorstand?

Als ich Lu darauf aufmerksam machte, schaute auch sie nochmals genauer, nickte bestätigend und meinte:

„Der Spiegel hat also noch nichts von seiner Magie eingebüßt und belohnt wird noch immer, wer es redlich verdient hat. Aber das mit dem ‚jünger werden‘ habe ich bis heute noch nicht kapiert, wie das funktioniert.“ –

„Ist ja auch nicht so wichtig, ob wir das verstehen, liebes Schwesterchen. Hauptsache, es funktioniert. Lassen wir es doch einfach einen guten Zauber sein, welcher nicht nur strafte, sondern des Öfteren auch belohnte. Denke doch dabei nur mal … na zum Beispiel an Frau Holle.“

Lu sah mich zuerst verdutzt an, doch dann verstand sie und wir mussten beide schmunzeln. –

Nach dem die Kaffeetafel beendet worden war, beschlossen Lu und ich, einen ersten Erkundungsgang durch den Schlosshof und die angrenzenden Ställe und Weiden zu unternehmen. Das Schneiderlein war sofort dazu bereit, uns zu begleiten. Hoffte es doch seine Neugier auf das Häuschen der Sieben Zwerge befriedigen zu können. Wir meldeten uns bei Hänsel, der uns gerade über den Weg lief, und fragten, ob heute noch irgendetwas geplant sei. Der aber beruhigte uns und sagte, dass der heutige Abend dazu bestimmt sei, das Neueste von vergangenen Ereignissen auszutauschen.

„Und außerdem“, so ergänzte er lächelnd, „könnte es durchaus sein, dass mit noch weiteren Gästen zu rechnen ist.“

Mehr wollte er offenbar noch nicht verraten, also blieb uns nichts weiter übrig, uns zu gedulden oder überraschen zu lassen. Das Zwergenhaus, so ließen wir den Schneider wissen, sollte als Abschluss unserer Runde an die Reihe kommen, da dessen Bewohner sicherlich noch in der Küche zu tun haben. Daher lenkten wir unsere Schritte zunächst zu den Weideflächen hinter dem Schlosshof.

Von dort vernahmen wir plötzlich aufgeregtes Geschrei, dessen Ursache wir augenblicklich zu ergründen versuchten. Als die Tiere uns erblickten, verstummten sie und schauten uns zunächst abwartend an. Unvermittelt flatterte ein Hahn auf den Rand der Einfriedung. Kaum jedoch hatte er uns erspäht, flog er auf uns zu und rief überrascht:

„Welch große Freude, euch gerade jetzt wiederzusehen!“

Den anderen Tieren wollte er uns zunächst kurz vorstellen, doch dann waren es ein paar Kühe, die sich zu unserer Überraschung noch an uns erinnern konnten. Auch die beiden Kutschpferde, welche Frau Holle damals dem Schloss geschenkt hatte, taten durch freudiges Gewieher kund, dass sie uns noch nicht vergessen hatten. Doch schließlich ergriff der Hahn wieder das Wort und erklärte uns den Grund ihrer derzeitigen Unruhe, indem er berichtete:

„Eigentlich ereignete sich das zum Glück abgewendete Unglück bereits vor drei Tagen im frühesten Morgengrauen in unserem Stall. Da nämlich erhob sich plötzlich unter dem Federvieh ein mordsmäßiges Geschrei. Ich, der ich auf einer der obersten Stangen saß, sah gerade noch, wie ein Fuchs sich mit einer unserer Hennen davonmachen wollte. Ich flog todesmutig auf diesen zu und erreichte immerhin, dass er seine Beute erschrocken fahren ließ. Doch geschlagen geben wollte sich der Räuber noch nicht. Das änderte sich jedoch schlagartig, als überraschend ein Wolf auftauchte. Ich dachte zunächst, dieser wollte dem Fuchs seine Beute streitig machen, und bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Aber zu unserer größten Überraschung griff sich der Wolf geschwind den Fuchs beim Genick und … biss ihn tot. Als er mich sah, trat er auf mich zu und sprach: ‚Habt nur keine Bange, Hahn, ich tue dir nichts zuleide. Ich erinnere euch vielmehr daran, dass ich vor ein paar Jahren in Begleitung der Bremer Stadtmusikanten und des Gestiefelten Katers zu Gast in eurem Hause war. Wir hatten damals mit eurer Erlaubnis unser Nachtlager hier bezogen. – Doch nun ist es euer Glück, dass ich soeben mit meinen Freunden von damals wiederum bei euch zu Gast sein wollte. Als wir den Lärm aus dem Stalle vernahmen, eilte ich sofort hinzu und konnte dem Fuchse recht schnell den Garaus machen.‘ Ich erkannte in der Tat den jungen Wolf von damals wieder und dankte ihm für seine Hilfe. – Also der Lärm, welchen ihr soeben hörtet, rührte daher, dass ich gerade den anderen Tieren von diesen Vorkommnissen berichtet hatte und sie daraufhin lautstark ihrer allzu berechtigten Empörung darüber freien Lauf ließen.“

Kaum hatte der Hahn seinen Bericht beendet, vernahmen wir vielstimmige Freudenrufe aus dem Hintergrund der Weide. Ich sah, wie in vollem Laufe der Esel und seine drei Freunde auf uns zustürmten. Fast hätte ich gemeint, sie wollten uns über den Haufen rennen. Doch dann stoppte der Graukopf wenige Schritte vor uns so plötzlich, dass Hund und Katze sich nicht mehr auf seinem Rücken halten konnten und mit etwas Glück heil auf dem Boden ankamen. Der Hahn indessen hatte sich vorsorglich in die Luft erhoben und flatterte mit freudigem Flügelschlagen uns direkt vor die Füße. Dann erhob er sich wieder und setzte sich auf des Esels Rücken.

Der wiederum musste sich erst von seinem ungewohnt schnellen Lauf verschnaufen, bevor er entschuldigend sagte:

„Ich hoffe doch sehr, unsere so stürmische Wiedersehensfreude hat euch nicht zu sehr erschreckt. Unser Hahn hatte euch als Erster gesehen, als er auf einen der Bäume dort hinten flog, um sich zu orientieren. Dann hatte er uns natürlich sofort von seiner Entdeckung berichtet. Und … es war übrigens meine verrückte Idee gewesen, in diesem halsbrecherischen Tempo hierher zu galoppieren …“

„Du kannst allemal von Glück reden, dass wir trotzdem mit heilen Knochen hier angekommen sind, Grauer!“, unterbrach ihn der Hund leicht verärgert. Doch an uns gewandt fuhr er mit versöhnlicherem Spott fort:

„Da sieht man es mal wieder: Der alte Graukopf wollte wohl zeigen, dass er noch was auf dem Kasten hat. Offenbar scheint der damalige geheimnisvolle Trank der Königin noch immer etwas Wirkung zu zeigen. Aber lass gut sein, Alter, wir scheinen wohl alle noch bisschen von unserer einstigen Verjüngungskur zurückbehalten zu haben.“

Seine drei Freunde ließen durch ihre lautstarke Zustimmung erkennen, dass da wohl etwas Wahres dran sein müsse.

Ich konnte mich auch noch ziemlich gut erinnern, was damals beinahe ein dramatisches Ende für den Esel genommen hätte, wäre da nicht die schnelle und uneigennützige Hilfe von Königin Beatrix gewesen. Nicht zu vergessen sei zudem der Trank, welcher den Esel nicht nur genesen ließ, sondern dessen unverhofften „Nebenwirkungen“ ihm und seinen drei Freunden wie ein Jungbrunnen erschienen sein mussten … –

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, weil mich unerwartet jemand von hinten ansprach. Als ich mich erschrocken umwandte, sah ich in das gutmütige Antlitz des Gestiefelten Katers. Keine Ahnung, wo der so plötzlich herkam …

„Na, na, du wirst doch nicht vor einem alten Freund erschrecken“, meinte er sichtlich vergnügt.

Mein anfänglicher Schreck war jedoch durch die Freude des unverhofften Wiedersehens schnell überwunden. Sodann bedachte er den neben mir stehenden Schneider mit einem nachdenklichen Blick und fragte:

„Wäre es denn möglich, dass ich Euch zwar noch nie gesehen, dafür aber von Euren sagenhaften Heldentaten gehört haben sollte?“

Statt die Antwort des verdutzten Schneiders abzuwarten, fuhr der Kater sogleich fort:

„Man sagt, Ihr hattet seinerzeit zwei Riesen gefoppt und sie seien letztendlich von Euch auf Nimmerwiedersehen in die Flucht geschlagen worden? Und dann war da noch die Sache mit dem Einhorn und dem Wildschwein, wenn ich mich recht entsinne …“

Diesmal gelang es dem Schneider, das Wort zu ergreifen und er meinte augenzwinkernd:

„Ja, ganz recht. Während jedoch bei dem von dir Erwähnten lediglich etwas Mut, List und Selbstvertrauen vonnöten war, so erforderte die erste meiner Taten ein gehöriges Maß an Schlagfertigkeit im wahrsten Sinne des Wortes, wenn Ihr versteht, was ich meine“, setzte er grinsend hinzu und schlug daraufhin seinen Umhang zurück, sodass man seinen breiten Gürtel mit der darauf gestickten großen 7 sehen konnte.

Der Gestiefelte Kater mimte zunächst Erschrecken, bevor er augenzwinkernd antwortete:

„Ich dachte erst, Ihr könntet keiner Fliege etwas zuleide tun. Nun aber gleich 7 auf einen Streich? Ich hoffe jedoch inständig, dass man sich vor Euch nicht zu sehr zu fürchten hätte …“

Der Schneider erriet den Spott, nahm ihn dem Kater jedoch nicht weiter übel. Stattdessen meinte er:

„Aber wenn ich an Eure mir zu Ohren gekommene größte Heldentat erinnern darf, so wäre diese mir nur unter Einsatz meines Lebens gelungen, wenn überhaupt …“

Der Kater sann kurz nach und mutmaßte:

„Ich irre mich doch nicht, wenn ich denke, dass Ihr die Geschichte mit dem bösen Zauberer gemeint habt?“ –

„Ja, gewiss doch! Ich versuche mir gerade vorzustellen, was wohl geschehen wäre, wenn der sich, während Ihr ihn verschlucktet, wieder von der Maus in sich selbst oder in ein größeres Tier verwandelt hätte.“ –

„Ich muss ehrlich gestehen, liebes Schneiderlein, daran hatte ich in dem Augenblick, als ich die Maus vertilgte, mit keiner Silbe gedacht. Aber zu Eurer Beruhigung kann gesagt werden … na, wie Ihr seht, lebe ich ja noch. Doch sei zudem erwähnt, dass ich meine Beute zuerst stets unschädlich mache, bevor ich mich an deren Genuss erfreue. Also der Unvorsichtige – gemeint ist in diesem Falle der Zauberer – hatte daher keine Chance, meine List noch rechtzeitig zu durchschauen und es sich anders zu überlegen …“

In das Lachen des Schneiders stimmten schließlich alle Umstehenden ein. Meine Schwester und ich hatten das Ganze jedenfalls mit größtem Vergnügen verfolgt. Nach einer Weile setzten wir jedoch unseren Erkundungsrundgang fort. Mit den Bremer Stadtmusikanten und dem Gestiefelten Kater kamen wir überein, dass wir uns bei erstbester Gelegenheit wiedersehen würden. Der Wolf – so ließ man uns zudem wissen – wollte sich ebenfalls wieder zu ihnen gesellen, er sei nur mal kurz bei seiner in der Nähe weilenden Familie, deren komplettes Hiersein für nicht ratsam erachtet wurde. –

Auf dem Rückweg kamen wir noch einmal an dem Stall vorüber, wo sich diese Beinahe-Tragödie abgespielt haben sollte. Als wir einen Blick hineinwerfen wollten, kamen uns zwei junge Leute entgegen, welche sich uns als der neue Stallmeister mit Namen Gerolf und dessen Freundin Camila vorstellten. Auf Lu’s Frage erklärte uns Gerolf bereitwillig:

„Ja, du hast richtig vermutet: Meine Freundin hat eine deutsche Mutter und einen spanischen Vater. Kennengelernt haben wir uns erst, als wir uns – unabhängig voneinander – vor drei Jahren für diese Arbeit hier beworben hatten. Das Glück, beide sofort eine Anstellung hier zu bekommen, verdankten wir zu unserer nicht geringen Überraschung dem Alten König, welcher auf Fürsprache des früheren Stallmeisters sofort zustimmte. Aus dem zunächst vereinbarten Probejahr war bald eine lebenslange Anstellung mit inbegriffenem Wohnrecht geworden. Und nun sind wir sogar schon mit ersten Plänen für unsere baldige Hochzeit beschäftigt.“

Nach dieser in unseren Augen traumhaft erscheinenden Entwicklung der beiden konnten wir ihnen zunächst nur Glück wünschen und ihnen versichern, dass wir uns sehr für sie freuten. Dann jedoch erzählte ich ihnen, was wir soeben von den Tieren auf der Weide erfahren hatten. Camila führte uns daraufhin zu einer im Stall abgetrennten Nische und zeigte uns das dem Fuchs fast zum Opfer gefallene Huhn. Es saß reglos in einer mit Heu ausgepolsterten Kiste und rührte sich auch nicht, als wir näherkamen. Ein Flügel und eine Stelle am Hals nahe dem Kopf waren mit einem Verband versehen.

„Die Ärmste hatte großes Glück gehabt“, berichtete Camila. „Merkwürdigerweise war es ausgerechnet ein Wolf, welcher sie vor dem Räuber rettete. Zuvor hatte unser Hahn den verdammten Reinecke so erschreckt, dass der seine sicher geglaubte Beute fallen ließ … aber den Rest der Geschichte kennt ihr ja schon. Vor einer guten Stunde hatte ein Tierarzt unser Hühnchen aus seiner Praxis wieder hierher gebracht und konnte uns immerhin trösten, dass die Verletzungen nicht ganz so dramatisch seien, wie zuvor befürchtet. Nun braucht es ein paar Tage Ruhe, bis die Verbände gewechselt und die fortgeschrittene Heilung beobachtet werden können.“

Lu fragte, was aus dem Fuchs geworden sei.

Gerolf antwortete ihr:

„Eigentlich wollten wir ihn vom Tierarzt untersuchen lassen, ob womöglich Tollwutgefahr bestand. Doch als wir nachsahen, war der schon verschwunden – wahrscheinlich hatte der Wolf ihn bereits als willkommene Beute zu seiner in der Nähe vermuteten Familie mitgeschleppt. Aber unser Tierarzt konnte umgehend Entwarnung geben, da er vorsorglich das Blut des Huhnes auf ebendiesen Verdacht hin untersucht hatte. Also besteht kein Grund zur Sorge mehr.“

Derart beruhigt wollten wir uns zunächst verabschieden und unseren Weg fortsetzen, als Gerolf den Schneider nachdenklich ansah und bemerkte:

„Euer Begleiter, so will mir scheinen, hat irgendwie Ähnlichkeit mit jemandem, von dem ich glaube mal gehört zu haben.“

„Ich hoffe jedenfalls mal nur Gutes, junger Mann“, antwortete der Schneider vergnügt und schlug wiederum seinen Umhang zurück. Als der Stallmeister den Gürtel sah, lachte er verschmitzt und meinte:

„Also hatte mich meine Vermutung nicht getäuscht. Wohl dem, der solches von sich sagen kann, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Ich wette, Ihr habt damit schon so Manchen beeindrucken können.“

Der Schneider nickte nur bescheiden und gab zu:

„Dieses Sprüchlein hatte ich damals aus einer Laune heraus gewählt, ohne sicher zu sein, ob es vielleicht zu hochgestapelt erscheinen mochte. Manch einer hatte mich dar ob für besonders tapfer gehalten und meine Hilfe in Anspruch genommen. Dabei waren es nur mein gesundes Selbstvertrauen und eine gehörige Portion List und Witz, welche letztendlich zum Erfolg führten.“

Gerolf klopfte dem „Helden von der Nadel- und Zwirn-Zunft“ gutmütig auf die Schulter und meinte abschließend:

„Möge Euch dieser Erfolg noch lange beschieden sein, solche wie Euch gibt es leider nur noch selten.“

Damit verabschiedeten wir uns für heute bei Camila und Gerolf und begaben uns zum Zwergenhaus. An der Eingangspforte erinnerte ich nochmals an das über der Haustür angebrachte Schild. Und richtig: Es hing noch da, wo es vor vier Jahren angebracht wurde. Das Tapfere Schneiderlein las es und meinte verschämt grinsend:

„Ich hoffe mal, dass es uns nicht an der erforderlichen Demut mangelt, wenn wir hier hereingebeten werden.“

Gerade als ich den Klopfer an der Tür betätigen wollte, wurde die überraschend geöffnet und der kleinste der Zwerge trat heraus. Mit freundlich einladender Geste bat er uns herein:

„Ein herzliches Willkommen in unsrem bescheidenen Hause!“, sprach er und setzte sogleich schmunzelnd jenes obligatorische Sprüchlein hinzu:

„Doch Vorsicht bitte, zieht eure Köpfe ein,

hier ist alles nur für Leute so klein,

wie etwa für uns, gebaut!

Passt auf, dass ihr euch nicht an die Birne haut!“

Ich erinnerte mich nur zu gut an diese wohlmeinende Warnung und daran, dass es Papa damals trotzdem erwischte, als er einen Augenblick unachtsam war … –

Bei unserem Eintreten beugte sich das Schneiderlein besonders tief, um nicht anzustoßen, obgleich es seiner geringen Größe entsprechend nicht nötig gewesen wäre. Die übrigen Zwerge standen zu unserem Empfang im Vorraum Spalier und einer von ihnen meinte lachend zum Schneider:

„Oho, lässt so viel Ehrfurcht Euch vor uns verneigen oder eher die gebotene Vorsicht?“

Der Schneider jedoch entgegnete gut gelaunt:

„Ei, was wäre denn, wenn ich dies aus purer Höflichkeit täte? Natürlich musste ich auch eurem Spruche über dem Eingang Folge leisten, wenn ich Eure werte Gastfreundschaft unbeschadet in Anspruch nehmen wollte.“

Als wir dann die uns angebotenen Plätze einnahmen, trat überraschend Schneewittchen ein und äußerte sich erfreut über unseren Besuch bei den Zwergen. Sogleich erbot sie sich, uns eine Erfrischung reichen zu dürfen. Das konnten wir in Anbetracht der draußen noch immer herrschenden Wärme gut gebrauchen. Nachdem jeder seinen Becher mit gut gekühlter Waldmeisterlimonade vor sich stehen hatte, meinte der Schneider anerkennend:

„Wohl dem, der diese Sieben zu seinen treuesten Freunden zählen kann wie Ihr, liebes Schneewittchen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie Euch nicht dreimal das Leben gerettet hätten. Ich bin jedenfalls sehr erfreut, diese wackeren Gesellen heute höchst persönlich kennengelernt zu haben. Aber mit Erstaunen und Freude vernahm ich auch die Geschichte von dem unverhofften Glück, welches Euch vor einiger Zeit widerfahren ist.“

Schneewittchen entgegnete lächelnd:

„Ich muss doch immer wieder mit freudigem Staunen feststellen, wie weit diese Geschichten schon Verbreitung gefunden haben. Dann dürfte es Euch sicherlich nicht verwundern, dass auch Eure Taten in aller Munde sind …“ –

„Ja, wenn sogar der Gestiefelte Kater und seine Freunde, deren Bekanntschaft ich erst vor wenigen Minuten das Vergnügen hatte machen zu können, schon davon sprachen, dann verwundert es mich nicht, dass es auch bis zu Euch gelangte.“

Schneewittchen fragte sogleich erstaunt:

„Erwähntet Ihr soeben den Gestiefelten Kater und – wenn ich mich nicht täusche – dessen Freunde, etwa die Bremer Stadtmusikanten? Soll also heißen, dass diese bereits angekommen sind?“ –

„Ja gewiss, wir trafen sie vorhin bei den Weiden hinten. Wir kamen gerade hinzu, als die dortigen Tiere ein Heidenspektakel wegen des frechen Fuchses machten, welcher Euch fast ein Huhn gestohlen hätte. Ein Glück, dass es noch am Leben und bald wieder wohlauf ist.“

Schneewittchen hatte auch schon davon gehört und konnte die Erleichterung des Schneiders teilen.

„Wir allesamt waren gehörig in Schrecken und Sorge gewesen, als unser Stallmeister kürzlich davon berichtete“, erzählte Schneewittchen.

„Nur gut, dass er geistesgegenwärtig das Richtige tat, nämlich einen Tierarzt herbeizurufen. – Doch nun entschuldigt mich bitte, ich muss unverzüglich unsere neuen Gäste begrüßen und ihnen ihr Nachtlager vorbereiten lassen“, schloss sie und erhob sich. Bevor sie hinaustrat, erinnerte sie noch, dass wir uns in gut einer Stunde zum gemeinsamen Abendessen wiedersehen.

Als wir uns erfrischt hatten, sah ich mich zunächst in dem großen und dennoch gemütlich anmutenden Raum um und sah, dass sich gegenüber damals einiges geändert hatte. Der mehrarmige Leuchter an der Decke, welcher einst mit Kerzen bestückt war, wurde jetzt elektrisch mit kerzenflammenförmigen Birnen betrieben. Nur die Wandleuchten waren noch so wie damals. Den großen Kamin im Eingangsbereich gab es noch, aber die offene Feuerstelle mit dem alten Kupferkessel war verschwunden. Doch an der Wand gegenüber dem Eingang fand ich ein großes Ölbild, auf welchem diese ursprüngliche Kochnische von damals zu sehen war.

Als wenn einer der Zwerge meine Frage vorausgesehen hätte, erklärte er mir:

„Wie du vielleicht noch von eurem letzten Besuch wissen wirst, war unser Kessel bereits löchrig und mittlerweile so unansehnlich geworden, dass wir uns entschlossen haben, ihn herauszunehmen. Gekocht wurde ja seit Ewigkeiten nicht mehr, seit wir uns hier niedergelassen hatten. Nur den Kamin hat man uns nach den neuesten Erfordernissen umgebaut, er spendet in der kalten Jahreszeit ausreichend angenehme Wärme. Nun erinnert nur noch dieses Ölgemälde an die frühere Ausstattung in diesem Teil des Hauses.“

Als ich ihn daraufhin fragte, wer dieses Bild gemalt hatte, merkte ich an seinem ratlosen Blick, dass er es offenbar nicht so genau wusste. Das kam mir zwar etwas merkwürdig vor, ich beschloss daher, später nochmals darauf zurückzukommen. Vielleicht wussten Hänsel oder Schneewittchen mehr darüber zu erzählen.

Nunmehr galt meine Aufmerksamkeit dem im Obergeschoss liegenden Schlafgemach der Zwerge, da mein Blick gerade in Richtung der nach oben führenden Treppe schweifte. Der Schneider erhob sich sogleich, wurde aber von den Zwergen vorsorglich gewarnt, beim Durchschreiten der obigen Tür gehörig achtzugeben. Das beherzigte dieser auch, indem er seinen Kopf schmunzelnd tiefer neigte, als es der Höhe des Türrahmens angemessen erschienen wäre.

Lu und ich folgten ihm, da wir verständlicherweise neugierig waren, was es dort oben Neues zu entdecken gäbe. Als wir die letzte Stufe erreichten, mussten wir feststellen, dass auch wir uns in Acht nehmen mussten – wir waren ja in den verflossenen vier Jahren ebenfalls um einiges gewachsen.

Meine Schwester hatte es zuerst entdeckt, ich merkte es an ihrem überraschten Ausruf: Alle sieben Bettchen der Zwerge sahen aus wie neu.

Der mit nach oben gekommene Zwerg erklärte uns:

„Ja, ihr habt richtig gesehen: Wir mussten nach unendlich langer Zeit unsere Betten vollständig ersetzen. Leider musste erst einer von uns mit dem seinigen zusammenbrechen, bevor wir uns entschlossen, unsere liebgewordenen alten Kojen erneuern zu lassen. Zum Glück fanden wir einen Schreiner, welcher uns in erstaunlich kurzer Zeit die neuen Schlafstätten anfertigte. Durch einiges Umräumen schafften wir sogar genügend Platz, um auch zwei bis drei normal große Betten unterbringen zu können. So ließ sich mancher Wunsch von Gästen erfüllen, welche gern mal eine oder zwei Nächte im Zwergenhaus schlafen wollten.“ –

„… Die sich aber stets ‚in Demut beugen‘ müssten, wenn sie dies vorhaben sollten“, bemerkte das Schneiderlein lachend.

„Hey Tommi, wollen wir nicht mal eine Nacht hier schlafen?“, ließ sich Lu sogleich hinreißen. Ich war erst etwas skeptisch, ob unsere Eltern uns das erlauben würden. Doch schließlich ließ ich mich von ihrer Begeisterung anstecken – ich wollte ja kein Spielverderber sein – und antwortete ihr grinsend:

„Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, meine Liebe. Ich meine die Vorsicht, welche wir walten lassen müssen, wenn wir uns hier bewegen und so …“, spielte ich auf die Bemerkung des Schneiders an.

Die Zwerge indes amüsierten sich darüber köstlich, ließen aber durchblicken, dass der Erfüllung unseres Wunsches nichts im Wege stehe.

Mit der gebotenen Vorsicht begaben wir uns wieder die Treppe hinunter, erleichtert, dass wir dies ohne Malheur geschafft hatten. Bevor wir unsere liebenswürdigen Gastgeber verließen, wandte sich das Schneiderlein mit einem Angebot an diese:

„Was haltet ihr wohl davon, wenn ich einem jeden von euch neue Kleider und eine modische Kopfbedeckung anfertigte?“

Die Sieben sahen sich verwundert an und meinten:

„Seit ewigen Zeiten tragen wir unsere typischen und traditionellen Kleider … Aber wenn Ihr meint, liebes Schneiderlein, wir sollten durchaus der Mode Rechnung tragend mal etwas Neues ausprobieren, dann soll es uns Recht sein. Lasst uns nur wissen, wann wir an uns Maß nehmen und uns beraten lassen sollen.“

Lu und ich sahen uns an und ich bemerkte:

„Wir können uns jedenfalls die Zwerge nur schwerlich anders vorstellen, als so, wie man sie seit eh und je kennt. Aber überraschen lassen könnte man sich ja immerhin mal …“

Nachdem wir uns für den morgigen Vormittag verabredet hatten, begaben wir uns wieder ins Schloss.

Dort begegneten wir Schneewittchen, die gerade mit Dornröschen und Rapunzel aus dem Saal kam. Meine Schwester musste ihnen unbedingt sofort vom Vorhaben des Schneiders erzählen, was bei den drei Freundinnen die größte Erheiterung auslöste. Rapunzel rief kichernd aus:

„Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie die kleinen Kerlchen mit Anzügen oder Kostümen nach der neuesten Mode aussehen würden. Und was wohl anstelle ihrer Zipfelmützen vielleicht an passendem Kopfputz ihre Häupter zieren würde.“

Der Schneider jedoch ließ sich durch diese scherzhaften Bemerkungen nicht entmutigen und entgegnete:

„Ei so sorgt euch nur nicht zu sehr, ich bin in letzter Zeit viel in der Welt herumgekommen und konnte die Mode der heutigen Zeit studieren. Aber … was die Kopfbedeckung anginge, so scheint mir, dass eine solche nicht unbedingt vonnöten sei. Ein guter Barbier könnte an Haaren und Bärten eurer kleinen Freunde durchaus bewirken, dass sie auch gänzlich ohne Hut oder Kappe ein vorzügliches Aussehen bekämen. Und für die kalten Wintermonate, so möchte ich meinen, fände sich bestimmt irgendjemand, welcher ihnen ein paar warme Wollmützen zu stricken vermochte.“

Dieser Vorschlag des Schneiders gefiel den drei Freundinnen so gut, dass sie sich sofort bereiterklärten, diese Aufgabe in Bälde gemeinsam zu übernehmen.

Lu und ich mussten unwillkürlich schmunzeln, denn wir konnten uns ebenfalls bei bestem Willen die Zwerge nur schwerlich ohne ihre geliebten Zipfelmützen vorstellen.

Indes verschwanden die drei Freundinnen vergnügt plaudernd nach oben in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Auch Lu und ich begaben uns in unser Zimmer in der ersten Etage. Der Schneider folgte unserem Beispiel, nachdem wir nochmals an das gemeinsame Abendessen erinnerten, welches in gut einer Dreiviertelstunde beginnen sollte.

Oben angekommen, klopften wir an der Zwischentür von Mama und Papas Nachbarzimmer. Da sich nichts rührte, gingen wir davon aus, dass sie bereits unten im Saal seien und dort auf uns warteten.