Die Maske des roten Todes und andere geheimnisvolle Erzählungen - Edgar Allan Poe - E-Book

Die Maske des roten Todes und andere geheimnisvolle Erzählungen E-Book

Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Von »Hinab in den Maelstrom« über den »Goldkäfer« bis zum »Untergang des Hauses Usher« versammelt dieser Band eine starke Auswahl der unheimlichen Geschichten von Edgar Allan Poe. Und nie ließ es sich schöner schaudern als mit dieser prächtigen Ausgabe, denn sie enthält die fantastischen Illustrationen, die der englische Künstler Arthur Rackham zu Poes Erzählungen schuf. Die 29 Bildtafeln sind kongeniale Kunstwerke von hoher Imaginationskraft und zeitloser Schönheit.

  • Einzigartige, grauenvoll illustrierte Ausgabe
  • Poe zählt zu den Begründern der Horrorliteratur. Seine Poesie wurde zum Fundament des Symbolismus
  • Arthur Rackham (1867 - 1939) war einer der besten und stilprägenden Illustratoren seiner Zeit
  • »Wenn jeder, der einen Scheck für eine Geschichte erhält, die ihren Ursprung Poe verdankt, den Zehnten für ein Denkmal des Meisters entrichten müsste, hätte er eine Pyramide, so groß wie die des Cheops.« Arthur Conan Doyle
  • »Poe erschuf konstant und unweigerlich Magie, während seine größten Zeitgenossen lediglich Schönheit hervorbrachten. […] Vor allem ist Poe groß, weil er auf billige Anreize verzichtet, auf Sex, Patriotismus, Kampf, Sentimentalität, Snobismus, Völlerei und den ganzen vulgären Rest dessen, was sein Berufsstand sonst noch zu bieten hat.« George Bernard Shaw
  • Zu seiner stilprägendsten Erzählung zählt die ebenfalls enthaltene Kurzgeschichte "Der Untergang des Hauses Usher" (Netflixserie, Okt. 2023). Sie gilt als das Beispielwerk der Schwarzen Romantik

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Seitenzahl: 480

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Edgar Allan Poe

Die Maske des roten Todes

und andere geheimnisvolle Erzählungen

Mit Illustrationen von Arthur Rackham

Aus dem Englischen von Gisela Etzel und Emmy Keller

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und

enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte

Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung

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Die Abbildungen entstammen dem Band Geheimnisvolle undphantastische Erzählungen von Edgar Allan Poe. Illustriert vonArthur Rackham, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1938

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Umschlagmotiv: Adobe Stock / Standa_art

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-32443-8V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Der Teufel der Verkehrtheit

Das schwatzende Herz

Hinab in den Maelström

Das Fass Amontillado

Lebendig begraben

Hopp-Frosch

Das Stelldichein

König Pest

Wassergrube und Pendel

Die Maske des Roten Todes

Der Untergang des Hauses Usher

Das ovale Porträt

Der Goldkäfer

Ligeia

Eleonora

Das Manuskript in der Flasche

William Wilson

Metzengerstein

Der Doppelmord in der Rue Morgue

Quellenverzeichnis

Der Teufel der Verkehrtheit

Bei Feststellung der Eigenschaften und Impulse – der prima mobilia der menschlichen Seele – haben die Psychologen eine uns eingeborene Eigenschaft immer wieder übersehen – ein Gefühl, das unserer Seele von Urbeginn unwandelbar und ewig mitgegeben ist. Wir haben sein Vorhandensein unseren Sinnen entgehen lassen – aus Mangel an Glauben, an Gewissenhaftigkeit; wir haben weder die Offenbarung noch die Philosophie tief genug genommen und jene Eigenschaft nur darum übersehen, weil sie so überragend und dabei so wesenlos ist. Wir sahen keine Notwendigkeit für den Impuls – für diesen Hang. Wir konnten es nicht begreifen, vielmehr, wir hätten es nicht begreifen können, wenn der Begriff dieses »primum mobile« sich uns jemals aufgedrängt hätte, wir hätten nicht begreifen können, wieso er geschaffen sei, die Ziele der Menschheit – seien es irdische oder ewige – zu fördern. Es kann nicht geleugnet werden, dass die Psychologie und alles in allem auch die Metaphysik sich »a priori« entwickelt haben. Der intellektuelle oder logische Mensch, mehr noch als der erfahrene und beobachtende, unternimmt es, Ziele, Gründe zu suchen – Gottes Absichten mit der Menschheit. Hat er so zu seiner Zufriedenheit die Absichten Jehovas sondiert, so erbaut er auf diesen Absichten seine zahllosen Systeme der Vernunft. In der vergleichenden Psychologie z. B. schlossen wir zunächst – natürlich genug –, dass die Nahrungsaufnahme des Menschen göttlicher Wille sei. Wir wiesen daraufhin dem Menschen einen Ernährungstrieb zu, und dieser Trieb ist die Geißel, mithilfe deren die Gottheit den Menschen, er mag wollen oder nicht, zum Essen zwingt. Zweitens stellten wir fest, es sei Gottes Wille, dass der Mensch sein Geschlecht vermehre, und sogleich entdeckten wir einen Liebestrieb; und so machten wir’s weiter mit dem Widerspruchsgeist, mit der Idealität, der Kausalität – kurz so machten wir’s mit jeder Eigenschaft, mochte sie nun einen seelischen Trieb, ein moralisches Empfinden oder eine Fähigkeit des reinen Intellekts vorstellen. Und bei dieser Aufstellung der principia menschlichen Handelns sind die Spurzheimiten (ob nun mit Recht oder Unrecht) lediglich in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten, indem sie alles von der vorgefassten Bestimmung des Menschen ableiteten und auf feste Absichten des Schöpfers zurückführten.

Es wäre weiser, es wäre sicherer gewesen, solche Klassifizierung (wenn wir denn überhaupt klassifizieren müssen) auf der Basis dessen aufzubauen, was Menschen gewöhnlich oder gelegentlich taten und immer gelegentlich getan hatten, als auf dem, was wir für die ausgemachte Absicht Gottes mit der Menschheit annahmen. Wenn wir Gott in seinen sichtbaren Werken nicht begreifen können, wie denn in seinen unfassbaren Gedanken, die die Werke ins Leben rufen? Wenn wir ihn in seinen körperlichen Schöpfungen nicht erfassen können, wie denn in seinen unkörperlichen Stimmungen und Schöpfungsphasen?

Durch Induktion a posteriori hätte die Psychologie dahin kommen müssen, eine eingeborene und urewige Triebfeder menschlichen Handelns aufzudecken: ein paradoxes Etwas, das wir, aus Mangel an einer treffenderen Bezeichnung, »Verkehrtheit« nennen wollen. Ich möchte sagen, es ist eine Bewegung ohne Beweggrund, ein Anreiz ohne ersichtlichen Zweck, oder wenn diese Bezeichnung widersinnig erscheint, wollen wir die Behauptung so weit modifizieren, zu sagen: Wir folgen dem Anreiz, weil wir ihm nicht folgen sollten. Der Theorie nach kann wohl kein Grund unvernünftiger sein, den Tatsachen nach gibt es keinen stärkeren. In gewissem Sinne, unter gewissen Umständen wirkt er ganz unwiderstehlich. Ich weiß nicht gewisser, dass ich atme, als ich weiß, dass die Gewissheit, ein Unrecht, einen Fehler zu begehen, oft die eine unwider­stehliche Macht ist, die allein unser Handeln bestimmt; auch lässt diese unwiderstehliche Neigung, um des Unrechts willen unrecht zu tun, keine Analyse oder Auf­lösung in andere Elemente zu. Es ist ein eingewurzelter, urewiger – ein elementarer Hang. Ich weiß, man wird sagen, das Begehen einer Handlung, weil wir fühlen, wir sollten sie nicht begehen, ist nichts als eine Abart dessen, was die Psychologie Widerspruchsgeist nennt. Ein Blick aber wird die Unrichtigkeit dieser Annahme zeigen. Der psychologische Widerspruchsgeist entspringt in erster Linie der Selbstverteidigung. Er ist unser Schützer vor Beleidigung. Sein Grundgedanke ist unser Wohlergehen; und so steigert sich mit seiner Entwicklung auch unser Wunsch nach Wohlergehen. Hieraus folgt, dass der Wunsch nach Wohlergehen sich gleichzeitig mit jeder Eigenschaft entwickeln muss, die lediglich eine Abart des Widerspruchsgeistes ist; bei jenem Etwas aber, das ich als »Verkehrtheit« bezeichne, wird nicht nur der Wunsch nach Wohlergehen gar nicht entstehen, sondern ein ganz entgegenwirkendes Gefühl vorhanden sein.

Ein Appell an das eigene Herz ist schließlich die beste Antwort auf die eben angeführte Sophisterei. Keiner, der seine eigene Seele vertrauensvoll um Rat fragt, kann die elementare Ursprünglichkeit der fraglichen Eigenschaft leugnen. Sie ist da, mag sie uns auch noch so unbegreiflich erscheinen. Es gibt keinen Menschen, der nicht zum Beispiel zu irgendeiner Zeit von dem ernstlichen Wunsch besessen gewesen wäre, einen Zuhörer durch unnütze Umschweife zu quälen. Der Sprecher weiß, dass er missfällt; er hat allen guten Willen, zu gefallen; er ist für gewöhnlich kurz, deutlich und klar; der prägnanteste, lakonischste Ausdruck schwebt ihm auf der Zunge; nur mit Mühe hält er ihn zurück; er scheut und fürchtet den Zorn dessen, zu dem er spricht – dennoch packt ihn der Gedanke, durch gewisse Einschaltungen und Umschweife könne dieser Zorn noch gesteigert werden. Dieser eine Gedanke genügt. Der Einfall wird zu einem Wunsch, der Wunsch zu einem Verlangen, das Verlangen zu einem qualvollen Bedürfnis, und dem Bedürfnis wird (mit tiefem Bedauern und herzlicher Reue und in Missachtung aller Folgen) stattgegeben.

Wir haben eine Arbeit vor, die schleunigst erledigt werden muss. Wir wissen, dass ein Aufschub unheilvoll sein wird. Der bedeutsamste Wendepunkt unseres Lebens ruft wie mit Posaunen zu sofortigem energischen Handeln. Wir glühen, verzehrender Eifer erfüllt uns, das Werk zu beginnen, von dessen ruhmvollem Ausgang unsere Seele entflammt ist. Es muss, es soll heute in Angriff genommen werden – und dennoch schieben wir es auf bis morgen; und warum? Es gibt keine andere Antwort als die, dass wir verkehrt fühlen. Der andere Tag kommt, und mit ihm ein ungeduldigeres Verlangen, unsere Pflicht zu tun, aber gleichzeitig mit diesem gesteigerten Verlangen erhebt sich eine namenlose, eine geradezu angstvolle, weil unermessliche Begier nach Aufschub. Diese Gier nimmt zu, je mehr die Zeit entflieht. Die letzte Stunde zum Handeln ist gekommen. Wir erbeben unter der Heftigkeit des inneren Widerstreits – der Entschiedenheit mit der Unentschiedenheit – des Wesentlichen mit dem Schattenhaften. Ist aber der Streit einmal so weit gediehen, so ist es der Schatten, der die Oberhand gewinnt – wir ringen vergebens. Die Uhr schlägt und ist das Grabgeläute unseres Strebens nach Erfolg. Gleichzeitig aber ist es der Hahnenschrei für das Gespenst, das uns so lange schreckte. Es flieht – es verschwindet – wir sind frei. Die alte Willenskraft kommt wieder. Jetzt wollen wir arbeiten. Weh, es ist zu spät!

Wir stehen am Rande eines Abgrunds. Wir spähen hinab – uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir. Nach und nach versinken unsere Übelkeit, unser Schwindel und Entsetzen in einem Nebel unnennbarer Gefühle. Allmählich, ganz allmählich nimmt diese Nebelwolke Formen an, so wie sich in dem Märchen aus »Tausendundeiner Nacht« aus dem der Flasche entsteigenden Dampf der Geist formte. Aber aus dieser unserer Wolke am Rande des Abgrunds erwächst fühlbar eine Form, weit schrecklicher als irgendein böser Geist oder Märchen-Dämon – und doch ist es nichts als ein Gedanke, wenngleich ein fürchterlicher und einer, der uns das Mark in den Knochen gefrieren lässt in grausigem Entzücken. Es ist nur die Vorstellung, was wir wohl bei einem fliegenden Sturz von solcher Höhe empfinden würden; und dieser Sturz – diese taumelnde Vernichtung –, die uns das unheimlichste und widerlichste Bild aller unheimlichen und widerlichen Bilder von Tod und Qual vor Augen stellt – gerade diese Vernichtung reizt uns; und weil unsere Vernunft uns heftig vom Rande des Absturzes zurückruft, gerade darum nähern wir uns ihm mehr und mehr. Kein leidenschaftliches Gefühl in der Natur ist so teuflisch ungeduldig als das desjenigen, der schaudernd am Rande des Abgrunds steht und daran denkt, sich hinabzustürzen. Sich auch nur für einen Augenblick einem Gedanken hinzugeben, heißt unweigerlich verloren sein; denn Nachdenken rät uns abzulassen, und eben darum, sage ich, können wir es nicht. Ist kein gütiger Arm nahe, uns zurückzuhalten, oder verfehlen wir bei einem plötzlichen Entschluss, vom Abgrund zurückzutreten, den festen Boden, so stürzen wir hinab in Tod und Vernichtung.

Wir mögen über dieses und ähnliches Handeln nachsinnen, so viel wir wollen, wir werden es doch nur dem Teufel der Verkehrtheit zuschreiben können. Wir handeln nur so, weil wir fühlen, wir sollten es nicht. Darüber hinaus gibt es keine erkennbare Ursache, und wir könnten tatsächlich diese Verkehrtheit geradezu für eine Bosheit des Erzfeindes halten, wüsste man nicht, dass sie gelegentlich auch das Gute fördere.

Ich habe nun so viel gesagt, dass ich eure Frage ungefähr beantworten kann – dass ich euch erklären kann, weshalb ich hier bin – dass ich euch etwas mitteilen kann, was wenigstens halbwegs einen Grund dafür angibt, weshalb ich diese Fesseln trage und weshalb ich in dieser Zelle der Verdammten wohne. Wäre ich nicht so weitschweifig gewesen, so hättet ihr mich vollkommen missverstehen oder mich, wie der Pöbel, für verrückt erklären können. Nun aber werdet ihr leicht erkennen, dass ich eines der zahllosen Opfer bin, die der Teufel der Verkehrtheit für sich zu erbeuten weiß.

Unmöglich kann eine Tat gründlicher vorherbedacht worden sein. Wochen, Monate brütete ich über die Ausführung des Mordes. Tausend Arten verwarf ich, weil sie die Möglichkeit boten, mich zu verraten. Schließlich fand ich bei der Lektüre einer französischen Abhandlung den Bericht einer fast tödlichen Erkrankung einer Frau Pilau, hervorgerufen durch Gase einer zufällig vergifteten Kerze. Das reizte meine Fantasie sofort. Ich wusste, mein Opfer hatte die Gewohnheit, im Bett zu lesen. Ich wusste auch, dass sein Zimmer klein und schlecht ventiliert war. Doch was soll ich euch mit abgeschmackten Einzelheiten behelligen, weshalb die Kunstgriffe schildern, durch die es mir gelang, in seinen Schlafzimmerleuchter statt der dort vorhandenen eine von mir selbst hergestellte Wachskerze einzuschmuggeln. Am andern Morgen fand man ihn tot im Bett, und das Urteil des Leichenbeschauers lautete – »eines plötzlichen Todes gestorben«.

Ich erbte sein Vermögen, und jahrelang ging alles gut mit mir. Der Gedanke einer Entdeckung meiner Tat kam mir gar nicht in den Kopf. Die Überbleibsel der verhängnisvollen Kerze hatte ich sorgfältig vernichtet. Nicht den Schatten einer Spur hatte ich zurückgelassen, durch die man mich des Verbrechens hätte überführen oder auch nur verdächtigen können. Es ist gar nicht wiederzugeben, welch ein Gefühl der Befriedigung in mir erwachte, wenn ich an meine vollkommene Sicherheit dachte. Lange, lange Zeit hing ich diesem Gefühl nach. Es brachte mir mehr Genuss als alle die realen Vorteile, die meine Sünde mir eingetragen. Doch es kam eine Zeit, da das angenehme Gefühl gradweise und kaum wahrnehmbar zu einem mich verfolgenden und quälenden Gedanken wurde. Er quälte, weil er verfolgte. Ich konnte ihn kaum für Augenblicke loswerden. Es ist eine ganz bekannte Sache, dass irgendein Gassenhauer oder ein paar unbedeutende Takte aus einer Oper uns solcherart quälend in den Ohren klingen oder vielmehr im Gedächtnis haften bleiben; auch wird es uns nicht weniger quälen, wenn das Lied ein gutes oder die Oper eine verdienstvolle ist. Auf solche Weise also hing ich dem Gedanken an meine Sicherheit nach, ertappte mich fortwährend dabei, dass ich die Worte murmelte: »Ich bin sicher.«

Eines Tages, als ich durch die Straßen schlenderte und halblaut diese gewohnten Worte sprach, verbesserte ich sie in einem Anfall von Mutwillen so: »Ich bin sicher – ich bin sicher – ja, solange ich nicht so dumm bin, ein offenes Bekenntnis abzulegen!«

Kaum hatte ich dies gesagt, als Eiseskälte mir zum Herzen kroch. Ich hatte einige Erfahrung in solchen Anfällen der »Verkehrtheit« (deren Natur zu schildern mir viel Mühe gemacht hat), und ich entsann mich gut, dass es mir niemals gelungen war, ihren Angriffen zu widerstehen; und nun trat mir meine eigene zufällige Eingebung, dass ich möglicherweise dumm genug sein könne, den Mord, dessen ich mich schuldig gemacht, zu bekennen, gegenüber wie das leibhaftige Gespenst des Ermordeten – und lockte mich in Tod und Verderben.

Zuerst machte ich eine Anstrengung, diesen Alb von der Seele abzuschütteln. Ich schritt schneller und schneller aus, schließlich rannte ich. Ich fühlte ein wahnsinniges Verlangen, laut aufzuschreien. Jede neue Gedankenwelle überflutete mich mit Schrecken, denn ach! ich wusste gut, nur zu gut, dass ich verloren war, wenn ich nachdachte. Ich beschleunigte meinen Schritt noch mehr. Ich durchraste wie ein Toller die menschenvollen Straßen. Schließlich wurden die Leute stutzig und verfolgten mich. Nun fühlte ich, dass sich mein Schicksal erfüllte. Hätte ich vermocht, mir die Zunge auszureißen – ich hätte es getan – doch eine raue Stimme schallte mir ins Ohr – ein rauerer Griff packte mich an den Schultern. Ich drehte mich um – ich rang nach Atem. Einen Augenblick litt ich alle Qualen des Erstickenden; ich war blind und taub und mir schwindelte; und dann schien es mir, als schlage mich irgendein unsichtbarer Dämon mit harter Faust in den Rücken. Das lang zurückgehaltene Geheimnis brach los aus meiner Seele.

Man sagt, dass ich mich klar und sicher ausdrückte, doch mit großem Nachdruck und leidenschaftlicher Hast, als fürchte ich eine Unterbrechung, ehe ich die kurzen, doch inhaltsschweren Sätze beendet, die mich dem Henker und der Hölle überlieferten.

Nachdem ich alles berichtet, was zur vollen gerichtlichen Überführung notwendig war, schlug ich ohnmächtig zu Boden.

Doch was soll ich mehr sagen? Heute trage ich diese Ketten und bin hier! Morgen bin ich der Fesseln ledig! – Aber wo?

Das schwatzende Herz

Wahr ist es: Nervös, entsetzlich nervös war ich damals und bin es noch. Warum aber müsst ihr durchaus behaupten, dass ich wahnsinnig sei? Mein nervöser Zustand hatte meinen Verstand nicht zerrüttet, sondern geschärft, hatte meine Sinne nicht abgestumpft, sondern wachsamer gemacht. Vor allem hatte sich mein Gehörsinn wunderbar fein entwickelt. Ich hörte alle Dinge im Himmel und auf Erden. Ich hörte viele Dinge in der Hölle. Und das sollte Wahnsinn sein? Hört zu und merkt auf, wie sachlich, wie ruhig ich die ganze Geschichte erzählen kann.

Ich kann nicht sagen, wann der Gedanke mich zum ersten Mal überfiel. Er war urplötzlich da und verfolgte mich Tag und Nacht. Ein wichtiges Motiv war nicht vorhanden. Hass war nicht vorhanden. Ich liebte den alten Mann. Er hatte mir nie etwas zuleid getan. Er hatte mir nie eine Kränkung zugefügt. Nach seinem Geld trug ich kein Verlangen. Ich glaube, es war sein Auge. Ja, das war es! Eins seiner Augen glich vollständig dem Auge eines Geiers – ein blasses, blaues Auge mit einem Häutchen darüber. Wann immer es mich anblickte, erstarrte mir das Blut. Und so – nach und nach – immer zwingender – setzte sich der Gedanke in mir fest, dem alten Mann das Leben zu nehmen und mich auf diese Weise für immer von dem Auge zu befreien.

Nun merkt wohl auf! Ihr haltet mich für verrückt. Verrückte erwägen nichts. Aber mich hättet ihr sehen sollen! Ihr hättet sehen sollen, wie klug ich vorging – mit wie viel Vorsicht – mit wie viel Umsicht – mit wie viel Heuchelei ich zu Werke ging! Ich war nie freundlicher zu dem alten Mann als während der ganzen Woche, bevor ich ihn umbrachte. Und jede Nacht gegen Mitternacht drückte ich auf seine Türklinke und öffnete die Tür – o, so leise! Und dann, wenn der Spalt weit genug war, dass ich den Kopf hindurchstecken konnte, hielt ich eine verdunkelte, ganz geschlossene Laterne ins Zimmer; sie war ganz geschlossen, sodass kein Lichtschein herausdrang. Und dann folgte mein Kopf. O, ihr hättet gelacht, wenn ihr gesehen hättet, wie geschickt ich ihn vorstreckte! Ich bewegte ihn ganz langsam vorwärts, um nicht den Schlaf des alten Mannes zu stören. Ich brauchte eine Stunde dazu, den Kopf so weit durch die Öffnung zu schieben, dass ich den Alten in seinem Bett sehen konnte. Ha! Wäre ein Wahnsinniger wohl so weise vorgegangen? Und dann, wenn ich meinen Kopf glücklich im Zimmer hatte, öffnete ich vorsichtig die Laterne – o, so vorsichtig! Ganz sachte, denn die Scharniere kreischten, öffnete ich sie so weit, dass ein einziger feiner Strahl auf das Geierauge fiel. Und das tat ich sieben Nächte lang, jede Nacht gerade um Mitternacht. Aber ich fand das Auge immer geschlossen, und so war es unmöglich, das Werk zu vollenden; denn es war nicht der alte Mann, der mich ärgerte, sondern sein Scheelauge. Und jeden Morgen, wenn der Tag anbrach, ging ich kühn zu ihm hinein und sprach mit ihm. Ich nannte ihn munter und herzlich beim Namen und fragte ihn, ob er eine gute Nacht verbracht habe. Ihr seht, er hätte wirklich ein sehr schlauer alter Mann sein müssen, um zu vermuten, dass ich allnächtlich um zwölf Uhr, während er schlief, zu ihm hereinsah.

In der achten Nacht ging ich beim Öffnen der Tür mit ganz besonderer Vorsicht zu Werke. Der Minutenzeiger einer Uhr rückt gewiss schneller voran als damals meine Hand. Niemals vor dieser Nacht hatte ich die Größe meiner Macht, meines Scharfsinns so gefühlt. Ich konnte kaum meinen Triumph unterdrücken. Da war ich nun hier und öffnete ganz sacht, ganz allmählich die Tür – und ihm träumte nicht einmal von meinem geheimen Tun und Denken. Ich kicherte bei diesem Gedanken, und vielleicht hörte er mich, denn er rührte sich – wie erschreckt. Jetzt könntet ihr denken, ich sei zurückgefahren. Aber nein! Sein Zimmer war ganz dunkel, denn er hatte die Fensterladen aus Furcht vor Einbrechern fest geschlossen; es war pechschwarz. Und ich wusste also, dass er das Öffnen der Tür nicht sehen konnte, und ich fuhr fort, sie langsam, langsam aufzumachen.

Ich war mit dem Kopf im Zimmer und machte mich daran, die Laterne zu öffnen; da glitt mein Daumen an dem Blechverschluss ab, und der alte Mann schrak im Bett empor und schrie: »Wer ist da?«

Ich verhielt mich ganz still und sagte nichts. Eine volle Stunde lang rührte ich kein Glied, und in dieser ganzen Zeit hörte ich nicht, dass er sich wieder niederlegte. Er saß noch aufrecht im Bett und horchte; geradeso, wie ich Nacht um Nacht auf das Ticken der Totenuhren in den Stubenwänden gehorcht habe.

Da hörte ich ein leises Ächzen, und ich wusste, das war das Ächzen tödlichen Entsetzens. So stöhnte nicht Schmerz und nicht Kummer – o nein, es war das Grauen! Das war der dumpfe, erstickte Laut, der aus den Tiefen der Seele kommt, wenn das Grauen sie gepackt hält. Ich kannte gut diesen Laut. In mancher Nacht, wenn alle Welt schlief, in mancher Mitternacht war er aus meiner eigenen Brust heraufgequollen und hatte mit seinem schrecklichen Klang das Entsetzen, das mich von Sinnen brachte, noch vermehrt.

Ich sage, ich kannte gut diesen ächzenden Laut. Ich wusste, was der alte Mann fühlte, und ich bemitleidete ihn, obschon ich innerlich kicherte. Ich wusste, dass er wach lag, schon seit dem ersten schwachen Geräusch, das ihn aufgeschreckt hatte. Seitdem war seine Angst von Minute zu Minute gewachsen. Er hatte versucht, sie als grundlos anzusehen, aber es gelang ihm nicht. Er hatte sich gesagt, »es ist nur eine Maus, die durchs Zimmer läuft« oder »es ist nur eine Grille, die ein einziges Mal gezirpt hat«. Ja, er hatte versucht, sich mit diesen Vermutungen zu beruhigen; aber es war alles vergebens gewesen. Alles war vergebens gewesen, weil der nahende Tod schon vor ihn hingetreten war und sein Opfer mit schwarzem Schatten umhüllte. Und die dunkle Gewalt des unsichtbaren Schattens war es, die ihn – obschon er weder sah noch hörte – die ihn fühlen ließ, dass mein Kopf im Zimmer war.

Nachdem ich lange Zeit sehr geduldig gewartet hatte, ohne doch zu hören, dass er sich wieder niederlegte, beschloss ich endlich, einen kleinen – einen winzig kleinen Spalt der Laterne zu öffnen. Ich begann also – ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie bedachtsam, wie leise –, die Laterne zu öffnen, bis schließlich ein einziger matter, spinnfadenfeiner Strahl herausdrang und auf das Geierauge fiel.

Es war offen, weit offen, und ich wurde rasend, als ich drauf hinstarrte. Ich sah es mit vollkommener Deutlichkeit: nichts als ein stumpfes Blau mit einem ekelhaften Schleier darüber. Ich erschauerte bis ins Mark. Aber ich konnte von des alten Mannes Gesicht und Gestalt nichts weiter sehen, denn ich hatte den Strahl wie instinktiv ganz genau auf die verfluchte Stelle gerichtet.

Und nun – habe ich euch nicht gesagt, dass das, was ihr für Wahnsinn haltet, nur eine Überfeinerung der Sinne ist? – nun, sage ich, vernahm mein Ohr ein leises, dumpfes, schnelles Geräusch, ein Geräusch wie das Ticken einer Uhr, die man mit einem Tuch umwickelt hat. Auch diesen Laut kannte ich gut. Es war des alten Mannes Herz, das so schlug. Es steigerte meine Wut, wie das Schlagen einer Trommel den Soldaten zu mutigerem Vorgehen anreizt.

Aber selbst jetzt bezwang ich mich und blieb still. Ich atmete kaum. Ich hielt die Laterne regungslos. Ich versuchte den Strahl so beständig wie möglich auf das Auge zu heften. Inzwischen steigerte sich das höllische Trommeln des Herzens. Es wurde jede Minute schneller und schneller und lauter und lauter. Das Entsetzen des alten Mannes muss furchtbar gewesen sein. Das Klopfen wurde lauter, sage ich, lauter von Minute zu Minute! – Hört ihr mich wohl? Ich habe euch gesagt, dass ich nervös sei, und das bin ich. Und nun, in so toter Nachtstunde, in diesem alten Haus, das so grauenhaft schweigsam war, erweckte dies eine, seltsame Geräusch in mir ein maßloses Entsetzen. Doch noch einige Minuten länger bezwang ich mich und stand still. Aber das Klopfen wurde lauter und lauter! Ich dachte, das Herz müsse zerspringen. Und nun fasste mich eine neue Angst: Das Geräusch könnte von einem Nachbarn vernommen werden!

Da war des Alten Stunde gekommen! Mit einem lauten Geheul riss ich die Blendlaterne auf und sprang ins Zimmer. Er schrie auf – nur ein einziges Mal! Im Augenblick zerrte ich ihn auf den Boden hinunter und zog das schwere Federbett über ihn. Dann lächelte ich, froh, die Tat so weit vollbracht zu sehen. Aber noch viele Minuten hörte ich den erstickten Laut des klopfenden Herzens. Das kümmerte mich jedoch nicht. Das konnte nicht durch die Wände hindurch gehört werden. Endlich hörte es auf. Der alte Mann war tot. Ich entfernte das Bett und untersuchte den Leichnam. Ja, er war tot – tot wie ein Stein. Ich legte ihm meine Hand aufs Herz und ließ sie minutenlang da liegen. Kein Schlag war zu spüren. Er war endgültig tot. Sein Auge würde mich nicht mehr belästigen.

Solltet ihr mich noch immer für wahnsinnig halten, so werdet ihr eure Anschauung sicher ändern, wenn ich euch schildere, welch kluge Vorsichtsmaßregeln ich ergriff, um den Leichnam zu verbergen. Die Nacht schwand hin, und ich arbeitete eilig, aber in großer Stille.

Aus dem Fußboden des Zimmers hob ich drei Dielen heraus und bereitete darunter dem Toten sein Grab. Dann legte ich die Bretter wieder an Ort und Stelle. So geschickt, so sorgfältig tat ich dies, dass kein menschliches Auge – nicht einmal das seine – irgendetwas Auffallendes hätte bemerken können. Da gab es nichts wegzuwaschen – keinen Fleck irgendwelcher Art – nicht das kleinste Blutströpfchen. Dafür war ich viel zu bedachtsam vorgegangen.

Als ich mit dieser Arbeit fertig wurde, war es vier Uhr – noch immer schwarz wie Mitternacht. Als die Turmuhr die Stunde anschlug, pochte es am Haustor. Ich ging leichten Herzens hinunter, um zu öffnen – denn was hatte ich jetzt zu fürchten? Es traten drei Männer herein, die sich sehr liebenswürdig als Polizeibeamte vorstellten. Ein Nachbar hatte in der Nacht einen Schrei vernommen; man hatte Verdacht gefasst, hatte dem Polizeiamt Mitteilung gemacht, und sie, die drei Beamten, waren abgesandt worden, um nach der Ursache zu forschen.

Ich lächelte – denn was hatte ich zu fürchten? Ich hieß die Herren willkommen. Den Schrei, sagte ich, hätte ich selbst ausgestoßen, in einem Traum. Der alte Mann sei abwesend, sei aufs Land gereist, bemerkte ich. Ich führte die Besucher durchs ganze Haus. Ich bat sie, sich umzusehen – gut umzusehen. Ich führte sie schließlich in sein Zimmer. Ich zeigte ihnen seine Wertsachen vollzählig und unberührt. Begeistert über meine Gewissensruhe brachte ich Stühle herbei und ersuchte die Herren, sich hier von ihrer Ermüdung zu erholen, während ich, im Bewusstsein meines vollständigen Sieges, voll ausgelassener Kühnheit meinen eigenen Stuhl genau dorthin stellte, wo unter den Dielen der Leichnam des Opfers ruhte.

Die Beamten waren zufrieden. Mein Benehmen hatte sie überzeugt. Ich war ungewöhnlich aufgeräumt. Sie saßen also, und während ich fröhlich Antwort gab, plauderten sie von privaten Angelegenheiten. Aber nicht lange, da fühlte ich, dass ich erbleichte, und ich wünschte sie fort. Mein Kopf schmerzte, und ich glaubte, Ohrensausen zu haben; aber noch immer saßen sie da und plauderten. Das Sausen wurde deutlicher – es hörte nicht auf und wurde immer deutlicher. Ich sprach noch unbefangener, um das seltsame Gefühl loszuwerden. Aber es blieb und nahm an Deutlichkeit zu – bis mir endlich klar wurde, dass das Geräusch nicht in den Ohren selbst war.

Zweifellos: Jetzt wurde ich sehr bleich – aber ich redete noch eifriger und mit erhobener Stimme. Doch das Geräusch wurde lauter – und was konnte ich tun? Es war ein leises, dumpfes, schnelles Geräusch – ein Geräusch wie das Ticken einer Uhr, die man mit einem Tuch umwickelt hat. Ich rang nach Atem – und dennoch – die Beamten hörten es noch immer nicht. Ich sprach schneller – heftiger; aber das Geräusch wuchs beständig. Ich stand auf und redete gereizt und zornig; meine Stimme war schrill, und ich gestikulierte wild. Aber das Geräusch wuchs beständig. Warum gingen sie denn nicht? Ich lief mit wuchtigen Schritten auf und ab, als ob mich die Reden der Männer in Wut gebracht hätten. Aber das Geräusch nahm fortwährend zu. O Gott! Was konnte ich tun? Ich schäumte – ich raste – ich fluchte! Ich ergriff den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte und kratzte damit auf den Dielen hin und her. Aber das Geräusch erhob sich über alles und nahm fortgesetzt zu. Es wurde lauter – lauter – lauter! Und immer noch plauderten die Männer freundlich und lächelten. War es möglich, dass sie nicht hörten? Allmächtiger Gott! – Nein, nein! Sie hörten! – Sie argwöhnten! – Sie wussten! Sie trieben Spott mit meinem Entsetzen! – Das war es, was was ich dachte, und das denke ich noch. Aber alles andere war besser als diese Pein. Alles war erträglicher als dieser Hohn. Ich konnte dies heuchlerische Lächeln nicht länger ertragen. Ich fühlte, dass ich hinausschreien musste oder sterben! – Und jetzt – wieder! – Horch! Lauter! Lauter! Lauter! Lauter! –

»Schurken!«, kreischte ich, »verstellt euch nicht länger! Ich bekenne die Tat! – Reißt die Dielen auf! – Hier, hier! – Es ist das Schlagen dieses fürchterlichen Herzens.«

Hinab in den Maelström

Die Wege Gottes in der Natur wie auch in der Vorsehung sind nicht wie unsere Wege; noch sind die Dinge, die wir bilden, irgendwie der Unendlichkeit, Abgründigkeit und Unerforschlichkeit seiner Werke vergleichbar, die eine Tiefe in sich haben – ungemessener als der Brunnen des Demokritos.

Joseph Glanvill

Wir waren auf dem Gipfel der höchsten Klippe angelangt. Einige Minuten schien der Alte zu erschöpft, um zu sprechen. »Vor drei Jahren noch«, sagte er schließlich, »hätte ich diesen Weg geradeso leicht und ohne Ermüdung gemacht wie der jüngste meiner Söhne; aber dann hatte ich ein Erlebnis, wie wohl kein Sterblicher vor mir – wenigstens wie keiner es überlebte, um davon zu berichten – und die sechs Stunden tödlichen Entsetzens, die ich damals durchmachte, haben mich an Leib und Seele gebrochen. Sie halten mich für einen sehr alten Mann – aber ich bin es nicht. Weniger als ein Tag reichte hin, um meine tiefschwarzen Haare weiß zu machen, meinen Gliedern die Kraft, meinen Nerven die Spannung zu nehmen, sodass ich bei der geringsten Anstrengung zittere und vor einem Schatten erschrecke. Können Sie sich denken, dass ich kaum über diese kleine Klippe zu schauen vermag, ohne schwindlig zu werden?«

Die »kleine Klippe«, an deren Rand er sich so sorglos niedergeworfen hatte, dass der gewichtigere Teil seines Körpers darüber hinaushing, und allein der Halt, den ihm seine auf den schlüpfrigen Felsrand aufgestützten Ellbogen gewährten, ihn am Hinunterfallen hinderte – diese »kleine Klippe« erhob sich als ein steiler, wilder Berg schwarz glänzender Felsmassen etwa fünfzehn- bis sechzehnhundert Fuß hoch aus dem Meer empor. Nicht um alles in der Welt hätte ich mich näher als etwa sechs Meter an den Rand herangewagt. Ja wirklich, die gefährliche Stellung meines Begleiters entsetzte mich so sehr, dass ich mich der Länge nach zu Boden warf, mich ans Gestrüpp anklammerte und nicht einmal wagte, gen Himmel zu blicken – indes ich mich vergeblich mühte, den Gedanken loszuwerden, dass der Berg bis in seine Grundfesten von den stürmenden Winden erschüttert werde. Es dauerte lange, ehe ich mich so weit zur Vernunft brachte, dass ich mich aufrichten und in die Ferne schauen konnte.

»Sie müssen Ihre Angstvorstellungen überwinden«, sagte der Führer; »habe ich Sie doch hierhergebracht, damit Sie die Szene des Ereignisses, das ich eben erwähnte, so gut als möglich vor Augen haben, denn ich will Ihnen hier angesichts des Ortes die ganze Geschichte berichten.

Wir befinden uns jetzt«, fuhr er mit jener eingehenden Sachlichkeit fort, die ihm eigentümlich war, »wir befinden uns jetzt an der norwegischen Küste – auf dem achtundsechzigsten Breitengrad, in der großen Provinz Nordland und im trübseligen Distrikt Lofoten. Der Berg, auf dessen Gipfel wir sitzen, ist Helseggen, der Bewölkte. Richten Sie sich jetzt ein wenig auf – halten Sie sich am Gras fest, wenn Sie sich schwindlig fühlen – so – und blicken Sie über den Nebelgürtel unter uns hinaus ins Meer.«

Ich schaute auf und gewahrte eine weite Meeresfläche, deren Wasser so tintenschwarz war, dass mir sofort des nubischen Geografen Bericht von dem Mare Tenebrarum in den Sinn kam. Selbst die kühnste Fantasie könnte sich kein Panorama von gleich trostloser Verlassenheit ausdenken. Rechts und links, soweit das Auge reichte, breiteten sich gleich Wällen, die die Welt abschlossen, Reihen schwarzer, drohend ragender Klippen, deren grausiges Dunkel noch schärfer hervortrat in der tosenden Brandung, die mit ewigem Heulen und Kreischen ihren gespenstischen, weißen Schaum an ihnen emporwarf. Dem Vorgebirge, auf dessen Gipfel wir saßen, gerade gegenüber und etwa fünf, sechs Meilen weit ins Meer hinein war eine schmale, schwärzliche Insel sichtbar – oder richtiger: Man vermochte durch den Brandungsschaum, der sie umgab, ihre Umrisse zu erkennen. Etwa zwei Meilen näher an Land erhob sich eine andere, kleinere, entsetzlich steinig und unfruchtbar, der hier und da schwarze Felsklippen vorgelagert waren.

Der Anblick des Meeres zwischen der entfernteren Insel und der Küste war ein sehr ungewöhnlicher. Obgleich ein so heftiger Wind landwärts blies, dass eine Brigg draußen in der offenen See unter doppelt gerefftem Gaffelsegel lag und beständig mit ihrem ganzen Rumpf in den Wogen versank, so war hier doch keine regelrechte Dünung, sondern nur ein kurzes, schnelles, zorniges Aufklatschen des Wassers nach allen Richtungen – sowohl mit als gegen den Wind. Schaum gab es nur wenig, außer in der nächsten Umgebung der Felsen.

»Die ferne Insel«, fuhr der alte Mann fort, »wird von den Norwegern Vurrgh genannt. Die eine näherliegende heißt Moskoe. Jene dort eine Meile nordwärts ist Ambaaren. Dort drüben liegen Islesen, Hotholm, Keildhelm, Suarven und Buckholm. Weiter draußen, zwischen Moskoe und Vurrgh liegen Otterholm, Flimen, Sandflesen und Stockholm. Das sind die Namen der Orte; warum man es aber überhaupt für nötig fand, ihnen Namen zu geben, das ist wohl Ihnen wie mir unbegreiflich. – Hören Sie etwas? Sehen Sie eine Veränderung im Wasser?«

Wir waren jetzt etwa zehn Minuten auf der Spitze des Helseggen, zu dem wir aus dem Innern von Lofoten aufgestiegen waren, sodass wir keinen Schimmer vom Meer erblickt hatten, bis es, als wir oben auf dem Gipfel angelangt waren, plötzlich in voller Weite vor uns lag. Während der Alte sprach, kam mir ein lautes, langsam zunehmendes Tosen zum Bewusstsein, ein Lärm wie das Brüllen einer ungeheuren Büffelherde auf einer amerikanischen Prärie. Und im selben Augenblick gewahrte ich, dass das »Hacken« des Meeres unter uns sich mit rasender Schnelligkeit in eine östliche Strömung verwandelte. Während ich hinsah, nahm diese Strömung noch mit unheimlicher Geschwindigkeit zu. Jeder Augenblick verzehnfachte ihre Hast, ihr maßloses Ungestüm. In fünf Minuten tobte der ganze Ozean bis nach Vurrgh hinaus in gewaltigem Sturm; aber zwischen Moskoe und der Küste toste der Aufruhr am tollsten. Hier stürmte die ungeheure Wasserflut in tausend einander entgegengesetzte Kanäle, brach sich plötzlich in wahnsinnigen Zuckungen, keuchte, kochte und zischte – kreiste in zahllosen riesenhaften Wirbeln, und alles stürmte heulend und sich überstürzend nach Osten, mit einer Geschwindigkeit, wie sie sich nur bei den rasendsten Wasserstürzen findet.

Einige Minuten später hatte sich die Szene wiederum völlig verändert. Die gesamte Oberfläche wurde ein wenig glatter, und die Strudel verschwanden einer nach dem anderen, während mächtige Schaumstreifen sich überall da zeigten, wo vorher gar kein Schaum gewesen war. Diese Streifen, die sich immer weiter und weiter ausdehnten und miteinander verbanden, nahmen nun die drehende Bewegung der verschwundenen Strudel an und schienen den Rand eines neuen ganz gewaltigen Strudels zu bilden. Plötzlich – sehr plötzlich – nahm der Wirbel deutliche und bestimmte Form an und wurde zu einem Kreis von mehr als einer Meile Durchmesser. Umrandet war der Wirbel von einem breiten Gürtel schimmernden Schaums; doch nicht der kleinste Teil desselben glitt in den Schlund des schrecklichen Trichters, dessen Innenwand, so weit das Auge es ergründen konnte, von einer glatten, leuchtenden und kohlschwarzen Wassermauer gebildet wurde, die sich in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad zum Horizont hinneigte und sich in schwingender, schwindelnder Rastlosigkeit im Kreis drehte und dabei so eine fürchterliche, kreischende und heulende Stimme gen Himmel sandte, wie sie selbst der mächtige Niagarafall in seiner Todesangst nicht hervorbringt.

Der Berg erbebte in seinen Grundfesten, und der Fels schwankte. Ich warf mich zur Erde, verbarg mein Gesicht und klammerte mich in einem Anfall nervöser Aufregung an das spärliche Strauchwerk.

»Dies kann«, sagte ich endlich zu dem Alten, »dies kann nur der große Strudel des Maelström sein.«

»So wird er manchmal genannt«, sagte der Mann. »Wir Norweger nennen ihn Moskoeström, nach der Insel Moskoe in seiner Nähe.«

Die bekannten Berichte über diesen Strudel hatten mich in keiner Hinsicht auf das vorbereitet, was ich da sah. Die Beschreibung, die Jonas Ramus gibt und die vielleicht die umständlichste von allen ist, kann weder von der Großartigkeit noch von dem Grauen des Ganzen oder von dem seltsam verwirrenden Gefühl des »Neuartigen«, das den Beschauer befällt, auch nur die geringste Vorstellung erwecken. Ich bin nicht sicher, von welchem Punkt aus jener Schriftsteller das Naturschauspiel beobachtete, noch zu welcher Zeit; aber es konnte weder vom Gipfel des Helseggen noch während eines Sturmes gewesen sein. Immerhin hat seine Beschreibung einige Stellen, die erwähnenswert sind, obschon ihre Wirkung im Vergleich mit dem Schauspiel selbst nur eine sehr schwache sein kann.

»Zwischen Lofoten und Moskoe«, berichtet er, »schwankt die Tiefe des Wassers zwischen fünfunddreißig und vierzig Faden; nach der anderen Seite aber, in der Richtung von Ver (Vurrgh), nimmt diese Tiefe ab, sodass ein Schiff dort nicht passieren kann, ohne Gefahr zu laufen, an den Klippen zu zerschellen, was selbst bei ruhigem Wetter vorkommen kann. Wenn Flutzeit ist, so geht die Strömung landwärts zwischen Lofoten und Moskoe in lärmender Hast dahin, das Tosen ihrer Ebbe zum Meere hin aber wird selbst von den lautesten und fürchterlichsten Katarakten nicht erreicht – man hört das Getöse viele Meilen weit, und die Strudel oder Abgründe sind von solcher Tiefe und Ausdehnung, dass ein Schiff, das in ihren Kreislauf gerät, unvermeidlich angezogen und in den Abgrund hinabgerissen wird, wo es an den Felsen zerschellt und, wenn die Wasser sich beruhigen, in Trümmern wieder emporgetragen wird. Solche Ruhepausen gibt es aber nur beim Übergang von Ebbe zu Flut und von Flut zu Ebbe und nur bei ruhigem Wetter, auch dauern sie nur eine Viertelstunde, dann nimmt der Wirbel langsam wieder zu. Wenn die Strömung am heftigsten und ihre Wut durch einen Sturm gesteigert ist, wird es gefährlich, ihr auf eine norwegische Meile nahezukommen. Boote, Jachten und auch größere Schiffe wurden mit fortgerissen, weil sie sich dem Bereich des Strudels nicht fern genug hielten. Es kommt auch vor, dass Walfische der Strömung zu nahe kommen und in ihre Gewalt geraten, und es ist unmöglich, das Heulen und Bellen zu beschreiben, das sie bei ihren vergeblichen Anstrengungen ausstoßen. Einmal wurde ein Bär, der von Lofoten nach Moskoe zu schwimmen versuchte, von der Strömung erfasst und hinabgerissen, und sein entsetzliches Gebrüll wurde bis ans Ufer gehört. Große Vorräte von Fichten und Kiefern kamen, nachdem sie im Strudel gewesen, so zersplittert und zerfetzt an die Oberfläche, dass sie aussahen wie seltsame Borstentiere; und dies zeigt klar, dass im Abgrund des Strudels Felsgrate sind, zwischen denen sie hin und her geschleudert wurden. Die Strömung wird durch Ebbe und Flut reguliert – sodass alle sechs Stunden hohes und niederes Wasser miteinander wechseln. Im Jahre 1645 in der Frühe des Sonntags Sexagesima raste sie mit solchem Ungestüm und Getöse, dass die Häuser an der Küste zusammenstürzten.«

Was nun die Tiefe des Wassers anlangt, so begriff ich nicht, wie sie in der Nähe des Strudels überhaupt hatte gemessen werden können. Die vierzig Faden konnten sich nur auf Teile des Kanals nahe an der Küste von Moskoe oder Lofoten beziehen. Die Tiefe inmitten des Moskoeström muss unermesslich viel größer sein, und man kann keinen besseren Beweis für diese Tatsache finden, als wenn man vom höchsten Grad des Helseggen seitwärts in den Abgrund hinabblickt. Ich, der ich vom Gipfel oben in den heulenden Phlegethon hinuntersah, konnte mich eines Lächelns nicht erwehren über die Einfalt, mit der der ehrenwerte Jonas Ramus die seiner Ansicht nach fast unglaubwürdigen Anekdoten von den Walfischen und dem Bären berichtet; mir schien es tatsächlich ganz selbstverständlich, dass das größte Linienschiff, wenn es in jene tödliche Anziehungskraft geriet, ihr ebenso wenig widerstehen konnte wie eine Feder dem Orkan und sogleich und für immer verschwinden müsse.

Die Erklärungsversuche für das Phänomen, deren einige mir beim Durchlesen ziemlich einleuchtend erschienen waren, sah ich jetzt in ganz anderem Licht und musste sie als völlig unzureichend verwerfen. Die Anschauung, der am meisten Glauben geschenkt wird, ist, dass dieser Strudel, gleich drei anderen kleineren in der Gegend der Ferroe-Inseln, seinen Ursprung habe in dem Zusammenprall der Wogen an unterirdischen Felsenriffen, die das Wasser derart einengen, dass es zur Zeit der Flut gewaltig aufschäumen, zur Zeit der Ebbe aber in große Tiefen zurückfallen muss. Die natürliche Folge des Ganzen ist ein Strudel, dessen wunderbare Einsaugekraft man schon an kleineren Versuchen erproben kann. So etwa sagt die ›Encyclopaedia Britannica‹. Kircher und andere nehmen an, dass in der Mitte des Maelström-Kanals ein Abgrund sich befinde, der den Erdball durchbohre und in irgendeiner fernen Gegend endige – irgendwer bezeichnet übrigens mit ziemlicher Bestimmtheit den Bottnischen Meerbusen als Durchbruchstelle des Strudelkanals. Diese an sich recht törichte Annahme erschien mir jetzt beim Anblick des gewaltigen Naturereignisses gar nicht so unhaltbar; ich sprach davon zu meinem Führer, der mir zu meiner Verwunderung erwiderte, obgleich er wisse, dass diese Auffassung der Sache von den meisten Norwegern geteilt werde, so könne er selbst ihr doch nicht beistimmen. Was die vorher erwähnte Annahme des Jonas Ramus betreffe, so müsse er gestehen, dass er sie nicht begreifen könne, und darin musste ich ihm beipflichten, denn so glaubwürdig sie sich auch auf dem Papier ausgenommen, so unverständlich, ja geradezu absurd erschien sie hier inmitten des Sturmgetöses des Strudels selbst.

»Sie haben sich jetzt den Strudel gut betrachten können«, sagte der alte Mann, »und wenn Sie sich nun hier auf die andere Seite des Felsvorsprungs niederlassen würden, wo wir vor dem Wind geschützt sind und das Brausen der Wellen weniger laut hören, so werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Sie davon überzeugen wird, dass ich wohl etwas vom Moskoeström wissen muss.«

Ich setzte mich so wie er es wünschte, und er fuhr fort:

»Meine beiden Brüder und ich besaßen eine schoonerartig aufgetakelte Schmack von etwa siebzig Tonnen Tragfähigkeit, mit der wir zwischen den Inseln hinter Moskoe nahe bei Vurrgh zu fischen pflegten. Überall, wo das Meer heftig brandet, ist zu geeigneten Zeiten der Fischfang gut, wenn man nur den Mut hat, ihn zu wagen; doch unter allen Küstenbewohnern der Lofoten waren wir drei die Einzigen, die es sich regelrecht zum Beruf machten, nach jenen Inseln hinauszufahren. Die eigentlichen Fischgründe sind eine gute Strecke weiter nach Süden gelegen. Dort kann man zu allen Zeiten fangen, und es ist keine Gefahr dabei; darum werden jene Plätze bevorzugt. Die ertragreichen Fangplätze hier zwischen den Felsen aber liefern nicht nur die besten Sorten, sondern diese sogar in reichstem Maß, sodass wir oft in einem einzigen Tag so viel fingen, wie ängstlichere Fischer mühsam in einer Woche zusammenbrachten. Es war in der Tat ein verzweifeltes Unternehmen, bei dem das Wagnis die Arbeit ersetzte und Mut das Anlagekapital war.

Der Ankerplatz unseres Schiffes war in einer Bucht, die etwa fünf Meilen von dieser hier entfernt ist, und es war unsere Gewohnheit, bei schönem Wetter die Viertelstunde Totwasser zwischen Ebbe und Flut auszunutzen, um über den Hauptkanal des Moskoeström weit oberhalb des Strudels hinüberzusegeln und irgendwo in der Nähe von Otterholm oder Sandflesen, wo die Brandung nicht allzu heftig ist, vor Anker zu gehen. Hier pflegten wir zu bleiben, bis wiederum Totwasser einsetzte, worauf wir die Anker lichteten und uns auf den Heimweg machten. Wir unternahmen diese Fahrt nur dann, wenn wir für Hin- und Rückfahrt auf beständigen Wind rechnen konnten – einen Wind, von dem wir überzeugt waren, dass er uns bei der Rückfahrt nicht im Stich lassen werde –, und in dieser Hinsicht war unsere Berechnung selten falsch. Zweimal in sechs Jahren waren wir genötigt, die ganze Nacht vor Anker zu liegen, infolge einer gerade hier äußerst seltenen völligen Windstille, und einmal mussten wir fast eine Woche draußen bei den Fischplätzen ausharren und waren dem Hungertod nahe; aber wir konnten die Überfahrt nicht wagen, denn ein Sturmwind blies, der den Kanal allzu gefährlich machte. Bei dieser Gelegenheit wären wir trotz aller Anstrengungen in die See hinausgetrieben worden (denn die Strudel warfen uns so heftig herum, dass wir schließlich den Anker einzogen), wären wir nicht zufällig in eine der zahlreichen Gegenströmungen geraten, die heute da sind und morgen wieder fort. Diese Strömung trieb uns in die windgeschützte Gegend von Flimen, wo wir das Glück hatten, landen zu können.

Ich könnte Ihnen nicht den zwanzigsten Teil all der Schwierigkeiten aufzählen, mit denen wir an den Fangplätzen zu kämpfen hatten, denn selbst bei gutem Wetter ist es da draußen übel genug; dennoch gelang es uns immer, den Moskoeström selbst ohne Unfall zu passieren, obgleich mir oft genug das Herz erschrak, wenn wir bisweilen ein oder zwei Minuten vor oder nach dem Totwasser dort waren. Der Wind war manchmal nicht so stark, wie wir beim Ausfahren gedacht hatten, und dann kamen wir langsamer voran, als wünschenswert war, und verloren in der Strömung die Gewalt über das Schiff. Mein ältester Bruder hatte einen achtzehnjährigen Sohn, und ich selbst besaß zwei kräftige Buben. Diese wären zu solchen Zeiten beim Ein- und Ausziehen der Fischtaue wie auch beim Fischen selbst sehr brauchbar gewesen, aber trotzdem wir für uns die Gefahr nicht fürchteten, hatten wir doch nicht das Herz, die Jungen dem Wagnis auszusetzen – denn es ist schon so und muss gesagt werden: Es war ein entsetzliches Wagnis.

Es sind jetzt in wenigen Tagen drei Jahre, seit sich das ereignete, was ich Ihnen nun erzählen will. Es war der zehnte Juli 18.., ein Tag, den man hierzulande nie vergessen wird, denn es blies der schrecklichste Orkan, der je aus den Himmeln niederstürzte; und doch hatte am Vormittag und sogar bis in den späten Nachmittag ein sanfter Südwest geweht, während die Sonne heiter strahlte, sodass die ältesten Seeleute unter uns nicht hätten voraussehen können, was sich später ereignete.

Wir drei – meine beiden Brüder und ich – waren gegen zwei Uhr nachmittags zu den Inseln hinübergekreuzt und hatten bald die Schmack mit edlen Fischen voll, die, wie wir alle bemerkten, an diesem Tag zahlreicher als je aufgetreten waren. Auf meiner Uhr war es gerade sieben, als wir lichteten und die Heimfahrt antraten, um den schlimmsten Teil des Ström bei Totwasser zurückzulegen, das nach unserer Erfahrung um acht einsetzte.

Ein frischer Wind kam von Steuerbord her, und eine Zeit lang hatten wir eilige Fahrt und ließen uns keine Gefahr träumen, denn wir sahen nicht den geringsten Grund dazu. Ganz plötzlich aber wurden wir von einer Brise von Helseggen her rückwärts getrieben. Das war höchst seltsam – etwas, das sich noch nie ereignet hatte – und ich begann unruhig zu werden, ohne recht zu wissen, weshalb. Wir stellten das Boot nach dem Wind, konnten aber infolge der starken Brandung nicht vorwärts kommen, und ich wollte gerade den Vorschlag machen, zum Ankerplatz zurückzukehren, als wir, rückwärts blickend, den ganzen Horizont von einer einzigen kupferfarbenen Wolke bedeckt sahen, die mit unheimlicher Schnelligkeit heraufzog.

Währenddessen hatte sich der Wind, der uns soeben zurückgeworfen, ganz plötzlich gelegt, und in der Totenstille trieb unser Schiff haltlos umher. Dieser Zustand dauerte jedoch nicht so lange, dass wir Zeit gehabt hätten, ihn zu bedenken. In kaum einer Minute war der Sturm über uns – in kaum zweien war der ganze Himmel schwarz, und es wurde so dunkel, dass wir im Schiff einander nicht mehr erkennen konnten.

Es wäre Wahnsinn, den Orkan, der nun einsetzte, beschreiben zu wollen. Der älteste Seemann in ganz Norwegen hatte dergleichen nicht erlebt. Wir hatten unsere Segel dem Wind überlassen, ehe der uns richtig packte. Nun flogen beim ersten Stoß unsere beiden Maste über Bord, als seien sie abgemäht – und der Hauptmast nahm meinen jüngsten Bruder mit sich, der sich sicherheitshalber an ihn angebunden hatte.

Unser Boot war das federleichteste Ding, das je auf dem Wasser geschwommen. Es hatte ein vollkommen geschlossenes Verdeck mit nur einer Luke nahe am Bug, und diese Luke pflegten wir immer bei Annäherung an den Ström zu schließen, um uns gegen die Sturzseen zu sichern. Ohne diese gewohnte Vorsichtsmaßregel wären wir sofort zugrunde gegangen – denn wir waren minutenlang buchstäblich im Wasser begraben. Wie mein älterer Bruder der Vernichtung entrann, kann ich nicht sagen; ich hatte nie Gelegenheit, das festzustellen. Ich für mein Teil warf mich sofort flach zu Boden, nachdem ich das Vordersegel losgelassen, stemmte die Füße gegen das schmale Schandeck des Bugs und erfasste mit den Händen einen Ringbolzen in der Nähe des Vormastes. Es war lediglich Instinkt, was mich zu solchem Handeln trieb, denn zum Denken war ich viel zu verwirrt – aber ich hätte jedenfalls gar nichts Besseres tun können.

Minutenlang waren wir, wie ich schon sagte, vollkommen unter Wasser; und während dieser ganzen Zeit hielt ich den Atem an und klammerte mich an den Ring. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, erhob ich mich auf die Knie und bekam so den Kopf frei; den Ring hielt ich noch immer fest. Da schüttelte sich unser kleines Boot, gerade wie ein Hund, wenn er aus dem Wasser kommt und befreite sich dadurch ein wenig aus den Wellen. Ich versuchte nun, der Bestürzung, die mich überrumpelt hatte, Herr zu werden und meine Sinne zum Überlegen zu sammeln, als ich mich plötzlich am Arm erfasst fühlte. Es war mein älterer Bruder, und mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich war überzeugt gewesen, auch er sei über Bord geschwemmt. Im nächsten Augenblick aber wandelte sich all diese Freude in Entsetzen; – er presste seinen Mund an mein Ohr und gellte das Wort hinaus: Moskoeström!

Niemand wird je ermessen, was ich in jenem Augenblick fühlte. Ich erbebte von Kopf zu Fuß, wie in einem heftigen Anfall von Schüttelfrost. Ich wusste gut, was er mit diesem einen Worte meinte – ich wusste, was er mir begreiflich machen wollte. Mit dem Wind, der uns jetzt vorwärts jagte, waren wir dem Strudel des Ström verfallen, und nichts konnte uns retten!

Sie müssen im Auge behalten, dass wir uns zur Überquerung des Kanals stets eine Stelle weit oberhalb der Strudels aussuchten; auch bei ruhigstem Wetter taten wir das und warteten sorgsam das Totwasser ab – nun aber trieben wir direkt auf den Wirbelstrom zu – und dabei in diesem Orkan! ›Sicherlich‹, dachte ich, ›kommen wir gerade bei Totwasser dort an – es ist wenigstens Hoffnung dafür vorhanden –‹, im nächsten Augenblick aber verwünschte ich mich selbst, dass ich Narr genug war, überhaupt von Hoffnung zu träumen. Ich wusste recht gut, dass wir dem Untergang verfallen waren, und wären wir auch zehnmal ein großes, festes Kriegsschiff gewesen.

Die erste Wut des Sturmes hatte sich gelegt, oder vielleicht fühlten wir ihn nur weniger, da er uns vor sich hertrieb – jedenfalls erhoben sich jetzt die Wogen, die der Wind bisher niedergehalten, zu wahren Bergen. Auch der Himmel hatte sich seltsam verändert. Nach allen Richtungen in der Runde war noch immer pechschwarze Nacht, doch beinahe uns zu Häupten brach ein kreisrundes Stück klaren Himmels durch – so klar, wie ich ihn nur je gesehen, und von tiefem strahlenden Blau –, und aus seiner Mitte leuchtete der volle Mond in nie geahntem Glanz! Er rückte unsere ganze Umgebung in hellstes Licht – o Gott, welch ein Schauspiel beleuchtete er!

Ich machte jetzt ein paar Versuche, mit meinem Bruder zu sprechen, aber das Getöse hatte unerklärlicherweise derart zugenommen, dass ich ihm nicht ein einziges Wort verständlich machen konnte, obgleich ich ihm mit aller Gewalt ins Ohr schrie. Er schüttelte den Kopf, sah totenbleich aus und erhob einen Finger, als wolle er sagen: ›Horch!‹

Zuerst begriff ich ihn nicht – bald aber überfiel mich ein entsetzliches Begreifen. Ich zog die Uhr aus der Tasche. Sie ging nicht mehr. Ich hielt das Zifferblatt ins Mondlicht und brach in Tränen aus, als ich sie nun weit ins Meer schleuderte. Sie war um sieben Uhr stehen geblieben! Die Zeit des Totwassers war vorüber und der Strudeltrichter des Ström in voller Wut!

Ist ein Boot gut gebaut und richtig und nicht allzu schwer beladen, so scheinen in einem heftigen Sturm die Wellen unter dem Schiff hervorzukommen, was einem Unerfahrenen stets merkwürdig erscheint; in der Seemannssprache sagt man, das Schiff reitet. Bisher also waren wir auf den Wogen geritten, nun aber erfasste uns eine riesenhafte Welle gerade unter der Gilling und hob uns mit sich empor – hinauf, hinauf –, als ginge es in den Himmel. Ich hätte es gar nicht für möglich gehalten, dass eine Woge so hoch steigen könne. Und dann ging es wieder schleifend und gleitend und stürzend hinunter, dass mir ganz übel und schwindlig wurde, wie wenn man im Traum von einem Berggipfel herunterstürzt. Aber während wir oben waren, hatte ich schnell Umschau gehalten – und dieser eine Rundblick genügte. Ich erkannte im Augenblick unsere ganze Lage. Der Strudel des Moskoeströms lag etwa eine Viertelmeile vor uns – aber er glich so wenig dem gewöhnlichen Moskoeström wie der Strudel da etwa der Welle eines Mühlbachs. Hätte ich nicht bereits gewusst, wo wir uns befanden und was uns bevorstand, so hätte ich den Ort überhaupt nicht erkannt. Ich schloss vor Entsetzen unwillkürlich die Augen. Die Lider krampften sich wie im Todeskampf zusammen.

Es konnten kaum zwei Minuten vergangen sein, als wir plötzlich glatteres Wasser spürten und in Gischt eingehüllt waren. Das Boot machte eine kurze, halbe Drehung nach Backbord und schoss dann wie der Blitz in seiner neuen Richtung dahin. Im selben Augenblick ertrank das Brüllen der Wasser in einer Art schrillem Gekreisch – einem Ton, wie ihn etwa die Ventile mehrerer tausend Dampfschiffe beim Auslassen des Dampfes zusammen hervorbringen könnten. Wir befanden uns jetzt in dem Schaumgürtel, der stets den Strudel umringt, und ich dachte natürlich, dass der nächste Augenblick uns in den Abgrund schleudern werde, den wir infolge der Schnelligkeit, mit der wir dahinsausten, nur unklar erkennen konnten. Das Boot schien überhaupt nicht im Wasser zu liegen, sondern wie eine Luftblase über den Schaum dahinzutanzen. Seine Steuerbordseite war dem Strudel zugekehrt, und hinter Backbord dehnte sich das unendliche Meer, mit dem wir noch eben gekämpft hatten. Es stand wie ein mächtiger wandelnder Wall zwischen uns und dem Horizont.

Es mag seltsam erscheinen – aber jetzt, wo wir uns im Rachen des Abgrundes befanden, fühlte ich mich ruhiger als während der Zeit, da wir uns ihm erst näherten. Nun ich mich damit vertraut gemacht, alle Hoffnung aufzugeben hatte, verlor ich auch ein gut Teil des Schreckens, der mich zuerst lähmte. Ich glaube, es war Verzweiflung, die meine Nerven stählte.

Wie prahlerisch es auch klingt, es ist dennoch wahr: Ich begann zu empfinden, welch herrliche Sache es sei, auf diese Weise zu sterben, und wie töricht es von mir war, beim Anblick solch großartigen Beweises von Gottes Herrlichkeit an mein eigenes erbärmliches Leben zu denken. Ich glaube, ich errötete vor Scham, als dieser Gedanke mir in den Sinn kam. Nach einiger Zeit erfasste mich eine wilde Neugier bezüglich des Strudels selbst. Ich fühlte tatsächlich den Wunsch, seine Tiefen zu ergründen, obgleich ich mich selbst dabei opfern musste, und mein hauptsächlicher Kummer war der, dass ich meinen alten Gefährten an Land niemals von den Wundern berichten sollte, die ich erschauen würde. Das waren gewiss sonderbare Betrachtungen für einen Mann in meiner Lage, und ich habe schon manchmal gedacht, dass die Drehungen des Bootes im Strudel mir ein wenig den Kopf verrückt hatten.

Noch ein anderer Umstand trug dazu bei, mir meine Selbstbeherrschung wiederzugeben, und das war das Aufhören des Windes, der uns in unserer gegenwärtigen Lage nicht erreichen konnte – denn wie Sie selbst sahen, liegt der Schaumgürtel beträchtlich tiefer als der Ozean selbst, und dieser Letztere türmte sich jetzt über uns auf wie ein hoher schwarzer Bergrücken. Wenn Sie nie bei heftigem Sturm auf See gewesen sind, können Sie sich gar keinen Begriff machen von der allgemeinen Sinnesverwirrung, die Wind und Sturzsee verursachen. Man ist blind und taub und dem Ersticken nahe und verliert alle Kraft zum Denken oder Handeln. Jetzt aber waren wir diese Qualen los – gerade wie zum Tode verurteilte Verbrecher kleine Erleichterungen genießen, die ihnen versagt bleiben, solange ihr Schicksal noch nicht ganz entschieden ist.

Wie oft wir den Schaumgürtel umkreisten, kann ich nicht sagen. Wir jagten wohl schon eine Stunde lang in der Runde und gelangten allmählich, mehr fliegend als schwimmend, in die Mitte des Gischtstreifens und näher und immer näher an seinen furchtbaren inneren Rand. In dieser ganzen Zeit hatte ich den Ringbolzen nicht losgelassen. Mein Bruder war am Heck und klammerte sich dort an ein kleines leeres Wasserfass, das an der Gilling festgebunden und der einzige Gegenstand auf Deck war, den der Sturm nicht über Bord gefegt hatte. Als wir uns dem Rand des Trichters näherten, ließ er seinen Halt fahren und langte nach dem Ring, von dem er in seiner Todesangst meine Hände fortzureißen suchte, denn der Ring war nicht groß genug, uns beiden einen sicheren Griff zu bieten. Nie empfand ich tieferen Kummer, als da ich ihn diese Tat begehen sah – obschon ich wusste, dass er toll war, als er es tat – ein Wahnsinniger aus namenloser Angst. Es lag mir nichts daran, mit ihm um diesen Halt zu kämpfen. Ich wusste, dass es gleichgültig war, ob einer von uns sich anklammerte oder nicht; so überließ ich ihm den Ring und ging nach hinten zum Fass. Das war nicht schwierig zu bewerkstelligen, denn die Schmack flog in glatter Bahn vorwärts und schwang nur in dem ungeheuren Bogen des Strudels mit. Kaum hatte ich an dem neuen Ort Fuß gefasst, als wir einen wilden Satz nach Steuerbord machten und in den inneren Trichter hineinjagten. Ich murmelte ein Stoßgebet und glaubte, alles sei vorüber.

In dem taumelnden Schwindelgefühl, das mich bei dem Hinabsausen erfasste, presste ich die Hände fester um das Fass und schloss die Augen. Sekundenlang wagte ich nicht, sie zu öffnen, ich erwartete den sofortigen Tod und begriff nicht, dass ich nicht schon im Todeskampf mit dem Wasser rang. Doch Minute nach Minute verrann. Ich lebte noch immer. Das Gefühl des Hinabfallens hatte aufgehört, und die Bewegung des Schiffes schien ganz die gleiche wie vordem im Schaumgürtel, nur dass es jetzt mehr auf der Seite lag. Ich fasste Mut und warf von Neuem einen Blick auf den Schauplatz.

Nie werde ich die Empfindung von Ehrfurcht, Entsetzen und staunender Bewunderung vergessen, mit der ich um mich schaute. Das Boot lag vollkommen auf der Seite, schien wie durch Zaubermacht an der inneren Oberfläche eines ungeheuer weiten Trichters von unerkennbarer Tiefe festzukleben, eines Trichters, dessen vollkommen glatte Wände man für Ebenholz hätte halten können, hätten sie sich nicht mit verwirrender Schnelligkeit im Kreise gedreht und ein seltsam gespenstisches Licht ausgestrahlt, als der Glanz des Vollmonds aus der kreisförmigen Wolkenöffnung in goldener Flut die schwarzen Wälle herabströmte und tief in das Innere des Abgrunds hinableuchtete.