Die Melodie des Todes - Edgar Wallace - E-Book

Die Melodie des Todes E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Das Werk "Die Melodie des Todes" ist ein 1932 veröffentlichter Roman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "The Melody of Death". Richard Horatio Edgar Wallace (geboren 1. April 1875 in Greenwich, London; gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.

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Die Melodie des Todes

1 – Der Amateur-Geldschrankknacker2 – Sunstars großes Rennen3 – Gilbert eilt plötzlich fort4 – Die Melodie in F-Dur5 – Der Mann, der reich werden wollte6 – Das Geldschrankgeschäft7 – Die Bankräuber8 – Die junge Frau, die ihren Mann nicht liebt9 – Edith lernt die Geigenspielerin kennen10 – Der Halsschmuck11 – Der vierte Mann12 – Der Aufbewahrungsort der Beute13 – Der Testamentenonkel14 – Die Diamanten der Familie Standerton15 – Die Erzählung des Doktors16 – KursbuchImpressum

1 – Der Amateur-Geldschrankknacker

Als in der Nacht des 27. Mai 1911 ein Schutzmann auf seinem Rundgang pflichtgemäß Tür und Schloß des Juweliergeschäftes von Gilderheim, Pascoe & Compagnie in Little Hatton Garden prüfte, fiel ihm nichts Besonderes daran auf. Bis neun Uhr abends hatten sich Herr Gilderheim und sein erster Buchhalter noch im Geschäft aufgehalten; ein Polizeibeamter in Zivil, der die Pflicht hatte, ungewöhnlichen Vorgängen nachzuforschen, war der Meinung gewesen, das Licht im Fenster des ersten Stocks sei seiner dienstlichen Beachtung wert, so daß er hinaufgegangen war, um die Ursache dieser Erscheinung festzustellen. Der 27. war ein Samstag, an dem in Hatton Garden Prinzipale und Angestellte sonst spätestens um drei Uhr Geschäftsschluß zu machen pflegen.

Herr Gilderheim, ein freundlicher Mann, war auf das Klopfen zur Tür geeilt und hatte nach dem Revolver gegriffen, den er für alle Fälle in der Tasche trug; er war sehr erleichtert gewesen, als er entdeckte, daß das Klopfen kein aufregenderes Abenteuer im Gefolge hatte als ein Gespräch mit einem ihm bekannten Polizeibeamten. Er erklärte ihm, er habe eine Diamantensendung von einer Amsterdamer Firma erhalten und habe die Steine, bevor er nach Hause ginge, noch sortieren wollen. Nach einigen scherzhaften Bemerkungen über die verführerische Anziehungskraft, die Diamanten im Werte von sechzigtausend Pfund auf die gewissenlosen ›Mächte der Finsternis‹ hätten, war der Beamte fortgegangen.

Um neun Uhr vierzig verschloß Herr Gilderheim die Juwelen in seinem großen Tresor, vor dem Tag und Nacht ein elektrisches Licht brannte; dann verließ er in Begleitung seines Angestellten das Haus Nr. 93 Little Hatton Garden und machte sich in Richtung Holborn auf den Weg.

Der diensthabende Schutzmann wünschte ihnen »Gute Nacht«, und der Beamte in Zivil, der sich an dem Holborner Ende der Straße befand, wechselte noch einige Worte mit ihnen.

»Haben Sie die ganze Nacht Dienst?« fragte Herr Gilderheim, während sein Angestellter nach einem Wagen rief.

»Ja, mein Herr,« sagte der Beamte.

»Das ist gut,« sagte der Geschäftsmann. »Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie ein besonderes Auge auf mein Haus haben wollten. Ich bin ziemlich ängstlich, weil ich so große Werte im Geldschrank gelassen habe.«

Der Beamte lächelte.

»Ich glaube nicht, daß Sie sich Sorgen zu machen brauchen, mein Herr,« sagte er, und nachdem der Wagen mit Herrn Gilderheim weggefahren war, ging er nach Nr. 93 zurück.

Aber in dieser kurzen Zeitspanne zwischen der Abfahrt des Diamantenhändlers und der Rückkehr des Geheimpolizisten hatte sich mancherlei ereignet. Kaum hatte Gilderheim den Geheimpolizisten erreicht, als zwei Männer rasch vom andern Ende der Straße herankamen. Unverzüglich ging der erste auf Nr. 93 zu, öffnete die Tür mit einem Schlüssel und trat ein. Der zweite Mann folgte ihm. Ihre Bewegungen verrieten weder Unsicherheit noch Heimlichtuerei. Man hätte sie für langjährige Mieter des Hauses halten können, so selbstverständlich war ihre ganze Handlungsweise.

Noch keine halbe Minute, nachdem der zweite Mann hineingegangen war, kam ein dritter aus der gleichen Richtung, hielt an dem Haus, schloß die Tür mit derselben gelassenen Sicherheit auf, die am Auftreten des ersten Ankömmlings bemerkenswert gewesen war, und ging hinein.

Drei Minuten später waren zwei von den dreien oben im ersten Stock.

Mit außergewöhnlicher Gewandtheit holte der eine zwei kleine Stahlflaschen aus seinen Taschen, befestigte geschickt Gummischläuche daran und montierte den kleinen Lötkolben seiner Lampe an, während der zweite auf dem Boden eine kleine Sammlung äußerst feiner und vollendet schöner Werkzeuge ausbreitete. Keiner der beiden sprach. Sie lagen flach auf dem Boden, ohne das Licht, das vor dem Tresor brannte, auszulöschen. Eine Zeitlang arbeiteten sie schweigend; als der kräftigere der beiden den Spiegel erblickte, der in der Kehle der Decke angebracht war und Passanten auf der Straße unten Sicht auf den oberen Teil des Tresors gewährte, sagte er:

»Auch der Spiegel kann uns nicht verraten, glaube ich.«

Der zweite Einbrecher war ein schlanker, jugendlicher Mann mit einem Haarschopf, der auf einen Musiker schließen ließ.

Er schüttelte den Kopf.

»Falls nicht alle Gesetze der Optik ausgerechnet für diese Gelegenheit auf den Kopf gestellt sind,« sagte er mit einem ganz leisen ausländischen Akzent, »können wir unmöglich gesehn werden.«

»Das beruhigt mich,« sagte der erste.

Während er die zischende Flamme gegen die Stahltür arbeiten ließ, pfiff und summte er eine kleine Melodie vor sich hin.

Sorgfältig brannte er das Schloß aus und zweifelte nicht im geringsten am Gelingen, denn es war ein altmodischer Schrank.

Eine halbe Stunde lang wechselten sie weiter kein Wort miteinander. Der Mann mit dem Lötkolben fuhr in seiner Arbeit fort, der andre schaute mit schweigendem Interesse zu, bereit, seine Rolle zu spielen, wenn das Werk weit genug gediehen war.

Nach einer halben Stunde wischte sich der ältere der beiden mit dem Handrücken über seine schweißtriefende Stirn, denn die Hitze, die die Flamme von der Stahltür zurückstrahlte, machte sich tüchtig fühlbar.

»Warum hast du beim Türschließen solch einen Lärm gemacht?« fragte er. »Du bist doch sonst nicht so unvorsichtig, Calli.«

Der andre blickte ihn etwas erstaunt an.

»Ich habe durchaus keinen Lärm gemacht, mein lieber George,« sagte er. »Wenn du im Hauseingang gestanden wärst, hättest du es nicht hören können; tatsächlich, ich habe die Tür ebenso geräuschlos zugemacht, als ich sie geöffnet habe.«

Der schwitzende Mann auf dem Boden lächelte.

»Das war allerdings leicht für dich,« sagte er.

»Warum?« fragte der andre.

»Weil ich sie gar nicht zugemacht habe. Du bist doch gleich nach mir hereingekommen.«

Etwas in dem Schweigen, mit den: seine Worte ausgenommen wurden, ließ ihn aufschauen. Das Gesicht seines Kameraden zeigte einen verblüfften Ausdruck.

»Ich habe die Tür mit meinem eigenen Schlüssel geöffnet,« sagte der jüngere Mann gedehnt.

»Du hast geöffnet ...?« Der Mann, der auf den Namen George hörte, runzelte die Stirn. »Ich versteh dich nicht, Callidino. Ich hab doch die Tür offen gelassen und du bist hinter mir hereingekommen; ich bin schnurstracks heraufgegangen und du bist mir gefolgt.«

Callidino schaute den andren kopfschüttelnd an.

»Ich habe die Tür selbst mit dem Schlüssel aufgeschlossen,« sagte er ruhig. »Wenn jemand hinter dir hereinkam – nun, dann haben wir alle Veranlassung nachzusehen, wer es ist.«

»Du meinst ...?«

»Ich meine,« sagte der kleine Italiener, »es wäre äußerst mißlich, wenn ein dritter Gentleman bei dieser unpassenden Gelegenheit zugegen wäre.«

»Allerdings, das wäre fatal.«

»Warum?«

Die beiden fuhren verdutzt herum, denn die Stimme, die ohne eine Spur von Erregung diese Frage stellte, war die eines dritten Mannes; er stand unter der Tür, wo er in der Ecke des Zimmers gegen Beobachtung vom Fenster her geschützt war.

Er war im Gesellschaftsanzug und trug einen leichten Mantel über dem Arm.

Sie konnten nicht beurteilen, was für ein Mann das sei und wie er aussehe, weil eine schwarze Maske sein Gesicht von der Stirn bis zum Kinn verhüllte.

»Bitte, rühren Sie sich nicht,« sagte er, »und betrachten Sie den Revolver in meiner Hand nicht als Drohung. Ich trage ihn nur zum Selbstschutz, und Sie werden mir zugestehn, daß ich unter diesen Umständen und in Anbetracht meiner äußerst heiklen Lage sicher berechtigt bin, diese Vorsichtsmaßregel zu treffen.«

George Wallis ließ ein unterdrücktes Lachen hören.

»Sir,« sagte er, ohne seine Stellung zu verändern, »Sie sind vielleicht ein Mann nach meinem Herzen, aber ich werde besser Bescheid wissen, wenn Sie mir genau gesagt haben, was Sie eigentlich wollen.«

»Ich will lernen,« sagte der Fremde.

Er stand da und betrachtete die beiden mit offensichtlichem Interesse. Durch die Löcher, der Maske blickten ein Paar lebhafter und scharfer Augen.

»Fahren Sie mit Ihrer Arbeit fort, bitte,« sagte er. »Es wäre mir sehr unangenehm, Sie zu stören.«

George Wallis nahm den Lötkolben wieder zur Hand und wandte sich wieder zur Schranktüre. Er war ein äußerst anpassungsfähiger Mann und eine Situation, in der er sich in die Enge getrieben fühlte, war ihm noch nicht vorgekommen.

»Da es nun einmal,« sagte er, »gar nichts ausmacht, ob ich aufhöre oder weitermache, falls Sie ein Vertreter von Gesetz und Ordnung sind, kann ich ja ebensogut fortfahren. Denn wenn Sie kein Vertreter dieser beiden verehrungswürdigen, ausgezeichneten und notwendigen Einrichtungen sind, so könnte ich mir mit Ihrem Einverständnis wenigstens die Hälfte der Beute sichern.«

»Sie können das Ganze behalten,« sagte der Mann schroff. »Ich habe nicht den Wunsch, die Früchte Ihres Raubes mit Ihnen zu teilen, sondern ich will nur in Erfahrung bringen, wie es gemacht wird. – Das ist alles.«

»Das werden Sie lernen,« sagte George Wallis, der berühmteste aller Einbrecher, »und zwar durch die Hand eines Sachverständigen, das dürfen Sie mir glauben.«

»Das weiß ich,« sagte der andre ruhig.

Ohne sich augenscheinlich durch die ungewöhnliche Unterbrechung weiter stören zu lassen, fuhr Wallis mit seiner Beschäftigung fort. Die Hände des kleinen Italieners hatten nervös gezuckt; von seiner Seite aus hätte es vielleicht zu einem Zwischenfall kommen können; aber die überlegene Stärke und Kaltblütigkeit des andern Mannes, der offenbar der führende Kopf war, hatten einen solchen Einfluß auf seinen Kameraden, daß auch er sich damit abfand, alle Folgen, die durch die Anwesenheit dieses Mannes drohen könnten, in Kauf zu nehmen. Der maskierte Fremde war es, der das Schweigen brach.

»Ist es nicht sonderbar,« sagte er, »daß es zwar technische Schulen für jede Art von Handwerk, Kunst und Gewerbe gibt, aber keine, die sich damit befaßt, die Kunst des Zerstörens zu lehren. Glauben Sie mir, ich bin sehr dankbar dafür, daß ich die Gelegenheit habe, zu Füßen eines Meisters zu sitzen.«

Seine Stimme war nicht unfreundlich, aber es lag eine gewisse Härte darin, die nicht im Einklang stand mit dem lässigen Ton, den er anschlug.

Der Mann auf dem Boden setzte seine Arbeit eine Zeitlang fort, dann sagte er, ohne den Kopf zu wenden:

»Ich möchte zu gerne genau wissen, wie Sie hereingekommen sind.«

»Ich bin Ihnen auf dem Fuße gefolgt,« sagte der Maskierte. »Ich wußte, Sie würden klugerweise einen gewissen Abstand voneinander halten. Sehen Sie,« fuhr er fort, »Sie haben dieses Geschäft schon fast eine Woche lang beobachtet; einer von Ihnen hat tatsächlich jede Nacht Dienst getan. Sie haben weiter oben in der Straße ein kleines Geschäft gemietet, das Ihnen die Beobachtung dieses Grundstückes erlaubte. Ich schloß daraus, daß Sie heute morgen Ihr Gas mitgebracht hatten. Sie hätten sich diese Nacht ausgesucht. Während Sie in dem dunklen Torweg des Hauses, in dem Ihr Bureau liegt, warteten, hat einer von Ihnen aufgepaßt, wann das Licht ausgehen und Herr Gilderheim das Haus verlassen würde. Nachdem er weggegangen war, kamen Sie, Sir,« – er zeigte auf den Mann auf dem Boden – »unverzüglich heraus, Ihr Kamerad jedoch folgte nicht sofort. Außerdem blieb er unterwegs stehen, um ein kleines Bündel Briefe aufzuheben, das anscheinend ein zerstreuter Mensch hatte fallen lassen, und da sich unter diesen Briefen zwei versiegelte Päckchen befanden, wie sie die Geschäftsleute von Hatton Garden an ihre Kunden zu versenden pflegen, war es mir möglich, der Beobachtung des zweiten Mannes zu entgehen und Ihnen dicht auf den Fersen zu folgen.«

Callidino lachte leise.

»Das stimmt,« sagte er, dem Mann auf dem Boden zunickend. »Das war sehr geschickt gemacht. Ich vermute, Sie ließen das Paket fallen?«

Der Mann mit der Maske neigte bejahend den Kopf.

»Machen Sie bitte weiter,« sagte er, »lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten.«

»Und was soll geschehen, wenn ich fertig bin?« fragte George, immer noch sein Gesicht dem Schrank zuwendend.

»Soweit ich in Betracht komme, nichts. Sobald Sie Ihre Arbeit erledigt und herausgeholt haben, was hier herauszuholen ist, werde ich mich zurückziehn.«

»Sie wollen Ihren Anteil haben, nehme ich an?«

»Durchaus nicht,« sagte der andre ruhig. »Ich will unter keinen Umständen einen Anteil. Ich habe kein Recht darauf. Meine gesellschaftliche Stellung hindert mich, auf dem schlüpfrigen Pfade weiter zu gehn, als bei Ihrem Diebstahl ein Auge zuzudrücken.«

»Kapitalverbrechen,« verbesserte der Mann auf dem Boden.

»Kapitalverbrechen,« stimmte der andre zu.

Er wartete, bis die schwere Safetür geräuschlos aufging und George die Hand hineinsteckte, um den Inhalt herauszuholen; dann schritt er ohne ein weiteres Wort zur Türe und schloß sie hinter sich.

Die beiden Männer setzten sich auf und lauschten. Sie hörten nichts weiter; einzig das leise Einschnappen der Haustüre verriet ihnen, daß ihr merkwürdiger Besucher das Haus verlassen hatte.

Sie sahen einander an ... Interesse lag auf dem Antlitz des einen, auf dem des anderen Belustigung.

»Ein seltsamer Kerl,« sagte Callidino.

Der andre nickte.

»Äußerst seltsam,« erwiderte er, »und noch seltsamer wird es sein, wenn wir heute nacht mit unsrer Beute aus Hatton Garden hinauskommen.«

Es schien, daß tatsächlich das ›Noch Seltsamere‹ eintraf, denn niemand sah die Juwelendiebe fortgehen; und der Einbruch in Gilderheims Juwelenschrank gab einen ebenso interessanten Gesprächsstoff ab wie die Aussichten Sunstars für das große Rennen.

2 – Sunstars großes Rennen

Da war es wieder!

Jetzt war es zu hören, sanft und leidvoll über dem Wirrwarr von Lauten und dem Stimmgemurmel schwebend, dann versank es wieder, gleich einem verlorenen goldenen Faden, der verfangen im grauen Gewebe des Alltags aufglüht und erlischt ... Gilbert Standerton horchte gespannt und bemühte sich, den Ort, woher die Töne kamen, festzustellen.

Es war die ›Melodie in F-Dur‹, die der Musiker spielte.

»Es wird einen Gewittersturm geben.«

Gilbert hörte die Stimme nicht. Er saß mit den Händen um die Knie und schweißüberströmtem Gesicht auf dem Bocke eines Wagens.

In seiner Haltung lag etwas Tragisches, das fast ein wenig Besorgnis erregen konnte. Das Profil, das er seinem gereizten Freunde zuwandte, zeigte klassische Linien – eine hohe und wohlgeformte Stirn, eine vielleicht etwas lange Nase, ein starkes und entschlossenes Kinn.

Als Leslie Frankfort zu dem geistesabwesenden Träumer aufblickte, mußte er an das landläufige Bild von Dante denken, obwohl Dante niemals einen steifen Hut trug oder ein so ausschließliches Interesse für die Menschenmenge an einem Renntage gezeigt hätte.

»Es wird ein Gewitter geben.«

Leslie kletterte die paar Trittbretter hinauf und ließ sich auf den Sitz neben Gilbert fallen. Der andre fuhr aus seiner Träumerei auf.

»Wirklich?« fragte er und wischte sich die Stirne ab.

Doch als er um sich schaute, lenkte er seine Augen nicht auf die dunklen Wolken, die sich über Banstead ballten, sondern auf die dichtgedrängten Massen von Männern und Frauen, auf die grellen Plakate, die eindringlich den guten Ruf und die Gründung der ›alten Firma‹ verkündeten; auf die Bretterbuden am Hügel, die lange Reihe von Leinwandplanen, die man aufgestellt hatte, um irgendeinen Whisky anzupreisen; die dünnen Gerüste der Tribünen an der entgegengesetzten Seite der Rennbahn; die Geschäftigkeit, der Lärm und das lebensvolle Treiben der unübersehbaren Menschenmenge ließen auch ein Junigewitter als belanglos erscheinen.

»Wenn Sie nur wüßten, wie bemitleidenswert Sie mit Ihren herabgezogenen Brauen aussehn,« sagte Leslie Frankfort etwas verärgert, aber gutmütig, »so würden Sie nicht in einer Pose dasitzen wie für ein Bild des ›ruinierten Spielers‹. Mein lieber Freund, mit Ihrem langen, trübseligen Gesicht würden Sie ein gutes Modell für einen Farbdruck abgeben, der in der Weihnachtsnummer der Anti-Spielzeitung erscheinen müßte. Ich vermute, es gibt so eine Zeitung.«

Gilbert lachte kurz.

»Diese Menschen interessieren mich,« sagte er, sich zum Sprechen aufraffend. »Können Sie sich nicht vorstellen, was sie alles im Kopfe haben? Jeder einzelne von ihnen stellt eine eigene Persönlichkeit dar, jeder von ihnen trägt eine Hoffnung oder eine Furcht in seinem Herzen; jeder einzelne hat die Fähigkeit, zu lieben, zu hassen oder zu trauern. Schauen Sie auf den Mann dort!« sagte er und deutete mit seinem langen nervösen Finger.

Der Mann, auf den er zeigte, stand in einer kleinen grünen Oase, wo der Verkehr des Publikums so geregelt war, daß ein freier Platz blieb; in dessen Mitte war ein Mann von mittlerer Größe mit einem schwarzen steifen Hut im Nacken und einer langen dünnen Zigarre zwischen seinen weißen, regelmäßigen Zähnen zu sehen. Er war zu weit entfernt, als daß Leslie diese Einzelheiten hätte unterscheiden können, aber Gilbert Standertons Vorstellungskraft ergänzte die Lücken des Bildes, denn er hatte diesen Mann schon einmal gesehn.

Als fühle er die beobachtenden Blicke, drehte sich der Mann um und kam langsam zu dem abgegrenzten Wagenplatz heran. Er nahm die Zigarre aus dem Munde und lächelte, als er den Herrn auf dem Bocke erkannte.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«

Seine Stimme klang schrill und dünn, als läge eine unermeßliche Entfernung zwischen ihnen, aber er schrie offenbar laut, um seine Stimme über das Stimmgebrause der Menge zu erheben. Gilbert winkte lächelnd mit der Hand, worauf sich der Mann mit einem Lüften des Hutes umwandte und in einem Menschenschwarm verschwand, der ihn verschluckte.

»Ein Dieb,« sagte Gilbert, »und zwar einer von hübsch großem Format – er heißt Wallis; es gibt viele Wallise hier. Für einen denkenden Menschen ist solch eine Menge ein schreckliches Schauspiel.«

Der andre blickte ihn scharf an.

»Die Menschenmenge wird erst etwas Schreckliches, wenn man bei einem Gewittersturm durch sie hindurch muß,« sagte er als praktischer Mann. »Ich bin dafür, wir gehn fort und holen das Auto.«

Gilbert nickte. Er erhob sich steif wie ein Mann mit Krampf in den Beinen und stieg langsam die Stufen auf den Boden hinab. Sie gingen durch die Einfriedung und überquerten die Bahn, kamen durch den kleinen Sattelplatz, dann durch lange Gänge, wo Presseleute, Jockeis und Kellner sich wie immer an Renntagen durcheinander drängten. Dann waren sie draußen auf der Hauptstraße. Auf dem mit Seilen umspannten Autopark fanden sie ihren Wagen und, was verwunderlicher war, ihren Chauffeur.

Zweimal schon hatte das erste Flackern blauer Blitze auf die Downs niedergezuckt und warnendes Donnergekrach die schwüle Luft erschüttert, als der Wagen sich in den Verkehrsstrom nach London einzufädeln begann. Das Gewitter, das sich schon den ganzen Nachmittag über zusammengebraut hatte, brach mit furchtbarer Wut über Epsom los. Es blitzte unaufhörlich, der Regen stürzte in einem fast undurchdringlichen Wasserschwall hernieder und ein Donnerkrach nach dem andern betäubte ihre Ohren.

Der große Menschenschwarm auf dem Hügel löste sich auf, als zerfließe er; die Ränder des Schwarmes fransten sich zu langen schwarzen Wimpeln aus; die Leute eilten schleunigst zu den drei Bahnstationen. Es erforderte außergewöhnliche Geschicklichkeit, das Auto aus dem Chaos von Kremsern und Autodroschken, zwischen denen es eingekeilt war, herauszuwinden.

Standerton hatte den Platz neben dem Chauffeur eingenommen, obwohl es ein geschlossener Wagen war. Er war ein Mann von rascher Beobachtungsgabe und schon beim zweiten Blitz hatte er gesehn, wie das Gesicht des Chauffeurs weiß wurde und seine Lippen zuckten. Eine fast nächtliche Dunkelheit bedeckte den Himmel. Ringsherum war der Horizont von einem trübe-drohenden, orangefarbenen Dunst eingesäumt; ein so schreckliches Unwetter hatte man seit vielen Jahren in England nicht erlebt.

Obwohl der Regen in Strömen herabkam, achtete der junge Mann neben dem Chauffeur nicht darauf. Er beobachtete die nervösen Hände des Mannes, die das Rad hin und her wenden mußten, da der Wagen einen Seitenweg nach dem andern nehmen mußte, um die vollgepfropfte Hauptstraße zu vermeiden.

Plötzlich flackerte ein Lichtstreifen vor dem Wagen auf und Standerton wurde durch ein Krachen betäubt, das noch furchtbarer als die vorausgegangenen Donnerschläge war.

Der Chauffeur prallte instinktiv mit schreckensbleichem Gesicht zurück; seine zitternden Hände ließen das Steuerrad und sein Fuß das Pedal los. Der Wagen wäre zum Stehen gekommen, wären sie nicht gerade am Rande einer Böschung gewesen.

»Mein Gott!« wimmerte er, »es ist schrecklich. Ich kann nicht mehr weiter, Sir.«

Schon war Gilbert Standertons Hand am Rad und sein elegant beschuhter Fuß am Bremspedal.

»Machen Sie, daß Sie wegkommen!« sagte er grimmig. »Rasch hier herüber!«

Der Mann gehorchte und schob sich zitternd, mit den Händen vor dem Gesicht, auf den Platz seines Herrn, während Standerton auf den Führersitz rutschte und die Kuppelung einschaltete.

Es war ein Glück, daß er ein hervorragend geschickter Fahrer war; aber er mußte seine ganze Kunst aufbieten, um den Wagen den Hang hinabzubringen, der zu den lehmigen Downs führte. Als sie stoßweise vorwärts kamen, ging wieder ein Platzregen los, so daß der Boden von einer Wasserflut wie bei einer Überschwemmung bedeckt war. Die Räder des Wagens rutschten und glitschten auf dem fettigen Boden, aber der Mann am Steuerrad behielt seinen klaren Kopf und brachte den großen Wagen allmählich, nachdem er einen kleinen Hang hinabgeglitten war, wieder auf die Hauptstraße. Sie war besät mit eilig trampelnden Menschen; nur langsam kam er unter fortwährendem Hupen vorwärts, bis der Wagen plötzlich mit einem Stoß stehen blieb.

»Was ist los?«

Leslie Frankfort hatte das Fenster geöffnet, das den Führersitz von den Insassen des Wagens trennte.

»Dort ist ein alter Mann, dort,« sagte Gilbert über die Schulter zurück, »haben Sie etwas dagegen, ihn mit in den Wagen hineinzunehmen? Ich werde Ihnen nachher sagen warum.«

Er deutete auf zwei klägliche Gestalten am Straßenrand. Es war ein alter Mann und ein Mädchen; Leslie konnte ihre Gesichter nicht deutlich sehn. Sie standen mit dem Rücken gegen den Sturm gekehrt und hatten einen dünnen Mantel über sich gebreitet.

Gilbert rief etwas, und auf den Klang seiner Stimme hin wandte sich der Alte um. Er hatte ein schönes Gesicht; es war schmal, feingeschnitten und geistig: das Gesicht eines Künstlers. Sein graues Haar hing über den Kragen und unter dem Mantel hielt er etwas, dessen Schutz ihm mehr am Herzen zu liegen schien als sein eigener Schutz vor dem erbarmungslosen Platzregen.

Das Mädchen an seiner Seite mochte etwa siebzehn Jahre alt sein; es war ein schwermütig blickendes Kind, das mit seinen großen furchtlosen Augen die Insassen des Wagens ernst musterte. Der alte Mann zögerte bei Gilberts Einladung, aber als dieser ihm ungeduldig winkte, brachte er das Mädchen über die Straße herüber, und Leslie öffnete die Tür.

»Springen Sie rasch herein,« sagte er. »Weiß Gott, Sie sind hübsch naß!«

Er schlug die Tür zu und sie setzten sich ihm gegenüber. Sie waren in einem kläglichen Zustand; das Kleid des Mädchens war völlig durchweicht und ihr Gesicht so naß, als wäre sie gerade aus dem Bade gekommen.

»Legen Sie den Mantel ab,« sagte Leslie kurz. »Ich habe ein paar trockene Taschentücher; ich fürchte allerdings, Sie brauchen eher ein Badetuch.«

Sie lächelte. »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen,« sagte sie. »Wir werden Ihren Wagen verderben.«

»Oh, das macht gar nichts,« erwiderte Leslie heiter. »Es ist übrigens nicht mein Wagen. Auf jeden Fall,« fügte er hinzu, »wenn Herr Standerton hereinkommt, wird er ihn noch viel schlechter zurichten.«

Er fragte sich verwundert, welch wunderliche Laune Standerton veranlaßt haben mochte, diesen beiden Leuten eine Zuflucht in seiner Limousine zu gewähren.

Der Alte lächelte, als er zu sprechen begann, und seine ersten Worte enthielten eine Erklärung.

»Herr Standerton ist immer sehr gut zu mir gewesen,« sagte er höflich, fast demütig.

Er hatte eine sanfte, wohllautende Stimme. Leslie Frankfort merkte, daß es die Stimme eines gebildeten Mannes war. Er mußte lächeln; denn er war schon zu sehr an Begegnungen mit Standertons Freunden gewöhnt, als daß er über diese regendurchweichten Straßenmusikanten überrascht gewesen wäre; als solchen schätzte er ihn wenigstens ein nach dem Hals der Geige, der aus seinem durchnäßten Mantel herauslugte.

»Sie kennen ihn also?«

Der alte Mann nickte.

»Ich kenne ihn sehr gut,« erwiderte er.

Er holte das Instrument, das er unter dem Mantel hielt, hervor und Leslie Frankfort sah, daß es eine alte Geige war. Der Alte prüfte sie ängstlich, dann legte er sie mit einem Seufzer der Erleichterung auf seine Knie.

»Hoffentlich hat sie keinen Schaden erlitten?« fragte Leslie.

»Nein, Sir,« sagte der andre. »Ich hatte schon große Angst, der Tag, der so ersprießlich gewesen war, könnte ein schlimmes Ende nehmen.«

Sie hatten auf den Downs gespielt und einen reichen Verdienst eingeheimst.

»Meine Enkelin spielt auch,« sagte der Alte. »Wir lieben zwar sonst die große Menge nicht, aber sie bedeutet jedesmal Geld« – er lächelte – »und unsere Lage erlaubt uns nicht, irgendeine günstige Gelegenheit von der Hand zu weisen.«

Sie waren nun aus dem Bereich des Unwetters; nachdem sie Sutton hinter sich hatten und in einer Gegend angelangt waren, wo die Straßen fast noch trocken waren, hielt Gilbert mit dem Wagen an und übergab das Steuerrad dem beschämten Chauffeur.

»Es tut mir sehr leid, Sir,« begann der Mann.

»Oh, regen Sie sich nicht darüber auf,« lächelte sein Herr; »man braucht sich nicht zu schämen, weil man vor einem Gewitter Angst hat. Mir war früher ebenso übel zumute, bis ich dieser Schwäche Herr geworden bin ... es gibt noch schlimmere Sachen,« fügte er, halb für sich, hinzu.

Während der Mann einige Worte des Dankes stammelte, öffnete Gilbert die Wagentür und stieg ein. Er nickte dem alten Mann zu und begrüßte das Mädchen mit einem kurzen Lächeln.

»Ich habe Sie gleich erkannt,« sagte er. »Das ist Herr Springs,« wandte er sich an Leslie. »Er ist ein sehr alter Freund von mir. Wenn Sie bei St. Johns Wood gespeist haben, haben Sie sicher Springs Geige unter dem Eßzimmerfenster gehört. Es gehörte zum Programm, nicht wahr Herr Springs?« sagte er. »Übrigens,« fragte er plötzlich, »spielten Sie ...«

Er brach ab, und der alte Mann, der den Sinn der Frage mißverstand, nickte bejahend.

»Jedenfalls,« fuhr Gilbert, plötzlich einen andern Ton anschlagend, fort, »wäre es nicht menschlich gewesen, meine Privatkapelle in den Epsom Downs ertrinken zu lassen, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß sie vom Blitz erschlagen würde.«

»Bestand denn diese Gefahr?« fragte Leslie überrascht.

Gilbert nickte.

»Als ich durch die Downs fuhr, sah ich, wie ein armer Teufel getroffen wurde,« sagte er. »Eine Menge Leute hatten sich um ihn versammelt. Darum habe ich mich nicht um ihn gekümmert und angehalten. Es war ein schrecklicher Anblick.«

Er schaute durch das kleine ovale Fenster nach rückwärts.

»Wir werden es heute abend noch in London haben,« sagte er, »aber in der Stadt wirken Gewitter nicht so gefährlich wie auf dem Lande, sie sind nicht so aufregend. Die hohen Hausdächer haben etwas Beruhigendes für nervöse Leute.«

In Balham verabschiedeten sie sich von dem alten Mann und seiner Enkelin; als der Wagen seine Fahrt fortsetzte, wandte sich Leslie mit einem verblüfften Ausdruck an seinen Gefährten.

»Sie sind ein wundervoller Mensch, Gilbert,« sagte er; »ich werde nicht klug aus Ihnen. Erst heute morgen haben Sie sich selbst als ein Nervenwrack bezeichnet ...«

»Habe ich das gesagt?« fragte der andre trocken.

»Nun, Sie haben es nicht mit diesen Worten gesagt,« erwiderte Leslie mit bekümmerter Miene, »aber es war eine ähnliche Schilderung, die Ihnen offenbar zusagte. Und dann, angesichts eines Unwetters, das mir offengestanden eine gehörige Angst einjagte, nehmen Sie einfach den Platz Ihres Chauffeurs ein und steuern den Wagen durch das Gewitter. Außerdem haben Sie noch so viel Umsicht, einen alten Mann aufzulesen, obwohl Ihnen niemand den geringsten Vorwurf hätte machen können, wenn Sie ihn seinem üblen Schicksal überlassen hätten.«

Gilbert antwortete nicht gleich; dann lachte er ein wenig bitter.

»Es gibt dutzenderlei Arten von Nervosität,« sagte er, »und diese ist zufällig keine von mir. Der Alte ist ein wichtiger Faktor in meinem Leben, obwohl er es nicht weiß – nichts weniger als das Werkzeug des Schicksals.«

Fast feierlich ließ er seine Stimme sinken. Dann schien ihm einzufallen, daß der neugierige Blick des andren auf ihn gerichtet war.

»Ich weiß nicht, wie Sie zu dem Eindruck gekommen sind, ich sei ein nervöses Wrack,« sagte er kurz. »Es ist kaum die ideale Verfassung für einen Mann, der sich in dieser Woche verheiraten will.«

»Das ist vielleicht die Ursache, mein lieber Freund,« erwiderte der andre bedächtig. »Ich kenne eine ganze Anzahl von Leuten, die in Anbetracht dieser Aussicht unheimlich aufgeregt waren. Da war zum Beispiel Tuppy Jones, der einfach davongelaufen ist – er hätte sein Gedächtnis verloren, oder irgend so einen Schwindel haben die Zeitungen behauptet.«

Gilbert lächelte.

»Ich tat etwas, das gleich nach dem Davonlaufen kommt,« entgegnete er ein wenig verstimmt. »Ich habe um Verschiebung der Hochzeit gebeten.«

»Aber warum?« forschte der andre. »Ich wollte Sie schon heute morgen, als ich Sie abholte, danach fragen, aber dann ist es mir aus dem Gedächtnis entschwunden. Frau Cathcart sagte mir, sie wolle nichts davon hören.«

Obgleich Gilbert ihn nicht ermutigte, das Thema weiter zu verfolgen, fuhr der gesprächige junge Mann fort:

»Nimm die Gabe der Götter an, mein Sohn,« sagte er. »Da haben Sie nun eine Stelle im Auswärtigen Amt. Der Posten eines Unterstaatssekretärs steht Ihnen in absehbarer Zeit in Aussicht, dazu eine ganz entzückende und schöne Braut, Sie sind reich ...«