Die Merkwürdigkeiten des Klaus-Rüdiger Mützenhausen - Peter Böttger - E-Book

Die Merkwürdigkeiten des Klaus-Rüdiger Mützenhausen E-Book

Peter Böttger

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Beschreibung

Klaus-Rüdiger Mützenhausen hat eine sehr liebe, fast zu verständige Frau, die Martha. Auch sie kann nicht verhindern, dass er in jedes sich auftuende Fettnäpfchen hineintritt. Er ist Beobachter, Kritiker, Kritikaster, Besserwisser. Manchmal amüsiert, manchmal bissig prangert er die Macken seiner Zeitgenossen an. Er hat nur nicht die Schreibe dazu. Daher hat er den Böttger. Nach zwei Büchlein, DER PANAMAHUT und DIE TIEFBUNDHOSE hatte er der dauernden Beobachtung seiner Mitmenschen abgeschworen. Nach der Coronazeit samt verlorenem Prozess kam er in finanzielle Schwierigkeiten. Er überredete den Böttger, seinen alten Kumpel, die Büchlein zu aktualisieren und die neue Sammlung DIE FLIEGE zu einer Trilogie zusammen zu fassen.

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Im Gedenken an Elfi

„Vollends sind die Greise gefährlich, denen die Erinnerung der vergangenen Dinge geblieben, aber die Erinnerung , sie schon zehn Mal erzählt zu haben, verloren gegangen ist.

Michel de Montaigne (1533 – 1592)

Inhaltsverzeichnis

Der Panamahut

Die Tiefbundhose

Die Fliege

Der Entschluss, dieses Werk zusammen zu stellen und heraus zu geben, war schwer und hat uns beinahe unsere Freundschaft gekostet. Herr Mützenhausen hat letztendlich aus pekuniären Gründen zugestimmt, zumal durch die Weltlage der Strom, das Gas und so manches Andere teuer wurden. Wegen der großen Erfolge der beiden Bücher „Der Panamahut“ und „Die Tiefbundhose“ schlug ich ihm vor, mir wieder Neues, was ihm begegnen würde, zu berichten, damit ich es in meine Worte kleiden könnte. Und dann alles in einem Kompendium unseren alten und neuen Lesern darzubieten. Die beiden genannten Bücher (Teile 1 und 2) sind hier überarbeitet, weil bessere Einsichten mit meinem Alter gewachsen sind und weil manches, was damals zeitbezogen war, heute nur mit zusätzlicher Erklärung verstanden würde. Aber ein Witz, den man erklären muss, ist keiner mehr. – Zum Titel: Hören wir, diese oder jene Sache sei merkwürdig, denken wir im heutigen Sprachgebrauch sie ist unklar, verwunderlich, sogar mysteriös. Hier ist der Hauptprotagonist eine merkwürdige Person; aber er ist es auf liebenswürdige Weise, schrullig, ulkig, auch kauzig.

Seinem Vorschlag, den Vermerk „Ausgabe letzter Hand“ bin ich nicht nachgekommen.

Peter Böttger Dresden Dezember 2023

DER PANAMAHUT

und andere Mitteilungen

des ostdeutschen Rentenbeziehers

Klaus-Rüdiger Mützenhausen

Die handelnden Personen sind nicht erfunden. Ähnlichkeiten sind beabsichtigt.

DER PANAMAHUT

Der Hut und der Mut, einen zu tragen, seine Behandlung

Aus dem Katalog eines Versandhandels, der speziell für Besserverdienende feine Dinge bereithält, wie zum Beispiel das Lieblingsparfüm der Rassehündchen Elisabeths II., den Föhn der Hollywoodstars, ein Abo auf die monatliche Lieferung von Grönlandeis für unseren wertvollen Whisky, Original-Fundstücke aus berühmten Wracks, ein Golfbag aus argentinischen Südhang-Bullenleder mit Satellitenortung und vieles Nützliche mehr, hatte ich vor drei vier Jahren einen echten Panamahut bestellt und auch bekommen.

Es ist der gleiche Panamahut, wie ihn Bundespräsident Köhler vor kurzem bei einer Auslandsreise trug. Nur seine Hutkrempe war schlecht modelliert, nämlich vorne hoch gestülpt. Man hat das früher bei Kossygin und Chrustschow gesehen. Sieht bescheuert aus. Das Protokoll des Bundespräsidialamtes sollte besser auf den Chef achten! Vor lauter Begeisterung, dass der Mann meinen Geschmack teilt, habe ich vergessen, wo diese Reise hingegangen war, weil ich in dem Moment, als es der Reporter sagte, nach Martha rief, damit sie sich das auch angucken sollte. Wenn ich scharf überlege, war die Unaufmerksamkeit schon auf meinen Entschluss zurück zu führen, mich nicht mehr von den täglichen Schreckensnachrichten und Gemeinheiten aus dem In- und Ausland beeindrucken zu lassen. Meine letzten dreißig Jahre sollen der seelischen Ruhe und höheren Interessen gewidmet sein. Er hat kein Schweißband, mein Hut, daher kann man ihn zusammenrollen und in den Koffer packen. So steht es in dem Katalog. Aber ich würde niemals mit meinem Hut so rüde umgehen. Denn seit meiner Jugend habe ich mir ein gutes Verhältnis zu Hüten bewahrt. Zum Beispiel packe ich keinen Hut mit drei Fingern von vorn bei den markanten Dellen mit der dazwischen liegenden Mittelfalte. Wo möglich würde ich ihn quetschen. Nein, ich fasse alle meine Hüte immer an der Krempe an, wenn nötig, beidseitig. So habe ich es bei den Bayern mit ihren teuren Trachtenhüten gesehen. Auch bei Rabbinern, die spezielle schwarze Hüte tragen, kann man diesen schonungsvollen Umgang mit dem Hut an sich beobachten. Einmal nahm eine Aushilfskraft an der Garderobe des Opernhauses meinen regennassen Hut unmanierlich von vorn oben zwischen die Finger, als wolle sie eine scharfe dreikantige Spitze formen. Man sieht solche Verunstaltungen an Hüten, die etliche Jahrzehnte in Schrebergärten bei der Arbeit getragen wurden. „Sie sollen meinen Hut aufbewahren, nicht umpressen!“, rief ich der Aushilfsgarderobiere zu, worauf sie mich verständnislos anstarrte. Martha stieß mich unter den gezischten Worten: „Verdirb uns nicht den Abend mit deinem Hutfimmel!“, in die Rippen.

Mit meinem Panamahut besuche ich bei schönem Wetter gerne die Altstadt und wurde neulich vom Kellner sofort englisch angesprochen. Es war noch ein gelernter Kellner. Damengruppen, die sich im Zwinger oder vor der Frauenkirche fotografieren lassen, nehmen mich oft mit auf das Foto, besonders Japanerinnen; spekulativ lieben sie große Männer.

„Hallo“, dachte ich, „was werden die Polinnen in Polen sagen, wenn ich dort mit meinem Panamahut aufkreuze, wo ich doch mit Martha dorthin zur Kur fahren will.“ Mit dem Bus werde wir fahren, nicht fliegen, denn damals im Flugzeug nach Fuerte Ventura musste ich meinen Panamahut aufbehalten, weil die Gepäckboxen voll waren und ich auf gar keinen Fall darauf vertrauen wollte, dass die Leute meinen Hut anständig, wie es sich gehört, behandeln würden wenn sie ständig irgendetwas aus ihren Taschen, Jacken oder Board-Cases 1⁾ holen oder wieder hineinstecken. Auf Fuerte Ventura bin ich dann an einen störrischen Palmenwedel gestoßen; die haben dort extra endemische, kurzstämmige Palmen, und die Folge davon war ein Riss im Hutdom, den ich aber mit Heftpflaster von innen einwandfrei schließen konnte. Seither achte ich darauf, dass niemand hineinsehen kann, wenn ich den Hut in der Hand trage. Es wäre peinlich, so ein feiner Hut, aber innen geflickt. Im Kur-Kleinbus nach Polen war genug Platz für meinen Panamahut und es bestand keine Gefahr, dass ihn jemand hätte ungebührlich behandeln können, denn wir waren mit dem Fahrer nur zu viert. Der dritte Passagier war eine nette Frau aus unserer Nachbarschaft, gut so, da brauchte der Fahrer nicht erst nach Paderborn fahren, um jemanden einzusammeln, wie es uns schon vorgekommen war. Ach, wie hieß noch das Ziel? Der ehemalige deutsche Name lautete OSTSEEBAD HORST, was für damalige pommersche Verhältnisse marketingmäßig gewagt war, denke ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer meiner Großväter, der eine war Herrenausstatter, auch er trug im Sommer Panamahut, mit Familie hätte in diese Abgelegenheit fahren mögen, wenn es Zempin oder Zinnowitz oder Ückeritz auch taten.

Der böse Blick, Rote-Beete-Quark,

Wir waren nach sieben Stunden da. Die Sonne schien nicht als wir vor dem Kurhotel auspackten und ich unverzüglich den Panamahut aufsetzte, um die Hände für den einen Koffer und Marthas Beauty-Case (Kosmetikkoffer) frei zu haben. Eine weißhaarige Bauersfrau aus der Magdeburger Börde guckte ziemlich spöttisch an mir hoch, was mir meine Erfahrungen über die Modeansichten bestimmter Kreise bestätigte.

Zum ersten Abendessen erschien ich mit Martha leicht verspätet und gewahrte die Frau vom Nachmittag. Sie hatte gerade mit dem Daumen auf mich gezeigt und, so konnte ich es von den welken Lippen ablesen, gesagt: „Das isser.“

Martha sagte leise: „Klaus-Rüdiger, wo schaust du denn hin? Wir haben Tisch Eins ganz vorn, wo das Büfett ist, komm ich hab Hunger.“

Wir steuerten auf Tisch Eins zu. Die vier Personen an Tisch Zwei, grüßten wir mit „Guten Abend“. Ich machte eine leichte Verbeugung, nur so ein bisschen aus der Hüfte bei seitlicher Neigung des Kopfes; das sieht immer freundlich aus. Von dort also traf uns ein abschätzender Blick aus zwei Augen. Sie erschienen mir rostrot, jedenfalls ziemlich klein, so dass es ein bohrender Blick war. Die Augen saßen in einem mürrischen, rötlich geäderten Greisengesicht, wie man es in einem Werbespot gesehen hat, in dem es um streitige überhängende Kirschbaumzweige ging. Ein Junge, der Sohn des jüngeren, freundlichen Baumbesitzers schnipste dem bösen, vergreisten Nachbarn einen Kirschkern, den er gerade aus dem Mund genommen hatte, über den Zaun hinweg ins Genick. Nach der Versöhnung! Das war so schön, ich weiß gar nicht mehr, was die Botschaft, ich meine die Message des Spots war. Dieser Blick nun ging von oben nach unten und noch einmal umgekehrt und das nacheinander auf zwei Menschen gerichtet, nämlich auf Martha und mich. Ich dachte na, macht das die Halswirbelsäule bei dem noch mit? Schließlich hat man so seine eigenen Erfahrungen mit allen möglichen Wirbelbereichen. Ich versuchte meinen Stuhl heraus zu ziehen, um mich setzen zu können, aber der große Mann, der mit dem Blick, saß auf der Stuhlkante und stocherte leicht vornüber gebeugt in einem Bohnen-Kartoffel-Eiersalat. (Rote, dicke Bohnen) Ich sagte: „Entschuldigen Sie, könnten Sie ihren Stuhl ein wenig zu ihrem Tisch hin rücken?“ Der Mann kippte sich wie eine Holzfigur auf dem Sitz leicht seitlich rückwärts. Er schaute mich auf eine Art an, dass es mich augenblicklich fror. Er schüttelte aber nicht den Kopf und sagte nicht: „Ich war eher da.“, wie ich es erwartete, sondern er ruckste in winzigen Schritten, soweit nach vorn, dass es mir gelang, mich seitlich in meine Sitzposition hinein zu drehen. Sein Manöver war von hässlichen Geräuschen der Stuhlbeine auf den Fliesen begleitet. Da mir das sofortige Wiederaufstehen zu unbequem erschien, bat ich Martha, mir vom Büfett etwas Butter, Schinken, aber nicht zu fett, Streichkäse, eher mit einem bisschen mehr Fett, weil magerer nicht schmeckt, Forellenkaviar und Lachspaste mitzubringen. „Ach und zwei Vollkornschnitten und zweimal Pumpernickel“, rief ich ihr nach. „Där lässd sich aber scheen bedien.“, hörte ich vom rechten Nebentisch. Ich gab den Witzigen und sagte dorthin gerichtet: „Wozu hat man denn schließlich geheiratet, nichwahr?“, was unerwartete Folgen hatte. Ich dachte, die Männer würden sich durch Lachen mit mir solidarisieren, also nur zum Spaß natürlich. Nein, einer stierte stur auf seinen Teller, der einen Berg aus Leberwurst, Eiersalat, Heringsfiletstückchen und einigen grünen Blattstreifen gerade noch so fassen konnte. Der andere, nicht weniger bevorratet, schaute mich blöde an und die beiden dicken Frauen mit Haarnetzen schauten sich kurz an, schüttelten den Kopf und zottelten vorsichtig, damit sich die Prothesen nicht lockerten, an ihren etwas zähen Weißbrotschnitten. Von der Schnitte der Linken rutschte rosafarbener Quark; er war mit Rote-Bete-Saft gefärbt. „Scheiße, jetzt habsch mir die Bluse ooch noch versaut.“, hörte ich die Frau sagen. Der Mann hinter mir, ich zögere, der Alte zu sagen, weil ich schließlich auch schon 71 bin, was natürlich niemand vermutet, wenn er mich en passant betrachtet, der Mann also wollte gleichzeitig mit mir aufstehen. Weil mir mein Vater eingeprägt hat, dass der Klügere nachgibt, was mir meine Lebenserfahrung nicht unbedingt bestätigt, rückte ich wieder zum Tisch hin. „So werde ich das nicht noch dreimal mitmachen.“, dachte ich und verschob die 12 Tische meiner Reihe samt Bestuhlung in der Nacht so lange, bis für mich der Abstand stimmte.

Gemischtes, Schwedenbus, Dermatologisches

Unsere ersten Behandlungen absolvierten wir gleich nach dem Frühstück. Sie waren so bemessen, dass sich die Behandlerinnen nicht gar zu sehr erschöpfen mussten. – Martha wollte schon ungeduldig werden, weil sie in den Ort strebte. Das Wetter war prächtig. „Ich komme sofort, muss nur noch meinen Hut holen“, rief ich ihr zu. Bei dem ersten Rundgang stellte ich fest, dass es ein geradeaus gerichteter Gang war, denn der Ort hat sich aus einem Straßendorf entwickelt. Aber solche Erklärungen stören Martha, daher sagte ich das auch nicht. Ich stellte weiter fest, dass die Hauptstraße laut elektronischem Schrittzähler 1365 Meter lang ist und auf zwei Seiten insgesamt 386 Kioske stehen. Silber, Bernstein (auch solcher aus Kunstharz), Muschelketten, exotische Meeresschneckengehäuse aus der Liste der geschützten Arten, Strandbedarf für Kinder und Erwachsene, federleichte Edelstahltöpfe und Pfannen, Partiewaren jeder Art, Restposten aus brand- und hochwassergeschädigten Unternehmen und Lagern in China, Eis, Räucherfisch, Gegrilltes, T-Shirts, Kleider, Blusen, Schuhe, Sandalen mit Edelsteinbesatz, Büstenhalter, Bikinis und weiteres, erst auf den zweiten Blick zu Findendes, wie zum Beispiel Kampfmesser, auch gerne mit integriertem Schlagring, Orden, Rang- und Ehrenzeichen der Wehrmacht des dritten Reiches, alles wird dort in wiederkehrender Folge feilgeboten. Die Bausubstanz der Verkaufseinrichtungen reicht von windflüchtig über abenteuerlich, fest bis solide, je nach Kapitaldecke des Betreibers. Quasi als Oasen in der Warenwüste waren kleine fliegende Stände zu finden, an denen freundliche Männer den Ertrag ihrer polnischen Immen zu christlichen Preisen anboten. Ich konnte in einigen Vorgärten und zwischen zwei Grundstücken noch Lücken für den aufstrebenden Merkantilismus entdecken. Viele Händlerinnen und Händler fassten mich, das heißt den Panamahut, ins Auge und entschieden auf Grund ihrer Erfahrungen mit Menschen augenblicklich, ob ich für sie als potentieller Kunde infrage käme oder nicht. Anders als die Händler in der Türkei benutzte aber niemand von den eingeborenen Hökerinnen und Hökern die offensive Art des Werbens, sie blieben nur stehen oder wendeten sich ab. Ich bin mir aber bis heute noch nicht sicher, ob damals die Türken anders reagiert hätten, wäre ich mit Panamahut aufgetreten. Vielleicht hätten sie mich mit Hut nicht unterschiedslos zur Masse der Touristen zu ihren fabelhaften Fälschungen hin gezerrt.

Erst nach der groben Inspektion des, die Szene beherrschenden, ambulanten Handels konnten wir die Häuser betrachten, sehr hübsche, saubere Häuser und Häuschen! An der Baustelle des neuen Hotels „Del Mare“ war Ruhe. Seit mindestens zwei Spargelsaisons. Weil der Bauherr seit Winter in einer englischen Müllverbrennungsanlage als Greiferführer jobbte, konnte er nicht weitermachen, aber es wird bestimmt ein Hotel, eines Tages. Ich hatte den Bericht des Nachbarn der Hotelbaustelle erst falsch verstanden. Nicht der Bauherr allein jobbte in England, sondern auch der Inhaber des Baubetriebes, weil ihm der sogenannte Schwedenbus in zwei Tranchen die Bauarbeiter von der Baustelle weg, eben nach Schweden, abgeworben hatte.

In dem Moment war ich froh, dass kein deutscher Unternehmer an dem Dilemma schuld war und dankte dem auskunftsfreudigen polnischen Freund mit einem leichten Antippen der Krempe meines Panamahutes, was der Mann freudig erstaunt verfolgte.

Wir wichen nun in eine Seitenstraße ab, dorthin, wo wir den Strand hinter duftenden Kiefern vermuteten. Richtig, da kam uns der Deich entgegen. Wir gingen schnell, um rechtzeitig zum ersten Mittagessen erscheinen zu können. Auf dem Kulminationspunkt des betonierten Strandaufganges machten wir „Aaah“, weil das Meer, das baltische, vor uns lag. Ich bin ein romantischer Typ, aber aus dem Grunde des Essengehenmüssens schwärmte ich gegenüber Martha diesmal nicht von den Farben des Himmels, die wir im Wasser wiederfinden, dass ein bestimmtes Blau mit der Tonart a-Dur, metaphysisch gesehen, verwandt sei, und sparte andere Assoziationen, die Martha von mir seit langem kennt, aus. Ich rekognoszierte lediglich, dass es keine Strandkörbe gab und hegte Bedenken, ob ich ohne Knie-, Hüft-, und Kreuzbeschwerden wieder hoch kommen werden könnte, setzte ich mich in den Sand.

Ich drückte meinen Panamahut wegen des frischen Lüftchens ein wenig fester auf den Kopf, vorsichtig mit beiden Handflächen, um den Druck etwas zu verteilen. Da hörte ich hinter mir das Murmeln eines Mannes und danach leise meckerndes weibliches Gelächter. Ich wollte mich sowieso zum Gehen umdrehen, also tat ich es. Da saß der Rücktischnachbar mit seiner Frau auf der niedrigen Betonbrüstung des strandhaferbewehrten Deiches. Sie schauten augenblicklich weit aufs Meer hinaus, so als wären wir gar nicht da.

Ich berichtete Martha im Weggehen, was mir bei meinem ersten Blick auf die Glatze des Mannes, als ich ihn bat, ein wenig vor zu rücken, aufgefallen war.

Meine Diagnose lautete nämlich, auf Grund eigener Erfahrungen: „Aktinische Keratosen“ (Keratosis solaris), was Verhornungen der von vielen Sonnenbränden geschädigten Kopfhaut bei ausgeprägter Pigmentstörung bedeutet. Bei mir kam das aus der Zeit zwischen Haarausfall in der Wirbelzone und dem Erwerb des Panamahutes. Der deutsch-kasachische Hautarzt, der einzige in unserer Stadt, bei dem für gesetzlich Versicherte ein Termin unter drei Monaten, sogar innerhalb einer Woche, zu bekommen ist, hatte mir nach der erfolgreichen Behandlung meiner wenigen kleinen Stellen verordnet: „Aberr in Sommerr – Chut!“ Ich sagte ihm damals nichts von meinem Panamahut, denn ich gebe nicht an, ich nickte nur bedeutsam.

„Ob der überhaupt weiß, was sich optisch und physiologisch auf seiner Glatze abspielt?“ fragte ich Martha auf den Tischnachbarn bezogen. Sie wusste es nicht. „Sitzt barhäuptig am Strand in der prallen Sonne und macht sich lustig über meinen Hut.“

Wir gingen nicht gleich zu Tisch, weil ich meinen Panamahut nur im Zimmer aufbewahre und Martha Make-up und Frisur kontrollieren musste. Ich bürste natürlich den silbernen Halbkranz um meine Glatze ebenfalls, bevor ich unter Menschen gehe; manchmal tupfe ich ein wenig GLOSSING CREAM STYLE AND SHINE WITH PURE OLIVE OIL in die Handflächen und fahre abschließend großflächig über das Haar, des brillanten Glanzes wegen.

Zu unserem ersten Mittagessen betraten wir den Saal. Ich würdigte besagten Mann keines Blickes, nur die allzu gutmütige Martha grüßte leise im Vorbeigehen. Schwungvoll zog ich meinen Stuhl heraus und ehe ich mich setzte, fragte ich Martha laut: „Soll ich dir einen Wein holen, Liebling?“ Dabei kontrollierte ich aus dem Augenwinkel den Nachbartisch, von wo ich nur ein knarksendes Geräusch vernahm, wie es entsteht, wenn man mit geschlossenen Lippen das Lachen unterdrückt. „Hat gesessen!“, dachte ich. „Die machen künftig einen Bogen um mich.“ Ich vermute, an Tisch Zwei hat man sich nur verständnisinnig, quasi zur Bestätigung der gemeinsam gefassten Meinung „Der spinnt!“, zugenickt.

Die Frau mit der bekleckerten Bluse trug jetzt ein in den Ausschnitt geklemmtes Leinentaschentuch als Serviette, konnte aber damit niemals ihre riesige Vorderfront abdecken. – Das Essen war gut. Als Vorsuppe hatte die Köchin eine klare Consommé bereitet. An jedem zweiten Tag gab es dann Suppen, die ich als Recyclingsuppen deklarierte, oder klassifizierte, egal, die Hauptmerkmale: Sie sind gebunden und aus dem Trüben tauchen beim Umrühren Bratenecken und Wurstschnipsel auf, auch hier und da eine rote Bohne oder ein Champignon-Scheibchen. Schmecken tun sie, diese Suppen.

Zwiefacher Verdruss

Am Nachmittag passierte es: Ich hatte die Bad- bzw. Toilettentür von innen zugeriegelt. Als ich wieder ins Zimmer wollte, drehte sich der Verriegelungsknopf im Leerlauf, das heißt, die Tür ließ sich nicht öffnen. Genauer, die Zahnstange des Absperrriegels konnte nicht mehr vom abgearbeiteten Betätigungsnocken auf der Schließknopfachse erfasst werden, was auf mangelhafte Materialauswahl beim Schlossproduzenten schließen lässt. Ich rief nach Martha, die infolge dessen außen an der Klinke erfolglos hantierte und sagte, sie müsse sich jetzt erst einmal setzen, „so eine Katastrophe!“

Ich fing in dem stickigen Sanitärobjekt heftig an zu transpirieren und schaute in den Spiegel, weil ich mir aus Versehen über den Kopf gefahren war, „meine Herrn, was nun“ oder so etwas Ähnliches denkend. Richtig, mein Haar war zerzaust. Dann fasste ich mich und befahl, ja ich befahl in dieser prekären Situation, Martha solle hinunter zur Rezeption gehen und die solle Hilfe schaffen lassen, und zwar plötzlich! „Ich kann doch anrufen.“ „Ja dann mach das, aber schnell!“ Dieses letzte Wort setzte die arme Martha so unter Druck, dass es ihr nicht gelang, die polnischen Kürzel auf dem Telefon zu entschlüsseln. Endlich hörte ich die Zimmertür zum Hotelflur hin zuschlagen und einen winzigen Moment vorher war in der Zelle das Licht ausgegangen, weil Martha, wie ich es ihr eingebläut, die Chip-Karte aus dem Schlitz neben der Tür gezogen hatte, damit sie auch ohne mich das Zimmer von außen öffnen könne.

Kein ordinäres Wort kam über meine Lippen, obwohl ich deren etliche parat gehabt hätte. Nein ich musste mannhaft ausharren oder eine eigene Lösung finden. Ich befürchtete auch, dass der Schwedenbus da gewesen sein könnte um die Gesellen des Schlossers gegen bessere Bezahlung ins Ausland zu expedieren, oder den dasigen Hausmeister, oder alle. Bei dieser Vorstellung, verbunden mit einer klaustrophobischen Anwandlung müssen sich meine Kräfte wie die eines mit EPO abgefüllten Hammerwerfers gesteigert haben, denn die Tür sprang auf, sobald ich erneut daran rüttelte. Ich freute mich der Freiheit im besonnten Zimmer, da flog die andere Tür auf und Martha sah mich entsetzt an, nicht freudig, wie ich es hätte erwarten dürfen. Sie rief: „Jetzt rase ich da runter, mache das ganze Hotel verrückt, die Rezeption telefoniert sich die Finger wund und du stehst einfach so hier, wasn nu?“

Wir ruhten auf meine Anordnung hin aus, wechselten unsere verschwitzte Bekleidung und begaben uns ins Vestibül. Dort hörte ich, wie die Empfangsdame fragte: „Wann Sie fahren Deutschland?“ Mein Widersacher und seine Frau sagten gleichzeitig „Übermorgen“. Sie wollten ihre Kurkarten für die Kasse bestätigen lassen, weil sie wohl hofften, die steuert etwas bei, Kleinkram. In diesem Moment sah die Rezeptionistin hoch, entdeckte Martha und mich, eine heiße Röte flog über ihr Gesicht und sie rief freudig aus: „Mann nicht zu Chaussee, Sie frei, jetzt alles okay, okay, daanke.“ Ich wollte, ich musste ihr in diesem Moment sagen, dass ein Handwerker trotzdem kommen müsse, schon um das Schließblech wieder zu befestigen, hatte gerade angesetzt, da brüllt der Alte, jetzt nenne ich ihn nun doch so: „Gar nich dran und drängelt sich vor, Unverschämtheit ...“ usw. Er rast blindlings auf den Hotelausgang los. Das erinnerte mich an unseren Kater Willi, der total verstört unter dem Gartentor hindurch schoss, als er vor lauter Gier nach dem Goldfisch in den Teich geplumpst war. Der Mann stellte sich am Ausgang auf, um uns zu beschimpfen, weil wir ja dorthinaus wollten. Das musste er wegen meines schon aufgesetzten Panamahutes geahnt haben. Ich sagte zu Martha, was mir ein Hamburger Geschäftsmann geraten hatte, wenn sich die Steuerprüfung einmal ankündigen würde: „Gor nich um kümmern.“ Und so schritten wir an dem blau angelaufenen Herrn vorüber, nicht hören und verstehen wollend, was er so von sich geben würde.

Siehe da, er schwieg, fürs Erste.

Warmes Angebot, tolles Kompliment, verbotene Träume

Wir hatten darauf eine wunderschöne Kaffeestunde in einem Gartenlokal, wo uns die polnische, sehr wohl proportionierte junge Kellnerin freundlich lächelnd auf ihren Flipflops hurtig entgegen kam. Vor unserem Tisch bremste sie schlurfend ab. Auf ihrem schwarzen T-Shirt war, aus Glitzerblättchen gestickt, zu lesen; in schönem Schwung stand da drauf: perfectly Sex. Ich konnte mich aus verständlichen Gründen nicht weiter nach diesem Angebot erkundigen und bestellte zwei Cappuccino. Eigentlich hätte ich sagen wollen „due Cappuccini“, also Plural, aber ich wollte ohne sprachliche Verwickelungen schnell zu Kaffee kommen.

Die Hübsche bestätigte das und empfahl auf Deutsch dazu Apfel- oder Käsekuchen, was wir annahmen, also nur zweimal Apfelkuchen, weil der noch warm sein sollte. War er auch. Ich monierte gegenüber Martha die auch in manchen Gegenden Deutschlands nicht ausrottbare Bezeichnung „Käsekuchen“, da es sich doch um Quarkkuchen handelt. Wir diskutierten über die vorbei flanierenden Menschen in phantasiereicher Bekleidung. „Wo sie wohl arbeiten lassen?“ ist so eine hintersinnige Frage von mir, wenn ich Leute sehe, die sich geschmacklos, lächerlich bis würdelos anziehen. Die meisten davon sind immer Deutsche, wenn keine Briten und Amerikaner da sind. So verging uns die Zeit und ich dachte hin und wieder an den Alten, sogar versöhnlich dachte ich an ihn, hoffentlich bleibt er gesund, musste ich denken. Wie wir nun wieder vor das Hotel geraten, sitzt der vorhin so grundlos erregte Mann mit seiner Frau auf der Bank. Ich gewahre nach schnellem Umschauen niemand weiter, gehe auf das Paar zu und sage, mich untertänig vorbeugend: „Ich möchte gern etwas erklären.“ Da fährt mich der Böse an, ich brauchte ihn gar nicht erst anzureden, er wisse Bescheid, meinen Namen werde er schon herausfinden. Ich sage, dass ich mich gern vorstellen wolle: „Mein Name ist Mütz…“ „Halten Sie den Mund!“... Da ging ich weiter. Und als ich mich nach Martha umdrehe, ruft er mir nach: Er sagte ... also, ich war erschlagen, er rief, ich sei ... , nein, ich konnte es nicht fassen, er rief tatsächlich:

„Sie junger Schnösel!“

Ich wollte schon ausrufen: „UND SIE SIND EIN ...“, ich wählte noch zwischen, in ihrer Stärke abgestuften Ausdrücken (im aufsteigendem Modus), da wurde mir klar, so klar, als wenn sich nach dunklen Gewitterwolken der Himmel strahlend auftut, ich wusste ex abrupto: Der Mann hat mir ein tolles Kompliment gemacht!

Nicht umsonst die Selbsterziehung zum Geradehalten, zum Nichtrauchen, nicht zwecklos die täglichen heißen Kompressen nach dem Rasieren, das Eincremen mit feuchtigkeitsspendender Tages- und Nachtcreme, die Anschaffung des Nasen- und Ohrenhaarschneiders mit wiederaufladbarem Akku, der Kauf von Bio-Nahrung; alles hat sich heute amortisiert, schoss mir gedankenschnell durch den Kopf. Zu meiner Martha sagte er noch: „Und Sie sind genauso eine.“ Ich freute mich für sie, und das sagte ich ihr auch, man sagt ja viel zu selten etwas Liebes. Wer freut sich nicht, wenn er für jünger gehalten wird, als er oder sie ist? Dass ich noch nie von einer jungen Schnöselin gehört hatte, spielte für mich dabei keine Rolle.

„Wenn wir zu Hause die Räumlichkeiten für unsere Goldene Hochzeit bestellen, werden die denken, wir wollen sie vergackeiern.“, sagte ich außerdem zu Martha. Sie schmiegte sich gleich zärtlich an mich. Wir gingen darauf unseren Hotelgang entlang. Vor uns stakte eines der hübschen Bedienmäuschen, zwischen dessen Rock und Top appetitliche Hüftchen, unbedeckte versteht sich, wackelten. Martha sagte, später sagte sie, sie hätte es zweimal sagen müssen, ehe ich es vernommen hätte, sie sagte, ich solle mich doch bitte auf das Öffnen unserer Tür konzentrieren und nicht in der Weltgeschichte rum gucken. Aber die grüne Diode wollte und wollte nicht orange werden, bis ich merkte, dass ich eine Tür zu weit gegangen war, ganz in Gedanken versunken. Ich lebe auf, dachte ich, und vor meinem geistigen Auge erschien die lockende Aufschrift auf dem T-Shirt der Kellnerin mit dem warmen Apfelkuchen.

Über Slawen-Mission, Renten, Möwen, und Störche

An der Busreise nach Kolberg nahmen wir teil. Die Lunchpakete hatten wir im Gepäcknetz verstaut, es konnte losgehen. Der polnische Reiseleiter zählte durch, da sagte ein Mann: „Wasn für Lunchbagete?“ (Lunch, nicht Lansch sagte er.) „Nu mir ham keens. Hald, da muss‘sch noch ma naus.“ Martha und ich tauschten einen vielsagenden Blick, da sagte der Mann: „ Nu Sie widder, se brauchen jor nich so zu gucken, ich wees schonn, for Sie sin se alle bleede.“ Wie kann ein Mensch mir so etwas unterstellen, ohne mich zu kennen? Nur weil ich Panamahut trage? Es war der Tischgenosse meines ehemaligen Kontrahenten, ich sage ehemalig, denn ich hatte meinen inneren Frieden mit ihm gemacht. Auf diesen Anwurf zu antworten, verbot sich von selbst, in Erwartung einer harmonischen Reise. Der Reiseleiter, im Hauptberuf Gymnasialdirektor, erklärte, wo es hinginge, übte mit uns Guten Tag, Gute Nacht, Danke, Bitte und die Aussprache unseres Zielortes auf Polnisch. Kowobjschek, wir sollten bitte das Wfuö üben, was gedruckt wie ein L mit schrägem Querbalken aussieht. Das gefiel mir, denn ich bin sprachlich sehr interessiert. Ich erinnere mich noch genau, was passieren kann, wenn man mindestens umgangssprachlich nicht auf dem Laufenden ist. Es war nämlich in Bulgarien, da sagte der Kellner zu uns „Gute Nacht“ in seiner Sprache, also „Lekka Noscht“, sagte er. Mein Reisegefährte rief ihm hinterher: „Ja, du mich auch.“ Das sollte nicht passieren, wenn man im Ausland ist.

Bei der Gelegenheit schiebe ich den Ortsnamen unseres Kurortes nach, weil er mir eben gerade einfällt: Niechorze, was man Nijechorsche spricht, wobei zu beachten ist, dass dieses Ce-Ha in der Mitte wie in „noch“ gesprochen wird, also rachig, “Ch“.

Der Reiseleiter, wir sollten ihn nicht mit seinem Titel, nur Mirek rufen, was sich von Miroslaw herleitet, kannte die Lebensdaten und die Reisetermine des Bischofs Otto von Bamberg, der vor acht- bis neunhundert Jahren in der Gegend von Usedom-Wollin und Kamin zweimal heftig unter den Slawen missioniert hatte, wieder kommen musste, weil sie ihre versteckten Pfahlgötzen wieder rausholten etc.. Ja, erinnerte ich mich (stumm!), der Mann hatte es nicht leicht, und dann hat er noch einem Slawenkreuzzug den Schwung genommen mit seinem Eifer; die Heiden dieser Gegend waren ja schon durch ihn bekehrt. Mirek erklärte uns, auf Brüssel deutend, warum so viele Flächen brach lägen und die deutlich als verfallende LPG-Ställe erkennbaren Bauten keine Methan absondernden Kühe mehr beheimateten. Und so kamen wir, abschnittsweise in unseren Sitzen hüpfend, wie etwa auf manchen hiesigen Straßen, nach Kolberg. Kowobjschek. Nach einem Rundgang in der Altstadt, uns gefiel alles gut, besonders der Mariendom, fuhren wir zum Hafen, speisten sehr gut in der „Weintraube“ und gingen mit der gesamten Gruppe ans Meer. Da raunte Martha mir zu, wir sollten uns schleunigst beiseite verfügen, um in ruhiger Umgebung, abseits der zugequirlten Strandpromenade ein Käffchen zu schlürfen und vielleicht ein Eis zu schleckern. Wir fanden an einem 4er-Tisch im Freien vor einem Eiscafé zwei Plätze.

Dass ich aus der Gruppe ausscherte, war für einige kleinere Personen für Augenblicke fatal, weil sie sich nicht an Mirek und seiner Regenschirmspitze, sondern an meinem hochragenden weißen Hut orientiert hatten.

Die Eisbestellung kam prompt, wir hätten mit dem Genießen anfangen können, da sagte eine der beiden alten Kielerinnen am Tisch, beides harte norddeutsche Typen, mit feststehender Oberlippe, dadurch entsteht das nordisch Nasale (man denke an Sabine Christiansen), beide brillantgeschmückte Finger, ganz in weißen Tüllschals, da sagte die eine, sie sei genervt von diesen ganzen Ostrentnern, die hier massenhaft alles bevölkern. Im Moorbad rede die eine ununterbrochen sächsisch auf sie ein. Wo sie das Geld wohl her hätten, na klar aus unserer Rentenkasse, in die sie nie was eingezahlt haben, und dann noch meckern, das sei ja eine schreiende Ungerechtigkeit. Na ja, dieser Kohl hätte ja damals alles Mögliche versprochen.

Mein Eis schmolz schon deutlich, ich hatte genau zugehört, wollte nun aufklären, dass der Panamahut das Haupt eines Ostrentners ziert, wie die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Wiedervereinigung in Wahrheit aussieht, da erhielt ich von Martha einen Tritt. Ich schaute sofort nach, ob sie meine feine helle Dehnbundhose (2% Elastan) schmutzig gemacht habe, was nicht der Fall war. Dann blickte ich nach oben und verkündete, dass diese Lachmöwe da ihre Kreise über diesem Tisch immer enger zöge, um schließlich in wenigen Momenten das Verdauungsprodukt ihres heute Morgen in der Fischfabrik geklauten Frühstücks fallen zu lassen. Möwen verdauen sehr schnell, wie jeder weiß. Ich sagte das laut und vernehmlich in gutem Gewandhaussächsisch. Der Martha bedeutete ich, dass es besser sei, sich an den dort drüben soeben freigewordenen Tisch zu setzen. Die braungegerbten Kielerinnen schauten böse.

Kolberg wird uns in guter Erinnerung bleiben.

Der Reiseleiter wurde einsilbig und wies uns nur noch einmal auf mehrere, direkt an der Straße stehende Storchennester hin, worauf Martha leise sang: „Auf der Wiese geht etwas, watet durch die Sümpfe. Es hat ein schwarzweiß Röcklein an, trägt auch rote Strümpfe...“ dabei hatte sie verklärte Augen, weil sie an Fritz, unseren Enkel dachte, dem sie das immer vorsingt.

Ein Trendsetter und verschiedene Kopfbedeckungen

Abends war im Hotel Grillparty. Dort lernten wir Jupp kennen. Jupp, sein Name endete irgendwie auf „-ski“, Jupp aus Wanne-Eikel. „Aha“, sagte ich, „Sie suchen hier die Wurzeln ihrer Vorfahren, die als Bergleute ins Ruhrgebiet gingen.“ „Nää, die kamen ja woll von Oberschlesien wech.“ Wie konnte mir dieser Lapsus passieren. Ich lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, wollte von Bischof Otto von Bamberg reden und erhielt wieder einen Tritt von Martha, diesmal wusste ich nicht warum. Jupp und seine Frau hatten längst gemerkt, dass wir aus Sachsen kommen. „Määnsch,“ sagte Jupp, „die hatten inne DDÄOR Kaninschen und Beeren jezüschtet, für teuer Jeld hintenrum annen Laden, HO oder so, verköfft und anschließend inn Laden für weniger injeköfft und erst anschließend jefressen und hatten noch Kohle dabei obendroff, nää jeh mir wech!“ Das machte ich dann auch bald, Martha folgte mir. Sie sagte zu Jupp und singer Frow, wir wollten „Ein Fall für Zwei“ gucken. Zu Hause schimpft sie laufend über diese ewigen Krimis. „Und nun noch im Doppelpack.“, sagt sie regelmäßig freitags.

Ich muss Jupp näher beschreiben, weil er für jeden Trendscout ein gefundenes Fressen wäre. Beginnen wir oben: Graue Locken, ziemlich dicht noch, die aufwärts streben und zusammen ein Plateau bilden. Der Kopf erinnert seitlich von hinten an einen umgestülpten Saunakübel. Zwischen dichten grauen Brauen eine rosa fleischige Nase mit tiefen Kratern und Schründen, markiert durch bläuliche Adern. Darunter ein kunstvoll kreisrundgezwirbelter grauer Schurbart, man könnte ihn von weitem für eine verrutschte Brille halten, die restlichen Flächen von lichten grauen Zotteln bedeckt. Der Augen erinnere ich mich nur ungenau, weil man, ich jedenfalls, nicht umhin kam, dem Jupp beim Schpräschen auf den großen fleischigen Mund und den hüpfenden Schurbart zu schauen. Unmittelbar unter den fleischigen Ohren die mächtigen sonnenverbrannten Schultern, die wie bei Berggorillas gebogenen, Achtung gebietenden, behaarten Arme. Jupp trug zum Frühstück, er machte sich morgens sofort strandfertig, sehr farbige, quergestreifte Muskelshirts. Einmal, sonntags, trug er zum Essen das ärmellose Trikot von Dirk Novitzki in Originallänge, womit dann Jupps Knie verborgen blieben. Wegen der langen Oberteile, die unter dem Bauch frei hängen, kommt man nicht dahinter, wie Jupp seine Dreiviertel-Safari-Hosen befestigt. Unter den ausladend gefüllten seitlichen Kartentaschen dieser Hosen wird man der Beine ansichtig. Die mächtigen Waden, auch die rotbraun mit weißem Flaum, erinnern an umgekehrt stehende Fünfliterkorbflaschen, wie sie der Weinkenner gern aus Italien mitbringt. Die Füße stecken in bequemen Kunststoffpantoffeln. Je nach gesellschaftlichem Anlass trägt Jupp auch Söckchen, bevorzugt weiße. Natürlich trägt er keinerlei Kopfbedeckung. Da fällt mir ein, ich sah in der Mittagssonne einen Mann mit einer weißen, zerknitterten, flachen Leinenmütze, wie man sie von dem Foto kennt, welches Lenin mit der Krupskaja auf einer Gartenbank zeigt. (Die Mütze trägt natürlich Lenin.) Ich hatte häufig Anlass, zu bemerken, wie die Männer ihre kahlen Stellen vor der gnadenlosen, fast senkrecht brennenden Junisonne schützen wollend, wie vernünftig immerhin, unter ihren 100-Prozent-Polyestermützen schwitzten, auch unter denen mit Baumwollanteil. Unter meiner Kopfbedeckung hingegen herrschte ein ausgesprochen angenehm ventiliertes Mikroklima. Daher hier meine Maxime:

Nichts geht über einen Panamahut.

Über die Weisheit der Römer und gewisse Zweifel

Von einem weiteren Café-Besuch heimwandelnd, stießen wir auf einen Autokran, der in eine, der von mir entdeckten Lücken einen weißen sechseckigen Kiosk absenkte. Eine lange Reise lag hinter ihm. Das Logo „Fritten-Ralf“ wird vielleicht übermalt werden, könnte man vermuten. – Da ist unser Hotel. Jupp sitzt dabei, als ich mit Martha an die Gruppe trete, die das Firmenschild unseres Hotels betrachtet. Eine Frau will gerne wissen, was das angehängte Kürzel SPA bedeutet. Höflich warte ich einen Moment, um niemandem zuvor zu kommen, aber es wird nur gerätselt. Da sage ich unüberhörbar: „Es kommt aus dem Lateinischen und ist die Abkürzung für den weisen Spruch der weltklugen Römer:

„SANUS PER AQUAM!“

„Siehste, wie ich dirs jesacht hawe: Sauna fer alle!“ rief eine Schwerhörige aus der Landfrauengruppe Treuenbrietzener Land ihrer Freundin ins Ohr, welches sich die Bedauernswerte sofort zuhielt. Ich konnte diesen gefährlichen Irrtum so nicht stehen lassen, denn man musste pro Person neun EURO für die Saunabenutzung zahlen, und wiederholte den Spruch. Mit Genuss, wie ich zugebe, denn das Lateinische liegt mir sehr am Herzen. Ich musste es mir aus Zitatenbüchern mühevoll aneignen, weil zu meiner Zeit die Neulehrer für alte Sprachen noch nicht ausgelernt hatten. Und nun lieferte ich die deutsche Übersetzung: „Gesundheit durch Wasser.“ Die Leute sagten nichts dazu, auch Jupp verzog sich wortlos. Die Menschen lassen sich nicht gern belehren. So konnte ich ungehindert einem plötzlichen Zweifel nachgehen. Es machte mich nämlich grüblerisch und ich war mir gar nicht sicher, ob es wirklich gesundheitsfördernd ist, wenn mir, betrete ich den SPA-Bereich des Hotels, über den heilenden Wassern wabernde Chlorgaswolken entgegen wallen.

Über Angst, Undankbarkeit, die Gefahr der Vereinsamung und schmerzlichen Verlust

Man kann die Mahlzeiten nicht in Ruhe genießen, weil die Landfrauenverbände aus Sachsen-Anhalt und Brandenburg laut diskutieren, die Rentnerpaare aus Ost und West ebenso laut um Klarheit ringen, die Omas von Kindern und Enkeln schwärmen; letztere sind ausschließlich Einserschüler! Der Außenstehende kann nur vermuten, dass sich der Geräuschebrei aus diesen Zutaten zusammensetzt. Unter einem solchen Eindruck fragte mich die Martha: „Kannst du dir vorstellen, mit denen allen in einem Altersheim zu sitzen?“ – Sie hätte wissen müssen, was sie anrichten würde, wenn sie mir eine solche Horrorvorstellung oktroyiert. –

Ich hyperventilierte. Und Martha rannte nach einer Plastetüte, sie fand sie in der Küche, es war ein Gefrierbeutel, in dem sich noch ein Prinzessböhnchen befand, stülpte mir die feuchte Hülle über den Kopf und rettete mich. Langsam, sehr langsam wurde mir besser.

Greisenhafte Geschwätzigkeit finde ich enervierend, ich, der ich mich immer knapp und präzise äußere. Dieser davon brodelnde Speisesaal war mir von Stund an unheimlich. Nur wenige hatten meine Schwierigkeiten bemerkt und, wie mir Martha erzählte, verständnislos geschaut. Eine von den Treuenbrietzenern soll geflüstert haben: „Die wird den doch nich abmurksen?“ Am nächsten Morgen, ich hatte massig Platz, denn er war weg, lief ich sinnend zum Büfett. Da hörte ich aus der Schlange heraus eine der Dicken mit Haarnetz sagen:

„Jetzt kommt der Gescheitarsch.“ Es war jene, welche dieses SPA erklärt haben wollte und erklärt bekam, und zwar von mir, der ich bei der Gelegenheit meinen Panamahut trug. Ich kam im Überdenken der Sache zu einer weiteren Formel:

Ein Panamahut polarisiert und er grenzt aus!

Nun gut, wer das nicht aushalten kann, sollte keinen tragen. Mich kann nichts davon abhalten, dieses gleichermaßen honorige wie sinnvolle, von den wichtigen Männern der Neuzeit erprobte Feingeflecht aus mittelamerikanischen Palmblattfasern weiterhin im Sommer zu tragen, gerade nun, wo sich Martha im Bus heimwärts, weil sie auf der anderen Seite etwas sehen wollte, auf meinen Panamahut fallen ließ und ihn zermalmte.

Ich habe in diesen Tagen den Satz von Javier Marias gelesen:

„Man muss den Dingen Bedeutung geben, die für Freunde bedeutend sind.“

Wenn doch alle das wüssten und danach handelten! – Ihr Freunde nun, weil ein Panamahut für mich so bedeutend ist, sagt es mir, wenn ihr Bezugsquellen für Panamahüte kennt, (ich müsste die Preise vergleichen!) denn Martha hat meinen Spezial-Katalog in das Altpapier geschmissen.

SALVE!

1⁾ Zul. Maximalmaße: 55x40x20 cm

Drei Wege in die Altstadt

Martha und ich wollten in die Stadt. Nur so. Wir sind wild drauf, weil wir lange recht ländlich gewohnt haben. Zur Linie Elf am Waldschlösschen über den Elbwiesen sind es drei Minuten. Früher da, dachten wir, na, setzten wir uns noch ins gläserne Wartehäuschen. An das Steinchen im Schuh dachte ich, Martha dachte ans Welterbe. Sitzplatz wäre gewesen, aber die zwei jungen Männer, die drinnen saßen und die zwei, die draußen standen, hatten ihre teuren Mountainbikes zur Sicherheit fein im Geviert vor dem Häuschen ausgelegt. Um den Sportgeräten nicht etwa Schaden zu zufügen, stiegen wir nicht über sie hinweg. Die jungen Menschen erahnten unseren Wunsch, aber sie sahen sich nicht in der Lage, uns entgegen zu kommen, wegen Erschöpfung. Denn die beiden Sitzenden lagen halb auf der Bank, mit weit ausgestreckten Beinen. Die zwei anderen lehnten, mit letzter Kraft sich aufrecht haltend, an den Glasflächen, und folgten gedankenverloren mit dem Zeigefinger den Glasritzungen eines unbekannten Kreativen. Wir favorisieren solche grafisch eher groben Schöpfungen nicht. Die Elf kam, wir wählten den letzten Einstieg, um das Verladen der Räder nicht zu behindern. Die Bahn war gut besetzt. Zwei Schüler hatten das Podest mit den erhöhten Sitzen im Heck des Wagens belegt, will sagen, dass die