Die Moosinsel - Agnes Voigt - E-Book

Die Moosinsel E-Book

Agnes Voigt

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Beschreibung

In der DIE MOOSINSEL kommt Veronikas attraktive Freundin Karin zu Wort. Gezeichnet von schwerer Krankheit, offenbart sie sich in einer fiktiven Beichte ihrer Freundin Veronika. Wie in einem Film erlebt sie noch einmal ihre Verführung, durchtanzt sie die Lichtung auf der Moosinsel, erkennt das Unrecht, das ihr angetan worden ist und klagt den erlittenen Missbrauch durch den skrupellosen Lehrer und ihre egoistisch rücksichtslose Mutter an.

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INHALT

Vorfilm − In grellem Licht

Überblendung − Das Elternhaus

Szene − Im Halbdunkel

Hauptfilm − Die Moosinsel

Cut − Der Schlangentag

Fine

Frühling Wolkenlämmer Apfelblüten Kinderstimmen Vogelsang Wer keucht da im Gebüsch?

VORFILM − IN GRELLEM LICHT

Ich bin Karin.

Karin die Schöne die Begehrte

die mit den langen Beinen

die mit dem glänzenden Haar

Bin noch jung.

Doch ich werde nie alt werden.

niemals

Geht fort, rufe ich Euch zu.

Rufe ich, oder flüstere ich bloß?

Geht fort, Ihr im weißen Kittel.

Ich will nichts hören.

weder die Wahrheit noch die Lüge.

Seht Ihr nicht, dass ich noch nicht so weit bin?

Seht Ihr das nicht?

Wie könnt Ihr nur so ungerecht sein?

Bin ich nicht zu jung und zu schön, um jetzt schon zu

sterben?

noch nicht jetzt

nicht heute

bitte erst morgen

in ein paar Tagen

ein paar Wochen

vielleicht noch ein Jahr ein Jährchen

dann vielleicht

aber bitte noch nicht jetzt

Es ist so weit, das ist es, was ich in einfühlsam professionellem Ton zu hören bekam, während ich auf der Anklagebank saß oder vielmehr lag.

Ich lag, und die, die nach umfangreicher Untersuchung, Abwägung sämtlicher zur Verfügung stehenden Beweise und ausführlicher Beratung in letzter Instanz ihr Urteil über die Angeklagte, ihre Patientin, fällten, sie standen. Die Ärzte standen.

weiß groß mächtig

über

mir

Sie sprachen ihr Urteil.

ein finales

unausweichlich unumgänglich

die Todesstrafe

Chapeau

Sie haben es gut gemacht.

Sie haben sich zumindest Mühe gegeben.

Das war wirklich eine Leistung, wie sie ihre Mitteilung, obwohl sachlich, wissenschaftlich durchaus menschlich dargestellt haben.

Einfach hübsch verpackt.

Ich nehme an, dass sie das mit dem Verpacken schon während ihres Medizinstudiums trainiert haben. In meinem Fall umsonst, denn ich habe sie durchschaut. Ich habe sofort durchschaut, dass die Herren Doktoren nur eine Schau gemacht haben. Oder sagt man Show?

Es genügte, die Veränderung ihrer Augen zu beobachten, deren Lider sich während des Sprechens leicht lächelnd zusammenzogen, um zu erkennen, was in den Gesichtern, die sich über mich neigten, vor sich ging.

Ihre Münder waren ganz schmal geworden, fast lippenlos. Es war nichts mehr da, womit sie ihre Liebsten hätten liebkosen können. Zur Show gehörte natürlich auch der sonore Unterton ihrer Stimmen, mit dem sie mir Mut zusprachen. Es sollte wohl vertrauenerweckend klingen, ließ aber nichts zu deuteln übrig.

Dieses Mal keine Revision.

Das verstand ich, ohne dass sie es in konkrete Worte fassten.

Leider habe ich es versäumt, die Ärzte über ihr ungeschicktes Verhalten aufzuklären. Ich hätte ihnen ins Gesicht sagen sollen, dass der gute Wille allein nicht ausreicht, um die Wahrheit zu verbergen.

Ihre Show war gründlich misslungen.

Wenig originell, kam nichts anderes aus ihren Mündern, als was ich schon einmal zu hören bekommen hatte, damals als ich erwachte, als der Hausarzt sich über mich beugte und genau wie die in Weiß Gekleideten zu mir sagte: Alles wird gut.

Dass ich nicht lache. Nichts ist gut geworden.

Wie auch?

Die Ärzte irren schon wieder. Dabei sollten sie es besser wissen. Schließlich haben sie doch studiert.

Oder sind sie der Meinung, es genüge, Unterlagen durchzublättern, diese Papiere, die alles enthalten, was über den jeweiligen Patienten zusammengetragen wurde, um sich ein Urteil aus Laborwerten und Röntgenbildern zurechtzuzimmern?

Sind sie denn Richter?

Arztrichter?

Gibt es ein Gesetz, in dem geschrieben steht, so und so, dann ist Schluss?

unwiderruflich

Haben sie denn vergessen, dass jeder Mensch anders beschaffen ist und nicht alle über einen Kamm geschoren werden sollten?

Die Vergangenheit liegt fest. Sie ist im Nachhinein nicht veränderbar. Sonnenklar ist auch, dass niemand fähig ist, in die Zukunft zu blicken. Sie ist weder aus Büchern noch aus Wahrsagekugeln oder gar aus Handlinien herauszulesen.

Deshalb wissen auch die Studierten nicht, was geschehen wird.

Es kann immer noch ganz anders ausgehen.

Es könnte etwas Unvorhergesehenes passieren.

Positives

oder leider

Negatives

Was sich später als positiv oder negativ herausstellt, wird sich zeigen.

Manchmal entpuppt sich das Positive als negativ.

Das Negative als positiv.

Sterben ist negativ, sagt man jedenfalls.

Warum eigentlich?

Es kann doch durchaus positiv sein zu sterben.

Nicht gerade ich, aber manchmal ist das Ende durchaus ein Segen, zum Beispiel, wenn ein Mensch alt, einsam und ohne Liebe ist oder sowieso nichts mehr von der Welt versteht.

Der Tod meines Vaters hat mich tief getroffen. Ich war traurig, verstand aber auch, dass sein Leben gelebt war.

Ich konnte akzeptieren, dass er starb. Das unmittelbare Erleben seines Todes half mir sogar, den Lauf der Zeit anzunehmen. Ich begriff, dass zum Geboren werden das Altern mit seinen Verfallserscheinungen gehört und damit auch das unausweichliche Ende.

Ich aber, ich bin noch nicht an diesem Punkt angelangt, den man das Ende nennt. Obwohl müde und mutlos, fühle ich mich weder alt, einsam noch geistig weggetreten. Im Gegenteil, ich freue mich auf meinen Robert, der nachher kommt und bei mir bleiben wird, bis ich eingeschlafen bin.

Außerdem, was das Urteil über mich betrifft, haben die Ärzte wirklich alle Umstände bedacht?

Haben sie in ihre Erwägungen einbezogen, dass ich schon vor langer Zeit gestorben bin?

Nein?

Wieso?

So, nun hört mal gut zu.

Hört zu, wenn ich es Euch laut und deutlich erkläre: Man kann nicht zweimal sterben.

Was?

Ihr glaubt mir nicht?

Solltet Ihr aber, denn dass man nicht zweimal sterben kann, müsstet Ihr als Mediziner wissen.

Oder habt Ihr die Vorlesung über das Zweimal-Sterben geschwänzt?

So, jetzt habe ich Euch aufgerüttelt und neugierig gemacht.

Jetzt wollt Ihr Ärzte plötzlich wissen, wann ich gestorben bin und wie lange das her ist.

Auf Tag und Stunde kann ich es nicht sagen, aber ich schätze, so ungefähr fünfundzwanzig Jahre müssen vergangen sein. Man könnte auch ein Vierteljahrhundert sagen, was der Zeitspanne eine größere Dimension gäbe.

Das kommt Euch lange vor?

Meint Ihr, dass die verstrichene Zeit das Geschehene auszulöschen vermag?

Meint Ihr wirklich, dass sich Jahr um Jahr die Dinge glätten?

Ich wiederhole es noch einmal für diejenigen, die nicht aufgepasst haben.

hier, jetzt, heute und dann nie wieder

Man kann nicht zweimal sterben.

Ihr glaubt mir immer noch nicht?

Gebt zu, ich gehe Euch auf die Nerven.

Oder wollt Ihr wirklich hören, wie und wann ich, Karin, die Schöne, die Begehrte, noch Kind und doch schon Frau, starb?

Gut, ich werde es Euch erzählen, erzählen, wie ich in jener Nacht starb, als meine Mutter mich vor Wut kochend gegen die Wand schleuderte, mich packte, ins Auto schubste, zum Arzt chauffierte, wieder herauszerrte, damit er, der schon wartend in der Tür stand, mich entgegennehmen konnte.

Man hätte das Michentgegennehmen auch als Paketzustellung bezeichnen können. Allerdings ein Paket mit unbekanntem Inhalt. Es enthielt etwas, was nicht hinein gehörte, was in jener Nacht entfernt werden sollte, was mit Werkzeugen aus gehärtetem Stahl entfernt wurde.

Messer Gabel Schere Licht

Lirum Larum Löffelstiel

wer dies nicht kann

Er konnte es.

Und da fast jeder einen Löffel besitzt, ist es durchaus nicht verwunderlich, dass sich im Werkzeugsortiment dieses Arztes auch einer befand.

Löffel ist Löffel

Es ist nur die Frage, was für einen Löffel man gerade braucht.

Suppenlöffel Teelöffel Kaffeelöffel

Ein Löffel lässt sich schließlich zu Vielem gebrauchen.

Schuhlöffel, zum Beispiel, sind eine praktische Hilfe beim Stiefelanziehen.

In meinem Fall jedoch benutzte der Arzt einen speziellen Löffel.

Zum Thema Löffel fällt mir noch etwas ein.

Sagt man nicht, wenn jemand gestorben ist, er oder sie hat den Löffel abgegeben?

Löffel abgeben

Das ist eine komische Redewendung.

Wie ist das gemeint?

Soll es heißen, dass für denjenigen, der den Löffel abgegeben hat, sich das Thema Essen erübrigt?

Ich für meinen Teil kann schon lange nicht mehr essen.

Allerdings, die Möglichkeit sich löffellos durch einen Schlauch zu ernähren, hätte ich mir in besseren Zeiten nicht vorstellen können.

Im Moment steht mir aber ein ganz spezieller Löffel vor Augen.

Es ist der Löffel, mit dem der Arzt das ausgelöffelt hat, was er, dessen Namen die Karin hartnäckig verschwiegen hatte, in ihr hinterlassen oder sollte ich lieber sagen, in mich gepflanzt hatte.

Unsinn

Er hat nichts gepflanzt.

Er spritzte sein Gift in mich und hinterließ dabei etwas, was dort nichts zu suchen hatte und deshalb entfernt wurde, um mir nichts dir nichts in den Mülleimer geschmissen zu werden.

weg damit

wie auch anders

Unter keinen Umständen war diese Hinterlassenschaft, die mich in Umstände gebracht hatte, zu dulden.

Umstände

Es war völlig klar, dass diese Art Umstände eine Unmöglichkeit in unserer kleinen Stadt war, in diesem Ort, wo es ansonsten recht gesittet zuging. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich damals ins Gymnasium ging, gerade in die Quarta versetzt worden war und im neuen Schuljahr mit Latein angefangen hatte, wozu ich absolut keine Lust hatte.

zu anderen Dingen aber schon

Findet Ihr, dass ich mich zu sehr anstelle?

Ihr habt recht.

Meine Anstellerei ist unerträglich.

Ich mag meiner eigenen Jammerei schon lange nicht mehr zuhören und fühle mich doch gleich wieder an den erinnert, dessen Namen ich mir verboten habe, auszusprechen, sogar vor mir selbst, weshalb ich ihn kurzerhand, wenn er sich hinterrücks in meine Gedanken einschleicht, nur noch den Namenlosen nenne.

Er, der Namenlose, wies mich gerne zurecht, wenn ich klagte, die lateinische Sprache sei langweilig, kompliziert und sowieso ausgestorben. Überhaupt war Latein eine Zumutung für uns Schüler, insbesondere für mich.

Meine liebe Karin, hielt er mir in seiner gespreizten Art während der Nachhilfestunden vor, wenn du nur einmal deine Porzellanöhrchen spitzen würdest, fändest du es bestimmt auch interessant zu erfahren, dass sich wiedereinmal Latein in das, was ich dir jetzt sagen werde, eingeschlichen hat. Dein Lamentieren, so nenne ich deine Klagen, leitet sich nämlich vom lateinischen Substantiv lamentum ab, übrigens Neutrum.

Deshalb, merke dir:

LateinlamentumneutrumDeutschdie Klagefemininum

Es ist unfassbar.

Während ich an das Geschlecht lateinischer Worte denke, schickt mich der Krankenhausgeruch in einen Raum aus vergangener Zeit. Sein gleißendes Licht lässt meine Erinnerungen blitzartig aufleuchten.

Da ist es wieder, das überstrahlte Behandlungszimmer, in dem der Arzt das ausführte, was er an mir zu tun vorhatte. Unbarmherzig modellierte das Licht die Falten im Gesicht meiner Mutter heraus und ließ sie auf einen Schlag altern, sodass ihre Haut wie ein verbrauchtes Papiertaschentuch aussah. Nicht auszudenken, wenn sie sich selbst im Spiegel gesehen hätte, so wie ich sie in einem Moment der Überschärfe wahrgenommen habe.

Ihre Wut auf mich hätte sich bestimmt noch gesteigert.

Ich bin sicher, dass sie mir zu allem auch noch an ihrem desaströsen Anblick die Schuld gegeben hätte.

hättehättehätte

Hat sie aber nicht.

Zu ihrem und meinem Glück gab es nichts, in dem sie sich hätte spiegeln können.

Alles war verdreht.

Bei anderer Gelegenheit hätte meine Mutter den Arzt flötend angehimmelt. Schließlich war er nicht nur Arzt, sondern der Arzt unserer Kleinstadt, wobei die Betonung auf Der lag. Zudem galt er als durchaus attraktiver Frauenschwarm. Er hingegen hätte ihr unter normalen Umständen bestimmt die Achtung, die ihr als Privatpatientin zustand, gezeigt. Doch die Umstände, will sagen meine Umstände, waren andere als sonst. Er ließ sich durch nichts beirren und ging seinem Beruf nach.

Geschäftig hantierte er mit seinen Gerätschaften.

Er beachtete meine Mutter nicht. Er ließ sie, wie man so sagt, links liegen.

Seine Aufmerksamkeit galt nur mir.

Der Mann, der ansonsten als Hausarzt für Halsschmerzen, Fieber und verstauchte Füße zuständig war, schlüpfte in seinen weißen Kittel, verknotete die Bänder einer Gummischürze hinterm Rücken, band sich einen Atemschutz vor Mund und Nase und streifte sich Chirurgenhandschuhe über. Durch die veränderte Kleidung verwandelte er sich zu einer mir unbekannten Person, zu einer übermächtigen Gestalt, der man sich nur ergeben konnte.

Ich tat es.

Ich ergab mich.

Es blieb mir auch gar nichts anderes übrig, denn die Maske, die er mir ohne viel Federlesens auf Mund und Nase drückte, raubte mir die Sinne und ließ mich ins Nichts fallen. Dieses Nichts war nicht mit normalem Schlaf vergleichbar, denn während man schläft, behält man einen Rest von Bewusstsein, weiß, wo man ist und spürt Kopfkissen und Zudecke.

Und ja, man träumt auch.

Träume sind Schäume. Sie vergehen beim Aufwachen.

Auf die eine oder andere Art bleiben sie aber lebendig und, ohne sie exakt erinnern zu können, weiß oder fühlt man, dass man geträumt hat.

nicht wasaber dass

Nun aber fiel ich in ein traumloses Nichts.

Es war nicht einmal schwarz.

Was immer dieses Nichts war, in das die Maske mich expedierte, es war anders als alles, was ich bislang erlebt hatte.

In diesem Nichts war buchstäblich nichts.

nur nichts

Etwas hatte das Licht ausgeknipst, das eben noch meine Augen schmerzhaft geblendet hatte.

ausgeknipst

dann

unvermitteltohneVorwarnungplötzlich

angeknipst

Maske wegAugen auf

wieder da

atmen und sehen

Atmen hieß: den Desinfektionsgeruch riechen, der sich in das süßliche Parfüm der Mutter mischte.

Sehen hieß: in der Überbelichtung die geblendeten Augen blinzelnd zukneifen und das unter dem Makeup kalkweiß zerbröselte Gesicht meiner Mutter erkennen.

Und natürlich sah ich die Schürze des Arztes, die nun nicht mehr rein weiß, sondern verfleckt, befleckt, besudelt war.

Seine Gummischürze war mit Blut besudelt.

Besudeln ist ein komisches Wort.

Hat es was mit Schweinen zu tun, die sich im Schlamm sudeln?

Oder heißt es suhlen?

Schweine

In der Grundschule ging ein Mädchen, die Hilde, in meine Klasse. Ihre Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft. Diese Hilde blieb mir ganz besonders in Erinnerung, denn sie war einmal dabei, als ihr Vater ein Schwein schlachtete. Sie war ganz aufgeregt, als sie uns tags darauf davon erzählte.

Sie hat es erzählt. Aber wie es wirklich war, weiß ich trotzdem nicht. Ich sah nur, wie Hilde es Rita ins Ohr flüsterte, die das Gehörte noch ein paar anderen Mädchen weitergab. Veronika war von den Mädchen die letzte und ich die allerletzte, und so kam es, dass ich von Veronika erfuhr, wie das mit dem Schweineschlachten vor sich geht.

Es war bestimmt so, dass Hildes ursprüngliche Schilderung durch das Weitergeben von Ohr zu Ohr und durch Veronikas Art, die Einzelheiten bildhaft auszuschmücken, eine dramatische Steigerung erfuhr. Das Ergebnis, dass dann bei mir ankam, war nichts anderes als das Spiel: Der rollende Pups auf der Gardinenstange.

Schon allein der Name dieses Spiels ist eine einzige Lachnummer.

Die komplizierten Worte oder lustigen Sätze, die von Mädchenohr zu Mädchenohr getuschelt wurden, kamen meist bei der letzten total verdreht an, sodass wir vor lauter Kichern kaum weitersprechen konnten. Am Ende krümmten wir uns vor Lachen und jammerten über Bauchweh.

Aber gleichgültig, wie verändert Hildes Schilderung bei mir angekommen war, es war die Vorstellung von sprudelndem Blut und der Todesangst des Tieres, das nicht sterben wollte, aber trotzdem unausweichlich getötet wurde, die mich bedrängte.

Quatsch

Sie bedrängte mich nicht. Ich war von der Beschreibung des Blutes fasziniert. Rot ist und bleibt meine Lieblingsfarbe, weshalb ich mir im Handarbeitsunterricht zum Pullover-Stricken auch rote Wolle ausgesucht hatte.

Hilde hatte erzählt, wie sie den Schwanz halten musste, während ihr Vater der Sau mit einem Hammer oder sonst was auf den Kopf schlug, sodass die Beine des Tieres einknickten und es zusammenbrach. Heute bin ich mir fast sicher, dass Hilde sich das mit dem Schwanzfesthalten ausgedacht hat. Dass der Vater aber die Sau abstach und das Blut im hohen Bogen aus dem aufgeschlitzten Hals schoss, das stimmte sicherlich, und auch dass Hildes Mutter die Aufgabe hatte, das Blut in einem Eimer aufzufangen. Das Blut, dieser kostbare Saft, so erklärte es Veronika fachmännisch, musste unbedingt gerührt werden, damit es nicht gerann, bevor es zu Blutwurst verarbeitet wurde. Ob Hildes Mutter zum Rühren einen Stock, einen Löffel oder die bloßen Hände nahm, erzählte Hilde nicht, obwohl sie sonst, glaube ich, nichts ausließ und sogar das Angstgequieke nachmachte, in das wir, uns an Lautstärke gegenseitig überbietend, aufgekratzt einfielen.

Wir fanden die Schweineschlachtgeschichte aufregend und waren guter Dinge, doch unvermerkt kippte unsere Fröhlichkeit, als Veronika dazwischenfuhr und besserwisserisch anmerkte, wir sollten endlich aufhören, uns über das arme Tier lustig zu machen.

Wie so oft, gab Veronika den Ton an. So lange sie mitmachte, brachte das hemmungslose Gequieke Spaß, nun aber hielten wir uns betreten die Münder, damit keine albernen bösen Laute mehr herauskamen.

Veronika konnte eine richtige Spielverderberin sein.

Sie fuhr dann aber in aller Ruhe fort zu erzählen, während Hilde neben ihr stand und nickend zuhörte. Wie es so ihre Art war, vervollständigte Veronika Hildes Schilderungen von sich aus und machte die Schlachtung durch allerlei Beschreibungen, die sie eigenmächtig hinzufügte, noch bildhafter.

Am Ende glaubte man, Veronika und nicht Hilde sei dabei gewesen, als die Mutter das Blut im Eimer auffing und blutige Klumpen zwischen den Fingern zerdrückte.

Blutklumpen stelle ich mir so ähnlich wie Klüten in einer misslungenen Mehlschwitze vor.

nur rotnicht weiß

Mehlklüten sind eigentlich ganz lecker.

Geschlachtet wurde im Winter, wenn es fror. War das Schwein ausgeblutet, schleppte Hildes Vater, ein großer, kräftiger Kerl, den dampfenden Leib auf den Hof und hängte ihn an den Hinterbeinen mit dem Kopf nach unten an einer Leiter auf. Vorher jedoch wurde das Schwein in einer Wanne mit kochendem Wasser abgebrüht. Das hatte was mit den Borsten zu tun. Die gingen, glaube ich, durch die Hitze ab. Der Vater, er war nicht Hildes richtiger Vater, sondern ihr Stiefvater, nahm sein Messer und öffnete mit einem kräftigen Schnitt den Bauch, sodass die Eingeweide frei lagen. Er entnahm sie einzeln und legte sie in eine Zinkwanne.

Es war dieselbe Wanne, in der sonst Hildes kleine Brüder gebadet wurden.

Als Veronika nun in leuchtenden Farben das Herz, die Lunge, die Leber und was sich sonst noch in einem Schweinekörper befindet, beschrieb, musste ich mich schrecklich zusammennehmen, besonders zum Schluss, beim Höhepunkt ihrer Erzählung. Scheinbar um sich selbst nicht zu beschmutzen, streckte Veronika die Arme weit vor und demonstrierte in der Luft, wie Hildes Mutter mit den Fingern den Schweinedarm ausstrich, sodass die Kacke herauskleckerte.

Keine Frage, Veronika schoss mit ihrer Darstellung den Vogel ab. Mir jedoch wurde schon beim Zuhören schlecht. Kein Wunder, dass wir uns vornahmen, niemals wieder Fleisch oder Wurst, geschweige denn Tote Oma zu essen. Dieser Vorsatz hielt allerdings nicht lange an, denn es war bei uns üblich, das Ende der Woche mit Würstchen, Senf, Salzgurken und Weißbrot zu krönen.

Samstags auf Knackwurst zu verzichten, war unmöglich.

Ich mochte sie zu gerne, sodass ich übermütig wurde und meiner Mutter zurief: Mutti, gib mir noch eine Kackwurst.

Das sagte ich natürlich absichtlich, damit die Brüder und mein Vater über meinen Versprecher lachten. Sie wussten nicht, dass ich an das Schweinegedärm dachte.

Ich aber wusste, dass sie mich, wenn ich ein bisschen vorlaut war, niedlich fanden.

Die Blutflecke jedoch, die auf dem Arztkittel und dem Bettlaken rot leuchteten, waren kein Schweineblut.

Es war mein Blut.

Nach und nach wurde es immer mehr, dieses Blut, welches aus meinem Schoß pulste, während der Arzt mit seinem Handballen auf meinen Bauch drückte und ich mich haltlos übergab, kotzte, wie auch immer. Es war ein einziges Würgen, welches aus meinem Hirn zu brechen schien.

drei Personen in einem Raum

erstens

der Arzt

zweitens

meine Mutter

drittens

ich

Von Ferne war die beruhigende Stimme des Arztes zu hören.

Du hast es hinter dir.

Alles wird gut.

Und dann energisch, im selben Tonfall wie der Namenlose, wenn er mir danach ein Papiertaschentuch zum Abwischen reichte: Hier Karin, nimm die Spuckschale.

Die silbrig metallene Schale, die mir der Arzt unters Kinn hielt, erinnerte mich durch ihre Nierenform sofort an unseren Couchtisch.

Vom Couchtisch sprangen meine Gedanken zu meinem dreizehnten Geburtstag.

Vom Geburtstag zum neuen Kleid, dem mit dem schicken Gürtel.

Vom neuen Kleid zu dem besonderen Geburtstagsgast.

Vom diesem zu dessen neugierig kitzelndem Finger.

Von diesem Berührungsgefühl zur nackten Maja, der hingestreckten Schönen und von ihr direkt zur Moorelfe.

Der Arzt hatte viel zu tun. Es stand ihm keine Krankenschwester zur Seite, weshalb er gezwungen war, sich um Mutter und Tochter gleichzeitig zu kümmern. Seine Fürsorge galt aber vorwiegend mir, der Patientin.

Obwohl völlig weggetreten, bekam ich alles mit.

ichschlaff

der Geist in Grelle verdunkelt

meine Mutter hektischganz außer sich

Vehement wehrte sie die beschwichtigende Hand des Arztes ab. Unbeherrscht kreischend warf sie sich über ihre Tochter, kümmerte sich weder um Blut noch um Erbrochenes, klagte den Arzt und mit ihm den Rest der Welt an, weil ihr Kind, ihr schönes Kind, in jener Nacht gestorben war.

verdorbengestorben

Mit funkelnden Augen und schriller Stimme schleuderte sie ihm seine Schuld entgegen.

nur er

schuldig

Kein Wort davon, dass sie ihn nachdrücklich gebeten, sogar angebettelt und selbstverständlich auch bezahlt hatte, den Inhalt aus dem Bauch ihrer Tochter herauszulöffeln und mit dem Inhalt etwas, was nie wieder hineinkommen würde.

Sie hatte es gewollt.

Die Mutter hat‘s gewollt, dass es so kommen sollt.

Die Tochter hatte man nicht gefragt.

Und heute?

Heute liege ich, die Tochter, ihr Kind, die Karin, in einem Bett mit verstellbarem Kopf- und Fußteil. Es steht in einem Krankenhaus. Das Bett ist nicht besudelt, sondern frisch bezogen. Das Zimmer ist hell und luftig.

Das Fenster schenkt mir einen erholsamen Blick in den parkartigen Hof. Ich fühle mich gut umsorgt. Die Krankenschwester hat eine Glocke mit einer Sicherheitsnadel am Leintuch befestigt, damit ich sie sofort finde, wenn ich Hilfe brauchen sollte. Ein Griff baumelt über mir.

Ich könnte mich an ihm hochziehen. Ich aber unterlasse diese Anstrengung lieber und liege nur da. Die einzige Aktivität, die mir geblieben ist, ist das Denken und das Mich-Erinnern.

Wenn ich meine Lebenserlebnisse vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lasse, gelingt es mir manchmal, meine Angst hinter den Nebel der Erinnerungen zu schieben.

Seltsam, inzwischen bin ich vollständig davon beansprucht, meinem Ich verschiedene Identitäten zuzuordnen.

Mal bin ich die Karin mit den langen Beinen, dann die schöne Maja auf der Liege, dann die Rad schlagende Moorelfe zwischen Erlen und Birken. Doch gleichgültig, wen ich mir aussuche, eigentlich bin ich immer nur ich.

Ist jeder nur sein eigenes ich?

Immer nur ich?

Trotzdem ist es verwirrend, sich zwischen Karin, Maja und der Moorelfe zurecht finden zu müssen.

Verwirrend, denn ich bin verwirrt und kenne meine eigene Position nicht mehr. Am liebsten lasse ich mich treiben und schlüpfe von der einen Rolle in die nächste.

Kann es sein, dass man in aufeinanderfolgenden Lebensabschnitten verschiedene Rollen spielt?

Ist das Unsinn?

Es stellt sich auch die Frage, ob das, was ich erlebt habe, nun ein Drama oder eine Tragödie ist.

Oder doch nur eine Komödie?

Der Namenlose mochte es zu gerne, wenn ich mir kleine Szenen ausdachte. Ich glaube, er meinte sogar einmal, ich sei begabt und hätte das Zeug zur Schauspielerei, so richtig auf der Leinwand oder der Theaterbühne.

Fast habe ich mich an das Liegen gewöhnt und unterlasse jegliche Kraftanstrengung. Diese Bewegungslosigkeit wäre mir früher unvorstellbar gewesen.

Denn bin ich nicht Karin, die Sportliche, die schneller laufen kann als alle anderen, auch springen, sehr weit sogar, fast als könnte sie fliegen?

ersteszweitesdrittes

Rad geschlagen

dann Zack

noch ein kleiner Hopser hinauf

zu ihm

Ach was, an meine Zirkusvorführung will ich jetzt nicht denken.

Auf Sportfesten war mir die Urkunde sicher, natürlich immer die Ehrenurkunde, vom Bundespräsidenten mit schwungvoller Signatur geadelt. Da konnte man schon ein bisschen stolz sein.

Mein Leben war Bewegung.

Anders als Veronika, mochte ich am liebsten Geräteturnen.

Barren Ringe Reck

Schwünge Kerze Vogelnest

hin und her hoch hinauf

Aufschwung Unterschwung

rings herum um und um

Mir fielen die Schwünge leicht, ganz gleich ob hoch oder runter. Besonders genoss ich die Vorstellung, während der sportlichen Aktionen gut auszusehen.

Nein, gutes Aussehen reichte nicht. Ich fühlte mich als das attraktivste Mädchen weit und breit. Ich hielt es für selbstverständlich, dass die Jungen in der Schule Stielaugen machten, hinter mir her sabberten und sich grämten, von mir mit Nichtachtung gestraft zu werden.

Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich anderes vorhatte, als kleinen Jungs zu zeigen, wo es lang geht.

Das ist lange her.

Inzwischen habe ich abgewirtschaftet.

Bin nicht mehr schön.

An einen Tropf gefesselt liege ich nur noch im Bett und grübele über das nach, was mir ein Vierteljahrhundert zuvor angetan worden ist. Nur selten gelingt es mir, die dunklen Gedanken zu verscheuchen und mir vorzustellen, wie ich mit gestreckten Fußspitzen auf einem Barren hin- und herschwinge.

Dann mache ich auf den Stangen Handstand.

Dann springe ich locker ab.

Dann grüße ich wie eine Ballerina elegant mit der Hand.

Alles nur Traum.

ausvorbei

Augenblicklich wäre ich schon dankbar, wieder auf die Füße zu kommen. Aber am schönsten wäre es, wenn in diesem Moment Veronika an meinem Bett säße, meineFreundin Veronika, die an allen Geräten wie ein nasser Sack hing.

mit gegangen

mit gefangen

mit gehangen

gangen

fangen

hangen

Oh je, hat er mir diesen Spruch ins Ohr geblasen?

Bin ich nicht mit ihm gegangen?

Hat er mich nicht gefangen?

Hänge ich noch an ihm?

Oder hänge ich nur an einem Schlauch, durch den Blut aus einer Flasche in meine Vene tropft?

Oder ist es ein Beutel?

Vom wem mag dieses Blut wohl stammen?

Von hier unten gesehen, sieht es ziemlich dunkel aus.

Man könnte fast meinen, es wäre schwarz.

Ist das wirklich Menschenblut?

Musste es auch gerührt werden?

Was ist mit mir?

Kann ich nur noch in Fragen denken?

Tier- und Menschenblut kann man farblich gesehen nicht unterscheiden. Doch obwohl beides gleich rot ist, bin ich sicher, dass die Flasche kein Schweineblut enthält. Aber merkwürdig ist es schon, dass Menschenblut nicht anders als das der Tiere aussieht.

Einfach nur rot, wenn auch ein besonderes Rot, dieses Rot, das wie keine andere Farbe auf Weiß leuchtet.

Ich wüsste schon gerne, wessen Blut sich da oben in der Flasche befindet und wer es war, der oder die sich für mich anzapfen ließ.

Wie ist das eigentlich?

Werde ich mich durch dieses fremde Blut verändern?

Übernimmt man Eigenschaften des Spenders?