Die Morde in der Rue Morgue - Edgar Allan Poe - E-Book

Die Morde in der Rue Morgue E-Book

Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Mit scharfer Kombinationsgabe klärt Auguste Dupin einen rätselhaften Doppelmord in der Pariser Rue Morgue auf. Die 1841 veröffentlichte Kurzgeschichte ist Poes erste Detektivgeschichte und steht damit am Beginn der modernen Kriminalliteratur. Die Ausgabe bietet den Text in der bewährten Übersetzung von Siegfried Schmitz. Mit Worterläuterungen, weiterführenden Literaturhinweisen und einer kurzen Nachbemerkung.

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Seitenzahl: 78

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Edgar Allen Poe

Die Morde in der Rue Morgue

Übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Siegfried Schmitz

Reclam

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962157-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014418-3

www.reclam.de

Inhalt

Die Morde in der Rue Morgue

Anhang

[5]Die Morde in der Rue Morgue

Was für ein Lied die Sirenen sangen oder welchen Namen Achilles annahm, als er sich unter den Weibern verbarg – diese Fragen sind zwar verzwickt, schließen aber nicht jegliche Lösungsmöglichkeit aus.

 Sir Thomas Browne, Die Graburne

[7]Die geistigen Eigenschaften, die man als die analytischen bezeichnet, sind selber der Analyse nur wenig zugänglich. Wir erkennen sie allein in ihren Wirkungen. So wissen wir unter anderem von ihnen, dass sie für den, der sie in ungewöhnlichem Maße besitzt, stets eine Quelle lebhaftesten Genusses sind. Wie der Starke sich seiner körperlichen Kraft freut und Gefallen findet an Übungen, bei denen er seine Muskeln betätigen kann, so kostet der Analytiker den geistigen Vorgang des Entwirrens aus. Ihm machen selbst die trivialsten Beschäftigungen Spaß, sofern er dabei sein Talent entfalten kann. Er liebt Rätsel, Vexierfragen, Hieroglyphen und entwickelt bei jeder Lösung einen Grad von Scharfsinn, der dem gewöhnlichen Verstand übernatürlich erscheint. Seine Resultate, die ausschließlich und wesentlich durch methodisches Vorgehen zustande kommen, erwecken tatsächlich ganz und gar den Anschein einer Intuition. Das Lösungsvermögen wird möglicherweise durch das Studium der Mathematik erheblich gefördert, und zwar besonders durch ihren höchsten Zweig, den man zu Unrecht und nur wegen seiner rückschließenden Operationen gleichsam par excellence Analyse nennt. Doch rechnen heißt noch nicht analysieren. Ein Schachspieler beispielsweise tut das eine, ohne sich um das andere zu bemühen. Daraus folgt, dass das Schachspiel in seinen Auswirkungen auf den geistigen Charakter weitgehend falsch eingeschätzt wird. Ich will hier keine Abhandlung schreiben, sondern lediglich eine etwas absonderliche Geschichte mit ein paar mehr oder weniger zufälligen Bemerkungen einleiten; ich möchte deshalb die Gelegenheit benutzen, um zu behaupten, [8]dass die höheren Kräfte des reflektierenden Intellekts durch das unscheinbare Damespiel entschiedener und sinnvoller auf die Probe gestellt werden als durch die ganze ausgeklügelte Oberflächlichkeit des Schachspiels. Bei diesem letzteren Spiel, in dem die Figuren verschiedenartige und bizarre Bewegungen von unterschiedlichem und veränderlichem Wert auszuführen haben, wird das, was nur kompliziert ist, fälschlicherweise für etwas Tiefgründiges gehalten (ein nicht eben seltener Irrtum). Die Aufmerksamkeit wird dabei stark in Anspruch genommen. Lässt sie nur einen Augenblick nach, so übersieht man etwas, was Nachteile oder eine Niederlage zur Folge hat. Da die möglichen Züge nicht nur mannigfaltig, sondern auch verworren sind, vervielfältigen sich die Möglichkeiten eines solchen Versehens, und in neun von zehn Fällen wird der konzentriertere Spieler eher gewinnen als der scharfsinnigere. Beim Damespiel hingegen, in dem die Züge eindeutig festgelegt sind und nur wenige Variationen gestatten, ist die Wahrscheinlichkeit einer Unachtsamkeit geringer, und da die bloße Aufmerksamkeit vergleichsweise wenig in Anspruch genommen wird, sind die Vorteile, die eine der beiden Parteien erzielt, einem überlegenen Scharfsinn zuzuschreiben. Weniger abstrakt ausgedrückt: Stellen wir uns eine Partie Dame vor, bei der die Figuren auf vier Damen zusammengeschmolzen sind und bei der selbstverständlich kein Versehen zu gewärtigen ist. Es liegt auf der Hand, dass hier die Partie (bei völlig gleichwertigen Spielern) nur durch einen besonders raffinierten Zug entschieden werden kann, durch das Ergebnis einer großen geistigen Anstrengung. Wenn die gewöhnlichen Hilfsmittel versagen, versetzt sich der Analytiker in den Geist seines Widersachers, er identifiziert sich [9]mit ihm und erkennt so nicht selten mit einem Blick die einzige (zuweilen lächerlich einfache) Methode, durch die er ihn zu einem Schnitzer verführen oder zu einer überstürzten Fehlkalkulation veranlassen kann.

Das Whistspiel ist seit langem wegen seines Einflusses auf das so genannte Berechnungsvermögen berühmt; und wie man weiß, finden Männer von höchstem intellektuellen Rang ein scheinbar unerklärliches Vergnügen daran, während sie das Schachspiel als oberflächlich verschmähen. Ohne Zweifel gibt es nichts Vergleichbares, was die analytischen Fähigkeiten dermaßen auf die Probe stellt. Der beste Schachspieler der Christenheit ist vielleicht nicht viel mehr als eben der beste Schachspieler; aber die Fertigkeit im Whistspiel schließt die Fähigkeit zum Erfolg in all den wichtigeren Unternehmungen ein, in denen der Geist mit dem Geist kämpft. Wenn ich »Fertigkeit« sage, so meine ich jene Vollendung des Spiels, die ein Erfassen aller Möglichkeiten, aus denen sich ein rechtmäßiger Vorteil ziehen lässt, in sich birgt. Diese sind nicht nur zahlreich, sondern auch vielgestaltig, und sie liegen häufig in Tiefen des Denkens verborgen, die dem gewöhnlichen Verstand ganz und gar unzugänglich sind. Aufmerksam beobachten heißt sich genau erinnern, und insofern wird der konzentrierte Schachspieler beim Whist sehr gut mithalten können, zumal die Regeln von Hoyle (die ihrerseits auf dem bloßen Mechanismus des Spiels beruhen) hinreichend und allgemein verständlich sind. Ein merkfähiges Gedächtnis zu haben und sich nach dem »Buch« zu richten gilt deshalb gemeinhin als der Inbegriff des guten Spiels. Doch erst in Dingen, die jenseits des Bereichs der bloßen Regeln liegen, erweist sich die Kunst des Analytikers. In aller Stille kommt er zu einer [10]Fülle von Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Das trifft vielleicht auch auf seine Mitspieler zu, und der Unterschied im Ausmaß der so gewonnenen Informationen besteht nicht so sehr in der Stichhaltigkeit der Schlussfolgerung wie in der Qualität der Beobachtung. Vor allem muss man wissen, was man beobachten soll. Unser Spieler erlegt sich dabei keinerlei Beschränkungen auf, noch weist er, weil das Spiel die Hauptsache ist, irgendwelche Schlüsse zurück, die sich aus Dingen außerhalb des Spiels ergeben. Er prüft die Miene seines Partners und vergleicht sie sorgfältig mit der seiner einzelnen Gegenspieler. Er achtet auf die Art und Weise, wie jeder seine Karten in der Hand ordnet; oft zählt er Trumpf auf Trumpf und Honneur auf Honneur an den Blicken nach, mit denen die Besitzer ihre Karten bedenken. Er bemerkt im Verlauf des Spiels jede Veränderung des Gesichtsausdrucks und zieht seine Schlüsse aus den verschiedenen Äußerungen von Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Verärgerung. Aus der Art, wie jemand einen Stich aufnimmt, schließt er, ob die betreffende Person noch einen weiteren Stich in derselben Farbe machen kann. Er erkennt ein Täuschungsmanöver an der Gebärde, mit der die Karte auf den Tisch geworfen wird. Ein beiläufiges oder unbedachtes Wort; das zufällige Fallenlassen oder Umwenden einer Karte und die gleichzeitige Ängstlichkeit oder Lässigkeit, mit der man dies zu verbergen sucht; das Zählen der Stiche und die Reihenfolge, in der man sie ordnet; Verlegenheit, Zögern, Eifer oder Verzagtheit – all das sind für sein offenbar intuitives Wahrnehmungsvermögen Anhaltspunkte, die ihm den wahren Stand der Dinge verraten. Nachdem die ersten zwei oder drei Runden gespielt sind, weiß er genau, welches Blatt jeder in der Hand hat, [11]und fortan spielt er seine Karten mit einer so absoluten Zielsicherheit aus, als ob seine Mitspieler ihm die ihren offen entgegenhielten.

Die analytische Fähigkeit darf nicht mit der bloßen Erfindungsgabe verwechselt werden; denn der Analytiker ist zwar notwendigerweise erfinderisch, aber der Erfinderische ist oftmals erstaunlich unfähig zur Analyse. Die konstruktive oder kombinatorische Begabung, in der sich die Erfindungsgabe gewöhnlich bekundet und der die Phrenologen (meines Erachtens zu Unrecht) ein eigenes Organ zugeordnet haben, da sie sie für eine angeborene Eigenschaft halten, ist bei Menschen, deren Intelligenz im Übrigen an Idiotie grenzte, so häufig beobachtet worden, dass sie bei Sittenschilderern allgemeine Beachtung gefunden hat. Zwischen der Erfindungsgabe und der analytischen Begabung besteht indes ein weit größerer Unterschied als zwischen der Phantasie und der Einbildungskraft, allerdings einer von streng analoger Art. Man wird in der Tat feststellen, dass die Erfinderischen stets phantasievoll und die mit wahrer Einbildungskraft Begabten nie etwas anderes als Analytiker sind.

Die nachfolgende Erzählung wird dem Leser in gewisser Weise wie ein Kommentar zu den soeben vorgebrachten Behauptungen vorkommen.

Als ich mich im Frühjahr und teilweise auch noch im Sommer 18 . . in Paris aufhielt, machte ich dort die Bekanntschaft eines gewissen Monsieur C. Auguste Dupin. Dieser junge Herr entstammte einer hervorragenden, ja sogar berühmten Familie, war jedoch durch mannigfache Schicksalsschläge in solche Armut geraten, dass die Energie seines Charakters ihr erlag und er es aufgab, sich in der Welt [12]umzutun oder sich um die Wiedererlangung seines Vermögens zu bemühen. Dank dem Entgegenkommen seiner Gläubiger war ihm ein kleiner Rest seines väterlichen Erbteils geblieben, und durch strenge Sparsamkeit gelang es ihm, sich mit den Einkünften, die er daraus bezog, das zum Leben Notwendige zu beschaffen, ohne sich um Überflüssiges zu kümmern. Bücher waren für ihn tatsächlich der einzige Luxus, und diese sind in Paris leicht zu haben.

Unsere erste Begegnung fand in einer obskuren Bücherei in der Rue Montmartre statt, wo uns der Zufall, dass wir beide auf der Suche nach demselben sehr seltenen und sehr merkwürdigen Werk waren, näher zusammenführte. Wir trafen einander immer wieder. Ich nahm großen Anteil an der kleinen Familiengeschichte, die er mir ausführlich und mit der ganzen Offenheit erzählte, deren sich ein Franzose befleißigt