Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Liebe und das Leben, die Natur und die oft schrecklichen, oft komischen Beziehungen von Menschen - das sind die Themen des sanften Melancholikers Jochen Kelter. Und seine Gedichte sind leise Lieder, formvollendet und schön, wie gezeichnet von einem nüchternen Pathetiker, der weiß, dass er die meiste Zeit des Seins hinter sich gebracht hat. Die Blicke zurück häufen sich, Bilanzen werden gezogen, und mehr und mehr wird nach dem Sinn dessen gefragt, was einer getan - und unterlassen hat. Immer aber tröstet: die Präsenz der Natur. Kelter versteht es, "Landschaften, Jahreszeiten, Gerüche oder Erinnerungsbilder vor das Auge des Lesers zu zaubern." (Roman Bucheli, NZZ) Und ihn, den Leser, zu verzaubern.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 39
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum
Jochen Kelter
Die Möwen von Sultanahmet
Gedichte
© Weissbooks GMBH Frankfurt am Main 2015
Alle Rechte vorbehalten
Konzept Design
Gottschalk+Ash Int’l
Umschlag
Julia Borgwardt, borgwardt design
unter Verwendung eines Motivs von
© Sayanny/fotolia.com
Foto Jochen Kelter
© Franzis von Stechow
Satz
Publikations Atelier, Dreieich
Erste Auflage 2015
ISBN 978-3-86337-091-6
Dieses Buch ist auch als Printversion erhältlich
ISBN 978-3-86337-017-6
weissbooks.com
Jochen Kelter
Gedichte
Die Möwenvon Sultanahmet
Der Autor dankt der Kulturstiftung des Kantons Thurgau für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.
Jochen Kelter, geboren 1946 in Köln, Studium der Romanistik und Germanistik in Deutschland und Frankreich. Erzähler, Lyriker, Essayist. Lebt im schweizerischen Ermatingen am Bodensee. Verschiedene Literaturpreise und Auszeichnungen. Wichtige Publikationen: Bodenseegeschichten, hrsg. zusammen mit Hermann Kinder, Eine Ahnung von dem was ist (Gedichte), Verweilen in der Welt (Gedichte), Hall oder Die Erfindung der Fremde (Roman). Zuletzt erschien bei weissbooks.w Hier nicht wo alles herrscht (Gedichte, 2014).
in memoriam Johannes Poethen
Dein Foto hängt
im engen Treppengang
im handtuchschmalen Haus
unter dem von Thaddäus: Zigarre
im verschmitzten Mund
beinahe eine Dynastie
Seither ist keines mehr
dazugekommen: die Zeit verebbt
nun werden die Despoten
wieder über Nacht verjagt
Luft zu atmen anstelle
der Erstickungsbilder
Bleiben wird von uns nichts
nichts von denen auch
die ihre Völker beraubten
und nichts von jenen
die sie vertrieben Staub
wird am Ende übrig sein
Zwei Verse in einem Buch
das vergilbt wir werden immer
auf ihrer Seite gewesen sein
nie auf jener der Bildnisse
wir hängen uns ab
unsere einzige Zierde
Ein armer Mann
bleibt auch in der Wüste
ein armer Mann
eine Frau ohne das Recht
den Blick zu heben kann
in den Himmel schauen
sie bleibt unter den anderen
und auch in ihrem Hof
allein eine blicklose Frau
ein Jüngling kann
weit über das Meer sehen
bis zu der Linie an der sich
Himmel und Wasser berühren
umdrehen kann er sich nicht
ein Taxifahrer erbricht
mit seinem klapprigen Gefährt
das Brot für seine Familie
seinen Mithäftlingen
den Polizisten entkommt
er nicht der zahnlose Alte
weiss dass es immer so war
seit der Prophet uns verliess
Ist es dieser März
nun in dem ausgesät wird
was die Menschen ernten werden?
Kleine Fächer so vernehm ich
blühen auf zu weissen Segeln
auf dem Fluss und an den Küsten
Starker Wind so hör ich
bläht sie auf zu runden Bäuchen
doch die Winde fürcht ich
könnten fallen Frühjahr
könnte in den Sommer blauen
und wir würden die Bilanzen
Neu anschauen Märzenlust
Frühjahrsband doch der Sommer
schaut genau auf die Zahlen
die das Jahr beenden werden
und uns ist nun mal bestimmt
allem Ende hier auf Erden
Vorzubauen haben wir uns
nicht schon einmal verrechnet
am Strand des Euphrat dazumal?
Ach da wehten keine Winde?
Richtig doch das ist der
Rechnung einerlei ist das Jahr
Dannzumal vorbei wenn wir
nur den Winden trauten
und den Strömen die uns treiben
könnten wir den Grund verlieren
allen Scheins der festen Dinge
die allein uns bleiben
für Sinan Gudzevic
Du gibst weder Laut
noch Wort antwortest nicht
durch die fernen Wellen
des Äthers und nicht
auf Papier: unserem Grund
Wir wollten keine Berge
versetzen sondern Gedichte
damals als sie noch
die Welt aufschlossen
in Belgrad Sarajevo Salerno
Ist der Vesuv implodiert?
Sind die Balkane verkauft?
Ist die Welt im Tsunami
verschwunden? Kämpfst du
als Weltsoldat in Benghasi?
Rettest du »Partizan«?
Welche Springflut lässt dich
verstummen? Entdeckst du
das Geheimnis Silber zu
verwandeln in Schweigen?
Sag mir die neue Welt
Zwei Herren im Gehrock
mit Bart und Zylinder
betrachten von ihrem Balkon
die Fassaden der hohen
Haussmannschen Häuser auf
der anderen Seite der Avenue
über den dichtgrünen Bäumen
es könnte gestern gewesen sein
nur die Natur braucht noch
zwei Wochen und Arabien
wohl noch viel länger
allein auf diesem Bild blühen
die Bäume regungslos
ans Ende nun endlich gerückt
der Menschheitsgeschichte
währt das Frühjahr ewig
Das Frühjahr lang
und breit und schattenlos
die Blüte früh schon weiss
und gelb und rot und gross
im Winter ging das Frühjahr los
bald würden wir ja auf der
anderen Seite des kleinen
Meeres sein das uns trennt
im Frühling in Arabien
Oasen der Omayaden
kanalisiertes Wasser der Kalifen
Bethäuser nah dem Paradies
das Visum wird nicht mehr
gebraucht wir bleiben sie
sind dort wo Schüsse hallen
Menschen fallen ist kein Ort
ausser für sie alle vereint
gegen den Tod erst danach
kommt das Wort
Wie viele Winter später
wie viele Sommer vorbei
Frühjahr scheint von weit
oben her durch den Äther
und du wirst müde dabei