Die Mutprobe - Vladimir Nabokov - E-Book

Die Mutprobe E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

«Die Mutprobe» erinnert voller Melancholie an die russische Heimat Vladimir Nabokovs. Seine Hauptfigur Martin Edelweiß ist ein wurzelloser Emigrant. Studium in Cambridge, langweilige Ferien in der Schweiz, eine Dreiecksgeschichte, in der er der unglückliche Dritte ist, Berlin und die in sich geschlossene Welt der russischen Emigranten-Stationen eines jungen Heimatlosen, den Nabokov auf der Suche nach einem Lebenssinn durch ein gefährdetes Europa zwischen den Kriegen treiben lässt.

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Vladimir Nabokov

Die Mutprobe

Roman

Deutsch von Susanna Rademacher

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Die Mutprobe» erinnert voller Melancholie an die russische Heimat Vladimir Nabokovs. Seine Hauptfigur Martin Edelweiß ist ein wurzelloser Emigrant. Studium in Cambridge, langweilige Ferien in der Schweiz, eine Dreiecksgeschichte, in der er der unglückliche Dritte ist, Berlin und die in sich geschlossene Welt der russischen Emigranten-Stationen eines jungen Heimatlosen, den Nabokov auf der Suche nach einem Lebenssinn durch ein gefährdetes Europa zwischen den Kriegen treiben lässt.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

1

Wenn es auch komisch erscheinen mag: Martins Großvater Edelweiss war Schweizer – ein robuster Schweizer mit flaumig weichem Schnurrbart, der in den 1860er Jahren Hauslehrer bei einem St. Petersburger Grundbesitzer namens Indrikow gewesen war und dessen jüngste Tochter geheiratet hatte. Martin glaubte anfangs, die samtige weiße Alpenblume, dieses Hätschelkind der Herbarien, wäre seinem Großvater zu Ehren so genannt worden. Selbst später konnte er sich von dieser Auffassung nicht ganz frei machen. Er erinnerte sich deutlich an seinen Großvater, aber nur in einer Situation und Haltung: ein beleibter alter Mann, ganz in Weiß gekleidet, mit hellem Schnurrbart, einem Panamahut auf dem Kopf und einer Pikeeweste, auf der zahlreiche Berlocken baumelten (die lustigste darunter war ein Dolch von der Größe eines Fingernagels), der vor dem Haus im unsteten Schatten einer Linde auf einer Bank saß. Auf ebendieser Bank war er auch gestorben, in der Hand seine geliebte goldene Uhr, deren Deckel einem kleinen goldenen Spiegel glich. Der Schlag rührte ihn bei dieser zeitbezogenen Geste, und nach der Familienlegende standen die Uhrzeiger im selben Augenblick still wie sein Herz.

Noch viele Jahre lang wurde Großvater Edelweiss in einem massiven Lederalbum aufbewahrt; zu dieser Zeit wurde nach ästhetischen Gesichtspunkten photographiert, nach sorgfältiger Überlegung. Das Unternehmen war kein Spaß, der Patient war zu langer Unbeweglichkeit verurteilt, und lächeln durfte er erst viel später, nach der Erfindung der Schnappschussphotographie. Die Kompliziertheit der Heliographie war der Grund für die Gewichtigkeit und Solidität von Großvaters männlichen Posen auf diesen etwas verblassten, aber sehr qualitätsvollen Bildern: Großvater als Jüngling mit einer frisch erlegten Waldschnepfe zu seinen Füßen; Großvater auf dem Rücken der Stute Daisy; Großvater auf einem gestreiften Verandastuhl mit einem schwarzen Dackel, der nicht hatte stillsitzen wollen und infolgedessen auf der Photographie drei Schwänze hatte. Erst 1918 verschwand Großvater Edelweiss völlig, denn das Album ging in Flammen auf wie auch der Tisch, auf dem das Album lag, und, um genau zu sein, das ganze Landhaus, das die Bauernburschen aus dem nächsten Dorf törichterweise so, wie es war, bis auf den Grund niederbrannten, statt die Einrichtung zu Geld zu machen.

Martins Vater war Dermatologe, und zwar ein berühmter. Wie Großvater war auch er sehr weißhäutig und korpulent, angelte in seiner Freizeit gern Grundeln und besaß eine herrliche Sammlung von Dolchen und Säbeln und auch von fremdartigen, langen Pistolen, derentwegen die Benutzer modernerer Waffen ihn fast vor ein Exekutionskommando gestellt hätten. Anfang 1918 wurde er aufgedunsen und kurzatmig, und um den 10. März herum starb er unter unklaren Umständen. Seine Frau Sofia und ihr Sohn lebten zu dieser Zeit in der Nähe von Jalta: Der Ort probierte bald dieses, bald jenes Regime aus, zu wählerisch, um sich entscheiden zu können.

Sie war eine rosige, sommersprossige, jugendliche Frau mit einem dicken hellen Haarknoten und hochgeschwungenen Augenbrauen, die sich über dem Nasenbein verdickten und zu den Schläfen hin nahezu unsichtbar wurden; in den langgezogenen Läppchen ihrer zarten Ohren hatte sie kleine Schlitze (für Ohrringe, die sie jetzt nicht mehr trug). Noch kürzlich hatte sie auf ihrem Landsitz im Norden kraftvoll und gewandt Tennis gespielt, auf ihrem eigenen Tennisplatz, der in den 1880er Jahren angelegt worden war. Im Herbst fuhr sie stundenlang auf einem schwarzen Enfield-Fahrrad durch die Parkalleen mit ihrem laut raschelnden Teppich von trockenem Laub. Manchmal wanderte sie auch zu Fuß das elastische Bankett der Landstraße entlang, den weiten Weg von Olchowo nach Woskressensk[1], den sie von Kind auf liebte, wobei sie ihren kostspieligen Stock mit dem Korallengriff schwang wie ein zünftiger Wandersmann. In der Petersburger Gesellschaft war sie für ihre Anglomanie bekannt, und sie genoss diesen Ruf – sie konversierte geläufig über Themen wie Boy Scouts oder Kipling und fand besonderes Vergnügen an häufigen Besuchen in Drew’s English Shop, wo einen schon auf der Treppe außer einem großen Plakat (eine Frau, die einem Jungen mit dickem Seifenschaum den Kopf wusch) ein köstlicher Duft nach Seife und Lavendel begrüßte mit einer Beimischung von etwas anderem, das an zusammenlegbare Gummiwannen, Fußbälle und runde, schwere, fest verpackte Weihnachtspuddings gemahnte. Folglich war Martins erste Lektüre in englischer Sprache geschrieben: Seine Mutter verabscheute die russische Kinderzeitschrift Saduschewnoje slowo (Das herzliche Wort) und schürte in ihm eine solche Aversion gegen Madame Tscharskijs[2] junge Heldinnen (mit dunklem Teint und wohlklingendem Titel), dass er noch Jahre später um jedes von einer Frau geschriebene Buch einen Bogen machte, denn auch in den besten Exemplaren dieser Gattung witterte er bei nicht mehr ganz jungen und vielleicht rundlichen Damen den unbewussten Drang, sich mit einem hübschen Namen zu schmücken und sich gleich einem Kätzchen auf dem Sofa zusammenzurollen. Sofia hasste alle Diminutive, vermied selber streng ihren Gebrauch und wurde ärgerlich, wenn ihr Mann etwa sagte: «Söhnchen hat wieder ein Hüsterchen – messen wir mal seine temperaturka.» Russische Kinderbücher wimmelten von niedlichen Lispelwörtern, wenn sie nicht die Sünde des Moralisierens begingen.

Wenn der großväterliche Familienname in den Bergen blühte, so war der magische Ursprung des Mädchennamens von Martins Großmutter weit entfernt von den verschiedenen Wolkows (Wolfs), Kunizyns (Martens) oder Belkins (Eichhorns) und gehörte der russischen Märchenfauna an. Vor langer, langer Zeit durchstreiften prachtvolle wilde Tiere unser Land. Aber Sofia fand russische Märchen plump, grausam und ekelhaft, russische Volkslieder albern und russische Rätsel idiotisch. Sie glaubte nicht recht an Puschkins berühmte Kinderfrau und meinte, der Dichter habe sie genauso erfunden wie ihre Märchen, Stricknadeln und Herzensnöte. So kam es, dass Martin in der frühen Kindheit etwas gar nicht kennen lernte, was später dank der Lichtbrechung der Erinnerung seinem Leben einen besonderen Zauber hätte verleihen können. Allerdings fehlte es ihm nicht an zaubrischen Dingen, und er hatte keine Ursache, zu bedauern, dass nicht der russische fahrende Ritter Ruslan, sondern dessen abendländischer Bruder seine Kinderphantasie geweckt hatte. Aber was liegt schon daran, woher der sanfte Anstoß kommt, der die Seele aufrüttelt, ins Rollen bringt und dazu verdammt, nie wieder stillzustehen?

2

An der hellen Wand über dem schmalen Kinderbett mit den Seitengittern aus weißer Schnur und der kleinen Ikone am Kopfende (braun lackiertes Heiligengesicht auf Blattmetall, mit karminrotem Plüsch unterlegt, der von Motten oder von Martin selbst ein wenig angeknabbert war) hing ein Aquarell, das einen dichten Wald darstellte mit einem gewundenen Pfad, der sich in Waldestiefen verlor. Nun gab es in einem der englischen Bücher, die seine Mutter ihm vorzulesen pflegte (wie langsam und geheimnisvoll sie die Wörter aussprach und was für große Augen sie machte, wenn sie ans Ende der Seite kam, ihre ein wenig sommersprossige kleine Hand darauflegte und fragte: «Und was, glaubst du, ist dann passiert?»), eine Geschichte über genauso ein Bild von einem Waldpfad, das direkt über dem Bett eines kleinen Jungen hing, und dieser kleine Junge ging eines Nachts so, wie er war, nämlich im Nachthemd, von seinem Bett aus in das Bild hinein, auf den Pfad, der sich im Walde verlor. Seine Mutter, so dachte Martin ängstlich, würde vielleicht die Ähnlichkeit des Aquarells an der Wand mit der Illustration im Buch bemerken; sie würde unruhig werden und – das konnte man sich ausrechnen – den nächtlichen Ausflug unterbinden, indem sie das Bild von der Wand nahm. Also betete er jeden Abend vor dem Einschlafen nach seinen üblichen Nachtgebeten (erst kam ein kurzes englisches Gebet: «Süßer Jesus, fromm und lind, höre auf ein kleines Kind», und dann das «Vaterunser» in der slawischen Version mit den vielen Zischlauten und Unverständlichkeiten) eilig plappernd und bemüht, die Knie aufs Kissen hinaufzuziehen – was seine Mutter aus Gründen der Askese für unzulässig hielt –, Martin betete also zu Gott, dass sie diesen verlockenden Pfad über seinem Kopf nicht bemerken möge. Immer wenn er als Jüngling an die Vergangenheit zurückdachte, fragte er sich, ob er nicht eines Nachts wirklich vom Bett in das Bild hineingehüpft sei, ob das nicht der Anfang der freudvollen und qualvollen Reise gewesen sei, zu der sein ganzes Leben wurde. Er glaubte sich an das frostige Gefühl des Bodens zu erinnern, an das grüne Dämmerlicht des Waldes, an die Biegungen des Pfades (den hin und wieder der Höcker einer großen Wurzel querte), die vorüberflitzenden Baumstämme, an denen er barfuß vorbeirannte, und die von märchenhaften Möglichkeiten wimmelnde, seltsam dunkle Luft.

Großmutter Edelweiss geborene Indrikow hatte in ihrer Jugend fleißig aquarelliert, und als sie auf ihrer Porzellanpalette Blau und Gelb miteinander mischte, konnte sie schwerlich voraussehen, dass durch das so entstandene Grün eines Tages ihr Enkel wandern würde. Das Erregende, das Martin entdeckte und das ihn, verschieden manifestiert und gemischt, von jenem Augenblick an durchs Leben begleitete, erwies sich als ebendas Gefühl, das seine Mutter in ihm zu wecken hoffte, wenn es ihr selbst auch schwergefallen wäre, einen Namen dafür zu finden; sie wusste nur, dass sie Martin jeden Abend mit dem füttern musste, womit ihre verstorbene Erzieherin sie einstmals gefüttert hatte, die alte, weise Mrs. Brook, deren Sohn in Borneo Orchideen gesammelt hatte, in einem Luftballon über die Sahara geflogen und in einem türkischen Bad, als der Boiler explodierte, ums Leben gekommen war. Sie las, und Martin hörte zu, auf einem Stuhl kniend und die Ellbogen auf den lampenbeschienenen runden Tisch gestützt, und es war sehr schwer, Schluss zu machen und ihn zu Bett zu bringen, denn er wollte immer noch mehr hören. Manchmal trug sie ihn auf dem Rücken hinauf ins Kinderzimmer – sie nannte es «Huckepack». Vor dem Schlafengehen bekam er einen englischen Keks aus einer mit blauem Papier beklebten Blechdose. Obenauf lagen wunderbare Küchlein mit Zuckerguss, dann kamen Ingwer- und Kokosnussplätzchen, und dann an dem traurigen Abend, als er die unterste Schicht erreicht hatte, musste er mit einer uninteressant und fade schmeckenden, drittklassigen Sorte vorliebnehmen.

Nichts war an Martin verschwendet – weder die knusprigen englischen Biskuits noch die Abenteuer der Ritter vom Artushof. Welch hinreißender Augenblick, wenn ein Jüngling – möglicherweise Tristans Neffe? – zum ersten Mal Stück für Stück die schimmernde, gebuckelte Rüstung anlegte und zu einem ersten Zweikampf ausritt! Und dann diese fernen kreisrunden Inseln, von deren Gestade ein Mädchen ins Weite blickte, während ihre Kleider im Winde flatterten und ein Falke mit einer Kappe sich an ihr Handgelenk klammerte. Und Sindbad mit dem roten Kopftuch und dem goldenen Ring im Ohr; und die Seeschlange mit den ringförmigen grünen Körpersegmenten, die man bis zum Horizont aus dem Wasser herausragen sah. Und das Kind, das die Stelle entdeckte, wo der Regenbogen auf die Erde stieß. Und wie ein Echo von alledem, ein Inbild, das irgendeine Beziehung dazu hatte, war das herrliche Modell eines braun getäfelten Schlafwagens im Schaufenster der Société des Wagon-Lits et des Grands Express Européens auf dem Newskij-Prospekt, wo man an einem trübkalten Tag mit leicht kreiselnden Schneeflocken spazieren geführt wurde und über den Strümpfen und kurzen Hosen schwarze gestrickte Gamaschenhosen tragen musste.

3

Die Liebe seiner Mutter war so eifersüchtig, so heftig und intensiv, dass ihr Herz davon wundgescheuert schien. Als die Ehe in die Brüche ging und sie allein mit Martin lebte, besuchte er sonntags seinen Vater in ihrer alten Wohnung, und dort spielte er stundenlang mit Pistolen und Dolchen, während sein Vater teilnahmslos Zeitung las und ihm dann und wann, ohne aufzublicken, antwortete: «Ja, geladen» oder «Ja, vergiftet». An solchen Tagen konnte Sofia es kaum ertragen, zurückbleiben zu müssen; sie zermarterte sich mit dem lächerlichen Gedanken, ihr indolenter Gatte könne doch den Versuch machen, seinen Sohn bei sich zu behalten. Martin hingegen war zu seinem Vater sehr liebevoll und höflich, als wollte er die Strafe so weit wie möglich mildern; er glaubte nämlich, dass sein Vater wegen eines Vergehens verbannt worden war, das er eines Sommerabends in ihrem Landhaus begangen hatte; er hatte dem Klavier etwas angetan, woraufhin dieses einen schlechthin erschütternden Ton ausgestoßen hatte, so als wäre ihm jemand auf den Schwanz getreten, und am nächsten Tag war er nach St. Petersburg gefahren und nie wiedergekommen. Das geschah gerade in dem Jahr, als der Erzherzog von Österreich in einem Serail ermordet wurde.[3]Martin konnte sich diesen Serail mit dem Diwan ganz deutlich vorstellen und den Erzherzog mit einem Federhut, der sich mit seinem Schwert gegen ein halbes Dutzend schwarz vermummter Konspiratoren verteidigte; er war recht enttäuscht, als sein Irrtum an den Tag kam. Der Schlag auf die Klaviertasten fiel in seiner Abwesenheit: Er war im Nebenzimmer und putzte sich die Zähne mit dicker, schäumender, süßschmeckender Zahnpasta, deren Attraktivität noch erhöht wurde durch die englische Aufschrift: «Da unsere Zahnpasta nicht zu verbessern war, haben wir die Tube verbessert.» Tatsächlich hatte die Öffnung der Tube die Form eines Querschlitzes, sodass die Pasta, wenn man sie herausdrückte, sich nicht wie ein Wurm, sondern wie ein Band auf die Zahnbürste legte.

Dieses letzte Gespräch mit ihrem Mann stand Sofia als Ganzes wieder vor Augen, komplett mit jeder Einzelheit und Nuance, als sie in Jalta die Nachricht von seinem Tode empfing. Ihr Mann hatte an einem kleinen Korbtisch gesessen und die Spitzen seiner gespreizten kurzen Finger betrachtet, und sie hatte ihm gesagt, dass sie so nicht weitermachen könnten, dass sie einander seit langem fremd geworden seien, dass sie gewillt sei, fortzugehen und ihren Sohn mitzunehmen, und zwar schon morgen. Ihr Mann lächelte träge und antwortete leise, mit leicht belegter Stimme, sie habe ja, ach, so recht, und er selbst werde gehen und sich in der Stadt eine andere Wohnung nehmen. Seine leise Stimme, seine fettleibige Gelassenheit, am meisten aber die Feile, mit der er fortgesetzt seine weichen Nägel verstümmelte, raubten ihr schier den Verstand, und die Ruhe, mit der sie beide die Trennung besprachen, erschien ihr ungeheuerlich, wenngleich heftige Worte und Tränen natürlich noch schrecklicher gewesen wären. Nach einem Weilchen stand er auf und begann, noch immer mit der Nagelfeile spielend, im Zimmer auf und ab zu gehen und sanft lächelnd über die Einzelheiten ihrer künftigen getrennten Haushalte zu sprechen (wobei eine Stadtequipage eine absurde Rolle spielte). Dann, als er an dem geöffneten Klavier vorbeikam, ließ er plötzlich ohne jeden Grund die geballte Faust mit aller Kraft auf die Tastatur niedersausen, und das klang, als platzte ein misstönendes Geheul durch eine für einen Augenblick geöffnete Tür herein. Danach fuhr er ebenso leise wie zuvor in dem unterbrochenen Satz fort, und als er das nächste Mal am Klavier vorbeikam, schloss er behutsam den Deckel.

Der Tod seines Vaters, für den er nicht viel Liebe empfand, erschütterte Martin gerade darum, weil er ihn nicht so liebte, wie er sollte; im übrigen wurde er den Gedanken nicht los, dass sein Vater in Ungnade gestorben sei. Damals begriff Martin zum ersten Mal, dass das menschliche Leben im Zickzack verläuft, dass jetzt die erste Kurve hinter ihm lag und dass sein Leben in dem Augenblick eine neue Wendung genommen hatte, als seine Mutter ihn aus der Zypressenallee auf die Terrasse rief und in seltsamem Ton sagte: «Ich habe einen Brief von Silanow bekommen!» Dann fuhr sie auf Englisch fort: «Du musst jetzt tapfer sein, sehr tapfer – es handelt sich um deinen Vater – er ist nicht mehr.» Martin wurde blass und lächelte verwirrt. Dann streifte er lange durch den Park von Woronzow, hin und wieder einen Kosenamen vor sich hin sagend, den er als Kind seinem Vater verliehen hatte; dabei versuchte er sich mit warmer, traumhafter Überzeugungskraft vorzustellen, dass sein Vater bei ihm wäre, neben, vor und hinter ihm, unter jener Zeder da drüben, dort auf dem Rasenhang, ganz nah, weit weg, überall.

Es war heiß, obgleich noch vor kurzem ein heftiger Gewitterregen niedergegangen war. Schmeißfliegen brummten um die glänzenden Mispelsträucher. Ein schlechtgelaunter schwarzer Schwan schwamm auf dem Teich hin und her und bewegte seinen Schnabel, der so karminrot war, als wäre er angemalt. Die abgefallenen Blütenblätter der Mandelbäume hoben sich hell wie Mandeln in einem Lebkuchen von dem dunklen Boden des feuchten Weges ab. Unweit einiger riesiger Libanon-Zedern stand eine einzelne Birke, deren Laub auf die besondere Weise herabhing, die man nur bei Birken findet (als hätte ein Mädchen sein Haar auf einer Seite zum Kämmen heruntergelassen und wäre in dieser Haltung erstarrt). Ein zebragestreifter Schwalbenschwanz glitt vorüber, die gestreckten Flügelspitzen zusammengelegt. Die funkelnde Luft, die Schatten der Zypressen (alte Bäume mit einem rostroten Anflug, die kleinen Zapfen noch halb unter den Hüllen verborgen), das schwarze Glas des Teiches mit den konzentrischen Kreisen rund um den Schwan, das strahlende Blau, in das die Zacken des Aj-Petri mit seinem Astrachangürtel von Pinien aufragten – alles war durchdrungen von qualvoller Seligkeit, und Martin schien es so, als ob sein Vater bei der Verteilung von Schatten und Licht irgendwie eine Rolle spielte.

«Wenn du zwanzig wärest und nicht erst fünfzehn», sagte seine Mutter an jenem Abend, «wenn du die Oberschule schon hinter dir hättest und wenn ich nicht mehr am Leben wäre, dann könntest du natürlich … Wahrscheinlich wäre es deine Pflicht …» Sie brach mitten im Satz ab, als sie an die Weiße Armee dachte und im Geiste die südrussische Steppe sah und die Reiter mit den Kosakenmützen, unter denen sie von fern Martin auszumachen versuchte. Aber gottseidank, er stand neben ihr, im Hemd mit offenem Kragen, mit kurzgeschorenem Haar und braungebranntem Gesicht, von dessen Augenwinkeln ungebräunte kleine Linien ausstrahlten. «Andererseits, wenn wir nach St. Petersburg zurückkehren …», fuhr sie in fragendem Ton fort, und irgendwo, auf einem unbekannten Bahnhof, explodierte eine Granate, und die Lokomotive bäumte sich auf. «Das alles wird wahrscheinlich eines Tages zu Ende sein», setzte sie nach einer Pause hinzu. «Inzwischen müssen wir uns etwas ausdenken.»

«Ich gehe jetzt zum Schwimmen», warf Martin mit versöhnlichem Unterton ein. «Die ganze Bande ist dort – Nicky, Lida.»

«Ja, geh, unbedingt», sagte Sofia. «Schließlich wird die Revolution eines Tages zu Ende sein, und es wird merkwürdig sein, sich daran zu erinnern. Unser Aufenthalt auf der Krim hat deiner Gesundheit phantastisch gutgetan. Und deine Schulzeit wirst du irgendwie auf dem Gymnasium in Jalta beenden. Sieh nur, wie wunderschön das Kliff da drüben beleuchtet ist!»

In dieser Nacht konnten weder Mutter noch Sohn schlafen, und beide dachten an den Tod. Sofia bemühte sich, verhalten zu denken, das heißt, ohne zu schluchzen oder zu seufzen (die Tür zum Zimmer ihres Sohnes stand weit offen). Sie rief sich pedantisch und mit allen Einzelheiten noch einmal alles ins Gedächtnis, was zu ihrer Trennung von Edelweiss geführt hatte. Während sie jeden Augenblick ihrer Ehe überdachte, sah sie deutlich, dass sie unter diesen oder jenen Umständen nicht anders hätte handeln können. Und doch lauerte irgendwo ein verborgener Fehler; wenn sie sich nicht getrennt hätten, wäre er nicht so gestorben, allein in einem leeren Zimmer, hilflos erstickt, während er sich vielleicht an ihr letztes glückliches Jahr erinnerte (übrigens sehr relativ glücklich), an ihre letzte Auslandsreise nach Biarritz, den Ausflug nach Croix de Mouguerre[4] und die kleinen Galerien in Bayonne. Sie glaubte fest an eine bestimmte Macht, die mit Gott ebenso viel Ähnlichkeit hatte, wie das Haus eines Menschen, das man nie gesehen hat, seine Besitztümer, sein Gewächshaus und sein Bienenstock, seine Stimme, zufällig aus der Ferne auf freiem Felde gehört, ihrem Besitzer ähneln. Diese Macht «Gott» zu nennen, wäre ihr peinlich gewesen, so wie manche Peters und Iwans ihre Kosenamen «Petja» und «Wanja» nicht ohne das Gefühl einer Falschheit aussprechen können, während andere, wenn sie von einem langen Gespräch berichten, ihren eigenen Namen oder, noch schlimmer, Spitznamen zwanzigmal oder öfter mit Genuss aussprechen. Diese Macht hatte nichts mit der Kirche zu tun und konnte weder von Sünden freisprechen noch sie bestrafen. Es war einfach so, dass sie sich zuweilen vor einem Baum, einer Wolke, einem Hund schämte, ja sogar vor der Luft, die ein böses Wort ebenso fromm aufnahm wie ein gutes. Und nun, während Sofia an ihren unliebenswürdigen, ungeliebten Gatten und seinen Tod dachte, auch während sie die ihr seit der Kindheit natürlichen Gebete sprach, bezwang sie ihr ganzes Wesen derart, dass sie – gestärkt durch zwei bis drei glückliche Erinnerungen, durch den Nebel, durch große räumliche Ausdehnungen, durch alles, was immer unbegreiflich bleiben würde – ihrem Mann hätte einen Kuss auf die Stirn geben können.

Sie sprach nie offen über solche Dinge mit Martin, aber sie hatte immer das Gefühl, dass alles, worüber sie sonst sprachen, kraft ihrer Stimme und ihrer Liebe zu Martin dasselbe Bewusstsein des Göttlichen schuf, das in ihr lebendig war. Martin lag im Nebenzimmer und tat so, als schnarchte er, damit seine Mutter nicht merkte, dass er wach war; auch er erinnerte sich schmerzlicher Dinge, auch er versuchte seines Vaters Tod zu begreifen und im Dunkel des Schlafzimmers eine Handvoll postumer Zärtlichkeit aufzubringen. Er dachte mit aller Kraft seiner Seele an seinen Vater und machte sogar gewisse Experimente: Wenn gerade jetzt ein Dielenbrett knackt oder wenn es irgendwie klopft – das bedeutet, dass er mich hört und antwortet. Martin fürchtete sich, während er auf das Klopfen wartete. Die Nachtluft drang bedrückend auf ihn ein; er konnte das Donnern der Brandung hören und das hohe Sirren der Mücken. Oder er sah plötzlich absolut deutlich das runde Gesicht seines Vaters, sein Pincenez, sein kurzgeschorenes Haar, den fleischigen Buckel einer Warze neben dem einen Nasenflügel und den glänzenden Ring um seinen Krawattenknoten, der aus zwei kleinen goldenen Schlangen geformt war. Als er dann endlich einschlief, fand er sich mit dem Bewusstsein, keine Schularbeiten gemacht zu haben, in einer Schulklasse, während Lida sich müßig am Schienbein kratzte und ihm erzählte, Grusinier[5] äßen kein Eis: «Grusiny ne jedjat moroshenogo.»

4

Er teilte weder Lida noch ihrem Bruder den Tod seines Vaters mit, da er bezweifelte, die Nachricht natürlich herausbringen zu können, und ein gefühlvoller Ton wäre unschicklich gewesen. Von früher Kindheit an hatte seine Mutter ihn gelehrt, dass es nicht nur vulgär, sondern auch eine Sünde gegen das Feingefühl sei, öffentlich über ein tiefes Gefühlserlebnis zu sprechen – denn sobald es heraus ist, verblasst es, löst sich auf und ähnelt merkwürdigerweise einem analogen Erlebnis des Gesprächspartners. Sie verabscheute die Bänder an Grabkränzen mit silbernen Inschriften wie «Einem jungen Helden» oder «Unserer unvergesslichen geliebten Tochter» und missbilligte ernsthafte, aber sentimentale Menschen, die sich beim Verlust eines ihrer Lieben nicht scheuen, in der Öffentlichkeit Tränen zu vergießen, wo sie sich doch zu anderen, glücklichen Zeiten, auch wenn sie vor Freude zu bersten vermeinen, nie erlauben würden, einem vorübergehenden Fremden ins Gesicht zu lachen. Als Martin etwa acht Jahre alt war, hatte er einmal versucht, einem struppigen kleinen Hund das Fell zu scheren, und dabei hatte er ihn versehentlich ins Ohr geschnitten. Da es ihm aus irgendeinem Grunde peinlich war, zu erklären, er habe einfach die zu langen Haarbüschel abschneiden wollen, bevor er das Tier als Tiger anmalte, begegnete Martin der Entrüstung seiner Mutter mit stoischem Schweigen. Sie befahl ihm, die Hosen herunterzulassen und sich auf den Bauch zu legen. Er tat es, ohne aufzumucken, und sie peitschte ihn wortlos mit einer Reitpeitsche aus lohfarbenem Ochsendarm aus. Dann zog er die Hosen herauf, und sie half ihm, sie an sein Leibchen anzuknöpfen, da er sich um einen Knopf geirrt hatte. Dann ging er hinaus, und erst draußen im Park ließ er seinem Jammer freien Lauf und schluchzte herzbrechend, und seine Tränen mischten sich mit Blaubeersaft. Mittlerweile weinte seine Mutter in ihrem Schlafzimmer, und abends kostete es sie Mühe, nicht von neuem in Tränen auszubrechen, als ein sehr vergnügter, rundlicher Martin in der Badewanne saß, seinen Zelluloidschwan schwimmen ließ und dann aufstand, um sich den Rücken abseifen zu lassen, und sie die knallrosa Striemen auf dem zarten Hinterteil sah. Es war das einzige Mal, dass Sofia ihn so bestrafte, und sie hob auch nie die Hand zu einer Ohrfeige für dieses oder jenes kleine Vergehen, wie es bei französischen und deutschen Müttern üblich ist.

Martin, der früh gelernt hatte, Tränen zu unterdrücken und Gefühlsregungen zu verbergen, setzte seine Schullehrer durch seine Unempfindlichkeit in Erstaunen. Bald aber entdeckte er einen Zug an sich, den er mit besonderer Hartnäckigkeit verstecken zu müssen glaubte, und auf der Krim, als er sechzehn war, wurde das die Ursache so mancher Qual. Martin merkte, dass er sich zuweilen so davor fürchtete, unmännlich zu erscheinen, als Feigling verschrien zu sein, dass er unwillkürlich wie ein Feigling reagierte – das Blut wich aus seinem Gesicht, seine Beine zitterten, und das Herz hämmerte heftig in seiner Brust. Obwohl er sich eingestand, dass er von Natur aus kein echtes sang-froid besaß, nahm er sich doch fest vor, sich stets so zu benehmen, wie ein furchtloser Mensch an seiner Stelle es getan hätte. Gleichzeitig waren Eitelkeit und Eigendünkel bei ihm stark entwickelt. Lidas Bruder Kolja war zwar ebenso alt wie Martin, aber klein und mager. Martin glaubte ihn ohne viel Mühe im Ringkampf besiegen zu können. Und doch machte die Möglichkeit einer Niederlage ihn so nervös, und er stellte sie sich so grässlich klar vor, dass er nicht einmal versuchte, seinen Altersgenossen zum Ringkampf herauszufordern; dagegen nahm er bereitwillig eine Herausforderung von Iwanow an, einem zwanzigjährigen Kavallerieoffizier mit Muskeln wie runde Steine (er fiel ein halbes Jahr später in der Schlacht von Melitopol), der ihn erbarmungslos hernahm und nach einer erschöpfenden Rauferei hochrot und grinsend ins Gras drückte. Und dann dieser Abend, dieser warme Krim-Abend mit blauschwarzen Zypressen, die sich im Mondschein von dem Kalkweiß der gespenstischen tatarischen Mauern abhoben, als auf dem Heimweg von Adreis, wo Lidas Familie wohnte, an einer Biegung des zur Landstraße führenden Kiesweges plötzlich eine Gestalt auftauchte und eine tiefe Stimme fragte: «Wer da?» Martin merkte zu seinem Kummer, dass sein Herz einen Moment aussetzte. «Aha, das ist wohl Dedman der Tatar», fuhr die Stimme fort, und in dem zerrissenen schwarzen Schattengeweb näherte sich drohend das Gesicht eines Mannes.

«Nein», sagte Martin. «Bitte, lassen Sie mich vorbei.»

«Und ich sage, du bist Dedman-Achmet», beharrte der andere ruhig, aber noch grimmiger, und im Licht des Mondes bemerkte Martin, dass er einen großen Revolver in der Hand hielt. «Schon gut – stell dich an die Mauer», sagte der Mann – jetzt nicht mehr drohend, sondern versöhnlich und sachlich. Schatten verschlang wieder die bleiche Hand und die dunkle Waffe, aber ein glitzernder Fleck blieb, wo sie gewesen war. Martin hatte zwei Alternativen. Entweder er bestand auf einer Erklärung, oder er duckte sich ins Dunkel und lief. «Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemand», sagte er ungeschickt und nannte seinen Namen.

«An die Mauer, an die Mauer», rief der Mann mit schriller Stimme.

«Hier ist keine Mauer», sagte Martin.

«Ich werde warten, bis eine da ist», bemerkte der Mann rätselhaft, dann knirschte der Kies: Er hatte sich offenbar hingesetzt oder hingehockt – in dieser Dunkelheit war das unmöglich zu sagen. Martin blieb stehen, wo er stand; er spürte ein schwaches Jucken in seiner linken Brusthälfte, wohin der jetzt unsichtbare Lauf vermutlich zielte.

«Keine Bewegung, oder ich schieße», murmelte der Mann, dann setzte er etwas Unverständliches hinzu. Martin blieb eine Weile stehen, dann noch eine Weile, und dachte angestrengt darüber nach, was so ein richtiger Draufgänger, wenn er unbewaffnet war, an seiner Stelle tun würde; es fiel ihm nichts ein, und plötzlich fragte er:

«Möchten Sie eine Zigarette? Ich habe welche.»

Wie ihm das entschlüpft war, wusste er nicht, und er schämte sich im nächsten Augenblick, zumal sein Angebot unbeantwortet blieb. Dann entschied Martin, dass er seine schmählichen Worte nur wiedergutmachen könne, indem er direkt auf den Mann zuging, ihn, falls notwendig, niederschlug, aber weiterging. Er dachte an das für morgen geplante Picknick, an Lidas Beine, die gleichmäßig in lackglattem, rötlich goldenem Braun schimmerten, und malte sich aus, dass sein Vater ihn vielleicht heute Abend erwartete, dass er vielleicht irgendwelche Vorbereitungen für ihre Zusammenkunft traf – und hier ertappte Martin sich bei einem seltsamen Gefühl von Feindseligkeit gegen seinen Vater, für das er sich schon lange Vorwürfe machte. Man hörte das regelmäßig wiederkehrende Dröhnen der Brandung; die Grillen zirpten laut und pünktlich wie ein Uhrwerk; und da im Dunkeln dieser Schwachsinnige. Martin wurde sich jetzt bewusst, dass er die Hand schützend aufs Herz gelegt hatte; er nannte sich ein letztes Mal einen Feigling und trat plötzlich vor. Nichts geschah. Er stolperte über das Bein des Mannes, aber der zog es nicht weg: Er saß zusammengesunken da, den Kopf gesenkt, schnarchte leise und verströmte einen schweren, starken Weindunst.

Nachdem Martin unversehrt nach Hause gekommen war und sich eines guten Nachtschlafs erfreut hatte, bedauerte er, als er morgens auf dem glyzinienumrankten Balkon stand, dass er den faulen Zecher nicht entwaffnet hatte: Es wäre hübsch gewesen, den konfiszierten Revolver geheimnisvoll herumzuzeigen. Er empfand noch immer Ärger über sich, weil er sich seiner Meinung nach der Gelegenheit, einer lange erwarteten Gefahr zu begegnen, nicht gewachsen gezeigt hatte. Wie viele Male hatte er auf der Landstraße seiner Träume, mit Halbmaske und Schaftstiefeln ausgerüstet, entweder eine Postkutsche oder einen behäbigen Reisewagen oder einen Reiter angehalten und dann die Dukaten der Kaufherren an die Armen verteilt! Als Kapitän einer Piratenkorvette hatte er mit dem Rücken am Großmast gestanden und einhändig den Ansturm der meuternden Mannschaft abgeschlagen. Er war ins Innere von Afrika geschickt worden, um nach einem verschollenen Forscher[6] zu suchen, und als er ihn schließlich fand – im Urwald eines namenlosen Landstriches –, ging er, stolz auf seine Selbstbeherrschung, mit einer höflichen Verbeugung auf ihn zu. Er entfloh aus Zwangsarbeitslagern über tropisches Sumpfland; marschierte an verwundert hochgereckten Pinguinen vorüber zum Pol; drang auf dem Rücken eines schäumenden Rosses mit gezogenem Säbel als Erster in das rebellische Moskau ein. Und jetzt ertappte Martin sich rückblickend bei der Ausschmückung des albernen, ziemlich abgeschmackten nächtlichen Zwischenfalls, der mit dem realen Leben, das er in seinen Phantasien führte, nicht mehr Ähnlichkeit hatte als ein unzusammenhängender Traum mit der vollen, echten Wirklichkeit. Und wie man manchmal beim Erzählen eines Traumes hier und da glättet, abrundet und schönt, um ihn wenigstens auf das Niveau einer plausiblen, realistischen Absurdität zu heben, genauso machte Martin, als er den Bericht von seiner nächtlichen Begegnung probte (obwohl er ihn nicht bekannt zu geben gedachte), den Fremden nüchterner, seinen Revolver funktionstüchtiger und seine eigenen Worte geistreicher.

5

Während Martin am nächsten Tag mit Kolja Fußball trainierte oder mit Lida den grobkiesigen Strand nach Meeresraritäten absuchte (ein runder Kiesel, von einer farbigen Ader umgürtet, ein kleines Hufeisen, sandig und rotbraun verrostet, von der See abgeschliffene hellgrüne Flaschenscherben, die an die frühe Kindheit und an Biarritz erinnerten), grübelte Martin über das Abenteuer von gestern Abend nach; er zweifelte daran, dass es wirklich geschehen war, und beförderte es immer entschiedener in jenes Reich, wo alles, was er für seine Seele brauchbar fand, Wurzel schlug und ein wundervolles, selbständiges Dasein zu führen begann. Eine schwellende Woge, von Gischt brodelnd, kam heran, rundete und überschlug sich, verbreitete sich und lief über den Kies des Strandes hinauf. Da sie sich nicht festhalten konnte, glitt sie unter dem Murren der aufgestörten Kiesel zurück; und kaum war sie zurückgeströmt, kam eine neue mit dem gleichen runden, fröhlichen Platsch heran, überschlug sich und streckte sich in einer durchsichtigen Schicht bis zu der ihr gesetzten Grenze aus. Kolja warf ein Stück Brett, das er gefunden hatte, für den Foxterrier Lady zum Apportieren in die Brandung, und die Hündin hob die beiden Vorderpfoten und setzte darüber hinweg, um dann zum strammen Schwimmen überzugehen. Die nächste heranrollende Welle holte sie ein, warf sie kraftvoll zurück und legte sie wohlbehalten am Ufer nieder. Dann ließ sie das der See entrungene Stück Holz vor sich in den Kies fallen und schüttelte sich heftig. Während die beiden Jungen nackt badeten, zog Lida, die schon am frühen Vormittag mit ihrer Mutter und Sofia im Wasser gewesen war, sich an eine Felsgruppe zurück, die sie ajwasowskisch[7] nannte, zu Ehren der Seestücke dieses Malers. Kolja schwamm im Tatarenstil mit einer rollenden Bewegung, während Martin sich seines flinken und korrekten Kraulens rühmte, das er in seinem letzten Sommer im Norden von einem englischen Hauslehrer gelernt hatte. Doch keiner der Jungen schwamm sehr weit hinaus, und in diesem Zusammenhang hatte Martin einen seiner süßesten und schaurigsten Tagträume: eine trostlose stürmische See nach einem Schiffbruch und er selbst allein im Dunkel, eine Kreolin über Wasser haltend, mit der er am Vorabend zuvor an Deck Tango getanzt hatte. Nach dem Schwimmen war es wunderbar angenehm, sich nackt auf den heißen Steinen auszustrecken und, den Kopf zurückgelegt, zu den Zypressen aufzublicken, die wie schwarze Dolche tief in den Himmel stießen. Für Kolja, den Arztsohn aus Jalta, der sein ganzes Leben auf der Krim verbracht hatte, waren diese Zypressen, der ekstatische Himmel und das herrliche blaue Meer mit seinen metallisch funkelnden Schuppen etwas Normales und Alltägliches, und es war schwierig, ihn in Martins Lieblingsspielen unterzubringen und etwa zum Gatten der Kreolin zu machen, der zufällig auf dieselbe unbewohnte Insel verschlagen war.

Gegen Abend kletterten sie durch schmale Zypressenkorridore hinauf nach Adreis. Aus der lächerlichen, weitläufigen Villa mit ihren vielen Treppenaufgängen, Korridoren und Galerien (sie war so amüsant gebaut, dass man manchmal einfach nicht wusste, auf welchem Niveau man sich befand, oder, wenn man ein paar Stufen hinaufgegangen war, plötzlich nicht in einem Zwischenstock landete, wie erwartet, sondern auf der Gartenterrasse) schimmerte schon gelbes Petroleumlicht durch die Bäume, und von der Hauptveranda her hörte man Stimmen und das Klirren von Geschirr. Lida gesellte sich zu den Erwachsenen, Kolja schlug sich den Bauch voll und ging unverzüglich zu Bett. Martin saß im Dunkeln auf den untersten Stufen, aß Kirschen aus der Hand und horchte auf die heiteren, hell schimmernden Stimmen, auf Iwanows schallendes Gelächter, Lidas behagliches Geschwätz und eine Auseinandersetzung zwischen ihrem Vater und dem Maler Danilewskij, einem redseligen Stotterer. Im allgemeinen waren zahlreiche Gäste da: kicherige Mädchen in bunten Kopftüchern, Offiziere aus Jalta und verängstigte ältere Nachbarn, die sich bei einem Einfall der Roten im vorigen Winter en masse in die Berge zurückgezogen hatten. Es war nie ganz klar, wer wen mitgebracht hatte und wer mit wem befreundet war, aber die Gastlichkeit von Lidas Mutter, einer unscheinbaren Frau mit Stehkragen und Brille, kannte keine Grenzen. So erschien eines Tages auch Arkadij Sarjanskij, ein schlaksiger, leichenblasser Mann, der irgendwelche Verbindungen zum Theater hatte – einer von diesen albernen Leuten, die auf Tourneen an die Front gehen, wo sie mit musikalischer Begleitung Gedichte rezitieren, in Städtchen Theater spielen, die am nächsten Tag zerstört werden, die davonlaufen, um Epauletten zu kaufen, aber nie weit genug laufen und stattdessen selig schnaufend mit einem Zylinderhut für den letzten Akt von Ein Liebestraum zurückkommen, den sie wunderbarerweise irgendwo aufgetrieben haben. Er begann kahl zu werden und hatte ein schönes, dynamisches Profil, aber en face sah er weniger gut aus: Er hatte dicke Säcke unter den schmutzfarbenen Augen, und außerdem fehlte ihm ein Schneidezahn. Charakterlich war er gütig, freundlich und sensibel, und wenn sie abends alle zusammen spazieren gingen, sang er mit samtigem Bariton die Romanze, die anfängt:

Weißt du es noch, wie wir am Meere saßen?

Die Abendröte war ein Feuerstrich …

Oder er erzählte im Dunkeln einen armenischen Witz, und irgendjemand lachte im Dunkeln. Als Martin seine Bekanntschaft machte, erkannte er ihn mit Staunen und sogar mit gewissem Schrecken als den Betrunkenen, der ihn aufgefordert hatte, an die Mauer zu treten und sich erschießen zu lassen, aber Sarjanskij erinnerte sich anscheinend an nichts, sodass es unklar blieb, wer der erwähnte Dedman war. Sarjanskij war als Trinker bekannt und dafür, dass er gewalttätig wurde, wenn er bezecht war, aber als eines Tages – bei einem Picknick auf dem Hochplateau oberhalb von Jalta, an einem in Mondlicht, Grillenzirpen und Muskatellerwein getränkten Abend – der Revolver wieder auftauchte, stellte sich heraus, dass seine Trommel leer war; Sarjanskij fuhr noch eine Weile fort zu schreien, zu drohen, zu brummen und von seiner schicksalhaften Liebe zu reden; sie deckten ihn mit einem Militärmantel zu, und er schlief ein. Lida saß, das Kinn in die Hände gestützt, dicht am Lagerfeuer und blickte mit ihren im Flammenschein rötlich braun glänzenden, tanzenden Augen in die sprühenden Funken. Bald stand Martin auf, streckte die Beine, stieg einen dunklen Rasenhang hinauf und trat an den Rand des Kliffs. Unmittelbar zu seinen Füßen sah er einen breiten schwarzen Abgrund und dahinter das Meer, das erhöht und näher gerückt erschien, weil die Spur des Vollmondes, die sogenannte «Türkenfährte», in der Mitte breiter und nach dem Horizont zu wieder schmaler wurde. Links in der dunstigen, geheimnisvollen Ferne schimmerten die diamantenen Lichter von Jalta. Und wenn Martin sich umwandte, sah er in geringer Entfernung das ruhelos flackernde Nest des Feuers und die Silhouetten der daran sitzenden Leute und eine Hand, die einen Zweig hineinwarf. Die Grillen zirpten unaufhörlich; von Zeit zu Zeit wehte ein lieblicher Hauch von brennendem Wacholder zu ihm herauf; und über der schwarzen Gebirgssteppe, über der seidigen See der ungeheure, alles verschlingende Himmel, taubengrau von Sternen, der einen schwindeln ließ, und plötzlich empfand Martin wieder etwas, was er als Kind mehr denn einmal erlebt hatte: eine unerträgliche Steigerung all seiner Sinne, einen magisch fordernden Impuls, die Gegenwart von etwas, für das allein es sich zu leben lohnte.

6

Diese funkelnde Mondfährte war auf dieselbe Art verlockend wie einst der Waldpfad auf dem Kinderstubenbild, und auch die Lichtertrauben von Jalta inmitten der weiten Schwärze von unbekannter Struktur und Art erinnerten ihn an einen Kindheitseindruck: Mit neun Jahren hatte er, nur im Nachthemd und mit kalten Fersen, am Fenster eines Schlafwagens gekniet; der Sud-Express[8] ratterte durch die französische Landschaft. Sofia war, nachdem sie ihren Sohn zu Bett gebracht hatte, zu ihrem Mann in den Speisewagen gegangen; das Dienstmädchen schlief fest im Oberbett. Es war dunkel in dem engen Abteil; nur der blaue Stoff des zusammenfaltbaren Schirms der Nachtlampe ließ ein wenig Licht durch; seine Quaste schwankte, und in den getäfelten Wänden knarrte es leise. Nachdem er sich unter dem Laken hervorgeschlängelt hatte, war er über die Decke zum Fenster gekrochen und hatte das lederne Rouleau hochgeschoben – man musste einen Knopf aufmachen, und dann glitt es sanft hinauf. Er zitterte vor Kälte, und die Knie taten ihm weh, aber er konnte sich von dem Fenster, hinter dem die nächtlichen Berghänge vorüberfegten, nicht losreißen. Da plötzlich sah er etwas, was ihm jetzt auf dem Plateau auf der Krim einfiel – eine Handvoll Lichter in der Ferne im dunklen Tal zwischen zwei schwarzen Bergen: Die Lichter versteckten sich und tauchten wieder auf, dann kamen sie flimmernd aus einer ganz anderen Richtung, und dann verschwanden sie so plötzlich, als hätte jemand ein schwarzes Tuch darübergeworfen. Bald bremste der Zug und hielt im Finstern. In dem Waggon waren seltsam körperlose Geräusche zu hören: monotones Sprechen, Husten; dann kam die Stimme seiner Mutter auf dem Korridor vorbei; Martin schloss daraus, dass seine Eltern vom Speisewagen zurückkamen und vielleicht auf dem Weg in das Nebenabteil zu ihm hereinschauen würden, und er schlüpfte rasch wieder ins Bett. Nach einem Weilchen fuhr der Zug weiter, blieb aber dann mit einem langen, leise zischenden Seufzer der Erleichterung endgültig stehen, und gleichzeitig wanderten blasse Lichtstreifen langsam durch das dunkle Abteil. Martin kroch noch einmal zum Fenster: Er sah einen beleuchteten Bahnsteig; ein Mann mit einem eisernen Gepäckkarren kam unter gedämpftem Klappern vorüber, und auf dem Karren stand ein Lattenverschlag mit der geheimnisvollen Aufschrift ‹Zerbrechlich›. Mehrere kleine Mücken und ein großer Nachtfalter kreisten um eine Gaslaterne; schattenhafte Leute schlurften über den Bahnsteig und unterhielten sich im Gehen über unbekannte Dinge; dann polterten die Puffer, und der Zug glitt hinaus. Laternen zogen vorüber und verschwanden; ein hell erleuchtetes kleines Gebäude, in dem man eine Reihe von Hebeln sah, tauchte auf und blieb zurück. Der Zug schaukelte sanft über eine Weiche, vor dem Fenster wurde es ganz dunkel, und wieder flog draußen nur die Nacht vorüber. Und wieder erblühten aus dem Nichts die vertrauten Lichter, jetzt nicht mehr zwischen zwei Bergen, sondern irgendwie viel näher und greifbarer, und die Lokomotive stieß einen langen, klagenden Pfiff aus, als bedaure auch sie, diese Lichter hinter sich zu lassen. Dann ein plötzliches Fauchen, und ein entgegenkommender Zug schoss vorüber – und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Die wogende schwarze Nacht nahm ihren glatten Kurs wieder auf, und die flüchtigen Lichter lösten sich allmählich auf in nichts.

Als sie schließlich verschwunden waren, befestigte Martin das Fensterrouleau und legte sich hin. Er erwachte sehr früh. Die Bewegung des Zuges kam ihm glatter und entspannter vor, als hätte er sich an das rasende Tempo gewöhnt. Als er das Rouleau aufknöpfte und hochschob, schwindelte ihm einen Augenblick: Denn die Erde lief jetzt in der anderen Richtung vorüber, und auch das aschfahle Frühlicht des klaren Himmels war unerwartet, und absolut neu waren für ihn die Terrassen der mit Oliven bepflanzten Abhänge.

Vom Bahnhof fuhren sie in einem Mietlandauer eine von staubigen Brombeerbüschen gesäumte staubige Straße entlang nach Biarritz, und da Martin zum ersten Mal in seinem Leben Brombeeren sah und die Station aus irgendeinem Grunde «La Négresse», Die Negerin, genannt wurde, hatte er viel zu fragen. Heute, mit sechzehn Jahren, verglich er immer wieder das Meer der Krim mit dem Ozean in Biarritz; ja, in der Biskaya waren die Wellen höher und die Brecher heftiger, und der dicke baskische baigneur