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Es beginnt mit einem tragischen Drama: ein sterbendes Kind wird gegen ein gesundes getauscht – ein Tausch aus Zwang und Not. Für die Eltern der todkranken Traute ist der Sanatoriumsaufenthalt die letzte Chance für ihr geliebtes Kind. Die ganze Verantwortung für die unwahrscheinliche Genesung der Dreijährigen hat der autoritäre Großvater, von dem sie völlig abhängig sind, auf ihre Schultern gelegt. Die Zieheltern der kleinen Babette hingegen, ein verarmtes Tänzerehepaar, sehen sich schon aufgrund ihres Alters nicht in der Lage, das plötzlich verwaiste Mädchen aus ihrem Heimatland mit zu sich nach London zu nehmen. Eine zufällige Begegnung der zwillingsähnlichen Mädchen, eine Idee, ein Plan: Es soll die Chance für Babettes Zukunft sein, denn Traute ist offensichtlich dem Tod geweiht. Die schockierten Overmans wagen aus Angst vor den großväterlichen Repressalien nicht, die Entführung ihrer Tochter anzuzeigen. Anonym erhalten sie bald die Nachricht vom Tod Trautes, um die sie heimlich trauern müssen, während Babette als Traute bei ihnen liebevoll aufwächst. Doch Traute stirbt nicht, erholt sich – und wächst als Babette zwischen den Spelunken Londons auf. Nur manchmal taucht eine leise Erinnerung aus dem Dunklen auf. Der verkommene "Lord Brandy", der sein Geld mit seiner Geige in den Kneipen verdient, wird als ihr Geigenlehrer zu ihrem Mentor und Glücksbringer. Ohne zu wissen teilen beide ein ähnliches Schicksal. Denn auch von diesem jugendlichen Säufer kennt niemand die wahre Herkunft ...Vielschichtig, spannend und mitreißend erzählt dieser großartige Gesellschaftsroman von einer Oliver-Twist-Jugend in Londons Armenvierteln, nicht fassbaren Schatten der Erinnerung und zwei begabten, besonderen Menschen, die sich ihrer wahren Existenz stellen müssen.-
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Seitenzahl: 462
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Anny von Panhuys
Roman
Saga
Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd. 1
© 1927 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570524
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Karola Overmans hübsches Puppengesicht war über und über von Tränen nass, förmlich gebadet hatten sich Wangen und Kinn in der Tränenflut, die nicht versiegen wollte.
Ihr Mann lief mit grossen Schritten im Zimmer umher, in dem mit allerlei luxuriösem Tand vollgestopften Damenzimmer, wo sich seine Frau am allerwohlsten fühlte.
Die zierliche Karola schluchzte zum Erbarmen.
„Was soll nur werden, Günter? Lieber, einziger Günter, was soll nur daraus werden? Trautchen wird jeden Tag weniger, ich habe es Dr. Frank heute deutlich angesehen, er glaubt nicht mehr an ein Besserwerden. Und wenn Trautchen sterben müsste —“
Sie rang die kleinen schmalen Hände und die Erregung versetzte ihr den Atem.
Sie packte ihren Mann am Aermel, krampfte sich darin fest.
„Um des Himmelswillen, Günter, höre endlich auf, durch das Zimmer zu marschieren, das macht mich so nervös, dass ich kaum noch weiss, was ich rede.“
Günter Overmans fuhr mit seinem Taschentuch leicht über das verstörte Antlitz der geliebten Frau.
„Liebste Karola, bitte, rege dich nicht so furchtbar auf, damit verschlimmerst du ja nur alles! Bedenke, wenn zum Beispiel mein Vater jetzt gerade hereinkäme und dich in diesem völlig aufgelösten Zustand sähe!“
Sie hob mit einem Ruck den Kopf und ein leichter Entsetzensschrei entrang sich ihr.
„O, Günter, wäre das furchtbar, wenn dein Vater mich so überrascht hätte. Dann hätte er mir bestimmt wieder viele böse Worte gegeben und behauptet, ich sei schuld, dass Trautchen krank ist.“
Günter Overmans strich über ihr leichtgewelltes hellblondes Haar, fragte fast heftig: „Was hat er dir denn wieder für Liebenswürdigkeiten gesagt?“
Sie hob den Blick.
Dunkelblaue grosse Augen besass Karola, aber die Lider, vom vielen Weinen rot und angeschwollen, nahmen den blauen Sternen alle Schönheit. Und um den Mund zuckte es schon wieder verdächtig, als bereiteten sich neue Tränenströme vor.
„Er hat gesagt, ich sei körperlich so ein Elendsmenschlein, so eine erbärmliche Hand voll Kleider mit nichts darin als ein paar Hühnerknochen, dass er dich nicht begreife und ihm das Kind leid tue, das mich Mutter nenne. Zum Glück verfüge das Kind ja über ein kräftigeres Knochengerüst und sei deshalb, und auch seinem Gesicht nach, ein echtes Overmanskind und er hoffe darum, es würde sich von seiner Schwäche erholen. Wenn es aber stürbe, sei das Selterswasser daran schuld, das in meinen Adern an Stelle von gesundem, rotem Blut laufe.“
Sie schluchzte schon wieder.
„Fast wörtlich hat er das zu mir gesagt, und als ich etwas entgegnen wollte, hat er mich angeschrien, er habe nun mal einen Narren an dem Kind gefressen und mit Trautchens Existenz stehe und falle die deine und die meine.“
Sie schlang die Arme um den Hals des vor ihr Sitzenden.
„Du kennst ja deinen Vater, weisst, er kann mich nicht leiden, und wenn es nicht um des Kindes willen wäre, könntest du mit mir hingehen, wo du wolltest. Seine Abneigung gegen mich ist so stark, weil du mich eigentlich gegen seinen Willen geheiratet hast, dass er auch auf dich keine Rücksicht nehmen würde.“
Günter Overmans nickte traurig.
„Leider ist Vater in vielen Dingen sehr hart und wir können im Grunde noch froh darüber sein, dass unser kleines Mädel sein ganzes Herz erobert hat. Unbegreiflich will es mir sogar manchmal scheinen. Alle die Liebe, um die ich als Kind und Heranwachsender vergebens bei ihm geworben, die schenkte er freiwillig unserer Kleinen.“
Sie lehnte ihre Wange fest an sein ihr zugeneigtes Gesicht.
„Gottlob, ist so ein Ausfall selten, meist beachtet mich dein Vater gar nicht, er hat zuweilen eine Art, über mich wegzugucken, die fast so wehe tut wie seine Zunge.“
Günter Overmans besann sich auf wirksame Trostworte, als es klopfte.
Die beiden sich umschlungen Haltenden fuhren auseinander und Karola sprang auf, wandte sich dem Fenster zu.
Es brauchte niemand zu sehen, wie sehr sie geweint hatte.
Das Mädchen trat ein, meldete mit einer Stimme, die förmlich von Respekt durchtränkt war: „Herr Overmans Senior ist eben gekommen und gleich zu dem Kind gegangen.“
„Schön!“ Günter winkte dem Mädchen, sich gleich wieder zu entfernen, und als sich die Türe geschlossen, nahm er den Kopf seiner Frau in beide Hände.
„Mut, du kleiner zusammengebrochener Lebenskamerad! Wasch dir die schönen geliebten Guckerln klar. Er darf nichts von unserer Angst ahnen, sonst trampelt er noch mehr auf uns herum, wie es leider schon geschieht. Und das Schlimmste ist es, sich nicht dagegen wehren zu können!“ In seinen grauen Augen blitzte es auf. „Zuweilen möchte ich es darauf ankommen lassen, möchte ihm entgegenrufen: Entweder respektierst du die Frau, die ich lieb habe, wie es sich gehört, oder ich werfe dir alles vor die Füsse, laufe mit Frau und Kind in die Welt hinein, erobere mir mit meinen beiden Händen ein bescheidenes Glück.“
Karola starrte ihn entsetzt an.
„Liebster, bester Günter, geradezu Wahnsinn wäre es, wenn du das tätest! Und auf ihn würde es nicht einmal Eindruck machen. Oder vielleicht doch,“ überlegte sie, „weil er das Kind dadurch verlöre. Das mit dem bescheidenen Glück erobern, ist etwas sehr Unsicheres. Wie wenigen gelingt es! Deine Liebe und Besorgnis gleicht ja alles, was mir dein Vater antut, reichlich wieder aus.“
Er war froh, sie wieder ruhiger zu sehen und küsste sie zärtlich.
Karola huschte in das mit allen Bequemlichkeiten eingerichtete Badezimmer. Dort wusch sie sich das Gesicht mit heissem Wasser, das Tränenspuren viel leichter auslöscht wie kaltes, spülte mit kühlem Wasser nach und bediente sich einiger kosmetischer Mittel.
Danach fühlte sie sich leidlich frisch, und nach prüfendem Blick in den Spiegel verliess sie die Badestube nach dem Korridor zu.
Einen Augenblick blieb sie tiefaufatmend draussen stehen.
Sie hörte hinter der Tür gegenüber sprechen, eine rauhe, harte Stimme fuhr eben über eine Antwort ihres Mannes hin wie mit grobkörniger Feile.
Karola hätte am liebsten Kehrt gemacht.
Die Angst vor Lamprecht Overmans, ihres Mannes Vater, bäumte sich wieder in ihr auf. Diese Angst, die ständig in ihr war, seit sie dem Gefürchteten zum ersten Male gegenübergestanden.
Sie war eine blutjunge arme Waise gewesen, als sie hier nach Stuttgart zu einer alten vornehmen Dame als Gesellschafterin kam, in deren Haus sie Günter Overmans kennen und lieben lernte, der sie aber erst nach vielen aufreibenden Auseinandersetzungen mit seinem Vater heiraten durfte. Sie war von einer geizigen und engherzigen Tante in einem abgelegenen württembergischen Nest erzogen worden, aber gerade, weil ihr die Flügel von Kind an zu sehr beschnitten wurden, hatte ihr von je die Sehnsucht nach Reichtum, Wohlleben und schönen Kleidern wie ein Fieber im Körper gesteckt, deshalb hatte ihr wohl die Erfüllung dieser Sehnsucht als herrlichstes Zukunftsbild vorgeschwebt.
Karola atmete noch einmal tief auf. Leicht war es wahrhaftig nicht, Lamprecht Overmans Schwiegertochter zu sein, aber sie brauchte sich doch von der galligen Tante keine Bitternis mehr einimpfen lassen, brauchte keine Launen einer unzufriedenen Brotherrin mehr ertragen, wie damals als Gesellschafterin. Sie lebte doch bequem, hatte alles in Hülle und Fülle, war eine elegante vielbeneidete Frau, besass wertvollen Schmuck und durfte mit Günter glücklich sein. Dafür musste sie schon das Opfer bringen, sich von Lamprecht Overmans ein bisschen tyrannisch behandeln zu lassen.
Sie bereute immer mehr, Günter etwas von den letzten Schroffheiten seines Vaters mitgeteilt zu haben.
Sie dachte, etwas froher gestimmt, ihr Mädelchen würde sich ja auch allmählich wieder erholen, so ein vierjähriges Dingelchen konnte doch wieder gesund werden.
Sie hatte die Miene des Arztes falsch gedeutet, hatte Gespenster gesehen.
Ein kleines Lächeln um die vollen Lippen, betrat sie das Spielzimmer des Kindes.
Lamprecht Overmans vierschrötige Gestalt sass in einem mit buntem Kretonne überzogenen Sessel, Klein-Traute hatte er im Arm liegen, wiegte sie langsam in täppischer Zärtlichkeit hin und her.
Die Nurse stand vor ihm und sagte eben: „Herr Dr. Frank ist gar nicht zufrieden mit dem Befinden des Kindes, es wird täglich weniger trotz der guten Pflege, ich sehe es deutlich.“
„Ich sehe es ebenfalls,“ bestätigte Lamprecht Overmans, und sein Gesicht, das dem des Sohnes ähnelte, nur dass bei ihm alles ins Vergröberte, fast Brutale verzogen war, verfinsterte sich. Er machte eine Kopfbewegung zur Nurse: „Sie können einstweilen gehen.“
Ein glimmender Blick unter halbgeschlossenen Lidern flog Karola entgegen, an der vorbei die Nurse das Zimmer verliess.
„Guten Tag, lieber Vater,“ Karola erzwang ihr freundlichstes Lächeln, „wie lieb von dir, dich so oft um Trautchen zu kümmern. Aber sie hängt auch so sehr an dir, sie fühlt die Liebe, die du ihr entgegenbringst.“
Lamprecht Overmans berührte mit verletzender Flüchtigkeit die ihm entgegengestreckte Hand.
„Das Mädelchen soll meine Liebe auch fühlen, es ist mein ganzes Glück, das Würmchen. Wenn nur die Furcht nicht in mir sässe, es verwandelt sich allmählich auch in so eine Mondscheinprinzess wie du bist.“ Er sah missbilligend den Sohn an, der ein paar Schritte von ihm entfernt Platz genommen. „Sowas zu heiraten! Eine Bretzel vom Bäcker ist handfester, und wenn man Hunger hat, kann man sie wenigstens noch vertilgen.“
Karola behielt ihr Lächeln bei. Sie war es ja gewöhnt, von ihrem Schwiegervater unangenehme Dinge anhören zu müssen.
„Lass, bitte, das Zähnefletschen,“ fuhr er sie jetzt missbilligend an, „auf mich übt es keinerlei Wirkung aus, wenn du mir dein tadelloses Gebiss zeigst! Und nun wollen wir einmal deutsch miteinander reden, da wir gerade beisammen sind, wir drei, die allein die Geschichte angeht.“
Er erhob sich, setzte die Kleine, deren dunkelbraunes Haar sich in kurzen Löckchen um das Köpfchen legte, in einen bequemen Stuhl, schob ihr ein neues Bilderbuch, das er aus seiner Tasche gezogen, in die kleinen Hände und sagte weich: „Jetzt guck dir die Putthühnchen und Miaukätzchen an, Trautchen.“
Die Kleine, deren Grauaugen in einem dichten Kranz langer schwarzer Wimpern und unter schmalen schwarzen Brauen standen, lächelte matt und gehorsam.
Lamprecht Overmans finsterer Blick streifte das Ehepaar.
„Ich habe mit Dr. Frank gesprochen, ich war vorhin bei ihm,“ begann er in einem Tone, der förmlich mit Feindseligkeit geladen war, „und was ich da hörte, war leider höchst betrübend.“
Er sah Karola an. Sein Blick tat ihr weh.
Der letzte klägliche Rest ihres Lächelns zerbrach davor.
„Es ist überhaupt nicht recht festzustellen, was dem Kind fehlt. Sein Blut läuft träge, sein Puls schlägt schwach, das Herz arbeitet mühsam, dazu kommt der Lungenspitzenkatarrh. Es ist zusammen ein bisschen viel für so ein Dingelchen. Ich setzte Dr. Frank sozusagen die Pistole auf die Brust und da gab er denn zu, er glaube nicht, dass die Kleine noch lange am Leben bleibe. Er rät zu Luftveränderung, sobald als möglich, meint, vielleicht liesse sich dadurch das Wunder bewirken, meinen Liebling am Leben zu erhalten. Hat ein Overmansgesicht die Kleine und ihre Art ist die Art der Overmans, aber die Armseligkeit ihrer Konstitution, die immer mehr zutage kommt, verdankt sie dir!“
„Lieber Vater, ich bitte dich,“ begann die junge Frau verängstigt. Weiter brachte sie nichts hervor.
Günter erhob sich.
Sein Vater ging doch zu weit in seiner Abneigung gegen Karola.
Er sagte etwas scharf: „Die Kleine hatte sich beim Baden durch die bodenlose Nachlässigkeit des früheren Kinderfräuleins eine starke Erkältung zugezogen, wie du weisst, und die folgenschwere Bedeutung der Erkältung wurde nicht sofort richtig erkannt. Aber Karola trägt doch keine Schuld daran. Sie ist doch vollkommen gesund.“
Lamprecht Overmans hob ein wenig die breiten Schultern.
„Ob so oder so, die Schuld an dem Dahinsiechen des Kindes trägt deine Frau! Entweder hat sie dem Kind die Schwächlichkeit vererbt oder sie ist eine miserable Mutter. Das Kinderfräulein ist nicht allein verantwortlich. Als Mutter kümmert man sich um alles, was das eigene Kind angeht. Wenn die Folgen der Erkältung so vernichtende sind, so ist das nur ein Beweis dafür, dass Frau Karola Overmans, die Zeit zu stundenlangen Besprechungen mit ihrer Modistin hat, ihr kleines Mädel ganz der Willkür des Kinderfräuleins überliess. Es ist ein Beweis dafür, dass sie nicht Zeit fand, beim Baden zugegen zu sein und Obacht zu geben.“
Er kam nicht weiter. Karola streckte ihm flehend die gefalteten Hände entgegen.
„Um des Himmelswillen, Vater, martere mich doch nicht zu sehr. Glaube mir, ich habe mir schon so und so oft ähnliche Vorwürfe gemacht, aber es nützt doch nichts.“
Ihre Stimme war tränenschwer.
Günter tat seine arme Frau bitterleid und der Zorn gegen seinen rücksichtslosen Vater wallte heiss in ihm auf.
Aber ein rührend bittender Blick Karolas beschwichtigte ihn.
Sie sagte leise: „Wenn Dr. Frank Luftveränderung vorschlägt, so bin ich sofort bereit, überall mit dem Kind hinzureisen, wohin er meint.“
„Um darüber zu reden, bin ich gekommen,“ gab er unfreundlich zurück. „Vorläufig soll das Kind nach St. Blasien im Schwarzwald, anschliessend daran nach Davos. Dr. Frank verspricht sich viel davon.“
Der schroffe befehlende Ton störte Karola gar nicht mehr, denn wie eine Himmelsbotschaft klang es ihr: Dr. Frank verspricht sich viel davon!
Also hatte sie bestimmt viel zu düster gesehen, als sie an ein Sterbenmüssen des Kindes gedacht.
Ihre Augen leuchteten auf, sie musste fröhlich dreinblicken.
„O, Vater, pass nur auf, unser Trautchen wird wieder frisch und gesund!“
Die Kleine hustete leicht.
Sofort war die junge Frau bei ihr.
Sie streichelte das Kind.
„Wir reisen bald weit fort, Trautchen, und dort wirst du ganz geheilt von dem bösen Husten. Mit der Eisenbahn fahren wir weit in die schöne Welt hinein und du wirst sehr, sehr viel sehen. Viel mehr, wie in allen Bilderbüchern zu sehen ist.“
Die Kleine blinzelte schläfrig.
„Trautchen ist müde, Mutti, Trautchen ist müde von die viele Bilder angucken.“
Ihr Köpfchen neigte sich seitlich herab zur Schulter.
„Bringe das Kind zu Bett!“ rief Lamprecht Overmans Karola zu. „Das heisst, die Nurse soll es tun, diese Person ist sich ja ihrer Verantwortlichkeit mehr bewusst als die vorige.“
Er ging zur Klingel, befahl dem eintretenden Mädchen: „Die Nurse soll Trautchen zu Bett bringen, das Kind bedarf der Ruhe.“
Das Ehepaar wechselte einen langen Blick.
Dass Trautchen auch Eltern besass, vergass Lamprecht Overmans meistens, wenn er, was man ja genau wusste, nur des Kindes wegen den Fuss in die elegante Villa am Herdweg setzte, darin seine ihm so unsympathische Schwiegertochter die Herrin war.
Die Nurse, Hedwig Ritter, erschien sofort und Lamprecht Overmans sah zu, wie das Kind im Nebenzimmer von ihr in das hübsche weisse Bettchen gelegt wurde.
Er selbst zupfte noch die breiten rosa Schleifen zurecht, die den schneeweissen Betthimmel aus allerfeinstem Tüll in malerischen Falten zusammenhielten und freute sich, weil das Kind das Bilderbuch von ihm mit ins Bettchen genommen.
Die Nurse musste am Lager Platz nehmen, er aber beobachtete noch ein Weilchen das Einschlafen des Kindes und schlich sich dann auf den Zehenspitzen zurück in das Spielzimmer, wo die Gatten in flüsternder Unterhaltung beisammenstanden.
Er brachte noch ein kleines Lächeln vom Bettchen des Kindes mit.
Er bückte sich neben Karola, hob ein kleines Spitzentaschentuch auf, das sich dabei ein wenig öffnete und einen kleinen Blutfleck enthüllte.
Die starken Brauen Lamprecht Overmans’ zogen sich dicht zusammen wie eine drohende Gewitterwand.
„Was bedeutet das?“ fragte er leise, aber splitternd kalt und scharf. „Trautchen hat vorhin gehustet, du gingst zu ihr. Sage die Wahrheit, hustet das Kind vielleicht Blut? Bisher hat mir noch niemand etwas davon gesagt. Ich glaube fast, ihr beide belügt mich in Dingen, die das Kind angehen und Doktor Frank, der meine Leidenschaft für das Kind kennt, will mich schonen. Also, ich fordere Wahrheit!“
Hart, fast drohend war der Ausdruck seines Gesichts.
Karola hob die linke Hand und blickte auf die Stelle, wo sie sich vorhin verletzt hatte.
Man sah noch deutlich die Spuren.
Sie hielt Lamprecht Overmans die Hand entgegen.
„Ich riss mich vorhin an einem Nagel, drückte das Tuch vor dem Abwaschen des Blutes zufällig dagegen.“
Er atmete sichtlich erleichtert auf.
„Also gut!“ sagte er und gab ihr das Tuch. „Aber ich rate dir, dergleichen nicht zu verlieren, es ist ekelhaft und widerwärtig für den Finder.“
Seinem Sohn schlug die Röte der Empörung ins Gesicht wie eine Flamme.
„Vater, deine Abneigung gegen Karola nimmt allmählich geradezu groteske Formen an. Bei jeder Gelegenheit kanzelst du sie ab wie ein böswilliges Schulkind.“
Lamprecht Overmans hob den Kopf, musterte den Sprecher von oben bis unten.
„Stellst du mich vielleicht zur Rede, Günter? Es klingt eigentlich so! Ich bin das aber nicht gewöhnt und dulde es nicht, merke dir das, bitte, ein für allemal.“
„Vater, du gehst zu weit!“ brauste der Jüngere auf.
Die starken Brauen Lamprecht Overmans’ nahmen schon wieder die Form einer drohenden Gewitterwand an, als er zurückgab: „Ich glaube, mein Lieber, wenn sich einer von uns beiden vergisst und zu weit geht, dann bist du es! Wenn du aber vielleicht meinst, mir etwas Besonderes sagen zu müssen, dann stehe ich dir gern zur Verfügung. Aber nicht hier. Das Kind schläft nebenan und die Nurse wacht bei ihm. Das Kind könnte im Schlafe gestört werden, auch verspüre ich keine Lust, die Aufmerksamkeit der Nurse zu erregen.“
Karola machte ihrem Manne heimlich Zeichen, einzulenken.
Und wie so oft schon vorher, sich dabei voll und ganz der eigenen Schwäche bewusst, lenkte er ein.
Lamprecht Overmans lachte kurz auf.
„Wir wollen Günters Zimmer aufsuchen,“ schlug er vor, „und uns dort besprechen, denn die Reise mit dem Kinde soll so rasch wie möglich vor sich gehen. Dr. Frank wird auch mitreisen. Er beabsichtigt sowieso, sich ein paar Ferienwochen zu leisten, und da lässt es sich mit seiner Begleitung ganz gut arrangieren. Wenn ich abkommen könnte, würde ich natürlich ebenfalls mitreisen, aber —“
Er brach ab, weil er es nicht für nötig hielt, zu erklären, weshalb er nicht abkommen kannte.
Karola musste den Atem einhalten, um keinen Laut von sich zu geben, denn wie eine erdrückende Last hatte sich bei den ersten Worten des Schwiegervaters die Angst auf sie herabgesenkt, er könne sie begleiten wollen.
Dr. Frank dagegen war ihr angenehm und sympathisch.
Man ging in Günters Zimmer, das mit seinen gediegenen Eichenmöbeln, ein paar ansprechenden modernen Gemälden und hübschen matten Teppichen voll Behaglichkeit war.
Eine reich geschliffene Kristallschale, gefüllt mit Frührosen in brennendem Rot, hob sich scharf von dem sanftdunklen Lila der Tischdecke ab. Aber so sehr sich die Farben zu verneinen schienen, so malerisch wirkten sie doch in dieser Zusammenstellung.
Es war Karolas Freude, diesen kleinen Winkel immer wieder neu und anders für den geliebten Mann zu schmücken.
Lamprecht Overmans liess sich auf das Sofa fallen, seine Augen streiften spöttisch die Schale mit den Rosen.
„Bitte, Karola, tue das Blumenzeug weg und die scheusslich gefärbte Decke, stelle einen Aschenbecher her, ich möchte rauchen!“
Karola gehorchte sofort.
Günter stellte den gewünschten Aschenbecher vor den Vater hin, daneben eine geöffnete Zigarrenkiste und reichte ihm Feuer.
„Nun komm endlich her!“ winkte er Karola, die noch abseits stand, und sie setzte sich neben Günter, damit sie ihn, wenn nötig, heimlich anstossen konnte, falls bei ihm wieder Rebellionsgelüste ausbrechen sollten, wozu er sichtlich neigte.
Lamprecht Overmans erklärte nochmals: „Also Dr. Frank wird, da er Trautchen bisher behandelt hat, nach St. Blasien mitreisen. Damit es aber kein Geklatsch geben kann, da Dr. Frank noch jung und unverheiratet ist, musst auch du mitreisen, Günter. Ich kann dich gerade jetzt ganz gut entbehren.“
Karola fühlte, wie ihr Gesicht vor Freude erglühte.
Dass Günter sie und das Kind begleiten würde, das hatte sie nicht im entferntesten zu hoffen gewagt.
Auch in ihren Augen spiegelte sich ihre Freude wider und Freude bringt leicht Hoffen mit.
Sie versicherte: „Glaube nur, Vater, wir drei, Günter, Doktor Frank und ich werden alles tun, was in unseren Kräften steht, damit Trautchen frisch und gesund zurückkommt!“
Die scharfen grauen Augen hängten sich fest an den weichen, jetzt rosig überhauchten Wangen der jungen Frau.
„Wir wollen alle hoffen, dass die Kleine frisch und gesund zurückkommt. Wehe euch, wenn es anders wäre! Würde dem Kinde etwas geschehen, dann braucht ihr euch überhaupt nicht mehr vor mir sehen lassen.“ Seine Abneigung gegen Karola brach wieder durch, als er ihr missachtend und anzüglich hinwarf: „Wenn ein Weibsbild knapp hundert Pfund wiegt, sollte es ihm polizeilich verboten sein, zu heiraten und Mutter zu werden.“
Günters Auflehnungsgelüste strudelten hoch wie das Wasser eines stillen Sees, in dem man Steine hineinwirft.
Karola haschte heimlich auf dem Sofasitz nach seiner Hand und ein fester, inniger Druck ihrer kleinen Finger glättete den Aufruhr in ihm.
In den nächsten Tagen erschien Lamprecht Overmans oft in der eleganten Villa am Herdweg, dieser überaus vornehmen Villenstrasse Stuttgarts, die sich hoch über der Stadt aufbaut.
Das einem kleinen Schloss gleichende Haus hatte er seinem Sohn nach der Hochzeit zur Verfügung gestellt, weil er nicht das Schauspiel geben mochte, dass der Einzige des reichen Overmans in einer Vierzimmerwohnung hausen musste.
Das Kind befand sich in den letzten Tagen vor der Abreise in auffallend gutem Zustand. Es war munterer als in der Zeit zuvor, hustete weniger und freute sich auf die Reise, die in dem kleinen Köpfchen ein Wirrsal märchenhafter Erwartungen schuf.
Dr. Frank scherzte, die Kur wirke bereits voraus.
Auch er freute sich auf die Reise und den Aufenthalt im Schwarzwald. Seine knappen Finanzen hätten ihm dergleichen nicht erlaubt.
Seit kurzem hatte er sich selbständig gemacht. Aber er besass noch keine nennenswerte Patientenzahl und die Protektion Lamprecht Overmans schien ihm ungemein wichtig für seine Karriere.
Am Tage vor der Abreise kam Lamprecht Overmans schon am frühen Morgen in die schöne Villa am Herdweg.
„Die Stunden bis zum Abend gehören meinem kleinen Liebling,“ erklärte er und sass dann auch wirklich mehrere Stunden lang im Kinderzimmer mit Trautchen und der Nurse beisammen.
Die Nurse sollte ebenfalls mitreisen und er prägte ihr immer von neuem ein, auf das Kind in jeder Beziehung achtzugeben, als sei es ihr Augapfel.
„Kommt die Kleine gekräftigt und hustenfrei zurück, werde ich mich Ihnen erkenntlich zeigen,“ erklärte er.
Die Nurse, die nach englischem Rezept in eine Art braune Schwesterntracht gekleidet war und die aus England Importierte spielte, stammte aus Berlin, und hatte längst erfasst, dass es in diesem Hause am vorteilhaftesten war, den Befehlen des alten Overmans zu folgen.
Sie gab sich längst keinem Zweifel mehr darüber hin, wie wenig Lamprecht Overmans die junge Frau beachtete, und ihre unfeine Natur, statt sich wenigstens innerlich auf die Seite der unterdrückten und missachtend behandelten Karola zu stellen, gab sich redlich Mühe, sich dem Familientyrannen dienstwillig und ergeben zu zeigen.
Karola trat, von ein paar raschen Abschiedsbesuchen heimkehrend, in das Kinderzimmer.
Trautchen lief ihr entgegen.
„Mutti, Opapa hat mir was sehr Schönes geschenkt!“
Karola kniete vor dem Kind nieder und bewunderte das Medaillon, das in Form eines vierblättrigen Kleeblattes an der Kette hing. Es war aus mattem Gold und Platin, mit winzigen Smaragden und Brillantchen übersät.
Sie lächelte staunend.
„Der Grosspapa ist aber nobel. Du darfst es natürlich nur Sonntags tragen, Trautchen, und musst es sehr schonen, damit du es niemals verlierst.“
Die Nurse erwiderte betont: „Herr Overmans aber wünscht gerade, Trautchen solle das Medaillon täglich tragen und es gar nicht ablegen. Herr Overmans informierte mich bereits über seine besonderen Wünsche.“
Es klang ungefähr so, als wollte sie ihr klarmachen, wieviel mehr die Nurse bei Lamprecht Overmans galt als die Schwiegertochter.
Karola mochte die immer so scheinheilig tuende Hedwig Ritter überhaupt nicht besonders leiden, aber Lamprecht Overmans hatte die Nurse seinerzeit einfach engagiert, ohne die Mutter um ihre Meinung zu befragen.
Trotzdem sie sich über das Benehmen der ein wenig mollig geratenen Nurse ärgerte, sagte sie freundlich: „Also, wenn es dein Grossvater wünscht, wirst du das entzückende Glitzerchen stets tragen, mein Trautchen, bei Tag und Nacht, und es nur beim Baden und Waschen ablegen.“
Sie drehte das Medaillon herum und las auf der Rückseite: Auf frohes Wiedersehn!
In diesem Augenblick empfand sie ein Gefühl von Rührung. Der alternde Mann, dessen Schläfenhaar schon silbergrau glänzte, hing doch geradezu fanatisch an dem Kinde. Und deshalb durfte sie ihm wohl überhaupt nicht ernstlich zürnen, trotz seiner oft so bösen Ausfälle gegen sie.
Das ziemlich energisch geformte, aber sehr bleiche Gesichtchen der Kleinen ward wichtig.
„In das goldne Ding ist ein Bild von Opapa, ich gebe ihm, wenn wir erst weit weg sind, morgens und abends Küsschen!“ erklärte sie.
Karola öffnete das Medaillon.
Richtig, Lamprecht Overmans’ hartes, etwas plumpes Gesicht schaute ihr, auf Elfenbein gemalt, aus der Kapsel entgegen und der scharf geschnittene, von keinem Bart in seiner Herbheit gemilderte Mund lächelte sein bestes Lächeln.
Er sagte jetzt: „Die Kleine soll durch das Bildchen stets an mich erinnert werden. Auch wünsche ich sonst, dass man dadurch, dass man viel und gut von mir zu Trautchen spricht, mein Gedächtnis in dem kleinen Köpfchen frisch erhält.“
Die Nurse berührte das Kind an der Schulter.
„Sage dem lieben Opapa, wie gut du ihm bist. Er hört das sehr gern, denn morgen bist du um diese Zeit schon weit von hier fort.“
Trautchen wandte sich von der Mutter ab, ging zu dem Manne, der es verwöhnte, wie er nur irgend konnte, und liess sich von ihm auf den Schoss nehmen.
„Opapa, ich habe dich lieb, und wenn ich wiederkomme, huste ich gar nicht mehr, und wenn du willst, heirate ich dich!“
Er lachte hell auf, küsste die Kleine und versenkte seinen Blick in die klaren Augen, die wie kleine dunkelgraue Seen aus dem dichten schwarzen Wimperngehänge schauten.
Overmansaugen waren es, echte graue Overmansaugen, auch das gerade Näschen war Overmanserbteil und das tiefbraune, fast schwarze Haar.
Nur die überzarte Gesundheit des Kindes stammte von der Mutter, von dieser schmalen körperlichen Armseligkeit, die keine Schwiegertochter nach seinem Wunsche war.
Noch fester drückte er das Kind an sich.
„Komm nur recht, recht gesund wieder, mein Kleines, Opapa möchte ein ganz kräftiges gesundes Trautchen, keine solche Spinnwebe wie dein Mutti, die schon wegfliegt, wenn man fest pustet!“
Die Kleine lachte und Karola zwinkerte energisch die Tränen weg, die sich durch ihre Wimpern drängen wollten.
Ein scharfer Blick traf sie.
„Sind Frau Prinzessin vielleicht beleidigt? Dann bitte ich natürlich untertänig um Verzeihung. Aber in Wahrheit will ich das tun und dich achten und ehren, wenn mein Liebling sich erholt und gesund wieder heimkehrt. Dann sollst du mit Lamprecht Overmans, dem unangenehmen Schwiegervater, zufrieden sein. Vor allem gehört dann Günter und dir dieses Haus endgültig und geschäftlich erhält Günter die Prokura, auf die er sich schon lange spitzt. Im übrigen machen wir beide dann Burgfrieden für alle Zeit!“
Er erhob sich langsam mit dem Kinde auf dem Arm.
„Du weisst nun ein für allemal, Karola, woran du mit mir bist.“
Sie wollte etwas erwidern, aber sie fühlte sich ausserstande dazu.
Ein eiskalter Schauer glitt über ihren Körper hin.
Sie fürchtete sich plötzlich so sehr vor der Reise und vor all der Verantwortung, die dieser harte Mann auf ihre Schultern lud, allein auf ihre armen, schmalen Schultern, die nur deshalb leidlich standhielten, weil Günters Liebe sie immer von neuem stärkte, diese Liebe, die ein so grosses und wundersames Glück für sie bedeutete.
Schon drei Wochen lebte Günter Overmans mit seiner Frau und dem Kinde in St. Blasien, aber der Gesundheitszustand der Kleinen hatte sich noch nicht im geringsten gebessert, sondern sich eher noch verschlechtert.
Das junge Paar bewohnte mit Trautchen und der Nurse die vier vermietbaren Zimmer einer kleinen Villa, in der man durch keine anderen Sommergäste gestört wurde, während Dr. Just Frank in der „Krone“ logierte.
Günter Overmans war mit dem Arzt im Auto nach St. Blasien gekommen, damit er seinen Wagen für etwaige Spazierfahrten benutzen konnte.
In ganz kurzen Zwischenräumen gingen kurze Berichte Dr. Franks über Trautchens Befinden an Lamprecht Overmans nach Stuttgart ab.
Diese Berichte waren günstig gefärbt, kein Wort wagte der Arzt davon zu erwähnen, wie ernstlich besorgt er um das Kind war.
Eigentlich hätte Dr. Frank längst einen der hiesigen Aerzte zuziehen müssen. Aber er hielt es nicht für nötig, er hatte sein Urteil über Trautchen längst fertig, sie war nach seiner Meinung unrettbar verloren.
Vielleicht würde sie nur noch ein paar Wochen, vielleicht aber auch noch mehrere Monate leben. Vielleicht zählte ihr Leben aber nur noch nach Tagen.
Das Kind hatte keine Lebenskraft, man musste ständig befürchten, das Herzchen würde streiken.
Still und langsam verblühte sie, wie ein Pflänzchen, das in trockener harter Erde nicht Tau noch Regen erquickt.
Das Kind war unlustig zu allem.
Eines Frühnachmittags, als Karola mit ihrem Manne und dem Doktor oben in dem als Wohnzimmer benutzten Raum beisammen war, während Trautchen unter der Obhut Hedwig Ritters in einer schattigen Ecke des kleinen Villengärtchens in einem Liegestuhl lag, schlug Karola vor, nun endlich einen Spezialarzt zu befragen.
„Gnädige Frau, verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich würde das Urteil eines Kollegen hier längst angerufen haben, wenn mich nicht Feigheit davon zurückhielte.“ Er zuckte die Achseln. „Ich klammere mich krampfhaft an die Hoffnung, es könnte noch ein Wunder geschehen, während diese Hoffnung mit einem Schlage zunichte würde, wenn ein Kollege objektiv spricht. So aber haben wir drei doch noch eine kleine Galgenfrist. Denn ganz abgesehen von allem Kummer um das Kind haben Sie beide genau solche Angst, Herrn Overmans mit einer Hiobsbotschaft zu kommen, wie ich.“
„Sie meinen, es gibt für Trautchen wirklich keine —“ begann Karola stockend und ihre feinen Hände strichen nervös über das goldbraune Kleid mit den Randstickereien aus hellgrüner Seide.
Günter umfasste die schmale Gestalt der geliebten Frau mit langem Mitleidsblick.
„Rege dich, bitte, nicht so sehr auf, mein Herz, Unentrinnbarem muss man gefasst entgegengehen.“
Ihre Augen weitete die Angst.
Verstört setzte sie noch einmal an:
„Sie meinen, es gibt für Trautchen wirklich keine Rettung?“
Sie wollte weitersprechen, aber die Zunge gehorchte ihr nicht mehr.
Er antwortete zögernd: „Nein, gnädige Frau, ich glaube, wir dürfen uns in bezug auf das Kind keinen Illusionen mehr hingeben, ich verspreche mir für Trautchen keine Rettung mehr. Sie ist viel zu schwach, zu matt, zu lebensunfähig. So furchtbar das an und für sich ist, meine ich doch, wir dürfen darüber nicht vergessen, Kriegsrat zu halten, auf welche Weise wir es Herrn Lamprecht Overmans beibringen. Denn er wird es wohl bald erfahren müssen.“
Karola sass regungslos und totenblass in ihrem Stuhl und dachte verworren, nun hatte doch wenigstens einer von ihnen dreien den Mut aufgebracht, das laut zu sagen, was sie alle gewusst und was sie alle dumpf und unheimlich belastet.
Wie abwesend flüsterte sie vor sich hin: „Trautchen wird sterben müssen, ich trage die Schuld, weil es so schwächlich ist und sterben muss. Wie entsetzlich schuldig bin ich doch.“
Die beiden Männer wechselten einen stummen Blick und jeder las in den Augen des anderen grenzenloses Mitleid mit der armen Mutter.
Günter Overmans erhob sich und nahm Karolas Hände zärtlich in die seinen.
„Armes kleines Frauchen, das Schicksal ist grausam zu dir und mir. Doppelt fest wollen wir fortan zusammenhalten, doppelt stark uns lieb haben, wenn wir unser Liebstes verlieren müssen.“
Karola hob jetzt erst den Blick.
Irr und unruhig flackerte er in den des Mannes.
„Rede nicht davon, dass wir Trautchen verlieren müssen, ich will es nicht hören. Denn es kann nicht wahr sein, was Dr. Frank sagt, ich glaube es einfach nicht und will es nicht glauben.“
Sie schob die zärtlichen Gattenhände zurück mit beinahe heftiger Bewegung und sprang so schroff auf, dass der Stuhl hinter ihr umfiel, ohne dass sie es beachtete.
Mit einem Satz stand sie mitten im Zimmer und mit leidenschaftlich gerötetem Gesicht rief sie den beiden Männern zu: „Ich dulde es nicht, dass mein Kind stirbt, es muss sich ein Mittel finden lassen, ihm zu helfen, es gesund zu machen. Tausende, ja Millionen von Menschen werden wieder gesund und viele sind darunter, die ruhig fortkönnten, die niemand vermissen würde, durch deren Tod keine Lücke entstände. Trautchen aber ist nötig, sie muss bei uns bleiben. Ich lasse sie nicht sterben, ich habe sie doch über alles lieb. Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren.“ Sie warf die Arme hoch und lachte. Ein splitternd kaltes, befremdendes, unheimliches Lachen. „Dr. Frank, sorgen Sie nur gleich rechtzeitig für die Irrenhauszelle, in die man mich wird bringen müssen, wenn Trautchen stirbt!“
Günter Overmans bat tieferschüttert: „Bitte, gib dich nicht solchen Gedanken hin, mein Lieb, und glaube nur, Dr. Frank kann nichts, gar nichts dafür, wenn es anders kommt, wie wir sehr innig hofften. Er ist selbst sehr traurig darüber, uns nun keine Hoffnung mehr geben zu können.“
Die schmale zierliche Frau verzog die Lippen mit unendlicher Bitternis.
„So, meinst du, er sei darüber besonders traurig? Nein, Günter, ich glaube das nicht, ihm ist es im Grunde wohl ziemlich gleichgültig.“
Just Frank machte eine ablehnende Kopfbewegung und seine Stimme klang heiser vor Erregung, als er mit mühsamer Beherrschung sagte: „Nein, gnädige Frau, Sie verkennen mich vollständig. Ein Arzt ist kein Gott und vermag keine Wunder zu tun, immer und immer wieder werden ihm Menschen sterben, die er so heilig gern retten möchte. Und in unserem besonderen Fall bitte ich Sie, mir zu glauben, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, meine kleine Patientin Trautchen ist auch mir ans Herz gewachsen und ich leide mit Ihnen und Ihrem Gatten. Ich leide noch besonders, weil ich mir gerade hier in diesen letzten Wochen so recht meiner Machtlosigkeit bewusst geworden bin.“
Dann sagte er ruhiger und doch noch mit einem leichten Nachhall der Erregung: „Gnädige Frau, Ihr Schmerz ist unbestreitbar der grösste und wird es bleiben, denn Sie sind die Mutter. Mutterliebe und Mutterschmerz lassen sich nicht überbieten! Aber ganz abgesehen von meiner persönlichen Zuneigung zu dem hübschen, liebenswerten Kind steht auch sonst noch sehr viel für mich auf dem Spiele, wenn Trautchen stirbt. Sie wissen, durch Zufall kam ich dazu, den vermögenden, einflussreichen Mann in seiner Krankheit zu behandeln, mir sein gewiss nicht leicht zu erringendes Vertrauen zu erwerben. Ich hatte meine ganze Hoffnung darauf gesetzt, durch ihn aus dem Elend des Anfängerarztes bald herauszukommen. „Der Traum von der guten, grossen Praxis dürfte wohl für mich ausgeträumt sein, wenn Trautchen stirbt. Ich höre Ihren rücksichtslosen Schwiegervater, der ein Selfmademan in des Wortes wahrster Bedeutung ist, und der immer tut und sagt, was ihm passt, schon mit erschreckender Deutlichkeit, wie er mich Pfuscher und Scharlatan nennt.“
Er pumpte den Atem tief aus den Lungen herauf.
„Sehen Sie, gnädige Frau, so sieht es jetzt in mir aus. Hinzufügen möchte ich noch, ich habe vor dem Wiedersehen mit Lamprecht Overmans eine heidenmässige, unglaubliche Angst!“
Karola starrte ihn wie benommen an und stammelte: „Daran habe ich jetzt zuletzt am allerwenigsten gedacht und es ist doch wohl das Allerschlimmste und bleibt es!“
Man sah deutlich, wie sie erschauerte.
Im nächsten Augenblick hielt sie Günter in den Armen.
„Ich werde dich zu schützen wissen, denn gerade genug hat mein Vater dir schon angetan. Wenn er deinem Schmerz auch noch roh begegnen würde, wäre das Mass übervoll. Du hast mich bisher immer davon zurückgehalten, ihm so offen die Meinung zu sagen, wie ich es längst gern getan hätte.“
„Wir hängen doch aber so sehr von ihm ab, Günter,“ wehrte sie sich. „Und wenn Trautchen gesund würde, käme bestimmt vieles anders.“
Sie entzog sich den Armen ihres Mannes.
„Doktor, lieber, guter Doktor, verzeihen Sie mir das Unrecht, das ich Ihnen vorhin in meiner grenzenlosen Erregung angetan, ich war ja unzurechnungsfähig. Bitte, seien Sie mir nicht böse und retten Sie mein Kind!“
„Wenn ich das könnte, würde ich es bestimmt tun,“ entgegnete er traurig, „ich habe Ihnen doch ganz klar und deutlich von meiner Machtlosigkeit gesprochen.“
„Ja, ja,“ stiess sie hastig hervor, „aber was Ihnen nicht möglich ist, wird vielleicht einer ärztlichen Kapazität möglich sein.“
„Ich bin leider fest überzeugt, man würde das Kind vielleicht nur noch unnötig quälen, denn es gibt aller Wahrscheinlichkeit nach keine Hilfe mehr. Die allgemeine Schwäche ist zu gross, das Kind ist zu zart, hat keine Kraft, gar keine,“ erklärte er in bestimmtem Ton.
Er war voll Mitgefühl, aber er musste sich hüten, seinem Mitgefühl folgend, neue Hoffnungen zu erwecken, sonst kam die arme, schon so zermürbte Frau gar nicht mehr aus dem Hangen und Bangen heraus.
Er schloss gütig zuredend: „Je besser Sie sich auf alles vorbereiten, um so leichter wird sich der unvermeidliche Zusammenstoss mit dem Schwiegervater gestalten, gnädige Frau.“
Karola blickte ins Weite und der Klang ihrer Stimme war dumpf von vielen mühsam verhaltenen Tränen.
Sie rang die Hände.
„Wenn Lamprecht Overmans Ihnen böse Dinge sagt, können Sie ungehindert Ihre Wege gehen, Sie dürfen nur dabei nicht an Ihre Karriere denken, ich aber muss mir sagen lassen, was für ein Elendswurm ich bin und dass ich allein die Schuld trage an der Krankheit oder meinetwegen Schwächlichkeit des Kindes. Dazu kommt noch sein Hohn, der scharf und ätzend ist.“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Ich werde also unser liebes behagliches Heim am Herdweg niemals wiedersehen, denn ich wage mich nicht mehr heim, nie mehr, mag werden daraus was will.“
Günter Overmans legte den Arm um die Schultern der masslos Erregten.
„Süsses, Liebes, denke doch jetzt nicht daran, es ist ja, gottlob, noch nicht soweit und wenn der Doktor nicht kann, so wollen wir beide wenigstens vorläufig noch auf das ersehnte Wunder hoffen. Und jetzt schlage ich vor, wir vertauschen die Stube, die ganz durchseucht ist von den Bazillen unserer Angst, mit dem Aufenthalt in Gottes freier Natur. Komm mit ins Freie, mein Lieb! Dort draussen unter dem lachenden blauen Himmel wirst du ruhiger werden, dich in dir selbst wieder besser zurechtfinden. Unser Doktor ist wohl so gut und bleibt bei dem Kind, zu unsrer Beruhigung.“
Karola hörte apathisch zu, nickte schliesslich.
Im nächsten Augenblick wandte sie sich dem Arzt zu.
„Herr Doktor, bitte, sprechen Sie nur nicht allzu deutlich zu der Nurse von dem, was Sie für das Kind befürchten. Sie ist durch die Protektion meines Schwiegervaters in ihrem Benehmen mir gegenüber schon jetzt reichlich dreist, und ich fürchte, wenn Sie ihr die Gewissheit geben wie uns, dann schreibt sie nach Stuttgart und mein Schwiegervater kommt sofort.“
Sie bebte vom Kopf bis zu den Füssen.
„Ich verstehe Sie vollkommen, gnädige Frau,“ gab Just Frank zurück, „und ich bin mir über den Charakter dieser Hedwig Ritter längst nicht mehr im Zweifel. Sie fühlt sich in der Protektionssonne Herrn Overmans Senior ausserordentlich und trumpft auch mir gegenüber auf. Aber sie ist eine vorzügliche Kinderpflegerin und zurzeit eigentlich unersetzlich.“
Karola dachte, dass sie überhaupt nicht wagen würde, die Scheinheilige zu entlassen, gerade weil Lamprecht Overmans ihr besonders wohlwollte.
Der Doktor lächelte ein wenig.
„Fräulein Hedwig Ritter hörte bisher aus meinem Munde nur Günstiges über Trautchens Befinden. Und so werde ich es auch weiterhalten.“
Während ihr Mann das Auto holen wollte, das in einer Hotelgarage untergestellt war, suchten Karola und der Arzt den kleinen Garten der Villa auf, der im buntesten Blumenschmuck prangte.
Hedwig Ritter erzählte dem Kinde, das, mit halbgeschlossenen Augen im Liegestuhl hingestreckt, zuhörte, ein Märchen. Ein paar Feen kamen darin vor und eine arme Prinzessin.
Als das Kind die Mutter bemerkte, öffnete es die Augen zu voller Grösse und lächelte ihr entgegen.
Wie blass die Kleine heute wieder aussah, kaum war es Karola vorher so unbarmherzig deutlich aufgefallen.
Aber die etwas zu vollen und von der Röte der Gesundheit gleichmässig bemalten Wangen der Nurse liessen das Kindergesichtchen doppelt bleich erscheinen.
Karola beschäftigte sich mit dem Kind, plauderte ihm lachend und scherzend allerlei vor, während ihr zumute war, als müsse ihr das Herz brechen.
War es nicht unverantwortlich von ihr, das totgeweihte Kind auch nur für kurze Zeit zu verlassen?
Schon war sie entschlossen, nicht mit Günter auszufahren, als die Autohupe ertönte und gleich darauf ihr Mann in den Garten trat.
„Komm, Karola, wollen unsere Spazierfahrt antreten.“
Sein Blick flehte sie dabei an, weil er ahnte, sie hatte es sich wieder anders überlegt.
Just Frank bat drängend: „Fahren Sie mit Ihrem Mann, gnädige Frau, eine nette, etwas weitere Autotour wird Ihnen gut tun. Ich verschreibe sie Ihnen als Rezept.“
Hedwig Ritter mischte sich ein.
„Die gnädige Frau ist entbehrlich, ich gehe ja ganz in Trautchens Pflege auf, nach den Anweisungen Herrn Overmans Senior.“
Wie anmassend sie es hinwarf.
Der Doktor hielt ihr kühl entgegen: „Ich glaube aber, Herrn Overmans Senior ist am besten damit gedient, wenn Sie sich an meine, die ärztlichen Anweisungen halten, im übrigen kann die beste Pflegerin nicht die Mutter ersetzen.“
Die Nurse hatte etwas schrägstehende hellbraune Augen, auch die Brauen zogen sich, nach den Schläfen zu, schräg hinauf.
Das gab dem Gesicht ein wenig den Typ der Kalmückin.
Klein-Trautes Fingerchen spielten mit dem Medaillon, das sie um den Hals trug.
Verirrte Sonnenstrahlen, die sich durch die dichten Zweige der Gartenbäume schoben, liessen die winzigen Smaragden und Brillantchen auf dem aus Gold und Platin gearbeiteten Kleeblatt hell aufsprühen in grünem und buntem Feuer.
Die Kleine kommandierte: „Mache das goldene Ding auf, Mutti!“
Wie oft hatte Karola „das goldene Ding“ schon aufmachen müssen.
Und sie wusste auch genau, was dann für weitere Kommandos aus Trautchens Mund folgen würden.
Wie schon so oft vordem, hob die Kleine auch heute das geöffnete Medaillon an die Lippen und küsste das auf Elfenbein gemalte Gesicht Lamprecht Overmans.
Wie schon so oft vordem, hielt sie ihr danach auch heute das geöffnete Medaillon entgegen und sagte wichtig: „Nu bist du dran, Mutti, nu musst du den lieben Opapa auch küssen und ihn mächtig toll lieb haben!“
Dann küsste sie, wie es Trautchen verlangte, das lächelnde Männergesicht, das sich ihr im Leben noch niemals freundlich zugewandt, legte das Medaillon, zärtlich tuend, an die Wange und streichelte es in etwas übertriebener Weise.
Die beiden letzten Bewegungen umfassten nach Trautchens Anweisung das mächtig tolle Liebhaben.
Heute kommandierte sie: „Musst den Opapa aber noch viel mehr toll liebhaben, Mutti, er hat das so schrecklich gern.“
Es blieb Karola nichts weiter übrig, als das Bildchen Lamprecht Overmans noch viel mehr toll lieb zu haben.
Und sie dachte dabei, wenn er jetzt sähe, was sie tat, würde ihr sein Hohn die hellen Tränen aus den Augen beizen.
Ein unverkennbarer Spottblick der Nurse beendete das tolle Liebhaben.
Sie sagte, emporgejagt von diesem Spottblick, zu ihrem Manne, sie wäre zur Ausfahrt bereit und küsste das Kind auf die Stirn.
Dem Doktor, der bei der Kleinen bleiben wollte, reichte sie die Hand und war froh, jetzt fortzukönnen, der stumme Spott Hedwig Ritters war unerträglich gewesen.
Vor der Gartentür stand der dunkelblaue Benzwagen, Karola nahm neben Günter Platz und gleich darauf sauste das Auto auch schon dahin.
Karola hatte keinen Hut aufgesetzt und der leichte Wind spielte mit ihren losen, lockigen Scheitelhaaren und dem goldnen Gewirr im Nacken, das sich aus dem kleinen weichen Knoten stahl.
Der kosende, erfrischende Wind liess sie tief aufatmen nach den Beängstigungen der letzten Stunde, aber sie redeten kein Wort mehr darüber jetzt die zwei, die sich nach fünfjähriger Ehe noch liebten wie am Tage, da sie die Ringe gewechselt.
Auf wundervoller, durch ein Land der Romantik sich hinziehender Chaussee gelangten sie an das Gasthaus „Zur Seebrugg“, wo sie eine Erfrischung genossen, das Auto zurückliessen und den kurzen Weg zum Schluchsee zu Fuss machten. Bald hatten sie ihn erreicht. Schmal und langgestreckt lag sein Wasser vor ihnen, wie ein Hauch von Melancholie ging es von dem stumpfgrauen düsteren See aus.
Die Sonne barg sich schon hinter dem Wald, der die Ufer säumte, und es war Karola, als senke sich ein düsterer Schleier nieder, umhülle die Landschaft und ersticke jedes Hoffen für immer in dem Gespinst grenzenloser Trostlosigkeit.
Ganz anders hatte sie sich diesen See vorgestellt.
Ganz anders!
Als ein helles, freundlichschimmerndes Auge in dunkler Waldesmitte, als ein frohes Lachen der Natur, als einen Trost für Zage und Lebensbange.
Sie schmiegte sich eng an ihren Mann.
„Hier dürften nur ruhige, zufriedene Menschen hergehen,“ sagte sie leise, „wem schon bedrückt zumute ist, den schreckt hier so vieles, was Fröhliche gar nicht sehen würden.“
Ihre Rechte wies über die stumpfen Wasser.
„Schau nur, Günter, dort drüben zwischen den Baumstämmen spaziert der Tod umher, dort der Kahn am Ufer gehört ihm. Darin kommt er herübergefahren, um uns unser Trautchen fortzuholen.“
Günter Overmans überlief es kalt, und ihm war es fast, als grinse dort drüben hinter einem der Baumstämme wirklich des Knochenmannes grauses Antlitz hervor.
Er zog die geliebte Frau fest an sich.
„Karola, einziggeliebte Karola, was redest du nur? Um Christiwillen, nimm dich zusammen, werde nicht krank vor Jammer und Aufregung. Vergiss nie, bitte, vergiss nicht einen einzigen Augenblick, dass du mein Alles auf der Welt bist. So lieb ich das Kind habe, schon weil es unser Kind ist, so habe ich dich doch noch lieber. Ohne dich ginge ich zugrunde, wäre der elendeste Mensch. Deshalb erhalte dich mir, denke immer und immer an unsere Liebe. Sprich nicht solche Dinge wie eben, du erschreckst mich masslos.“
Sie fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, hinter der viele schmerzliche und traurige Gedanken kreisten.
„Sei mir nicht böse, Günter, aber ich bin so sehr durcheinander von dem, was Dr. Frank heute gesagt, ich kann nicht damit fertig werden.“ Sie schob sich langsam mit ihm einige Schritte zurück. „Ich habe dich auch sehr lieb, Günter, ich habe dich unendlich lieb, aber wenn ich mir vorstelle, Klein-Trautchen wird eines Tages nicht mehr bei mir sein und niemals mehr wiederkehren, dann vergesse ich beinahe meine Liebe zu dir und denke, die ganze Welt würde zu einem grossen Grabe.“
Sie blickte sich scheu um, doch keiner war weiter in der Nähe zu sehen, als ein Stückchen hinter ihnen im Walde ein älterer Mann mit einem Mädchen. Anscheinend ein Bewohner des Dorfes mit seiner Enkelin.
„Wahnsinnige Angst habe ich vor deinem Vater. Und wenn du mir noch so fest deinen Schutz versprichst, ich wage mich bestimmt nicht in seine Nähe, wenn Trautchen nicht am Leben bleibt. O, weshalb tat der Himmel kein Wunder? Wie lieb und schön hätte alles werden können, wenn sich dein Vater endgültig mit mir ausgesöhnt hätte! Und nun wird er mich, da seine Natur nun einmal so ist, bald hassen wie seinen schlimmsten Feind.“
Unter den langen Wimpern drängten sich ein paar grosse Tränen hervor und sie zogen mit feierlicher Langsamkeit über die sanft gerundeten Wangen, erweckten heisse Rührung in dem Manne, der sich so entsetzlich machtlos fühlte, gegen das bittere Weh der liebsten Frau anzukämpfen.
Plötzlich schrie sie leicht auf und taumelte zurück, irgend etwas war ihr gegen den Kopf geflogen.
Günter bückte sich, hob einen kleinen bunten, aber schon stark verfärbten Gummiball auf.
„Siehst du, hier ist der Uebeltäter,“ suchte er zu scherzen.
Beide schauten sich um.
Der ältere Mann, der im Walde mit dem Kind gespielt, stand jetzt auf dem Weg zum Dorf, nicht allzu weit von ihnen entfernt.
Seinen Hut trug er in der Hand und man erkannte jetzt deutlich, dass er kein Bauer war.
Das Kind aber kam mit überhasteten, etwas grotesken Sprüngen näher, langsam folgte ihm der Mann.
Und als das Kind sich so näherte, und die beiden am Seeufer Stehenden es immer deutlicher betrachten konnten, fühlte Günter förmlich das Zittern des schmalen Frauenkörpers mit, und ohne, dass Karola ein einziges Wörtchen sprach, wusste er, was sie jetzt empfand.
Denn er erblickte ja dasselbe, was ihre Augen erblickten: Das kleine, schlicht und bäuerisch gekleidete, ungefähr vierjährige Mädchen, das täppisch lebhaft auf sie beide zusteuerte, weil es seinen Ball in den Händen Günters sah, ähnelte Trautchen fast zum Verwechseln.
Nur dass die Wangen des fremden Kindes, von der Gesundheit geküsst, in leuchtendem Rosenrot blühten und sein Körperchen vor Lebenswonne strotzte.
Die Lippen waren wie ein Herzkirschenpaar und die grauen Augen funkelten vor Uebermut.
Der Mann setzte sich jetzt auch in Trab, und er holte das Kind denn auch ein, gerade als es dicht vor dem Paare stand, seine dicken Patschhändchen verlangend nach dem Ball ausstreckte.
Karola war tief erschüttert von der Aehnlichkeit des fremden Mädelchens mit ihrem Kinde.
Der Begleiter der Kleinen, der mit einer gewissen saloppen Eleganz gekleidet war, wie man von nahe erkannte, grüsste durch eine leichte Verneigung, den Hut in der Hand.
„Ich bitte die Herrschaften vielmals um Vergebung, an dem unglücklichen Ballwurf trage ich die Schuld. Ich wollte den Ball nur gerade soweit werfen, um mein kleines Dickchen hier zum Laufen zu bringen. Und ich warf zu weit! Ich bitte nochmals recht herzlich um Verzeihung.“
Ein bewundernder Blick traf die reizvolle junge Frau.
Günter hatte dem Kind den Ball schon zurückgegeben, er bemerkte nun, dass Karola die Augen gar nicht von der Kleinen abzuwenden vermochte.
Er lächelte: „Das war ja nichts Schlimmes mit dem Ball. Uebrigens wollen wir auch ins Dorf, wenn es Ihnen recht ist, können wir ja zusammengehen.“
Der Aeltere, mit dem markanten Gesicht und dem leicht ergrauten Haar, nickte. „Aber gerne, mein Herr.“ Er lachte. „Da hat sich mein Babettchen schon ganz freundschaftlich an die Seite der jungen Dame gemacht, um recht genau das schöngestickte seidene Kleid zu bewundern. Mein Babettchen putzt sich nämlich gern und es gibt sicher mal ein Modenärrchen.“
Karola sah auf das Kind nieder und voll unsagbarer Bitternis dachte sie, warum war Trautchen nicht so ein frisches, gesundes Ding wie diese Kleine.
Die Tränen drängten sich ihr schon wieder in die Augen und die Kleine schaute zu ihr auf, blieb stehen und zwitscherte verwundert: „Hat dir mein Ball Weh-Weh gemacht?“
Karola schüttelte mit schmerzlichem Lächeln den Kopf.
Die Kleine schien flüchtig nachzudenken und zwitscherte nach einem Weilchen:
„Dann brauchst auch nit zu heule!“ Und nach kurzer, neuer Ueberlegungspause: „Babettli heult nur, wenn’s Weh-Weh hat.“
Günter wandte sich an seinen Begleiter.
„Meine Frau hat heute eine traurige Nachricht erhalten.“
Er sagte es, um Karolas tränenverschleierte Augen zu erklären.
Der Fremde neigte den Kopf.
„Da dürfen wir aber wirklich nicht stören.“
Er grüsste und wollte, seinen Schritt verlangsamend, zurückbleiben.
Doch Karola bat: „Gehen Sie doch mit uns zusammen. Das Kind erinnert mich so sehr an mein Liebstes und ich freue mich seiner Frische und Gesundheit.“
„Da hat die gnädige Frau wohl ein Töchterchen durch den Tod verloren?“ fragte der ältere Herr in mitfühlendem Ton.
Um Karolas Lippen zitterte der grenzenlose Mutterschmerz, der ihr Herz wundstach. Sie vermochte im Augenblick nicht zu antworten, ihr Mann tat es an ihrer Stelle.
„Unser einziges Kind, ein Mädelchen wie dieses im Alter, und ihm ähnlich fast wie eine Zwillingsschwester, ist schwach und leidend, ohne direkt krank zu sein, siecht es von Tag zu Tag mehr dahin und der Arzt gibt keine Hoffnung mehr.“
Der Fremde vermied jedes zudringliche Trostwort.
Er ehrte die Mitteilung durch längeres Schweigen, bewies dadurch, er besass Herzenstakt.
Die Kleine reichte Karola den Ball.
„Darfst ihn tragen, meinen Balli, und ich will dir’s Händli geben, du gefällst mir.“
Karola musste unwillkürlich über die niedliche Kleine lachen, und für kurze Zeit dämmte das drollige Geplauder des Kindes ihren Schmerz ein.
Der Fremde plauderte: „Das Kind gehört einer Nichte meiner Frau, die vor kurzem gestorben ist und nichts hinterliess als ein Dorfhäuschen, das gestern versteigert wurde. Meine Frau stammt aus der hiesigen Gegend, und weil sie gar zu gern wieder einmal Heimatsluft atmen wollte, reisten wir auf einen Jammerbrief ihrer Nichte hierher. Sie wollte uns vor dem Sterben ihr Kind übergeben, sie war schwer herzkrank. Ihr Mann verunglückte im vorigen Jahr in den Bergen.“ Er wies in einer bestimmten Richtung. „In der Nähe vom Hochfirst, bei einem fürchterlichen Gewitter.“
Er warf einen mitleidigen Blick auf das Kind.
„Das Würmchen ahnt noch nicht, wieviel es verloren hat, es meint, seine Mutter sei nur für ein Weilchen zum lieben Gott gegangen, um den Vater zu besuchen, aber da meine Frau und ich uns bemühen, seine kindliche Phantasie zu beschäftigen, wird ihm anscheinend die Zeit bis zur Rückkehr der Mutter gar nicht lang.“
Er seufzte: „Die kleine Babette kann ja nichts dafür, aber Sie dürfen mir glauben, für uns bedeutet das Kind eine riesige Last. Man ist nicht mehr jung und elastisch genug für so ein Menschlein, und eigene Kinder haben meine Frau und ich nicht gehabt. Wir schwanken immer noch, ob wir die Kleine nicht ins Waisenhaus stecken sollen, denn ganz davon abgesehen, dass einem so eine Kleine mancherlei Last und Umstände macht, denkt man schon daran, was soll aus dem Kinde werden, falls einem etwas zustösst. Ich bin sechzig, meine Frau ist nicht jünger. Und dann hat man das Wurm ins Ausland geschleppt.“
Günter sah ihn fragend an.
Der Fremde lächelte ein wenig.
„Ach ja, Sie wissen ja weiter gar nichts von mir als das, was Sie eben hörten. Meine Frau und ich waren durch lange Jahre hindurch ein beliebtes und sehr gutbezahltes, gefeiertes Tanzduett, Ueber alle grossen Varietébühnen des Kontinents und vieler überseeischer Länder sprangen und hüpften wir, bis —“ Er lachte kurz auf. Es klang unfroh und fuhr fort: „Bis wir zu alt wurden für diese erstklassigen Etablissements. Die Varietés zweiten Ranges kamen an die Reihe und die dritten Ranges. Zum Schluss krebsten wir durch Singspielhallen niedrigster Ordnung, bis uns unser Selbstbewusstsein schliesslich ein energisches Halt zurief. Gerade in London kamen wir auf die Idee, unser Können für Unterrichtszwecke zu verwenden, und auf diese Weise bringen wir uns seitdem dort ganz gut durch. Wir unterrichten im Gesellschaftstanz, aber bilden ebenso für die Bühne aus. Einige Spargroschen liegen auch schon auf der hohen Kante, aber so ein Kind bedeutet eine erhebliche Störung. Wenn es wenigstens ein paar Jahre älter wäre! Meine Frau stösst sich nur an das Versprechen, das sie der Nichte gegeben, gut für das Kind zu sorgen, sonst hätte ich schon Umschau gehalten, wo es unterzubringen wäre. Auch ist’s ein allerliebstes Ding und tut einem leid. In kurzer Zeit werden wir abreisen und müssen es wohl schliesslich mitnehmen. Wir fühlen uns hier im allgemeinen doch nicht so wohl, wie wir hofften und allzu lange darf unsereins auch keine Ferien machen.“
Beim Plaudern war er gemächlich neben seinen Zufallsbekannten hergegangen, nun aber verhielt er den Schritt.
„Jetzt sage der Dame ein schönes ‚Grüss Gott‘ zum Abschied, Babette, nun müssen wir unseren Weg allein fortsetzen. Wir wohnen nämlich ganz abseits und wollen hier links einbiegen,“ wandte er sich an das Ehepaar. „Uebrigens mein Name ist Brown, früher, ehe wir uns naturalisieren liessen, wurde er zwar genau so ausgesprochen, doch ‚Braun‘ geschrieben. Ein häufig vorkommender Name ist’s, dort in England ebenso wie hier. Ich stamme aus der Ulmer Gegend, aber nun lebt niemand mehr dort.“
Karola neigte sich zu dem Kinde nieder.
„Gott segne deine Zukunft im fremden Lande, kleine liebe Babette!“
Als das volle rosige Gesichtchen dem ihren ganz nahe war, konnte sie nicht widerstehen, sie küsste die Kleine und ein paar heisse Tränen fielen auf die Wange des Kindes nieder.
Die Kleine zwitscherte verweisend: „Du darfst doch nit immer gleich heulen!“
Der alte Tänzer nahm schnell das Kind bei der Hand und zog es mit sich fort in den Seitenpfad.
„Komm, Babettchen, die Grosstante wartet auf uns.“
Er hatte bemerkt, wie fassungslos die schöne junge Frau war, weil sie wahrscheinlich wieder an ihr krankes Kind dachte, und er wollte ihr schnellstens den Anblick der Kleinen entziehen, damit sich die Aermste nicht weiter mit Vergleichen abquälte.
Karola aber schaute dem Mädelchen noch lange nach, das ein paarmal den Kopf wandte und Kusshändchen warf.
Sie sass dann wieder neben ihrem Manne im Auto und nach langem Schweigen, währenddessen beide ihren Gedanken nachhingen, sagte Karola voll Bitternis: „Weshalb ist nur alles so ungerecht verteilt auf der Welt? Die kleine Waise ist so übergesund, dass sie davon abgeben könnte, und unser Trautchen läuft wie ein Gespenstchen umher, wird täglich kraftloser, löst sich förmlich auf. Wir würden doch wer weiss was dafür geben, wenn unser Kind gesund wäre, und dieses andere Kind bedeutet für die Menschen, bei denen es leben soll, eigentlich nur eine Last. Wäre es da nicht gerechter, so ein Waisenkind, dem niemand besonders wohl will, wäre krank und stürbe, anstatt dass Trautchen vielleicht gehen muss, die so unendlich viel für uns bedeutet?“
Ihr Mann schüttelte abwehrend den Kopf.
„Solche Vergleiche passen nicht zu deinem guten Wesen und deiner anständigen Gesinnung.“
Karola verkrampfte die Hände ineinander.