Die Natur eines Verbrechens - Joseph Conrad - E-Book

Die Natur eines Verbrechens E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

In einem Brief an seine Geliebte, die fern in Rom weilt, gesteht ein vermeintlich wohlhabender Geschäftsmann, dass er vor dem Nichts steht und dass er nur noch einen Ausweg sieht: Selbstmord. Er beginnt, die Umstände eines begangenen Verbrechens zu beschreiben, gerät in Bekenntnisse, lässt Lebenslügen durchscheinen, gibt immer mehr von sich preis, kommt buchstäblich auf Gott, die Welt und den Sinn zu sprechen. Aber was in seinen Bekenntnissen ist echt und was lediglich Pose? Und warum verzögern sich die Dinge und werden weitere Briefe nötig? „Die Natur eines Verbrechens“ ist keine Kriminalerzählung, sondern ein Bekenntnisbuch, geprägt von einem Blick, der durch eine existenzielle Krise in der Wahrnehmung sowohl ungemein geschärft wie verstellt wird. Das lange vernachlässigte Werk der beiden Meisterautoren Joseph Conrad und Ford Madox Ford erscheint erstmals auf Deutsch, wobei das Buch ergänzend, ebenfalls als deutsche Erstveröffentlichung, erhellende Texte von Conrad und Ford über ihre Zusammenarbeit enthält. In einem Essay beschreibt Her­ausgeber und Übersetzer Michael Klein die Hintergründe und durchaus überraschende Komplexität des Werks.

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Inhaltsverzeichnis

Die Natur eines Verbrechens

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Anmerkungen

Dokumente der Zusammenarbeit

Ford Madox Ford: Erste Begegnungen

Joseph Conrad: Ein glänzendes Beispiel von Selbsthilfe

Joseph Conrad: Die wahre Natur eines Verbrechens

Ford Madox Ford: Die Natur solcher Verbrechen

Ford Madox Ford: Arbeiten mit Conrad

Anmerkungen

Lebenslügen und das Schimmern möglicher Diamanten im Kohlestaub. Ein Nachwort von Michael Klein

Die Natur eines Verbrechens

I

Du bist, vermute ich, mittlerweile in Rom. Es ist überaus eigenartig, wie präsent ihr beide mir seid, Du und Rom. Es gibt dort einen bestimmten Hügel – Du wirst ihn, und das ist das Merkwürdige an der Sache, nie besuchen, und doch stand ich gestern, am späten Abend, auf seinem Gipfel und Du kamst von einem Ort unterhalb heraufgegangen. Dort ist stets Mittag; die sieben Säulen des Forums ragen hoch hinauf, ihre Kapitelle miteinander verbunden, und bilden einen Winkel eines Karrees. An ihren Fundamenten liegen zahlreiche Trümmerreste, ein zerbrochener Marmorlöwe und – wie ich glaube, ohne allerdings sicher zu sein – die Bronze-Wölfin, die die zwei Bronzekinder säugt. Dein Kleid bürstete die Gräser; grau und dünn war es. Ich schätze, Du weißt gar nicht, wie Du aussiehst, wenn man Dich anschaut und Du Dir dessen nicht bewusst bist? Und ich schaute Dich lange Zeit an, Dich, mein Du.

Gestern traf ich Deinen Ehemann im Klub, er sagte, vor Ende April kämst Du nicht zurück. Als ich meine Wohnung betrat, fand ich einen gewissen Brief vor. Ich werde Dir nachher davon berichten – aber ich verbiete Dir, ans Ende dessen zu schauen, was ich gerade schreibe. Es wird bald eine Neuigkeit geben; ich würde sie Dir eröffnen, wenn ich könnte – aber das vollkommen Unerwartete lässt sich nicht eröffnen. Wenn Du dies durchliest, wirst du allerdings aus dem Grundcharakter, aus dem Tonfall meiner Gedanken eine kleine Ahnung gewinnen, eine winzige Vorbereitung auf diese meine Enthüllung. Ja, das ist es wirklich: eine „Enthüllung“.

Kurz gesagt, es war eben gerade dieser Brief, ein Geschäftsbrief, der mich dazu veranlasste, an Rom zu denken, diesen Hügel vor meinem Auge erstehen zu lassen. Ja, ich stand auf ihm, und da vor mir lag Rom – unter einem Dunst, im gewaltigen Ozean der weiten Ebenen. Ich habe oft daran gedacht, nach Rom zu gehen – mit Dir dorthin zu gehen, in der Muße unserer beider Lebensherbste. Nun – seit ich diesen Brief erhalten habe – weiß ich, dass ich nie ein anderes Rom als das meiner Phantasie dieser Hügelkuppe sehen werde. Und als Du, letzten Abend, in diesem herrlichen Licht und der Schattenlosigkeit dieses Mittags aus dem Hain silberner Pappeln tratst, sah ich Dich lange an, Dich, mein Du. Du hattest, glaube ich, einen Sonnenschirm hinter Deinem Kopf, bewegtest Dich langsam, sahst hinauf zu den Kapitellen der sieben Säulen … Und ich dachte daran, dass ich Dich – da Du nicht vor Ende April zurückkehren wirst – nie, niemals mehr wiedersehen sollte. Ich werde das Du nie wiedersehen, das jeder andere Mann anschaut …

Du verstehst alles so gut, dass Du die Art meiner Eröffnung bereits begriffen haben wirst. Es ist, natürlich, nicht die Eröffnung, dass ich Dich liebe. Der Jugend steht die große Bewunderung zu – und den Toten der weite, freie Sinn. Denn ich bin tot: Ich habe, wie viele Jahre schon, nur noch durch Dich gelebt! Und ich werde niemals mehr mit Dir sprechen. Vor Ende April wird man mir irgendeine Art Begräbnis ausgerichtet haben. Ein Geist bin ich. Meine Bindungen zur Welt habe ich gekappt. Meine Bücher sind bilanziert, mein Testament gemacht. Nur dass ich nichts zu vererben habe – nur Dir allein, der ich alles hinterlasse, was ich in dieser Welt noch mein Eigen nenne, die Erinnerung.

Ungemein sonderbar ist sie jetzt – die Welt. Ich bin langsam vom Gordon Square hierher gegangen. Langsam – weil all meine Arbeit zu Ende ist. Unterwegs habe ich Graydon Bankes, den Kronanwalt, getroffen. Er wäre erstaunt gewesen, hätte er gewusst, wie unwirklich er mir vorkam. Er ist über eins achtzig groß und auf seiner linken Wange hat er ein braunes Muttermal. Ich fand es schwierig, mir vorzustellen, aus welchem Grund er existierte. Und allerlei Sorten von Nebeln eilten an ihm vorüber. Direkt vor dem Museum für Naturgeschichte war’s. Er sagte, seine Seaford Railway Bill käme im Juni vor den Ausschuss. Und ich fragte mich: Welcher Juni? Ich lachte und dachte: Nun, der Juni wird niemals kommen!

Es wird keinen Juni mehr geben. Stell Dir das einen Moment lang vor. Wir haben über die ethischen Aspekte des Selbstmords gesprochen. Du begreifst, warum Juni niemals kommen wird!

Du erinnerst Dich an den Ring, den ich stets trage? Der mit dem gewölbten, grünlichen Stein. Du hast mich ein- oder zweimal gefragt, was das für ein Stein wäre. Du dachtest – ich weiß es wohl –, dass er keinen guten Geschmack meinerseits verrate, und ich antwortete Dir, ich trüge ihn um bestimmter Erinnerungen willen. Ich weiß, Du dachtest – aber nein, es hat nie eine andere Frau außer Dir gegeben.

Du musst seit langer Zeit schon spüren, dass es keine andere Frau gibt, keine andere Frau gegeben haben kann. Die Gedanken, die mit diesem Ring verknüpft sind, haben nichts mit der Vergangenheit einer einstigen Zuneigung oder eines Hasses oder einer Leidenschaft zu tun, nichts mit jenen Zuständen der Unrast, die ihre Zeit im Leben haben; sie blickten voraus, dorthin, wo es kein Ende mehr gibt – ob Ruhe darin zu finden ist, weiß Gott allein. Wäre es nicht schlechter Geschmack, in höchster Not große Worte zu machen, würde ich sagen: Es liegt Ewigkeit in dem Ring – Ewigkeit, die die Verneinung all dessen ist, was das Leben an Verlusten und Enttäuschungen bereithalten mag. Vielleicht ist Dir aufgefallen, dass es in unseren Vertraulichkeiten eine bestimmte Note gab, die nie auf Deine Berührung ansprach. Es war die der universalen Verneinung, die sich innerhalb des Glassockels in diesem Ring befindet. Nicht Du warst es, die diesen Ring in mein Leben brachte, ich ließ ihn bereits Jahre zuvor anfertigen. Es lag in meiner Natur, stets eine Berührung auf meiner Schulter vorherzusehen, auf die die einzige Antwort ein Akt der Verachtung sein konnte. Und der Ring ist meine Waffe. Ich werde ihn an meine Zähne führen, das Glas zerbeißen – und innen ist Gift.

Ich habe niemals etwas vor Dir verborgen. Nicht wahr? Und mit der großen Weisheit, für die ich Dich liebe, hast Du diese anderen Dinge toleriert. Dies hättest Du ebenfalls toleriert, Du, die Du so viele Sünder getroffen und niemals selbst gesündigt hast …

Ach, mein Schatz, das ist, warum ich Dich so sehr geliebt habe. Von unseren zwei Polen aus trafen wir uns auf einem gemeinsamen Grund des Skeptizismus – so dass ich mir nicht sicher bin, wer von uns beiden als Erster sagte: „Glaube nichts; sei zu niemandem harsch.“ Auf jeden Fall aber haben wir gelitten. Man kann nicht eine derartige Kanonenkugel mit sich herumschleppen, wie ich es all die Jahre getan habe, ohne ein paar weise Gedanken zu denken. Und ich weiß gut, dass Du Deine große Weisheit in einem freudlosen, schrecklichen Leben gewonnen hast. Du bist beneidet worden, auch Du hast gedacht: Erscheint denen unter ihren Bäumen nicht jede Aussicht schön? Und mich hat man um meine Talente und Fähigkeiten beneidet, um meinen Reichtum, meine Stellung in der Welt, die Buchstaben hinter meinem Namen, um mein großes und leeres Haus, um meinen Geschmack in der Malerei – um meine … um meine Möglichkeiten.

Große Verbrecher und die besonders Geduldigen lernen eine gemeinsame Lektion: Glaube an nichts; sei zu niemandem harsch!

Aber Du kannst gar nicht begreifen, wie ungeheuer gelassen ich mich fühle. Es ist ein Uhr nachts. Ich kann unmöglich vor elf Uhr morgen früh verhaftet werden. Zehn Stunden liegen vor mir, in denen ich Dir, ohne den Schatten eines Zweifels, zu schreiben vermag: meine Gedanken niederschreiben, ungeordnet, wie sie mir in den Sinn kommen. Zehn Stunden, in denen ich zu Dir sprechen kann.

Das Drängen jeder geheimen Emotion mündet am Ende in Aufrichtigkeit. Schweigen ist wie ein Damm. Erreicht die Flut ihren höchsten Punkt, bricht der Damm. Ich bin nicht selbstgefällig genug zu glauben, dass ich Dich, erschrocken, mitreißen kann in der Flut meiner Geständnisse. Mir fehlt diese elementare Kraft. Vielleicht ist es gerade diese Art von „Größe“, die mir ein Leben lang mangelte – diese profunde Eigenschaft, die die Italiener terribilita nennen. Es ist nichts Überwältigendes oder Erschreckendes im Bekenntnis einer Liebe, die zu groß ist, um in den Grenzen der Banalität gehalten zu werden, die das Schutzgeländer unseres täglichen Lebens ist. Männer wurden um einer Liebe willen, die die ihre war, ins Verbrechen getrieben. Der Ruf jeder großen Leidenschaft verlockt in die Ungesetzlichkeit. Aber Deine Liebe war nicht mein, und meine Liebe für Dich wurde durch diese konventionelle Ehrwürdigkeit verdorben, die in neun von zehn Teilen wahrhaftig ist, aber in ihrem zehnten Teil ein weihevoller Selbstbetrug, hinter dem sich all die Zögerlichkeiten einer menschlichen Natur verstecken, die ihre Jugend hinter sich gelassen hat. Ich bin ein Geschöpf meiner Zeit, ganz meiner Zeit, dem der Mut für einen zupackenden Angriff fehlt, so wie ein Vogel eine zerlumpte, starre Vogelscheuche respektiert. Ganz ein Geschöpf meiner Zeit. Beachte, dass ich nicht „unserer Zeit“ sage. Du bist zeitlos – Du bist die geliebte Frau des allerersten Schreis, der die Stille brach, und des allerletzten Lieds, das das Ende dieser geistreichen Welt markieren wird, der Liebe und Leiden gegeben wurde, die sich selbst jedoch im Lauf von Zeitaltern all ihre Tugenden und Verbrechen erfunden hat. Und als Geschöpf dieser Welt und meiner Zeit habe ich mich entschlossen, geistreich mit meiner Liebe und meinem Leben umzugehen.

Nun ist alles vorbei – sogar das Bedauern. Nichts von den vergänglichen Dingen bleibt als ein paar Tage Leben und mein Bekenntnis, das ich Dir aufschreibe – nur Dir ganz allein auf dieser Welt.

Es ist schwierig. Wie soll ich beginnen? Vermagst Du das zu glauben – jedes Mal, wenn ich von Dir ging, geschah es mit dem Verlangen, der Notwendigkeit, Dich zu vergessen. Kannst du das glauben?

Das ist das große Geheimnis – das Herz meines Bekenntnisses. Die Entfernung spielte keine Rolle. Keine Mauern vermochten mir Schutz zu spenden. Keine Einsamkeit konnte mich verteidigen; und da ich kein Zutrauen in die Tröstungen der Ewigkeit besitze, litt ich gar zu grausam unter Deiner Abwesenheit.

Wenn es Königreiche zu erobern gegeben hätte, Kreuzzüge zu predigen – aber nein. Ich hätte den Mut nicht besitzen sollen, die Hörweite des Klangs Deiner Stimme zu verlassen. Du hättest jederzeit zu mir kommen können! Du tatest es nie. Nie. Und jetzt ist es zu spät. Und mehr noch, ich bin ein Geschöpf meiner Zeit, nicht einer Zeit großer Taten, sondern kolossaler Spekulationen. Durch die Augenblicke, in denen ich nicht mit Dir zusammen war, musste ich mich irgendwie durchschlagen. Ich wagte nicht, ihnen mit leeren Händen gegenüberzutreten, aus blanker Furcht, ich könnte aus schierem Unglück verrückt werden und Dich verfluchen. Mich in Tätigkeit stürzen? Welche Art Tätigkeit hätte mich weit genug von dir entfernen können, da jeder meiner Gedanken Deiner Existenz galt? Und da Du für mich eine Verkörperung von Wahrheit und innerer Ruhe warst, versuchte ich, Dich in Lügen und Aufregungen zu vergessen. Meine einzige Zuflucht vor der Tyrannei meiner Leidenschaft bestand in Erniedrigung. Möglicherweise war ich von Sinnen. Ich spielte. Anfangs spielte ich mit meinem eigenen Geld, und dann mit Geld, das mir nicht gehörte. Du weißt um meine Verbindung zum großen Burden-Vermögen. Gemäß Testament meines Freundes Alexander Burden war ich dessen bevollmächtigter Verwalter. Ich spielte mit entschiedener Rücksichtslosigkeit, mit geschlossenen Augen. Jetzt begreifst Du den Ursprung meiner Häuser, meiner Sammlungen, meiner Reputation, meines Geschmacks für das Großartige – über den Du gelegentlich nachsichtig mit einer exquisiten Schmeichelei als etwas zu spotten beliebtest, das meiner nicht recht würdig sei. Wie ein halsbrecherischer Ritt auf einem wilden Pferd war’s – und nun der Sturz. Ganz plötzlich. Ich lebe, aber mein Rückgrat ist gebrochen. Edward Burden wird heiraten. Ich muss zurückzahlen, was ich aus dem Vermögen entnommen habe. Das kann ich nicht. Deshalb bin ich tot. (Eine Maus ist soeben unter den Dokumentenkästen hervorgekommen. Sie schaut zu mir hoch. Möglich, dass sie einige der Papiere im großen Schrank gefressen hat. Morgen früh werde ich Saunders sagen, dass er eine Katze beschaffen soll. Ich habe hier nie zuvor eine Maus gesehen. Ich bin hier niemals so spät gewesen. Wenn ich in Zeitdruck war, das weißt du, habe ich meine Papiere stets mit nach Hause genommen. So dass, wie die Dinge liegen, diese späten Stunden das Vorrecht der Maus gewesen sind. Nein. Ich werde keine Katze besorgen. In dieser Hinsicht bleibe ich noch immer ein Teil dieser Welt: Ich bin Herr über das Schicksal der Mäuse!) Zehn Stunden habe ich also – abzüglich der Zeit, die ich darauf verwendet habe, über die Maus zu berichten –, um zu Dir zu sprechen. Rückblickend ist es eigenartig, dass ich in all den Jahren, die wir uns kennen – sieben Jahre, drei Monate und zwei Tage –, nie eine vergleichbar lange Spanne von zehn Stunden hatte, in denen ich mit Dir geredet haben könnte. Die längste Zeit war, als wir beide gemeinsam aus Paris zurückkehrten, weil Dein Ehemann in einem derartigen Zustand war, dass er weder sehen noch hören konnte. (Ich habe ihn, seit Du abgereist bist, jeden Tag beiläufig gesehen. Er widersteht wirklich wunderbar, ich sollte hinzufügen, dass er tatsächlich nicht ein einziges Mal schwach geworden ist. Ernsthaft, ich gewinne den Eindruck, dass Deine Abwesenheit ihm in gewisser Weise guttut; sie erzeugt eine veränderte Ordnung seiner Umstände, und man sagt, dass Veränderung eine exzellente Hilfe dabei sei, eine Sucht zu brechen. Er muss sich, will ich sagen, mit einigen jener unzähligen Dinge beschäftigen, die Du für ihn tust. Ich sehe, dass er sogar seine Bankabrechnungen geholt hat und sie mit den Quittungen vergleicht. Angesichts dieser Fortschritte war ich noch nicht bei seinem Apotheker. Aber ich werde ihnen gewiss sagen, dass sie heimlich die Dosis verringern müssen.) Das also war die längste Zeit, die wir je am Stück miteinander gesprochen haben. Und wenn ich daran denke, dass ich in all den Jahren nicht ein einziges Mal darüber hinausgegangen bin, lediglich Deine Hand so lange zu halten, wie es die strikteste Etikette erlaubt! Und dabei liebte ich Dich schon, da war noch kein Monat vergangen.

Ich frage mich, warum das so ist. Phantasie, vielleicht. Gewohnheit, vielleicht – eine Art Idealismus, eine Art Taktgefühl, ein Anspruch. Wie Du sehr gut weißt, geschah es nicht aus moralischen Skrupeln …

Ich unterbreche, um durchzusehen, was ich bisher an Dich geschrieben habe. Da ist erstens die Frage, warum ich Dir nie von meinem Geheimnis erzählte, und zweitens die Frage, worin das Geheimnis genau besteht; so viele Fragen habe ich aufgeworfen, und keiner bin ich bis zum Ende nachgegangen. Aber alle Fragen lösen sich auf in die eine unserer lieben und unschätzbaren Beziehung.

Ich glaube, dass ein Zauber unserer Beziehung darin lag, dass all unsere Gespräche eben nur Gespräche waren. Wir haben über alles unter der Sonne diskutiert, aber nichts au fond diskutiert. Wir haben uns in alle möglichen Arten Nebenwege verirrt und sind nirgendwo angekommen. Ich versuche, mich zu erinnern, wie viele Abende wir in den letzten fünf Jahren nicht miteinander verbracht haben. Ich denke, es müssen weniger als hundert an der Zahl sein. Du weißt, wie Dein Ehemann gelegentlich aus seiner Benebelung aufwachen konnte – oder in seiner Benebelung herumwandern und eine seiner erstaunlich brillanten Erörterungen liefern konnte. Aber entsinne Dich, wie er jedes Mal – ob er über die freie Liebe oder die Fortschritte in der Zucht von Kutschpferden sprach – seinen Gegenstand gründlichst bis zum bitteren Ende ausführte. Das war kein Leben mit einem Mann, das war Assistieren bei einer Vorstellung. Und wenn er in seine Drogen versank oder sich bloß in seine literarischen Interessen vergrub, wenn er fort war, wie ungezwungen wir da sprachen. Ich bezweifle, dass je zwei Seelen so tief zueinander passten wie Deine und meine. Natürlich geht es nicht darum, dass wir in allem einer Meinung sind – oder möglicherweise überhaupt je. In unserem ganzen Verhalten sind wir so völlig unterschiedlich – Du bist stets für Umsicht, für eine sorgsame Vorbereitung der Grundlagen, für Geduld; und ich bin stets zur Tat bereit und ziehe die Moral hinterher aus meinen eigenen Handlungen. Aber irgendwie fügte sich am Ende alles so, dass wir in perfekter Harmonie waren. Ich werde Dir später erklären, warum das so war.

Lass mich zu meiner Maus zurückkehren. Denn Du wirst feststellen, dass die ganze Frage wirklich auf diesen kleinen allegorischen Knirps hinausläuft. Sie ist ein Omen, ein Symbol. Sie ist ein kleiner Vorbote der Vorsehung, an die ich nicht glaube – jener Vorsehung, der Du so stillschweigend zu gehorchen suchst. Denn instinktiv glaubst Du an die Vorsehung – an Gott, wenn Du so willst. Gleichermaßen instinktiv glaube ich nicht daran. Verstandesmäßig glaubst du natürlich nicht an Gott. Du sagst, dass es der Vernunft völlig unmöglich sei, einen höchsten Herrn zu akzeptieren; ich hingegen, dass die Vernunft einen geradezu dazu zwingt, einen höchsten Herrn anzunehmen, dass die Vernunft einen geradezu dazu zwingt, an einen allmächtigen Schöpfer zu glauben – nur dass ich eben nicht zu glauben vermag. Wir selbst, meine Liebe, sind ein Zeugnis für die Sinnhaftigkeit der Schöpfung. Denn wir sind das letzte Wort der Schöpfung. Aller Anstrengungen, aller Geburtsschmerzen sämtlicher Zeitalter hat es bedurft, uns hervorzubringen, Dich und mich. Geistig sind wir so perfekt und so göttlich dazu geformt, zu einem Ganzen zu verschmelzen. Und physisch ebenso – sind wir nicht göttlich füreinander bestimmt? Reagieren wir nicht auf dieselben Dinge; sollten nicht wir dieselben Härten überleben und denselben Belastungen unterliegen? Seit Du fort bist, halte ich Ausschau nach Leuten – Männern, Frauen, Kindern, sogar nach Tieren –, die meine Aufmerksamkeit eine Minute lang auf sich ziehen können. Es gibt niemanden. Und welch unverfälschteres Zeugnis für die Sinnhaftigkeit könntest Du wünschen als dieses?

Ich bin folgenden Pakt mit der Vorsehung eingegangen, für die ich argumentiere, mit jener Vorsehung, an deren Existenz ich nicht zu glauben vermag: Wenn die Maus aus der Burg der schwarzen Metallkisten erneut hervorkommt und damit ihren eigenen Tod herausfordert – dann gibt es kein künftiges Jenseits. Und weil ich keine andere Existenz als in Dir finde, werde ich, wenn wir nicht wieder zusammenkommen, nicht länger existieren. Folglich ist meine Maus das Zeichen, der Entscheidungsspruch, ein Symbol eines ewigen Lebens oder ein Bote des Nichts.

Ich will Dir jetzt gestehen, dass ich, seit mir diese Vorstellung, diese profunde Wahrheit in den Sinn gekommen ist, meine Augen nicht mehr vom Papier erhoben habe. Ich fürchte mich – ich glaube, es ist Furcht –, jenseits des Lichtkegels zu blicken, den meine Lampe wirft. Aber nun will ich es tun. Ich werde die Augen über die staubigen Papiere auf meinem Schreibtisch wandern lassen. Weißt Du, dass ich sie ganz so habe liegen lassen wie an jenem Tag, an dem Du mit der Bitte zu mir kamst, Dir die Zugfahrkarten zu holen? Ich werde meine Augen über dieses Bollwerk an blauen und weißen Akten wandern lassen. … Die Maus ist nicht da.

Aber das macht der Sache noch kein Ende. Ich bin nicht der Mensch, in meinen Abmachungen mit dem Allmächtigen kleinlich zu sein; ich erschleiche mir keinen Urteilsspruch.

II

Letzte Nacht ist es sehr spät geworden und ich wurde müde, also habe ich den Brief unterbrochen. Möglicherweise hatte ich zugleich tatsächlich Angst, die Maus könne erneut erscheinen. Mit diesen geringfügigen abergläubischen Anwandlungen geht es doch sonderbar. Als ich heute Nacht auf die Seitenzahlen dieser Blätter schaute, fiel mir auf, dass ich oben auf der dreizehnten Seite zu schreiben begann – und das gibt mir ein vages Unbehagen ein. Ich las einmal einen kurzen Artikel in der Zeitung, es ging um halbverrückte Schriftsteller. Einer davon, schrieb der Autor, sei Zola gewesen; er wurde als halbverrückt eingestuft, weil er die Nummern auf der Rückseite der Mietkuschen, die ihm zufällig auf der Straße begegneten, addierte. Ernsthaft, das tue ich auch immer mal wieder – und ich weiß sehr wohl, dass ich es tue, um meinen Geist einzuschläfern. Es ist eine Art Narkotikum. Wir wissen, dass Johnson die Pfosten in seiner Straße in einer bestimmten Reihenfolge berührte; das war gleichfalls eine Flucht vor niederdrückenden Gedanken. Und wir alle wissen, wie wir als Kinder geheimnisvollen Impulsen gehorchten, wenn wir auf die Linien zwischen den Pflastersteinen der Straße traten … Aber Kinder haben ihre Zukunft, es ist gut, dass sie den geheimnisvollen Allmächtigen günstig für sich stimmen. Zu ihrer Zeit hatten Zola und Johnson ebenfalls ihre Zukunft. Es war gut, dass Johnson durch Berührung die bösen Geschicke abzuwenden suchte; es war gut, dass Zola seinem Geist vor neuen Problemen Ruhe verschaffte. Bei mir ist es einfach geistige Idiotie. Denn ich habe keine Zukunft.

Findest Du es schwierig, das zu glauben? Du kennst die Burdens, selbstverständlich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Du weißt, dass ich sämtliche Besitztümer der Burdens in den letzten neun Jahren ganz allein verwaltet habe. Die ursprünglichen Treuhänder waren Lady Burden und ich; vor neun Jahren allerdings hat mir Lady Burden eine Vollmacht erteilt, seither handle ich allein. Das war kurz, nachdem ich die Häuser am Gorden Square kaufte – das, in dem ich lebe, das, in dem Du lebst, sowie die sieben anderen. Nun, freimütig gesagt, diese Häuser sind mit Burden-Geld gekauft, und all meine Gemälde, all meine Drucke, all meine Bücher, meine Möbel – mein Ruf als Connaisseur, meine Amtszeiten bei den zwei Wohlfahrtseinrichtungen –, alles, was die Leute an mir beneiden, wurde mit Burden-Geld erkauft. Ich versichere Dir, dass ich mitunter eine angenehme Erregung dabei empfunden habe. Weißt Du, ich begehrte Dich manchmal derart schrecklich – derart schrecklich, dass das Jonglieren mit den Burden-Geldern ein so fesselndes Narkotikum für mich war wie das Addieren der Kutschen-Nummern bei Zola. Eine einfache, normale Arbeit hätte meine Gedanken nicht im Zaum halten können.