Die neue Hölle auf Erden - Oliver Brunotte - E-Book

Die neue Hölle auf Erden E-Book

Oliver Brunotte

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Beschreibung

Tim und Michael sind endlich frei. Ihnen ist die Flucht aus der behüteten Welt ihrer Kindheit gelungen und nun stehen sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf eigenen Beinen in der wirklichen Welt. Einer düsteren Welt, in der die Menschen sich in den Überbleibseln einer längst vergangenen Zivilisation verstecken und jeden Tag aufs Neue um das eigene Überleben kämpfen müssen. Zusammen mit Vi, diesem kampfeslustigen und eigenwilligen Mädchen, das ihnen bei ihrer Flucht geholfen hat, bereitet sich Michael auf den großen Kampf gegen den gemeinsamen Feind vor. Doch während Michael tiefer und tiefer in die Welt von Krieg und Kampf eintaucht, versucht Tim herauszufinden, wie die Welt überhaupt zu dieser Hölle auf Erden hatte werden können. Und die Wahrheit, die er dabei entdeckt, droht erneut, alles ins Wanken zu bringen was die beiden zu wissen glauben. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Oliver Brunottes zweiter Roman schließt nahtlos an den ersten Teil der Reihe an und doch könnte der Kontrast zwischen den Büchern kaum größer sein. Wurde im ersten Band eine paradiesische Welt gezeigt, in der all unsere heutigen Probleme gelöst zu sein schienen, so erwartet den Leser im zweiten Buch eine wahre "Hölle auf Erden" und die Geschichte nimmt rasant an Fahrt auf. Doch trotz aller Action und Spannung verlieren die beiden Jungen, die schon im ersten Teil auf ihre ganz eigene, erfrischend kindliche Art die Geheimnisses des "Neuen Paradieses auf Erden" gelüftet hatten, nie ihre Neugier und den Entdeckermut. Gemeinsam mit ihnen wird der Leser auf eine spannende Reise genommen, in der aktuelle Themen wie das Coronavirus, der Klimawandel, Krieg, Fake News und die Gefahren und Chancen der künstlichen Computerintelligenz auf unterhaltsame und gleichzeitig kritische Weise beleuchtet werden. Passend zum Thema wurden dabei sämtliche Kapitel mit Bildern illustriert, die ausschließlich von künstlichen Intelligenzen "gezeichnet" wurden. Die Hölle auf Erden ist ein Buch für Jugendliche und Erwachsene, die vor den großen Problemen unserer Zeit nicht die Augen verschließen wollen und die sich gleichzeitig nicht von der Gefahr einer bedrohlichen Zukunft lähmen lassen wollen. Ein Buch für all diejenigen, die, genau wie die beiden Kinder in der Geschichte, lieber nach Lösungen suchen, als vor einer vermeintlich unvermeidbaren Zukunft zu kapitulieren.

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Die neue Hölle auf Erden

Oliver Brunotte

© 2022 Oliver Brunotte

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44,

22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-347-72902-5

Hardcover

978-3-347-72910-0

e-Book

978-3-347-72913-1

Großschrift

978-3-347-72915-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice",

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Für Linus,

für Willi,

für Kilian,

und für Hannah

UND SIE FUHREN HINUNTER LEBENDIG IN DIE HÖLLE MIT ALLEM, WAS SIE HATTEN, UND DIE ERDE DECKTE SIE ZU, UND KAMEN UM AUS DER GEMEINDE.

4. MOSE 16: 33

GOIN' DOWN, PARTY TIME MY FRIENDS ARE GONNA BE THERE TOO I'M ON THE HIGHWAY TO HELL

AC/DC

KAPITEL 1:

DIE VERHANDLUNG

RICHTE MICH GOTT

UND FÜHRE MEINE SACHE WIDER DAS UNHEILIGE VOLK!

FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY - 1844

Vi war sauer.

Nein, das traf es nicht ganz. Sauer war sie schon öfter mal gewesen. Und wenn sie ehrlich war, gehörte so eine gewisse Grund-Grummeligkeit in letzter Zeit zu ihrem Standardrepertoire an Gefühlsregungen.

Aber das hier war eine ganz neue Dimension! Sie war so stinkwütend, dass der Ärger, den sie für gewöhnlich mit sich herumtrug und den sie von Zeit zu Zeit an Leuten, Robotern oder völlig unschuldig herumliegenden Gegenständen ausließ, dagegen wirkte wie ein laues Lüftchen.

Sie hatte einen Orden verdient! Das volle Programm! Die Schlusszeremonie des ersten Star Wars Films mit Fanfaren, Applaus und besonderer Ehrung! Mindestens!

Schließlich hatte sie zwei Gefangene aus der ewigen Festung befreit! Noch nie war es irgendjemandem gelungen, überhaupt nur Kontakt zu den Menschen da drinnen aufzubauen.

Sie alleine hatte es geschafft, sich durch hunderte, ach was, tausende Firewalls, Wächterprogramme und Honeypots hindurchzuhacken, die Daten auszuwerten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das war genial gewesen!

'Ein nicht zu kalkulierendes Risiko' sei sie eingegangen, hatten die uniformierten Lackaffen gesagt und sie natürlich prompt wieder zu so einem bescheuertem 'Disziplinargespräch' geladen. Purer Schwachsinn! Natürlich hatte sie das Risiko genau kalkuliert. Und absolut alles richtig gemacht! Die Geheimbotschaften, die sie hineingeschmuggelt hatte, waren ausschließlich von den beiden Jungs verstanden worden und niemand sonst hatte Verdacht geschöpft. Ein doppelter Löffel im Kakao? Wenn das nicht ultra-genial war, was denn dann?

Und hatten die überhaupt eine Ahnung, wie schwer es gewesen war, einen der 3D Drucker in den Fabriken dort so umzuprogrammieren, dass dabei ein Paket mit eingraviertem YPS Heft herauskam?

All das hatte sie geschafft! Sie ganz alleine, ohne irgendwelche Hilfe. Okay, na gut, wenn man jetzt ganz genau sein wollte, dann schon mit ein bisschen Unterstützung durch T. Aber da sie den ja eigentlich komplett selbst zusammengeschraubt und programmiert hatte, konnte man auch argumentieren, dass sie sich durch T nur selbst geholfen und folglich doch alles komplett alleine geschafft hatte.

Ach ja, T. Das war ja noch so eine Sache. Ein weiteres, ihrer 'Geheimprojekte', von dem niemand etwas erfahren durfte. Wenn irgendwer davon Wind bekommen sollte, dass sie da oben in ihrem Geheimversteck ein voll funktionstüchtiges Modell 4 zum Laufen gebracht hatte, würde T garantiert sofort deaktiviert und in seine Einzelteile zerlegt werden. 'Oh, Hilfe, Hilfe! Ein Roboter… die sind doch alle böse und gefährlich…! Schnell, lasst ihn uns abschalten!'

So'n Blödsinn. Sie hatte sämtliche Wifi Ein- und Ausgänge komplett dicht gemacht, als sie ihn aus lauter Einzelteilen zusammengelötet hatte. Der empfing keine Befehle von 'Gott', den Amerikanern oder sonst wem. Der hörte nur auf sie.

Aber wie sollte man das den Erwachsenen erklären, die sich ja schon ins Hemd machten, wenn man sich bloß mal für fünf Minuten an die Oberfläche schlich? Keine Chance.

Vi kickte eine Coladose, die den Fehler begangen hatte, ihr im Weg zu liegen, mit voller Wucht in Richtung des nächsten Tunneleingangs. Das laute Scheppern hallte von den kahlen Wänden des unterirdischen Labyrinths aus Gängen und Abzweigungen wider und machte sie noch wütender. Ein bescheuertes Parkhaus war der Bereich hier unten gewesen! Mehrere Etagen, in denen die Trottel von damals ihre dicken Karren hatten stehen lassen, um dann gemütlich durch die Stadt zu bummeln. Und heute war dieses dreckige unterirdische Loch ihr 'Home sweet Home'. Weil sich niemand mehr traute, die Oberfläche zu betreten. Was für Feiglinge!

Nein. Sie stand zu ihrer Entscheidung. Sie hatte genug gehabt vom ewigen Warten, hatte etwas unternommen und es hatte geklappt. Und jetzt wollte sie gefälligst ihren Orden dafür!

Stattdessen hatte sie Ärger mit den Lametta-Trägern und zwei nervige Teenager an der Backe, die anscheinend so gehirngewaschen waren, dass sie den ganzen Mumpitz mit Gott und all seinen lieben Engelein tatsächlich für bare Münze genommen hatten. Der Kleine hielt sogar jetzt noch daran fest!

Man konnte sich mit den beiden noch nicht mal vernünftig unterhalten, weil sie außer heile-Welt-Filmen und Büchern aus den Neunzehnhundertachtzigern anscheinend von gar nix eine Ahnung hatten!

Die hatten da drin nicht mal die Terminator-Filme sehen dürfen! Oder die Matrix! Wie soll man denn jemandem erklären, dass er ein Gefangener in einer durch Roboter bewachten, künstlichen Welt war, wenn ihm derart wichtige Bestandteile der Grundbildung einfach vorenthalten wurden?

Na klar, in gewisser Weise machte das Ganze schon Sinn: Alles, was bei denen irgendwie den Verdacht hätte wecken können, dass die Welt nicht ganz so voller Friede, Freude, Eierkuchen war, wie es ihnen da vorgespielt wurde, war einfach von der Liste möglicher Unterhaltungsmedien gestrichen worden. Aber deswegen ein ganzes Dorf mit Achtziger-Pop zu beschallen, das war doch einfach nur grausam!

Und man sah ja, was dabei rauskam: Zwei völlig weltfremde, gutgläubige Blondchen, mit denen man sich einfach nicht vernünftig unterhalten konnte.

Irgendwie hatte Vi sich das alles ganz anders vorgestellt.

Sie blickte auf ihre Uhr. Verdammt, schon zehn nach neun! Jetzt würde sie vermutlich noch mehr Ärger bekommen als ohnehin schon. Dämliche Frühaufsteher. Warum setzten die ihr blödes Treffen auch derart früh am Morgen an?

Sie legte die letzten hundert Meter im schnellen Sprint zurück und klopfte dann etwas außer Atem an die hohe Eisentür.

Sie wartete auf das knappe, strenge »Herein«, mit dem sie hier schon mehrmals begrüßt worden war und das immer einige Zeit auf sich warten ließ. Das machten die extra. Sie ließen einen draußen warten, damit gleich von Anfang an klar war, wer hier das Sagen hatte und wer diejenige war, die Mist gebaut hatte.

Irgendwo in ihrem Inneren meldete sich ein kleines unsicheres Stimmchen, das anmerkte, dass es vielleicht kein gutes Zeichen war, wenn man so oft wegen Ungehorsam und Fehlverhalten zu den Offizieren bestellt wurde, dass man den genauen Ablauf des Verfahrens schon fast auswendig kannte.

Aber wie immer wurde dieses leise Stimmchen des Selbstzweifels sofort niedergebrüllt von den wesentlich lauteren Stimmen ihrer felsenfesten Überzeugungen, ihrer ständig vor sich hin brodelnden Wut und ihres völlig unzähmbaren Sturkopfs, die allesamt riefen: »Aber ich war im Recht!«

Alles wie immer also.

Nur, dass diesmal irgendwie überhaupt nichts so war wie immer.

Kein ewiges Warten vor der Tür.

Stattdessen wurde die große Pforte nur wenige Sekunden nach ihrem Klopfen aufgerissen und wie ein kleiner grinsender Flummi hüpfte ihr Tim entgegen, der es anscheinend nicht mehr auf seinem Stuhl ausgehalten hatte und beim ersten Klopfen von Vi sofort losgesprintet war, um sie freudestrahlend zu begrüßen.

Tim öffnete gerade den Mund, um »Hallo Vi!« zu rufen, da dröhnte schon eine tiefe, keinen Widerspruch zulassende Stimme durch den Raum: »RUHE IM SAAL!«

Tim duckte sich unter dem Gebrüll und blickte schuldbewusst über seine Schulter.

»Hier gibt es Regeln und die werden gefälligst eingehalten«, sagte der Mann am Rednerpult ganz hinten jetzt ein klein wenig leiser. Trotzdem war seine Stimme durch Lautsprecher so stark verstärkt, dass Tim die Ohren klingelten.

»Und wie ich dir bereits zwei Mal habe sagen müssen, bleiben Zeugen und Angeklagte gefälligst auf ihren Plätzen sitzen!«, brüllte der Mann jetzt wieder unnötig laut und mit anklagend auf Tim gerichtetem Zeigefinger.

»Tschuldigung…. tschuldigung … tschuldigung«, nuschelte Tim, während er sich an wichtig aussehenden uniformierten Leuten vorbeidrängelte, um sich wieder auf seinen Platz neben Michael zu setzen. Die reagierten allesamt äußert gereizt, wichen vor ihm zurück und zischten Kommentare wie 'unmögliches Benehmen… ', 'Frechheit', und immer wieder 'Abstand halten…!'

Mann, waren die aber streng hier. Was sollte das überhaupt bedeuten: 'Zeugen und Angeklagte'? Waren sie hier jetzt die Zeugen oder die Angeklagten? Was sollte ihnen denn bitte schön vorgeworfen werden?

Aber schon daran, wie Vi, die sonst ja eher total die Rebellenprinzessin raushängen ließ, leicht geduckt und mit schlurfendem Gang nach vorne in Richtung des Hauptrednerpultes schlich, erkannte Tim, dass die Rolle der Angeklagten heute ganz eindeutig von ihr gespielt werden würde. Machte aber trotzdem keinen Sinn. Schließlich war Vi doch diejenige, die sie herausgeholt, gegen die Drohne beschützt und hierher verfrachtet hatte. War doch toll von ihr! Warum guckten die hier sie dann alle so giftig an?

Der offenbar sehr wichtige Mensch, der grade gebrüllt hatte, stand jetzt auf, um Vi noch ein bisschen weiter von oben herab anzubrüllen. Vor ihm stand ein beeindruckend großer Holztisch, auf den er beim Reden ab und zu die Hände aufstützte.

Die anderen wichtig aussehenden Menschen im Raum waren in einem großen Halbkreis so angeordnet, dass sie auch alle vorwurfsvoll auf Vi herabblicken konnten, die einsam und verloren in der Mitte des Raumes stand. Tim schüttelte den Kopf. Das hatte sie eindeutig nicht verdient. Er versuchte, ihr von seinem Platz aus freundlich zuzulächeln, aber da Vi den Kopf gesenkt hielt, konnte sie seine nett gemeinte Geste vermutlich nicht mal sehen.

»Viola Rebecca Marlin!«, begann der viel zu laute, und viel zu unfreundliche Mann. »Was hast du dir dabei nur gedacht?«

Das hätte Tim natürlich auch sehr interessiert, aber der Kerl ließ Vi ja nicht zu Wort kommen.

»Du hast dir irgendwie einen Raketenwerfer aus der Waffenkammer beschafft! Allein dafür könnten wir dir Hausarrest bis zu deinem zwanzigsten Geburtstag auferlegen!« Er lehnte sich nach vorne, stützte die Hände auf den massigen Holztisch.

»Aber das hat dir ja anscheinend nicht gereicht. Du musstest auch noch den frisch geklauten Raketenwerfer in einen - ebenfalls unerlaubt fahrtüchtig gemachten - Geländewagen verfrachten, damit dann bis direkt vor die Haustür des Feindes fahren - all dies natürlich komplett ohne Fahrerlaubnis oder auch nur eine angefangene Ausbildung im Fahrzeuglenken - und zu guter Letzt musstest du dann tatsächlich EINE RAKETE AUF DIE UNDURCHDRINGBARE MAUER ABFEUERN!«

Bei den letzten Worten schlug er wiederholt mit den Fäusten auf die Tischplatte. Tim fand, dass das total witzig aussah. Genau wie so ein Wüterich aus den alten Cartoons, die er und Michael beide so sehr liebten. Er stupste Michael mit dem Ellbogen in die Rippen. Aber der schüttelte nur den Kopf und hielt den Finger vor die Lippen. So ein Langweiler. Tim reckte den Kopf, um Vis Reaktion erkennen zu können, doch die schaute weiter nur stur auf den Boden.

Ein etwas dicklicher Mann links vom zentralen Rednerpult erhob sich und nahm den Faden auf.

»Ist dir überhaupt bewusst, in welche Gefahr du dich - und damit uns alle - mit deiner unbedachten Aktion gebracht hast?«, fragte er in einem wesentlich leiseren Ton, der dem seines Vorredners trotzdem an Aggressivität und kaum verhohlener Abscheu in nichts nachstand.

»Und ich rede hier nicht nur davon, dass du völlig ungeschützt da rausgegangen bist…«

Tim zog verwirrt die Stirn kraus. Die hatte 'nen Kampfroboter, einen selbst gebastelten Bowcaster und einen Raketenwerfer bei sich! Das war doch wohl alles andere als ungeschützt. Doch die Umstehenden nickten ernst, als wüssten sie ganz genau, was der dicke Mann meinte.

»Ich rede davon«, fuhr er fort, »was vielleicht noch folgen wird! Der Feind ist uns haushoch überlegen. Einen für uns verheerenden Gegenschlag zu provozieren, nur damit du dich für einen Augenblick wie die große Kämpferin fühlen kannst… Pah! Das ist so …«, er rang nach Worten, »… so unglaublich egoistisch!«

Nun stand auch auf der rechten Seite jemand auf. Tim mutmaßte, dass das Ganze wohl irgendeiner zugrunde liegenden Symmetrie folgen müsse. Vielleicht wollten sie vermeiden, dass Vi zu einer Seite umkippte, wenn sie nur aus einer einzelnen Richtung angemeckert wurde.

Die Frau, die jetzt sprach, war sehr dünn, hatte extrem kurze, blonde Haare, trug zu viel Makeup und Tim fand sie auf Anhieb total unsympathisch.

»Mich würde mal interessieren«, dröhnte ihre quäkende Stimme so laut durch den Saal, dass Tim leidend das Gesicht verzog, »was in deinem Kopf vorgegangen ist, als du diese Schnapsidee hattest!« Sie schob das Kinn vor, versuchte Augenkontakt mit Vi herzustellen. Aber da konnte sie lange warten.

»Warum?«, legte sie nach. »Warum hast du das getan?«

Es sollte vermutlich nur eine rhetorische Frage sein. Eine Art Auftakt, nach dem die eigentliche Schimpftirade von allen Seiten erst so richtig losgehen konnte. Doch dazu kam es nicht.

Vi, die bisher still und bewegungslos dagestanden hatte, ganz das reuige Schäfchen, das zur Schlachtbank geführt wurde, hob nun wie aufs Stichwort den Kopf. Es war nur eine winzige Bewegung, doch jeder im Saal bemerkte die Veränderung und eine erwartungsvolle Stille senkte sich über die Runde.

Vis Augen blitzten, als sie dem Vorsitzenden direkt in sein Gesicht blickte. Tim erkannte, dass ihre Haltung zuvor keineswegs die eines geduckten, gescholtenen kleinen Mädchens gewesen war. Ganz im Gegenteil. Es war das Lauern einer zum Sprung bereiten Raubkatze, die ihre Beute genau ins Visier nahm, bevor sie dann mit einem Mal gnadenlos zuschlug. In ihrem Blick sah er keinerlei Angst, Scham oder Reue. Nur Kampfeslust, Wut und ihren absolut unbezwingbaren Willen. Das war die Vi, die er kennengelernt hatte, die er auf Anhieb gemocht hatte und vor der er einen Heidenrespekt hatte.

»Warum?«, fragte Vi. Leise noch, aber in der plötzlichen Stille doch unüberhörbar und drohend, wie das leise Grollen vor einem Vulkanausbruch.

»Ihr wollt wissen, warum?«

Sie schaute der Reihe nach allen anwesenden Uniformträgern direkt in die Augen. Dabei richtete sie sich noch einige Zentimeter weiter auf und kam Tim nun vor wie eine altgriechische Rachegöttin.

»Ihr, die ihr hier bequem auf euren Sesseln sitzt, anstatt selbst da draußen gegen den Feind zu kämpfen, wagt es, mich zu fragen warum?

Ihr, die ihr, solange ich denken kann, nichts unternommen habt, um unsere Lage hier unten zu ändern?

Ihr, die ihr uns nur mit dem Allernötigsten irgendwie am Leben erhaltet, fragt mich tatsächlich nach dem Warum?«

Sie machte eine kurze Pause, in der sie wieder den Vorsitzenden fixierte und mit Blicken aus ihren strahlend grünen Augen durchbohrte.

»Fragt euch lieber, warum ein kleines Mädchen das tun musste, was doch eigentlich eure Aufgabe gewesen wäre!«

Nun war es an Vi, einen anklagenden Zeigefinger zu heben und auf den Vorsitzenden zu richten. »Warum habt ihr nie herausgefunden, was hinter der großen Mauer liegt? Warum habt ihr nicht erkannt, welch unermesslicher Reichtum an Vorräten und Ressourcen dort gehortet wird, während wir hier im absoluten Elend leben? Und die Menschen dort drin…!«

Sie drehte sich so abrupt in Tims Richtung, dass der überrascht zusammenzuckte.

»Ist es euch jemals gelungen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen? Oder sie sogar zu befreien, so wie ich die beiden hier befreit habe?«

Tim fühlte sich, so plötzlich ins Rampenlicht gestoßen, sehr unbehaglich. Er zog die Lippen zu einem gekünstelten Lächeln nach oben, während er unsicher mit seinen Fingern winkte.

»All das«, schloss Vi, »habt ihr nicht einmal versucht! Weil ihr Angst hattet. Weil ihr es so sehr gewohnt wart, euch zu verstecken, dass ihr gar nicht mehr wisst, wie man kämpft!«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, jetzt wieder ganz die trotzige Teenagerin. »Schämt euch! Schämt euch, dass ein kleines Mädchen euch zeigen musste, was eigentlich zu tun wäre und dass sie euren Job für euch machen musste!«

BÄÄMM! Das hatte gesessen! Tosender Applaus! Riesige Begeisterungsstürme! Tim fand, dass Vis Rede all das und noch viel mehr verdient hatte.

Er wollte schon aufspringen und dieser geborenen Anführerin und Kämpferin applaudieren, als er bemerkte, dass er hier wohl der Einzige war, der das so sah. Die kalten, abschätzigen Blicke der Umstehenden ruhten noch immer auf Vi, das unangenehme Schweigen zog sich weiterhin in die Länge und ganz offensichtlich schien niemand das Bedürfnis zu haben, ihr zu applaudieren.

Mit einer Ausnahme: Der Vorsitzende, der Vi jetzt Kopf an Kopf gegenüberstand, hatte eine Hand schräg nach vorne ausgestreckt und schlug mit der anderen nun übertrieben langsam darauf ein. Wow. So ein sarkastisches Klatschen hatte Tim echt noch nie gesehen. Da konnte man ja wirklich bei jedem einzelnen langsamen »KLATSCH« ganz deutlich heraushören: Das… hier … ist …ironisch … gemeint!

»Bravo… Bravo… Bravo«, sagte der Vorsitzende und blickte dabei in die Runde. »Ich denke, damit ist nun wirklich alles gesagt, was wir hören mussten, um unser Urteil zu fällen. Meine Herren, meine Damen, wollen wir uns nun zur Beratung zurückzie…«

»NEIN«,

Die Frau, die den Vorsitzenden jetzt mit lauter Stimme unterbrach, saß direkt hinter Tim und Michael. »Ich bin nicht der Meinung, dass wir bereits alles gehört haben, was gesagt werden musste«, sagte sie und erhob sich von ihrem Platz.

Sie war groß gewachsen, muskulös und trug ihre Haare in einer Art strengen Dutt. Ihre Uniform war mit jeder Menge Auszeichnungen behängt.

Nach einem Augenblick der Stille, in dem sie den Vorsitzenden anfunkelte, wandte sie sich mit viel ruhigerer, unerwartet sanfter Stimme an die anderen Uniformträger. »Ich hatte mir vorgenommen, bei diesem Treffen gar nichts zu sagen. Ich habe es auch fast geschafft, und ihr wisst alle, wie schwer mir sowas für gewöhnlich fällt«.

Gedämpftes Lachen aus der Runde. Die Frau schien hier beliebt zu sein. Sie wartete, bis wieder Stille eingekehrt war, dann sprach sie in ernsterem Ton weiter.

»Ich bleibe dabei. Ich werde nichts sagen.«

Wieder eine Kunstpause. Diesmal etwas kürzer als die letzte.

»Aber ich bin überzeugt davon, dass Marten dort drüben noch einiges sagen möchte. Und vermutlich hat Tilda, die sich bisher sehr zurückgehalten hat, auch noch interessante Fakten beizusteuern.«

Die von ihr Angesprochenen zuckten sichtbar zusammen und es sah überhaupt nicht so aus, als wollten sie irgendetwas sagen. Beide warfen unsichere Blicke in Richtung des Vorsitzenden. Aber als die Frau ihren Laserstrahlen-Blick wieder auf den Mann namens Marten richtete, hielt sie ihn darin gefangen und ließ ihm keinen Millimeter Platz für Ausflüchte.

»Ja, also…«, begann Marten, der eine Brille trug und dessen Haar im Gegensatz zu den vielen Kurzhaarfrisuren der anderen Männer hier lang und wirr in verschiedene Richtungen ragte.

»Das Gerät, das die beiden Jungen da bei sich hatten… Dieses, ähm, 'Buch' wie sie es nennen«, er probierte einen halbherzigen Lacher, doch als ihm nur Schweigen entgegenschlug, schluckte er und sprach schnell weiter.

»Also die Hardware und die Programmierung dieses Teils… die ist einfach … wow! Wir kratzen ja erst an der Oberfläche des Codes und des Aufbaus der Microchips, aber es ist jetzt schon klar, dass diese Technologie so weit entwickelt ist, wie wir frühestens in zehn Jahren sein könnten! Allein die Prozessoren …«

Er schien jetzt bereit, auf weitere Details einzugehen, erwärmte sich geradezu für das Thema, doch in diesem Moment mischte sich wieder der Vorsitzende ein.

»Es bestätigt also«, sagte er in seinem ruhigen und seltsamerweise gleichzeitig aggressiv klingenden Tonfall, »dass der Feind uns auch technologisch haushoch überlegen ist und dass die Aktion unserer kleinen Solo-Kämpferin hier überaus unbedacht und gefährlich war, oder?«

Marten schluckte. Er atmete hörbar ein, sagte dann aber nichts.

»Vielen Dank, Professor Eichmann«, sagte der Vorsitzende. »Nun, da jetzt anscheinend wirklich alles gesagt worden ist…«

»Ich mein ja nur…«, unterbrach der Professor mit den wirren Haaren und der leisen Stimme ihn noch einmal, »dass unsere eigene Forschung dank dieses 'Vorfalls' einen gewaltigen Sprung nach vorne machen wird. Wir können von dieser Technologie so unglaublich viel lernen, unsere eigenen Produkte enorm verbessern, Erfindungen realisieren, von denen wir noch Jahre entfernt waren…«

»Danke, Herr Professor Eichmann«, fuhr der Vorsitzende dazwischen. »Ich denke wir haben verstanden.«

Er sah inzwischen ein bisschen weniger selbstzufrieden aus. Tim gefiel das.

»War mir ja nur wichtig, das auch noch mal gesagt zu haben«, nuschelte Professor Eichmann, während er sich wieder setzte. Die strafenden Blicke des Vorsitzenden schienen ihm körperliche Schmerzen zu bereiten.

Tim hingegen fand das total witzig. Er sah in dem Vorsitzenden immer mehr den wütenden Comic-Bösewicht. Hoffentlich schlägt er noch mal mit den Händen auf den Tisch, dachte er. Vielleicht würde dann auch noch Qualm aus seinen Ohren kommen und seine Haare nach oben fliegen. Tim musste grinsen.

»Wenn wir dann mit den Wortmeldungen so weit durch sind, würde ich vorschlagen…«, probierte der Vorsitzende es erneut, aber so einfach würde Tim ihn natürlich nicht vom Haken lassen.

»Ich dachte, die eine Frau da hinten sollte auch noch was sagen. Oder?«, unterbrach ihn Tim mit Unschuldsmiene. Er wollte auf keinen Fall, dass die Show jetzt schon endete. Dafür war das Ganze viel zu unterhaltsam.

»Du bist als Zeuge hier!«, fuhr ihn der Vorsitzende an und Tim glaubte zu erkennen, wie sein Kopf zunehmend roter wurde. »Solange Dir keine direkte Frage gestellt wird, hast du den Mund zu halten und das Verfahren nicht zu stören«

Tim schenkte ihm sein süßestes 'Ich bin ganz brav'-Lächeln und machte vor seinem Mund eine 'Reißverschlusszu'-Geste. Dann aber schaute er fragend in Richtung der blonden Frau, die vorhin angesprochen worden war. Er erkannte sie jetzt als eine der Wissenschaftlerinnen, die ihn und Michael in den letzten Tagen immer wieder besucht und viele viele Fragen gestellt hatten. Auch sie trug heute eine Uniform mit allerlei seltsamen Auszeichnungen und ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengeflochten. Seinem Blick folgend, schaute auch der Vorsitzende in ihre Richtung, was die Frau als Aufforderung zum Reden ansah.

»Natürlich«, sagte sie, »sind die psychologischen Auswertungen noch längst nicht abgeschlossen.« Sie schob ihre Brille noch ein wenig weiter auf die Nase und suchte in ihren Unterlagen, bevor sie weitersprach. »Aber aus den bisherigen Daten glauben wir klar erkennen zu können, dass die beiden minderjährigen Zeugen tatsächlich von dem überzeugt sind, was sie sagen. Sie kooperieren bereitwillig und lassen in keinerlei Hinsicht manipulative oder böswillige Absichten erkennen.«

Sie blickte nun wieder den Vorsitzenden direkt an. »Die von ihnen geäußerte These, dass es sich um bewusst eingeschleuste Spione oder Agenten des Feindes handeln könnte, dürfen wir aufgrund der Tests und Befragungen der letzten beiden Tage getrost als widerlegt ansehen.«

Der Vorsitzende hielt beide Hände vor dem Mund gefaltet und berührte mit den Fingerspitzen seine Nase. Jetzt öffnete er die Hände in einer unschuldigen Geste und fragte: »Und, Frau Doktor Michelsen? Was erzählen sie so, die beiden?«

Tim ärgerte sich ein bisschen. Das hätte er ihn und Michael doch jetzt echt mal selbst fragen können.

»Nun«, druckste die Frau herum, »im Grunde stützen ihre Aussagen zu großen Teilen die Berichte von Viola Rebecca.«

»Vi«, zischte die aus zusammengebissenen Zähnen, aber niemand schien sie zu beachten. Tim fand das seltsam, wo sie doch eigentlich die Hauptperson hier sein sollte. Warum fragte sie eigentlich keiner wirklich etwas? Oder ihn und Michael? Wozu waren sie überhaupt hier, wenn die sich alle nur über ihre Köpfe hinweg miteinander unterhielten.

»Auch die beiden Jungen berichten von enormen Wasservorkommen, ja sogar von einer Art Fluss, in dem sie oft gebadet und gespielt haben.«

Ein Raunen ging durch die Anwesenden und ungläubige Blicke richteten sich auf Tim und Michael.

»Laut den beiden Zeugen gibt es innerhalb der Mauer keinerlei Nahrungsmittel- oder allgemeine Güterknappheit. Sämtliche Grundbedürfnisse werden ihrer Aussage nach durch den Anbau von Ressourcen innerhalb eines gigantischen vertikalen Gewächshauses gedeckt.«

Inzwischen waren deutliche Laute des Erstaunens zu hören und viele der Anwesenden hatten begonnen, miteinander zu tuscheln.

»Während der Ressourcenreichtum an sich keine große Überraschung darstellt - wir wussten ja schon immer, dass der Feind uns in jedweder Hinsicht dramatisch überlegen ist - weichen die Beschreibung der Jungen hinsichtlich der 'Haltung' der Gefangen innerhalb der Mauern doch sehr von unseren Vermutung ab, was die Unterbringung und den Lebensstandard der Menschen dort angeht.«

Ein besonders interessiert aussehender General mit Schnauzbart lehnte sich vor und fragte: »Bestätigen die Aussagen der Kinder denn unsere Vermutungen von unterirdischen Verließen und täglicher Folter?«

Frau Doktor Michelsen schüttelte entschieden den Kopf.

»Nicht, wenn wir den Berichten der Kinder Glauben schenken können. Ganz im Gegenteil. Sie berichteten mir von einer völlig unbeschwerten Lebensweise. Restriktionen oder Verbote sind den beiden völlig fremd. Sie versicherten mir glaubwürdig, dass sie eigentlich jeden Tag viel draußen waren, einkaufen gingen und gänzlich ohne Betreuung oder sonstige Sicherheitsvorkehrungen allein in ihrem Dorf und der näheren Umgebung miteinander spielten.«

Den Tumult, der daraufhin ausbrach, versuchte der Vorsitzende durch wiederholtes Aufschlagen eines kleinen Hammers auf seinem Tisch zu unterbinden. Ziemlich aussichtslos. Alle redeten durcheinander, gestikulierten mit den Händen, schüttelten die Köpfe und warfen ungläubige Blicke in Richtung von Tim und Michael.

»Das kann doch überhaupt nicht stimmen! Wie sollte der Feind denn sonst an das Adrenochrom kommen?«, rief der schnauzbärtige Kerl, der jetzt anscheinend völlig außer sich war. Niemand antwortete ihm und auch sonst schien gerade alles mächtig aus dem Ruder zu laufen. Tim drehte sich zu der Frau mit dem Laserblick um, die direkt hinter ihm saß und fragte: »Was ist denn ein Adrenodingsbums?«

Aber die schüttelte nur den Kopf. »Reiner Schwachsinn ist das«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Tim dachte schon, das wäre alles, was er aus ihr herausbekommen würde, aber dann wandte sie sich ihm doch noch einmal zu und flüsterte: »Das ist nur ein uraltes Märchen, an das leider immer noch viel zu viele dieser alten Deppen hier glauben. Die denken allen Ernstes, ihr würdet dort drin alle in unterirdischen Verließen gehalten, gefoltert und euch würde dieses Adrenochrom abgezapft, womit sich der Feind dann das 'ewige Leben' sichern kann. Frag mich bitte nicht, wo dieser Riesen-Bockmist jemals hergekommen ist, aber er hält sich wie die Pest in den Köpfen von einigen Wenigen.«

Tim bekam große Augen. Er wusste ganz genau, woher die Idee stammte, und ihn gruselte, wenn er daran dachte. »Wie die Gelflinge im dunklen Kristall«, flüsterte er.

Damit schien die Frau aber nun gar nichts anfangen zu können. Sie ignorierte Tim, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und schrie gegen den allgemeinen Tumult an: »DAS IST DOCH ALLES VÖLLIGER SCHWACHSINN!«

Und im Gegensatz zu dem Hämmerchen des Herrn Vorsitzenden schien ihr Wort bei den Herren Generälen und Majoren anzukommen. Zumindest wurde es langsam wieder ruhiger. Nur der Schnauzbärtige konnte das Thema anscheinend noch immer nicht fallenlassen.

»Ja, aber Hillary Clinton…«, probierte er es noch einmal halbherzig. »Und Bill Gates! Die haben doch…«

»…beide vor über einem Jahrhundert gelebt!«, fuhr ihm die Frau über den Mund. »Das muss doch selbst Ihnen einleuchten. Die sind längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen… Abgeflogen zu ihren Ahnen… Die sind…«

»Aber das wollen die uns doch nur glauben machen!« Der Kerl ließ einfach nicht locker. »Das ist doch die eigentliche große Verschwörung! In Wirklichkeit haben sie all die Kinder hinter dieser Mauer eingesperrt, ihnen seit Jahrzehnten den Lebenssaft ausgesaugt und ziehen auch heute noch immer im Hintergrund alle Fäden.«

Tim konnte nicht mehr. Er musste einfach loslachen. So eine Hammergeschichte, ganz offensichtlich völlig bescheuert und trotzdem gleichzeitig total ernst rübergebracht. Von einem alten Kerl mit Schnauzbart! Das war zu viel für ihn. Der Typ verdiente eindeutig einen Comedy-Oskar.

Tims helles Kinderlachen wirkte in dieser Runde aus ernst dreinblickenden, hochdekorierten und unglaublich wichtigen Männern und Frauen völlig fremd und fehl am Platz. Aber gleichzeitig sorgte es auch für eine gewisse Entspannung. Die ganze Anspannung und der Streit schienen vergessen und alle Aufmerksamkeit richtete sich mit einem Mal auf dieses kleine, fröhliche Kind, das dort in ihrer Mitte saß und einfach nur lachte.

»Entschuldigung…«, sagte Tim schließlich und rang nach Atem. Der Lachanfall war fürs erste gebändigt, aber er könnte jederzeit wieder aus ihm herausplatzen, falls der Schnauzbart auch nur noch einmal den Mund aufmachte.

»Tut mir echt leid…«, setzte er nochmal an, »Aber das ist einfach nur so witzig, was ihr da für Vorstellungen von unserem Leben habt.«

Inzwischen war es im Saal mucksmäuschenstill geworden und alle hingen an seinen Lippen. Ein klein bisschen gefiel das Tim. Aber ein bisschen gruselig war es auch. Er richtete sich noch ein wenig mehr auf und zählte an den Fingern ab:

»Aaaalso… Erstens werden wir nicht gefangen gehalten, zweitens nicht gefoltert, drittens hat bei uns noch niemals jemand etwas von diesem komischen Adrenodingebums oder eurer Hillary Gates gehört und viertens geht's uns allen ganz prima. Wir Kinder sind jeden Tag draußen und können tun und lassen, was wir wollen.«

Der erste, der danach die Sprache wiederfand war ein älterer Herr mit Halbglatze und leichtem Bauchansatz. Er fragte: »Aber … aber wie kommt ihr denn mit der Hitze klar?«

Tim und Michael schauten sich erstaunt an. Die Frage kam ein wenig unerwartet. Aber wäre ja unhöflich, jetzt nicht zu antworten, fand Tim und räusperte sich.

»Also…«, begann er und überlegte erst jetzt, was er überhaupt antworten sollte. War ja auch wirklich eine seltsame Frage. Wusste denn nicht jeder, wie man mit Hitze umging? Er probierte erst mal, ganz offensichtliche Dinge aufzuzählen.

»Wenn wir rausgehen, dann cremen wir uns natürlich mit Sonnenmilch ein. Da besteht meine Mama immer drauf. Und 'ne Sonnenmütze soll ich auch immer aufsetzen, aber die verbasel ich meistens im Lauf des Tages irgendwo. Tja… Ansonsten ist es natürlich wichtig, viel zu trinken und nicht allzu lange in der prallen Sonne zu liegen, aber das ist doch eigentlich alles logisch, oder? Was gibt´s denn an Hitze und super Wetter auszusetzen? Ist doch toll, dass uns Gott jeden Tag den perfekten Sommersonntag schenkt. Und wenn uns zu heiß wird, gehen wir halt im Fluss baden. Oder wir setzen uns in den Schatten von 'nem Baum und…«

»Ihr habt da drinnen Bäume??«, unterbrach ihn die Frau mit der schrecklichen Stimme, die Vi vorhin so angegangen war. Sie klang jetzt noch eine Stufe unerträglicher. Wie Metall auf einer Glasscheibe.

»Äh, ja natürlich?«, antwortete Tim unsicher. »Bäume, Gras, Büsche, Blumen…«

Und schon herrschte wieder ein heilloses Durcheinander. In dem allgemeinen Tumult konnte Tim nicht mal verstehen, worüber jetzt schon wieder so heiß diskutiert wurde. Er schnappte nur einzelne Worte und Satzteile auf.

»… unglaublich…«,

»…Das denken die sich doch alles nur aus…« »…widerspricht allem, was wir bisher angenommen haben«

»…Gehirnwäsche durch Bill und Hillary…«

Und plötzlich, für Tim völlig unerwartet, stand Michael neben ihm auf und seine laute Stimme durchdrang das Durcheinander der aufgebrachten Menge.

»Ich kann euch sagen, wie das alles sein kann«

Er musste nur kurz warten, bis wieder aller Lärm in dem Raum verklungen und sämtliche Augen erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren.

»Wir haben es gesehen. Die gigantische Maschinerie, die im Hintergrund nötig ist, um uns in diesem sogenannten 'Paradies' leben zu lassen«.

Er schnaubte, als er das Wort 'Paradies' aussprach. Insgesamt wirkte Michael in letzter Zeit so seltsam verschlossen. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesagt. Hatte sich die verschiedenen Redebeiträge ohne Regung angehört und nur hin und wieder ganz leicht den Kopf geschüttelt. Da schien sich mal wieder etwas in ihm angestaut zu haben, was nun raus musste. Tim war gespannt, worauf er hinauswollte.

»Es ist alles künstlich, dort hinter der Mauer. Die ganze Welt, in der wir da leben, ist eine einzige Lüge.«

Er atmete tief durch. Schien seine Gedanken zu sammeln. Als er schließlich sprach, hing jeder Einzelne im Saal an seinen Lippen.

»Die relativ moderaten Temperaturen haben wir dort vermutlich wegen der vielen Pflanzen und der direkten Nähe zum Fluss und dem Wasserfall«

Das machte Sinn, fand Tim. Die Blätter verdunsteten das Wasser und kühlten damit die Umgebung. Der Wasserfall und der Fluss bewirkten ebenfalls eine erhöhte Feuchtigkeit und Abkühlung der Luft. Er nickte seinem Freund anerkennend zu. Clever kombiniert.

»Die Pflanzen wiederum werden künstlich bewässert. Wir haben unterirdische Tunnel gesehen mit tierisch vielen Röhren. Ich nehme an, dass davon viele bis direkt an die Wurzeln der Pflanzen gehen und genau die Menge an Wasser abgeben, die die Pflanzen benötigen.«

Tim schaltete sich ein: »Ach ja, und dann gibt´s ja auch noch die Regenfälle, die fast jede Nacht zwischen ein und vier Uhr fallen. Meinst du, die sind auch künstlich?«

»Da bin ich mir sogar total sicher. Oder regnet es hier etwa jede Nacht?«

Kopfschütteln. Ungläubige Blicke.

»Dacht´ ich mir. Und was unsere Versorgung mit Essen und Gütern angeht…«

Tim wusste, worauf er hinauswollte, und bei dem Gedanken daran bekam er eine Gänsehaut auf den Oberarmen.

»… fragt lieber nicht zu genau nach, woraus unser Essen da drüben bestanden hat«, schloss Michael, dem das Thema anscheinend auch noch schwer im Magen lag.

»Aber…aber…«, fragte nun der dickliche Mann von vorhin »…Ihr könnt da doch nicht einfach so ungeschützt rumlaufen! Wie geht ihr denn um mit…?«

Tim wartete noch auf das Ende und somit auf den entscheidenden Teil der Frage, aber der Mann redete nicht weiter, sondern machte stattdessen eine Geste, die Tim äußerst befremdlich fand: Er streckte beide Arme gerade zur Seite ab, Handflächen nach oben und begann sich einmal komplett im Kreis zu drehen. Lustigerweise waren sofort auch seine beiden Sitznachbarn aufgestanden und vollführten dieselbe merkwürdige Bewegung. Tim fiel dabei zum ersten Mal auf, wie weit die einzelnen Stühle hier auseinander standen: Trotz ausgestreckter Arme war noch Platz zwischen dem dicken Mann und den anderen beiden. Ihre Hände berührten sich nicht. Als hätte jemand vor der Sitzung die Position aller Stühle im Raum genau ausgemessen.

»Äh… Soll das eine Art Tanz sein?«, riet Michael mit hochgezogener Augenbraue, den diese Frage anscheinend völlig aus dem Konzept brachte. Er blickte zu Tim hinunter, der aber auch nur hilflos mit den Schultern zuckte.

Doch noch bevor der Mann zu einer Erläuterung ansetzen konnte, erklang wieder die laute Stimme des Vorsitzenden, der anscheinend beschlossen hatte, dass es an der Zeit wäre, die Gesprächsführung wieder an sich zu ziehen.

»Meine Damen und Herren. Das klingt nun alles wirklich überaus fantastisch. Aber ich denke, dass es für alle Anwesenden wichtig wäre, die Glaubwürdigkeit der Zeugen hier richtig einzuschätzen. Aus diesem Grund möchte ich mir erlauben, eine letzte Frage an die beiden zu richten und ich möchte euch bitten, diese Frage nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten«

Puh… ganz schön gestelzt, fand Tim. Jetzt kam er sich zum ersten Mal richtig vor wie in einem Gericht. Okay, er war natürlich noch nie in einem Gericht gewesen, aber so ungefähr hatte er sich immer die Anwälte vorgestellt, die mit clever gestellten Fragen die Angeklagten zur Strecke brachten. Er war auf der Hut. So leicht würde der Kerl da ihn nicht überrumpeln. Doch die Frage, die er schließlich stellte, erschien Tim dann weder kompliziert noch besonders gefährlich.

Der Vorsitzende fragte: »Wer steckt dahinter? Wer ist derjenige, der all das - die Mauer, den Fluss, die Bäume und das Essen - für euch so wunderbar gemacht hat?«

Zuerst blickte der Vorsitzende Michael an. Aber der antwortete nicht. Das war schon mal seltsam. Micha wusste doch ganz genau, wer das alles gemacht hatte. Tim wartete noch ein wenig ab, aber als Michael schließlich mit den Schultern zuckte und der Blick des Vorsitzenden sich auf ihn richtete, stand er auf und sagte mit lauter Stimme:

»Na, das war natürlich der liebe Gott. Er und seine Engel haben uns das Paradies auf Erden geschenkt und sie behüten und beschützen uns an jedem Tag.«

KAPITEL 2:

ZU GAST

COME IN AND STAY A WHILE.

CAST THE WORLD ASIDE FOR NOW.

GIVE YOURSELF A CHANCE TO BREATHE.

AND TRY YOUR BEST TO SMILE.

RHONDA POLAY - 1994

Das war so blöd«, zischte Michael, ohne sich nach Tim umzusehen. Der musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Und hatte anscheinend noch immer nicht kapiert, dass er sie gerade total blamiert hatte.

»Wieso das denn? Ich hab` doch bloß die Wahrheit gesagt«, protestierte Tim.

Michael schüttelte den Kopf. Das war so peinlich gewesen. Alle hatten sie gelacht. Der ganze Saal hatte sich über die beiden Trottel vom Dorf kaputtgelacht. Und Tim der kleine Dussel hatte alles noch schlimmer machen müssen, indem er versucht hatte, sich zu verteidigen und zu erklären, dass Gott das alles doch wirklich nur aus Liebe zu den Menschen getan habe.

Michael blieb stehen und fuhr Tim an: »Hast du eigentlich überhaupt nicht aufgepasst? Das war doch alles eine einzige große Lüge. Gott! Die Engel! Alles Betrug!«

Er warf die Arme in die Luft und raufte sich die Haare. »Alles nur Pappkameraden! Gesteuert von irgendeinem Idioten in China oder Russland oder wo auch immer, der seine kranken Spielchen mit uns spielt. Das hast du doch auch gesehen. Wieso musstest du uns dann so blamieren? Die glauben uns doch jetzt kein Wort mehr!«

Michael war das sofort klar gewesen, als nach einem Augenblick der Stille der gesamte Saal plötzlich in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Und dazu dann noch dieses fiese, abschätzige Lächeln auf dem Gesicht des Vorsitzenden.

»Ich denke, wir sollten heute keine Entscheidung treffen und alle über das Gesagte nachdenken«, hatte der eingebildete Schnösel gesagt. Und dabei die ganze Zeit über so dämlich überheblich gegrinst. »Wir sehen uns morgen um Fünfzehn Uhr wieder und treffen gemeinsam eine Entscheidung.«

»Aber sollte ich etwa lügen?«, fragte Tim und stampfte jetzt tatsächlich mit dem Fuß auf. Niedlich. Aber auch echt albern.

»Du hättest einfach bei dem bleiben können, was wir wirklich gesehen haben«, meinte Michael. »Wir haben mit unseren eigenen Augen gesehen, dass alle Engel und auch Gott selbst nur ferngesteuerte Roboter waren«

»Ja! Aber doch gelenkt vom echten Gott!«, beharrte Tim. »Hast du das mit dem zweiten Gebot denn nicht kapiert? Was er uns kurz vor seinem 'Tod' erzählt hat? Er musste eine Form annehmen, die wir begreifen konnten. Weil wir Menschen Gott in seiner wahren Form eben nicht verstehen können. Deshalb die Verkleidung mit den Robotern. Ist doch wohl logisch, oder? Früher hat er sich den Menschen als brennender Busch oder Feuersäule gezeigt, heute nutzt er halt die moderne Technik und zeigt sich in der Form von Robotern.«

Michael schüttelte den Kopf. Da war echt nichts zu machen. Der kleine Sturkopf hatte sich da total hinein verrannt, auch wenn für alle Welt völlig offensichtlich war, was für einer Riesenräuberpistole sie da ihr Leben lang aufgesessen waren.

Er legte Tim die Hände auf die Schultern und sprach ganz langsam und ruhig, obwohl eigentlich alles in ihm schreien wollte.

»Tim. Es gibt. Keinen. Gott. Akzeptiere das. Lass dich nicht noch immer weiter verar…«

»Hey! Ihr zwei! Nicht einschlafen. Schwingt eure Hufe! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!«

Die Stimme der Frau ließ keinen Widerspruch zu. Vorhin, als sie dem blöden Vorsitzenden die Stirn geboten hatte, war sie Michael ja noch ganz sympathisch vorgekommen. Aber jetzt, wo sie aus irgendeinem nicht ersichtlichen Grund ihre neue Aufpasserin geworden war, hatte sich das schlagartig geändert.

Okay, viel schlimmer als die zwei Tage, die sie bisher, völlig von allen Menschen abgeschnitten, hatten verbringen müssen, konnte es mit der da eigentlich auch nicht werden.

Andererseits waren sie dort in ihrem winzigen Zimmer wenigstens größtenteils in Ruhe gelassen worden - von den Befragungen durch die blonde Doktorin und ihrer Helfer mal abgesehen. Und außerdem war da immer mal wieder Vi vorbeigekommen. Offiziell als 'Person des Vertrauens', die bei den Befragungen helfen sollte, inoffiziell einfach als Kind in ihrem Alter, mit der sie auch mal normal quatschen konnten. Das war eigentlich immer ganz nett gewesen.

Aber auf Besuch von Vi würden sie sich bei der strengen Militärtante hier sicher nicht einstellen dürfen. Wer weiß, bei wem sie da jetzt gelandet waren.

Für den Vorsitzenden war es jedenfalls ganz offensichtlich gewesen, dass diese Frau jetzt für sie zuständig war.

»In Anbetracht der besonderen Umstände«, hatte er übertrieben freundlich gesagt, »ist es sicher das Beste, wenn die beiden Jungs vorerst bei Ihnen bleiben. Finden Sie nicht auch, Frau Kollegin?«

Und die Frau mit dem strengen Blick hatte einfach nur genickt. Als wäre damit alles geklärt. Hatten sie denn bei der Sache überhaupt kein Mitspracherecht? Michael hatte natürlich sofort protestieren wollen, aber die Frau hatte ihnen gleich ihre Schraubstock-Hände auf die Schultern gelegt und mit einem entschiedenen Kopfschütteln jegliche Diskussion untersagt. Da war überhaupt keine Frage gewesen, ob man Widerworte haben konnte. Das ließ ihr steinerner Blick und die Art, wie sie die beiden sofort nach der Besprechung aus dem Saal schob, überhaupt nicht zu.

Und auch jetzt sah es nicht so aus, als wäre sie vernünftigen Argumenten gegenüber zugänglich.

»Ich gebe ihn noch nicht auf«, flüsterte Tim, der sich schon wieder der Frau zugewandt hatte und begann, ihr mit seinem albern hüpfenden Jogging-Schritt hinterherzulaufen. »Und du solltest dich auch nicht so schnell von ihm abwenden«.

»Er hat sich von mir abgewandt«, sagte Michael scharf und begann ebenfalls wieder hinter der Frau herzutrotten. »Und überhaupt war er nie wirklich echt!«, setzte er hinzu. »Es gibt keinen Gott!«

Das Mittagessen war weitaus weniger fürchterlich als Tim erwartet hatte. Das lag jetzt nicht so sehr am Essen selbst, denn das schmeckte leider genauso ekelig wie die Mahlzeiten, die ihnen in den letzten Tagen vorgesetzt worden waren. Aber wenigstens waren sie dabei in angenehmer Gesellschaft.

Und die hatte Tim nach der langen Isolation in dem Mini-Zimmerchen, in dem er und Michael die letzten Tage verbracht hatten, auch dringend nötig.

Auf dem Weg hierher hatte es zuerst so ausgesehen, als würde sich ihre Lage sogar noch weiter verschlimmern. Er war neugierig auf Vis Heimatstadt gewesen und hatte sich darauf gefreut, alles hier in sich aufzusaugen, wie er es immer tat, wenn er neu in einer Gegend war. Aber hier gab einfach überhaupt nichts Aufregendes zu entdecken. Früher, vor wer weiß wie langer Zeit, musste dies hier einmal eine echt große Einkaufspassage mit mehreren Etagen gewesen sein. Aber davon war heute kaum noch etwas zu erkennen. Sämtliche Läden, Boutiquen und Imbissbuden waren inzwischen zu kleinen, winzigen oder noch viel kleineren Wohnungen umfunktioniert worden, abgetrennt voneinander nur durch kalten, grauen, zweckmäßigen Beton.

Die kahlen Wände der engen Gänge hatten von ihren Schritten widergehallt, nur unterbrochen von dem Geplärre der kleinen Bildschirme, die hier als einzige Dekoration alle paar Meter aufgehängt waren. Darauf waren in Dauerschleife entweder die Nachrichten zu sehen ('DROHT JETZT DER VERGELTUNGSSCHLAG DES FEINDES?') – oder es lief Werbung für irgendwelche Sportturniere ('ENDSPIEL DER OBERSTUFEN-LIGA, HEUTE ABEND LIVE!'). Aber weder die Frau noch die wenigen Passanten, die ihnen entgegengekommen waren, hatten auch nur einen Blick dafür übrig. Durch diese Einkaufsmeile ging definitiv niemand mehr, um gemütlich zu 'bummeln'. Wer hier unterwegs war, wollte nur eins: Möglichst schnell wieder zurück nach Hause. Konnte Tim total verstehen. Alles hier wirkte schrecklich trostlos, kalt und abweisend.

Die Tür, vor der sie dann schließlich zum Stehen kamen, unterschied sich in nichts von den vielen Eingängen, an denen sie vorbeigekommen waren. Es war Tim völlig unverständlich, wie die Frau sich hier überhaupt zurechtfinden konnte. Hier untern sah alles total gleich hässlich, gleich trostlos und gleich kalt aus.

Und dann hatte die Frau die Tür aufgeschlossen und sie waren in eine völlig andere Welt eingetreten. Eine sehr kleine, ziemlich beengte Welt, zugegeben. Aber doch eine Welt voller Leben und Wärme, das hatte Tim sofort gespürt.

Und gehört. Denn kaum eine Sekunde, nachdem sie die Wohnung betreten hatten, war ihnen schon ein kleiner Wirbelwind mit braunen, lockigen Haaren entgegengesprungen, der zwar ganz offensichtlich die Fähigkeit des Sprechens noch nicht vollständig erworben hatte, aber anscheinend beschlossen hatte, sich davon keineswegs vom Reden abhalten zu lassen.

»MAAAAAAMA daaaaaaaa! Du bist? Un du bist? Papa kocht hat. Hmmmm… lecker, lecker! Mitkomm… Auch esse!«

»Äh… okay. Ich bin Tim«, hatte Tim gesagt und damit sofort und unwiderruflich die vollständige innige Liebe des kleinen Knirpses gewonnen, der ihn gleich an seine klebrige Hand genommen und mit sich in die Küche gezerrt hatte.

Ihm zuliebe hatte Tim sogar die widerliche Suppe geschlürft und mehrmals freundlich genickt, als ihm der Kleine mit großer Gestik die unglaublichsten und tiefgründigsten Wahrheiten über die Welt, die Küche und das Universum im Allgemeinen erzählt hatte. Dass ihn leider aufgrund seines fehlenden Vokabulars und des immer randvoll gefüllten Mundes niemand verstehen konnte, störte den Knirps dabei anscheinend überhaupt nicht. Tim hatte ihn augenblicklich ins Herz geschlossen.

Und auch der Vater, der offensichtlich die furchtbare Suppe verbrochen hatte, schien ansonsten ein recht netter Typ zu sein. Immer wenn der Redeschwall des Kleinen ihm eine Lücke bot, donnerte er mit der Hand auf den Tisch und sagte laut: »Genau!« oder »So ist das!« oder »Sag bloß! Ehrlich?«, worauf hin der Kleine anfing, wild zu kichern und Suppe über den Tellerrand zu verkleckern.

Mit großen Augen hielt er Tim einen Löffel vor die Nase. »Pusten«, forderte er ihn auf. »Ganz heiiiißß!«

Folgsam blies Tim mehrmals auf die Suppe, die der Kleine dann mit genüsslichem Schlürfen und fröhlichem Grinsen herunterschlang.

»Sehr gut Jakob«, lobte der Vater. »Der schnelle Luftstrom vertreibt den Dampf und sorgt dafür, dass die sich schnell bewegenden Moleküle in der Suppe besser an die Umgebung abgegeben werden können. Deshalb wird die Suppe kälter.«

»Äh…«, machte Michael und sah den Vater kritisch an. Auch Tim, der die Erklärung des Mannes aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich völlig richtig fand, runzelte die Stirn.

»Man muss schon in jungem Alter die Grundlagen für ein wissenschaftliches Verständnis der Welt legen«, verteidigte sich der Mann und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sonst wird aus dem klugen, neugierigen, kleinen Jakob irgendwann ein abgestumpfter Ballerspiele zockender Jake, der nichts mehr hinterfragt und den ganzen Blödsinn, den sie uns hier Tag für Tag eintrichtern, einfach so hinnimmt.«

»Molle-Kühe!«, rief Jakob begeistert und klatschte seinen Löffel mit Schwung in die Suppe, dass es nur so spritzte. Yep. Ein großer angehender Wissenschaftler, dachte Tim grinsend.

Von der Frau, die sie hierhergebracht hatte, sahen sie den gesamten Nachmittag über nichts mehr. Die war sofort nach oben gegangen. Hatte ihrem Mann nur eine abwehrende Hand entgegengestreckt und »Sorry… noch viel zu tun«, gesagt. Total unhöflich. Egal wie schlecht die Suppe war, zumindest ein bisschen Interesse daran heucheln sollte man doch wohl eigentlich schon, oder? Tim jedenfalls gab sich Mühe, den Mann nicht zu sehr zu kränken und zwang sich die schleimige Brühe hinein. Der Geschmack war ja eigentlich gar nicht so furchtbar, aber Tim hasste die Konsistenz. Außerdem machte ihn die Tatsache fertig, dass sie dieses Zeug in leicht unterschiedlichen Varianten nun schon drei Tage in Folge hatten schlürfen mussten. Ob die hier noch nie was von abwechslungsreicher Kost gehört hatten?

Zu seinem Glück hatte der angehende Wissenschaftler Jakob nur eine recht kurze Aufmerksamkeitsspanne, wenn es um Suppe ging, und schon fünf Minuten, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten, zog er Tim mit einem jetzt noch wesentlich klebrigeren Händchen aus der Küche.

»Mittomm … tuck ma…«, sagte er und Tim ließ sich mit entschuldigendem Grinsen im Gesicht von seiner noch halb vollen Schüssel wegzerren. Michael folgte den beiden die enge Treppe hinauf, obwohl der von seiner Suppe sogar noch weniger gegessen hatte.

In der oberen Etage gab es drei weitere, winzige Zimmer, von denen eins ganz offensichtlich Jakobs Spielzimmer war. Zu erkennen war das daran, dass es hier aussah, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Auf dem Boden gab es kaum einen freien Fleck, den man hätte betreten können. Ihn selbst schien das aber überhaupt nicht zu stören und er hüpfte zielsicher zwischen Legosteinen, Bauklötzen und undefinierbaren Plastikdingern hin und her und zeigte Tim stolz all seine Schätze und genialen Erfindungen.

Michael rettete sich mit einem Sprung auf das Hochbett, das an einer Wand stand und ließ die Beine herunterbaumeln, während Tim mit dem Kleinen spielte.

Weder die riesigen Raumstationsanlagen, die Tim und Jakob in seliger Vertrautheit bauten, noch die echt beeindruckend lange Ratterbahn aus länglichen Holzklötzen, noch die überaus interessanten Kinderbücher, die Tim dem Kleinen zwischendurch vorlas, vermochten es, Michael von seinem hohen Thron herunterzulocken. Machte Tim überhaupt nix. Sollte der doch da oben sitzen und schmollen. Ihm gefiel es, dem Knirps hier alles Mögliche Neue beizubringen und ihn immer wieder zum Staunen zu bringen.

»Der ist echt ganz schön clever«, sagte er, als Jakob es irgendwann geschafft hatte, einen Turm aus einer Kombination aus Lego, Holzbauklötzen und Playmobilpiraten zu konstruieren, der auch wirklich in sich stabil zu sein schien.

»Klar…«, schnaubte Michael. »Deshalb spielt er so gerne mit den Playmo-'Molekülen'.«

Jakob nahm das Stichwort natürlich sofort auf, schnappte sich eine der Kühe aus Hartplastik und rief laut »Muuuuh… Muuuhh… Wolle-Kühe!«

Michael schüttelte den Kopf. »Da siehst du, was die aus dem armen Kind machen. So ein Blödsinn!«

»Was meinst du denn?«, fragte Tim.

»Na guck dir doch seine Gute-Nacht-Lektüre mal an…«, sagte Michael und griff nach einem der Bücher, die neben dem Hochbett standen. »Programmieren für Jugendliche, Sofies Welt, Der Herr der Ringe, Eine kurze Geschichte der Zeit…«

»Alles tolle Bücher«, meinte Tim.

»Ja, aber wer liest denn seinem Zweijährigen sowas vor? Das ist doch total bescheuert. Das sind hier garantiert solche Über-Eltern, die versuchen, schon ihrem Baby chinesisch beizubringen und Bachsonaten auf dem Flügel spielen zu lassen. Moleküle… Pah! So was macht mich aggressiv.«

Tim schielte zu Jakob hinüber. Okay, wie ein superintelligentes Ober-Genie sah der nun nicht gerade aus. Momentan versuchte er, den Kopf eines Playmobil Piraten durch gezieltes Abbeißen zu entfernen. Er schien aber so weit ganz zufrieden und glücklich zu sein, also schloss Tim, dass die Bücher ihm wohl nicht allzu sehr zugesetzt haben konnten. Kinder können viel Blödsinn ihrer Erziehungsberechtigten ertragen und trotzdem glücklich und zufrieden aufwachsen.

»Komm, Kleiner«, sagte er. »Ich zeig dir jetzt, wie man 'nen super Diamant-Raumschiff baut, nur aus Viererblöcken!«

»Jaaa…! Haumsifff!!«

Michael vergrub sich den restlichen Nachmittag über in den Büchern und ignorierte den Lärm unter dem Hochbett. Das Kind in diesem Haus schien völlig ausgehungert nach den einfachen Spielen und Tobereien, die Tim ihm im Übermaß bot. Gut so. Kind sein war wichtig, fand Michael. Einfach mal spielen und nicht lernen.

Wenn er nur den riesigen Bildschirm am Fußende des Bettes sah, kam ihm schon wieder die Wut hoch. Und davor lag auch tatsächlich noch so eine 'Tastatur' mit allen Buchstaben und Zahlen darauf. Bestimmt saßen sie hier sonst Tag für Tag mit ihrem kleinen 'Wunderkind' und versuchten ihn vollzustopfen mit Zeugs, das ihn eigentlich kein bisschen interessierte. 'Das ist das A… A wie Antilope oder Antimaterie … Kannst du schon Antimaterie sagen?'

Wollekühe! Das war es, was dabei herauskam, wenn man versuchte, ein Kind zum Lernen zu zwingen. Dabei war es doch eigentlich so einfach. Man brauchte nur die natürliche Neugier zu fördern und das Kind das lernen zu lassen, was es wirklich interessierte. Hatte bei ihm und Tim doch auch geklappt.

Wäre da irgendjemand gekommen und hätte sie gezwungen, sämtliche Dinosauriernamen auswendig zu lernen, dem hätten sie was gehustet. Nein. Sie hatten sämtliche Sauriernamen gelernt, weil sie es wollten. Nur so funktionierte das Ganze. Nicht über den Kopf des Kindes hinweg, sondern indem der unstillbare Wissensdurst, der in jedem Kind schon von Geburt an vorhanden war, weiter genährt und gefördert wurde.

Beim Gedanken an die vielen schönen Erlebnisse in ihrer 'Schule' musste Michael lächeln. Und hasste sich augenblicklich dafür. Das war doch alles nur Lug und Trug gewesen. Die Schule, ihr Dorf, diese ganze, vorgespielte Welt! Dorthin würden ihn keine zehn Pferde zurückbringen.

Egal wie schrecklich das Essen und die Unterbringung hier war, es war die echte Welt. Und die zog er der vorgetäuschten Scheinwelt seiner Kindheit jederzeit vor.

Einzig der Gedanke an seine Eltern ließ in ihm hin und wieder ein bisschen Heimweh aufkeimen. Die vermisste er natürlich schon. Aber er konnte ja wohl schlecht mit eingekniffenem Schwanz nach Hause zurückgekrochen kommen, nach allem, was er erlebt hatte.

Nein, wenn er irgendwann zu seinen Eltern zurückkehren würde, dann als triumphierender Befreier, der ihr ganzes Dorf aus den Klauen dieser verdammten Roboter retten würde.

Er jedenfalls würde sich nie wieder zum Narren halten lassen, wie Tim, der anscheinend noch immer krampfhaft versuchte, weiter an das Märchen vom lieben alten Gott und seinen Engeln zu glauben.

Michael merkte, wie seine Gedanken immer weiter von dem Buch in seiner Hand abschweiften. Also legte er 'Eine kurze Geschichte der Zeit' beiseite und warf einen Blick unter das Hochbett. Da unten waren Tim und Jakob noch immer voll im Lego-Rausch.

»Tuck ma… Hiiiiesen-Haumsiff«, sagte der Kleine und hielt sein merkwürdig anmutendes Konstrukt in die Höhe, damit Michael es ausgiebig bewundern konnte.

Michael musste grinsen. Dann streckte er sich und sagte: »Na gut, ihr zwei Amateure… Dann muss ich wohl mal runterkommen und euch zeigen, wie man wirklich wahre 'Riesen-Haumsiffe' baut.«

Als Paul Marlin das Zimmer seines Sohnes betrat, traf ihn ein fast faustgroßer Block aus Legosteinen an der Schulter. Der war gerade eben mit lauten 'PIU-PIU'-Geräuschen von einer Art Katapult abgefeuert worden, das in der Mitte einer beeindruckend großen Sammlung von Weltraumbahnhöfen, Landebahnen, schwenkbaren Lasertürmen, Gebäuden mit riesigen Antennen und fast meterhohen Türmen stand. Ziel der Attacke war zwar vermutlich nicht er, sondern die große zweite Basis gewesen, die in der Nähe der Tür aus dem Boden gewachsen war, aber sein plötzliches Eindringen schien auf den tobenden Weltraumkrieg nur minimalen Einfluss zu nehmen.

Jakob raste mit einem diamantenförmigen Etwas durch das Zimmer und machte 'Brrrrrrrraaaaauuuummmm', während Tim hinter ihm herrannte, in jeder Hand ein geflügeltes Lego-Ungetüm mit vielen spitzen Auswüchsen, die anscheinend alle gleichzeitig 'Pow, Pow, POW!' und 'Rattattatattat' machten. Flankiert wurde all dies von Michael, der kopfüber vom Hochbett hing wie eine Abrissbirne, mit einem mindestens dreißig Zentimeter langen Raumschiff hin und her baumelte und bei jedem 'Durchflug' seines Monsterschiffes tiefe 'WOOOOM, WOOOOOUUUM' Geräusche von sich gab.

Mit einem Mal entdeckten die großen Jungs, die sich so urplötzlich wieder in ganz kleine Jungs verwandelt hatten, den Familienvater im Türrahmen und hielten augenblicklich ertappt und irgendwie peinlich berührt in ihren Bewegungen inne.

»Essen ist fertig«, sagte Paul und ging dann schnell wieder die Treppe herab, um den beiden den Anblick des Grinsens zu ersparen, das sich unaufhaltsam in seinem ganzen Gesicht ausbreitete.

KAPITEL 3:

ABENDESSEN

ALLER AUGEN WARTEN AUF DICH HERRE.

UND DU GIEBEST IHNEN IHRE SPEISE ZU SEINER ZEIT

HEINRICH SCHÜTZ - 1657

Beim Essen versuchte Michael jeglichen Augenkontakt komplett zu vermeiden. Tim fand das witzig. Das war dem großen Helden, der Gott persönlich die Stirn geboten hatte, wohl doch ein bisschen unangenehm, wenn ihn jemand beim ausgelassenen Toben und Spielen erwischte. Nach ihren Erlebnissen in der großen Mauer wollte er jetzt anscheinend nur noch als der ernste, mutige Kämpfer angesehen werden und es wurmte ihn ganz offensichtlich sehr, dass sowohl Vi als auch die vielen Wissenschaftler und Militärs, die sie befragt hatten, ihn wie ein kleines Kind behandelten. Tim selbst machte das überhaupt nichts aus. Hey, er war doch schließlich ein Kind. War ja nichts Schlimmes dran, als Kind behandelt zu werden. Dafür durfte man sich schließlich auch kindisch benehmen, ein unglaublich wertvoller Vorteil in einer Welt voller langweiliger Erwachsener.

Wenigstens hatte Jakobs Vater die Güte, Michael nicht auch noch mit einem »Na, habt ihr schön gespielt?« weiter zu demütigen. Wortlos hatte er den beiden wieder nur ihre Schüsseln mit undefinierbarem Schleim darin hingestellt und dann angefangen in den Schubladen zu rumoren. Als bräuchten sie einen besonders schön gedeckten Tisch für diese 'Nicht-Mahlzeit'.

Vorsichtig tunkte Tim einen Finger in seine Schüssel und probierte das Zeug. Es schmeckte diesmal tatsächlich ein klein wenig besser als heute Mittag. Irgendwie salziger und ein bisschen würziger. Fast wie Kartoffelbrei mit Würstchen, wenn man beides so richtig gut zusammenmatschte.

»Ist das die gleiche Suppe wie heute Mittag, oder eine andere Sorte?«, fragte er, um das Gespräch ein bisschen von Michaels Kinderzimmer-Fiasko wegzuführen.

»Nee… Hab für das Abendessen eine komplett neue Tüte aufgemacht«, antwortete Paul und fischte etwas aus dem Mülleimer unter der Spüle heraus.

»Hier steht: 'Köstliches Frikadellenragout an Kartoffelstampf mit Erbsen und Möhren - Feinschmecker Edition'.«

»Oh, hat der Vier-Sterne-Koch sich wieder einmal selbst übertroffen?«

Die Stimme hinter ihnen ließ Tim und Michael erschrocken zusammenzucken. Und beide brauchten sie eine ganze Weile, um zu realisieren, dass die Person, die da im Türrahmen stand, tatsächlich die kühle, wortkarge Frau sein musste, die sie hierhergebracht hatte. Von ihrem strengen 'Jawoll-Frau-Oberst' - Look war jetzt überhaupt nichts übriggeblieben. In Jeans, lässigem T-Shirt und Turnschuhen wirkte sie glatt zehn Jahre jünger. Ihre Haare, nun nicht mehr zum strengen Dutt gebändigt, umrankten mit wilden roten Locken ein Gesicht, das jetzt, wo Tim sie zum ersten Mal lächeln sah, richtig hübsch wirkte.

Ihr Mann erwiderte das Lächeln, hob die Tüte wie einen Siegespokal mit beiden Händen in die Höhe und sagte in dramatischem Tonfall: »Sehet… Ich habe Suppe gemacht!«

Danach verbeugte er sich überschwänglich und der kleine Jakob klatschte begeistert in die Hände.

»Papa Suppe macht!«, rief er fröhlich, kletterte auf sein Stühlchen und versuchte, sich sein Lätzchen selbst anzuziehen. Tim, der direkt neben ihm saß und der den kleinen Kerl jetzt schon voll und ganz ins Herz geschlossen hatte, sprang sofort auf und half ihm dabei.

»Das Zeug scheint ja hier 'ne Art Nationalgericht zu sein, oder?«, fragte Michael vorsichtig. »Ich meine… in den zwei Tagen, als wir in der äh… Kantine… waren, gab es das auch jeden Tag. Da dachte ich noch, das wäre irgendwie nur speziell für 'Gefangene' oder 'Befreite' oder 'Zeugen' oder was auch immer wir hier eigentlich für eine Rolle haben.«

»Quarantäne heißt das«, sagte Jakobs Vater, während er sich hinsetzte und Jakob den Löffel wegnahm, mit dem er bereits fröhlich in der Suppe herumpatschte. »Ihr wart nicht in 'der Kantine' sondern in 'Quarantäne'. Das bedeutet…«