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Die Debatte zur Frage der Integration von Muslimen in Europa spaltet die Gesellschaft. Sehen seine Kritiker den Islam als Bedrohung des Abendlandes an, heißen ihn Multikulti-Verfechter bedenkenlos willkommen. Klemens Ludwig sucht einen Platz zwischen den Fronten und nach praktikablen Lösungen für ein friedliches Miteinander. Ausgehend von den Schattenseiten von Christentum und Islam und unterfüttert mit zahlreichen Beispielen, fordert er von führenden Vertretern des Islam, kritische Selbstreflexion zu betreiben anstatt sich nur als Opfer abendländischer Arroganz darzustellen. Und vom Abendland fordert er, selbstbewusst die Werte der Aufklärung zu verteidigen. Seine Vision: Ein aufgeklärter, emanzipierter Islam als gleichberechtigter Teil der europäischen Gesellschaft.
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Seitenzahl: 329
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© für die Originalausgabe und das eBook: 2019 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart
Umschlagmotiv: depositphotos
eBook-Produktion: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
ISBN 978-3-7844-8342-9
Dank
Für sachkundige Begleitung, anregende Diskussionen, wichtige Hinweise und Korrekturen bedanke ich mich herzlich bei Janet Abraham, Abdulmesih BarAbraham, Ralf Eilers, Nikolaus Holz, Dorothee Kauer, Gaby Marske-Power, Ingrid Schmallenberg, Collin Schubert, Christa Stolle, Sigrid Ullbrich, Wolfgang Wagner, Jeanette Wechsler und Tilman Zülch.
Inhalt
Vorwort von Necla Kelek
Persönliche Vorbemerkung
Der Islam – Opfer abendländischer Arroganz?
1. Tragende Werte? Das Abendland und die islamische Welt
Exkurs: Die Grundlagen der Diskriminierung
2. Wer pflegt die Opferrolle des Islam?
Exkurs: Opfer der US-Politik?
3. Die Motivation hinter der Opferrolle – die zukünftige Gestaltung Europas
Exkurs: Semantische Kreuzzüge
4. Kampf der Kulturen und Krise der Moderne
Exkurs: Die kurze Blüte der Vielfalt
5. »Ja, aber die Kreuzzüge …« – Christen als Opfer islamischer Expansion und Intoleranz
Exkurs: Der erste systematische Völkermord
Epilog: Zurück zu den Werten der Aufklärung
Ausgewählte Literatur
Vorwort
Die Geschichte von Abraham, der bereit ist, auf Gottes Geheiß seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, ist für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam von großer Bedeutung. Ihre Darstellung jedoch ist sehr unterschiedlich.
Gott verlangt im Ersten Buch Mose von Abraham, seinen Sohn zu opfern: »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.« (1. Mose 22,2) Abraham und sein aus der Ehe mit Sara hervorgegangener Sohn Isaak machen sich auf, Gott ein Opfer darzubringen. Isaak weiß nicht, dass er es ist, der geopfert werden soll, und fragt den Vater in aller Unschuld: »Mein Vater! […] Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. […] Und als sie an die Stelle kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete. Da rief ihn der Engel des Herrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines Sohnes nicht verschont um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.«
Die Muslime sehen in dem Sohn, der im Koran, anders als in der Bibel, nicht namentlich genannt wird, Abrahams erstgeborenen Sohn Ismael. Denn Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael, das Kind seiner Konkubine Hagar, die von ihm, zusammen mit ihrem Sohn, verstoßen worden war; »aber Gott«, schreibt die britische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong in ihrem Buch Kleine Geschichte des Islam, »rettete sie und versprach, dass auch Ismael der Stammhalter einer großen Nation, der Araber, werden würde«.
Und so erzählt der Koran die Geschichte des Opfers auch anders (Sure 37, Vers 100–107) und räumt dem Sohn die entscheidende Rolle ein: »Herr! Schenk mir einen von den Rechtschaffenen als Leibeserben. Und wir verkündeten ihm einen braven Jungen. Als er nun soweit herangewachsen war, dass er mit ihm [Anm.: seinem Vater Abraham] den Lauf machen konnte, sagte Abraham: Mein Sohn! Ich sah im Traum, dass ich dich schlachten werde. Überleg jetzt und sag, was du meinst! Er sagte: Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Gott will, finden, dass ich einer von denen bin, die viel aushalten können. Als nun die beiden sich in Gottes Willen ergeben hatten und Abraham seinen Sohn auf die Stirn niedergeworfen hatte, riefen wir ihn an: Abraham! Du hast durch die Bereitschaft zur Schlachtung deines Sohnes den Traum wahr gemacht. Damit soll es sein Bewenden haben. So vergelten wir denen, die fromm sind. Das ist die offensichtliche Prüfung, die wir Abraham auferlegt haben. Und wir lösten ihn mit einem gewaltigen Schlachtopfer aus.«
Während Isaak in der Bibel seine Rolle als Opfer unwissend annimmt, dem Vater vertraut, sich klaglos auf den Altar legt und Abraham damit die Last der Entscheidung zufällt, ist Ismael noch vor seinem Vater bereit, sich dem Tod hinzugeben: »Vater! Tu, was dir befohlen wird.« Während Abraham zweifelt, ob er seinem Traum (!) folgen soll, ist der Sohn (anscheinend) bereit, Gewalt durch den Vater als Gottesvertreter hinzunehmen: »Du wirst, so Gott will, finden, dass ich einer von denen bin, die viel aushalten können.« Er kennt Gottes Wort und besteht – auch um den Preis des eigenen Lebens – darauf, Gott zu gehorchen. Die Frage »Warum?« scheint ihm nicht einmal im Angesicht des Todes denkbar. Seine bedingungslose Bereitschaft zur Unterwerfung nimmt dem anfänglich zögernden Vater die Entscheidung aus der Hand. Der Sohn restituiert das Gesetz, das durch die Zweifel des Vaters – wenn auch nur für einen Moment – infrage gestellt zu werden drohte. Was bis heute Gewalt durch Ältere, besonders durch den Vater an Kindern, legitimiert.
Es ist eine vielschichtige Botschaft, was hier an die Muslime, an die Männer, vermittelt wird. Erstens: Beide, Vater und Sohn, kennen Gottes Wille, denn Gottes Wort ist allgegenwärtig, und Gottes Wort ist Gesetz. Zweitens: Von beiden, vom Vater wie vom Sohn, wird rückhaltlose Unterwerfung erwartet. Zögert der eine, tritt der andere hinzu, um Gottes Willen zu vollstrecken, denn es ist niemandes individuelle Entscheidung, sich Gottes Wort zu fügen oder zu widersetzen. Drittens: Allah befreit nur den Vater, den Älteren, von seiner Pflicht, fordert die Hingabe des Sohnes und setzt sie als selbstverständlich voraus. Die Unterwerfung unter das Gesetz wird von den Muslimen mit dem alljährlichen Opferfest immer wieder aufs Neue bestätigt.
Im Christentum hat Jesus, »Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt« (Johannes 1,29), unser aller Sünden auf sich genommen; Gott hat seinen einzigen Sohn geopfert, auch ein Tieropfer war fortan nicht mehr nötig. Der Koran hingegen stellt Jesu Kreuzigung infrage und bleibt der archaischen Tradition des Opfers verhaftet: »Und wir lösten ihn mit einem gewaltigen Schlachtopfer aus«, so endet die Geschichte von Abrahams Versuchung im Koran.
Für den Islam ist das Blutopfer notwendig geblieben, das immer, so der französische Religionsphilosoph René Girard, »auf Gewalt und gewalttätigem Handeln« beruhe. »Der entscheidende Unterschied ist, dass der biblische Text die Unschuld des Opfers erkennt. In den archaischen Religionen ist das Opfer immer schuldig. Nach Christus können die Menschen unschuldige Opfer nicht mehr töten wie zu Zeiten der archaischen Religion […] Ich würde sogar sagen: Der gesamte Geist unserer religiösen (christlichen) Kultur opponiert gegen das gewaltsame Opfer und eine vermeintlich heilige Gewalt. Wir suchen uns zwar immer noch Sündenböcke, aber wir missbilligen die Praxis zutiefst. Dagegen beruhen archaische Religionen fundamental auf dem System des Sündenbocks – der Opferung Unschuldiger.«[1]
Das Judentum, das Christentum und der Islam berufen sich auf Abraham als den »Vater vieler Völker«. Die hebräische Bibel sieht ihn als Urvater des Volkes Israel, im Neuen Testament ist er der geistige Stammvater der Christen, im Koran der leibliche Stammvater und der exemplarische und erste Muslim schlechthin. Und auch wenn sich die großen Buchreligionen auf ihn berufen, reden Juden, Christen und Muslime, wenn sie von Gott oder der Welt sprechen, von unterschiedlichen Dingen. Jede Religion schafft sich durch ihre Erzählung ein eigenes »Symbolsystem, das darauf zielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, in dem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen«.[2] So der Anthropologe Clifford Geertz.
Diese Differenzen müssen benannt werden, wenn Verständigung möglich sein soll, wenn man verstehen will, was den Anderen motiviert und seine Identität ausmacht. Jede wissenschaftliche Hausarbeit beginnt damit, dass die zur Beschreibung verwendeten Begriffe in ihrer Bedeutung definiert werden. In jeder Gesellschaft gibt es ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, eine Sprache, mit deren Hilfe sich die Menschen orientieren. Die Kultur der Gesellschaft ist ein Orientierungssystem. Und dieses Orientierungssystem wird in der deutschen Gesellschaft zunehmend von allen Seiten infrage gestellt oder geleugnet.
Die islamische Umma hat kein Problem mit ihrer Leitkultur, ihrem Welt- und Menschenbild. Es orientiert sich immer noch, mit Ausnahme der Türkei als Republik und säkularer Staat und teilweise auch Tunesien, an den archaischen Überlieferungen der arabischen Halbinsel und passt sich nötigenfalls an. Die globale Umma hat sich zwar im Laufe der Geschichte in eine Vielzahl von Rechtsschulen und Sekten gespalten, das Bild vom Koran und dem Propheten jedoch jeder Reformation, jeder Aufklärung oder Modernisierung entzogen. Wer dies versucht, wird zum Dissidenten.
Ein Leugnen, Verdrängen oder Diffamieren der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen und Defizite führt in eine Sackgasse. Und zwar auch deshalb, weil die verantwortliche Politik und Wissenschaft sich weigern, Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen. Vom Bundespräsidenten bis zu den Grünen, von Migrationsforschern bis zur Integrationsbeauftragten spricht man von der »Vielfalt« der religiösen und ethnischen Besonderheiten, die unser Land bereichert. Diese Vielfalt ist aber nicht die von Menschen, sondern zunehmend von Gruppen – und diese werden unter Opferschutz gestellt. Es ist ein Paradox: Einerseits gelten diese Gruppen als Minderheiten, die vor Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft geschützt sind, andererseits aber werden sie nicht in die Verantwortung genommen. Selbst Nachfragen stehen unter Verdacht; und das ist auch eine Form von Diskriminierung. Wer sein Gegenüber als bedauernswertes Opfer betrachtet, macht es auch zum Mündel, stellt es unter Vormundschaft, die erklärt, was richtig für sie oder ihn ist. Richtig wäre es jedoch, von jeder oder jedem Einzelnen – welcher Hautfarbe, Religion oder Gesinnung auch immer – Verantwortung für sich und die Gesellschaft einzufordern. Denn wer sich selbst nicht traut, kann nicht verlangen, dass andere ihm vertrauen. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« In unserer Gesellschaft gilt der kategorische Imperativ des Philosophen Immanuel Kant als ungeschriebenes Gesetz. Er befreit aus der Opferrolle, weil er nicht nach Schuld, sondern nach Verantwortung fragt. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss diese Verantwortung von seinen Mitgliedern verlangen können – und dies gilt ausnahmslos.
Auch Muslime können sich nicht auf die Opferrolle zurückziehen, ohne diese Rolle historisch und reflektiert aufgearbeitet zu haben. Und dies wäre auch die Voraussetzung für ein verantwortungsbewusstes Miteinander als Bürgerin und Bürger.
Necla Kelek
Anmerkungen
[1] Jesus, unser Sündenbock. René Girard im Gespräch mit Thomas Assheuer, in: Die Zeit, 13/2005
[2] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1997, S. 48
Persönliche Vorbemerkung
Meine erste Begegnung mit dem Islam war von ganz besonderer Art und an einem ganz besonderen Ort. Sie fand nördlich des Polarkreises statt, wo man nicht unbedingt starke islamische Gemeinden vermutet. Es war im August 1977. Ich hatte zwei Jahre zuvor im Sauerland Abitur gemacht und war zu Beginn meines Studiums zur Gesellschaft für bedrohte Völker gestoßen, die mir das Tor zur Welt geöffnet hat.
In jenem August fand in Kiruna im nordschwedischen Lappland – oder Sapmi, wie die Einheimischen sagen – der Weltkongress der indigenen Völker statt (World Council of Indigenous Peoples). Die einheimischen Sami hatten dazu eingeladen. Es war eine wunderbare Welt, die sich mir dort eröffnete, Multikultur im besten Sinne: Delegationen verschiedener nordamerikanischer Indianer hatten sich nach Kiruna aufgemacht, Ketchua und Aymara aus dem Andenhochland, Mapuche, die zu den Opfern der Pinochet-Diktatur in Chile gehörten, australische Aborigenes, Vertreter der polynesischen Urbevölkerung Hawaiis, die ihre Inselkette nicht als 50. Staat der USA betrachten, und natürlich die Sami gaben einen Eindruck von der Vielfalt derer, die von Kolonialismus und Imperialismus weitgehend an den Rand gedrängt worden sind.
Daneben fiel eine Gruppe besonders auf: Ein paar junge schwarze Männer waren aus den USA angereist. Während die meisten Delegierten im engen Austausch miteinander Anteil am Schicksal der anderen nahmen, ging es ihnen darum, Gehör für ihre Anliegen zu finden. Es handelte sich um Angehörige der Black-Muslim-Gemeinschaft, die damals, nicht zuletzt durch den Boxer Muhammad Ali, recht einflussreich war. Schon ein kurzes Gespräch machte deutlich, dass sich bei ihnen alles um das Thema Islam drehte: »Oh, ihr seid aus Deutschland? Wie ist der Islam bei euch verbreitet? Gibt es in Deutschland Moscheen? Wie viele?«
Ich wusste damals wenig über den Islam. In meinem heimatlichen Sauerland gab es weder Moscheen noch islamische Gemeinschaften. Auch der Lehrplan für den Religionsunterricht sah Mohammeds Religion noch nicht vor. Insofern hatte ich weder Kenntnisse noch vorgefasste Meinungen oder Vorurteile gegenüber dem Islam; er war einfach ein unbeschriebenes Blatt für mich. Aber diese Begegnung im August 1977 in Kiruna und die Vehemenz, mit der die Black-Muslim-Vertreter ihre Anliegen vorbrachten, haben mich noch lange beschäftigt. Es war eine Mischung aus Neugierde, Faszination und Befremden.
So wurde ein Aufenthalt im nordschwedischen Sapmi unversehens der Anstoß zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Islam. Inzwischen habe ich zahlreiche islamische Länder bereist, insbesondere in Asien: Indonesien, Malaysia, Bangladesh, der Süden der Philippinen, islamische Regionen Indiens, aber auch die palästinensischen Autonomiegebiete gehörten zu meinen Zielen. In den 1980er-Jahren, lange bevor es in Deutschland den »Tag der offenen Moschee« gab, habe ich in Marawi auf Mindanao erstmals eine Moschee besucht. Und meine erste Publikation zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1993, erschienen in Christliches ABC. Heute und Morgen.
Dies ist kein Buch über den Islam als solchen oder die islamische Welt. Es ist ein Buch über die Rolle des Islam in Europa, der abendländischen Welt. Es reflektiert eine über 40-jährige Beschäftigung mit dieser Religion, und es bleibt nicht auf der Ebene der persönlichen Erfahrung stehen. Es erhebt den Anspruch, Fakten über die Rolle des Islam in der westlichen Welt zu liefern, die verifizierbar und diskutierbar sind, sofern sie unvoreingenommen zur Kenntnis genommen werden. In diesem Sinne lädt es zur Debatte ein.
EinführungDer Islam – Opfer abendländischer Arroganz?
Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches sieht sich Europa noch größeren Herausforderungen gegenüber: Anschläge radikaler Muslime mit Dutzenden, zum Teil über hundert Toten an Orten, an denen Menschen einfach entspannen oder feiern wollen – Flaniermeilen, Theater, Musikfestivals, ein Weihnachtsmarkt –, sind so zahlreich, dass sie bereits zu einer Abstumpfung geführt haben. Politikern und manchen Medien scheint jeder Bezug zum Islam unangenehm zu sein. In der Berichterstattung kommt das Wort »Islam« nur selten vor, allenfalls »Islamismus« – eine Unterscheidung, auf die ich später noch näher eingehen werde. Häufig wird nur noch allgemein von »Terrorismus« gesprochen, ohne auf die Hintergründe einzugehen; so geschehen, als Ende August 2018 ein radikalislamischer Afghane auf dem Amsterdamer Flughafen gezielt auf amerikanische Touristen eingestochen hat. Man stelle sich vor, die Morde der rechtsextremen NSU liefen nur noch unter dem Begriff »Terrorismus«, ohne ihre ausländerfeindliche Motivation zu benennen.
Da die meisten Anschlagsorte der radikalislamischen Terroristen keinerlei politische oder machtsymbolische Bedeutung haben, kann nur ein genereller Hass auf die europäische Gesellschaft der Hintergrund solcher Verbrechen sein, deren Dimension inzwischen jede Form des politisch motivierten Terrorismus in den Schatten stellt. Weitreichende Konsequenzen sind unübersehbar. Kontrollen, die früher nur von Flughäfen bekannt waren, finden heute auf fröhlichen Festivals oder vor großen Kathedralen statt. Jüdische Einrichtungen stehen nicht nur aus Angst vor Neonazis rund um die Uhr unter Bewachung, sogar ein Fußballländerspiel wurde wegen »terroristischer Bedrohung« abgesagt.
Zudem sind die Übergänge zwischen »radikalen Islamisten« und der »Mehrheit der friedlichen Muslime« fließend. Bei einem Anschlag in Barcelona im August 2017 führte die Spur zu einem Imam. Fanatiker haben sich häufig in Moscheen und Koranschulen radikalisiert, die zwar bisweilen unter Beobachtung stehen, aber ihre Verachtung und ihren Hass auf die Gesellschaft, in der sie leben, ungeniert propagieren. Und wenn sich Muslime durch Karikaturen oder Publikationen beleidigt fühlen, werden viele rasch militant.
Die Reaktion zahlreicher muslimischer Verbände oder Vertreter auf diese Anschläge lässt keinerlei Selbstreflexion und Selbstkritik erkennen, wie sie von Europäern im Zusammenhang mit den Schattenseiten ihrer eigenen Geschichte erwartet und von großen Teilen auch praktiziert werden. Ebenso wenig wie jeder Muslim ein potenzieller Terrorist ist, ist jeder Deutsche ein potenzieller Nazi. Dennoch würde die öffentliche Meinung niemals akzeptieren, wenn Deutsche die Verantwortung ihrer Vätergeneration für die Nazi-Barbarei in einer Weise ignorierten, wie die meisten muslimischen Verbände, Imame, Moscheen oder islamischen Staaten die Verantwortung ihrer Religion für den Terror der Gegenwart ignorieren, ja sogar bestreiten.
Keine Frage, die meisten Opfer des Terrors radikaler Muslime sind selbst Muslime, von den Opfern blutiger Bürgerkriege, deren Fronten entlang der verschiedenen Schulen des Islam verlaufen, ganz zu schweigen. Die Konsequenz ist eine Fluchtbewegung von Millionen Menschen aus dem islamischen Kulturraum nach Europa. Sie bringen zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen von religiöser Toleranz, einer offenen Gesellschaft, den Geschlechterrollen und anderen grundlegenden Fragen des Zusammenlebens mit. Über Ursachen, Auswirkungen und Konsequenzen dieser Entwicklung sind viele Abhandlungen verfasst worden. Dem soll keine weitere hinzugefügt werden. Es geht um einen anderen, kaum beachteten Aspekt des Themas, der sich gleichwohl in eine lange Tradition einreiht.
Opfer übernehmen keine Verantwortung
Viele Muslime lassen nicht nur jede Selbstreflexion im Umgang mit den Schattenseiten der eigenen Religion vermissen, sie gehen noch einen Schritt weiter: Sie beanspruchen in der Debatte um Terror, Gewalt, Intoleranz und Rassismus für sich die Opferrolle! Das zeigt sich in den phrasenhaften Reaktionen auf die verheerenden Anschläge: Die Verbände und deren Vertreter sprechen zwar den Opfern und Hinterbliebenen ihr Beileid aus, rücken dann aber sofort die eigene Rolle zurecht: »Das hat mit dem Islam nichts zu tun!« »Nur keinen Generalverdacht!«
»Für die Muslime ist das alles sehr niederschmetternd. Sie haben das Gefühl, dass sie sich rechtfertigen müssen, und fühlen sich unter Druck gesetzt. Sie kritisierten, häufig in einen Topf mit Islamisten geworfen zu werden. Dies empfinden viele von ihnen als ›Schlag ins Gesicht‹«, beklagt der Islamberater der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Hussein Hamdan. »Was wir seit einigen Jahren in Deutschland erleben, ist eine Art Sippenhaft, bei der Muslime für alles, was in den islamischen Ländern passiert, mitverantwortlich gemacht werden«, meint die Islamexpertin Nadjma Yassari am Max-Planck-Institut. »Als Muslim fühlt man sich wie am Nasenring durch die Arena gezogen«, so empfindet es Abdullah Uwe Wagishauser, Vorsitzender der Ahmadiyya-Gemeinde in Deutschland. »Entlastungsantisemitismus auf Kosten der Muslime: Ein erfolgreicher Kampf gegen Antisemitismus funktioniert nur, wenn die Ursachen deutlich gemacht werden und pauschale Verurteilungen von Muslimen vehement vermieden werden«, fordert der Zentralrat der Muslime und sorgt sich weit mehr um das eigene Ansehen als um den Antisemitismus.
Wer sich und seine eigenen Befindlichkeiten auf diese Art ins Zentrum rückt, zeigt keine Bereitschaft, sich mit der mörderischen Ideologie und dem Hass, dem tief sitzenden Antisemitismus und dem antiquierten Frauenbild derer zu befassen, die den gleichen Gott anbeten, die gleichen Gebote befolgen, die gleichen Rituale ausführen. Er entzieht sich jeder Verantwortung und nimmt für sich nur eines in Anspruch: Die Opferrolle.
Selbst als der Fußballstar Mesut Özil für seine demonstrative Solidarität mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 sowie für sein unerwartet schwaches Auftreten während des Turniers kritisiert wurde, war er Opfer. War diese Kritik doch Ausdruck von Rassismus. Auch darauf werde ich später näher eingehen.
So gilt den vermeintlichen Opfern die Fürsprache und Fürsorge zahlreicher wichtiger Repräsentanten der Gesellschaft: »Meine Aufgabe ist es, die übergroße Mehrheit der Muslime in Deutschland vor einem Generalverdacht zu schützen und Gewalt im Namen des Islams zu bekämpfen«, so Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Biedermänner und Brandstifter, sie heizen ungeniert die Stimmung auf. Wie, das können wir insbesondere seit den Übergriffen zu Silvester in Köln beobachten. Die Folgen bekommen v. a. Muslime zu spüren. […] Weil viele der Tatverdächtigen von Köln aus Nordafrika stammen, stehen alle muslimischen Flüchtlinge jetzt unter Generalverdacht« – so verschiebt die Deutsche Welle, die sich mit der Recherche zu den Übergriffen vor ihrer Haustür nicht sonderlich hervorgetan hat, den Schwerpunkt der Berichterstattung. »Ratschläge aus dem politischen Establishment und Forderungen, sich vom Terror zu distanzieren, halte ich für unangemessen. Beides geht davon aus, es gäbe ein Problem speziell mit dem Islam. Die deutsche Politik […] sollte klar und deutlich einem Generalverdacht gegen Muslime entgegentreten«, fordert Christiane Buchholz, Bundestagsabgeordnete der Linken.
»Ist diese Angst vor dem Islam, vor Islamismus und islamistischem Terrorismus unbegründet? Nein, sie ist nicht unbegründet. Sie ist sozial konstruiert und angedockt an etablierte antimuslimische Rassismen, die in der Gesellschaft verankert sind – und die Islam und Islamismus pauschal gleichsetzen«, so der Politikwissenschaftler Andreas Bock, der die Opferrolle damit akademisch herleitet. Nicht Fanatiker, die aus religiös motiviertem Hass Tausende Menschen ermordet haben, sind verantwortlich für die Angst vor dem Islam und seinen radikalen Vertretern, sondern jene Gesellschaft, die davon bedroht wird. Konsequenterweise »belegen« auch zahlreiche wissenschaftliche Studien die Wahrnehmung vom Islam als Opfer; mit fragwürdigen Methoden, wie ich zeigen werde.
Folgende Schlagworte und Thesen bestimmen den öffentlichen Diskurs: »In Deutschland ist Islamfeindlichkeit weitverbreitet«; »Muslime fühlen sich unter Generalverdacht«; »ARD- und ZDF-Programm stärkt Islam-Angst«; »Kampf dem Islam?«; »Feindbild Moslem«; »Feindbild Islam«; »Islamfeindlichkeit ist die gegenwärtig am meisten verbreitete Form von Rassismus.« »Wieder einmal stehen wir deutschen Muslime da wie Idioten.« »Früher waren es die Juden, heute sind es die Muslime.« »In der Summe ist ein ganz erheblicher Teil der in Deutschland lebenden Muslime davon überzeugt, dass die Gemeinschaft der Muslime benachteiligt und schlecht behandelt wird.«
Bemerkenswert an der Debatte ist, dass viele von denen, die vehement vor einer pauschalen Verurteilung des Islam warnen, hemmungslos pauschalieren, wenn es gegen »den Westen« oder »uns« geht. Ein Beispiel ist die Einschätzung des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten und Medien-Managers Jürgen Todenhöfer: »Ist es wirklich erstaunlich, dass Extremisten immer mehr Zulauf bekommen? Dass einige Menschen irgendwann zurückschlagen, wenn ihre Familien wieder und wieder von unseren Vernichtungsmaschinen niedergewalzt werden? […] Wie soll die muslimische Welt an unsere Werte Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat glauben, wenn sie von uns nur Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung erlebt?«[3] Er schreibt wirklich »nur«, und man fragt sich, was Millionen Menschen aus dem islamischen Kulturkreis bewegt, bei denjenigen Zuflucht zu suchen, von denen sie »nur Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung« erfahren haben, statt bei ihren Glaubensbrüdern in Saudi-Arabien, Katar, Kuwait oder anderen arabischen Staaten, die zu den reichsten der Erde gehören.
Oder der Kommentar der Publizistin Khola Maryam Hübsch: »Jede kopftuchtragende Frau erlebt alltäglich Angriffe. Erlebt ein Kippaträger dasselbe, schreit das ganze Land. Das ist inkonsequent.« Jede? Alltäglich? Nein, das stammt nicht von einer muslimischen Plattform, sondern aus der Zeit.[4] Zwar schreibt sie weiter: »Wir wollen uns nicht als Opfer inszenieren, schließlich gibt es auch muslimische Rassisten«, doch was sonst ist eine solche Pauschalierung, die in seriösen Medien von Nicht-Muslimen kaum akzeptiert würde? Eine geschickte Rhetorik ohnehin, sich zaghaft von dem zu distanzieren, was man vehement vermitteln will: »Ich will dazu ja nichts sagen, aber …«
Eine besonders perfide Form des muslimischen Opferstatus ist die Gleichsetzung von Juden und Muslimen. Ein Beispiel von vielen: »Judenhass oder Islamophobie, um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen, sind altbekannte Phänomene unser abendländischen Geschichte mit den bekannten verheerenden Folgen«, behauptet der Generalsekretär der renommierten Weltethos-Stiftung in Tübingen, Stephan Schlensog. Eine solche Verniedlichung des Holocaust steht der Behauptung Alexander Gaulands, die Nazi-Barbarei sei nur ein »Vogelschiss in der deutschen Geschichte« in nichts nach; sie hat nur keinerlei öffentliche Empörung erregt.
Wer dagegen die Opferrolle der Muslime infrage stellt, wird schnell als »Rassist«, »Rechtsradikaler« oder zumindest als »Populist« gebrandmarkt, der antiislamische Ressentiments und »Islamophobie« schüre; um ein paar Klischees der aktuellen Debatte aufzugreifen.
Ein nüchterner Blick auf die historischen Fakten verdeutlicht, dass die Zuschreibung der Opferrolle für die Muslime in keiner Weise gerechtfertigt ist. Wer die christlich-islamische Geschichte näher betrachtet, wird die Entdeckung machen, dass muslimische Eroberer von Beginn der islamischen Expansion im 7. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert in einem gigantischen Ausmaß christliche Reiche, Kulturgüter und heilige Orte zerstört haben. Das Wüten des Islamischen Staats (IS) gegen alle vor- und nicht-islamischen Kulturstätten und »Ungläubigen« war nur der bislang letzte Akt dieser Tragödie. Auch viele Angehörige anderer Religionen – wie Buddhisten, Hinduisten, Manichäisten, Parsen, Zarathustra-Anhänger, Baha’i etc. – wurden im Lauf der Geschichte Opfer islamischer Intoleranz; zum Teil bis zur drohenden Ausrottung, wie die Parsen, deren letzte Überlebende in Indien Zuflucht gefunden haben, oder die Baha’i, denen das häufig gescholtene Israel die wichtigste Heimstätte bietet.
Die weitverbreitete Wahrnehmung ist jedoch eine ganz andere: Muslime seien immer wieder Opfer christlicher Intoleranz geworden. Dabei genügt ein später noch ausführlich behandeltes Stichwort – »die Kreuzzüge« –, und nahezu alle Christen versinken vor Scham im Boden. Der Auslöser dieser Barbarei wird dabei allerdings weitgehend ausgeblendet: Die radikalislamischen Seldschuken hatten nach ihrer Eroberung Palästinas 1073 den Christen verboten, ihre heiligen Stätten zu besuchen. Man stelle sich vor, eine fremde Großmacht unterwirft Saudi-Arabien und verbietet den Muslimen, Mekka und Medina zu besuchen …
Dabei soll nicht bestritten werden, dass es Regionen gibt, in denen Muslime tatsächlich Opfer von Intoleranz, staatlicher Gewalt, Vertreibung, teilweise gar Massakrierung sind. Dazu zählt das Schicksal der Uiguren und neuerdings auch der Hui in China, der Rohingyas in Myanmar und, mit Abstrichen, der Patani im Süden von Thailand. Sie alle benötigen internationale Solidarität. Auch in Deutschland gibt es eine wachsende Zahl von Übergriffen gegen islamische Einrichtungen, sodass das Bundesinnenministerium Islamfeindlichkeit seit 2017 als eigene Rubrik der »politisch motivierten Kriminalität« erfasst.
Dieses Buch will keine Verbrechen gegeneinander aufrechnen, auch nicht relativieren und bagatellisieren. Es möchte den Blick für die Wahrnehmung des Islam schärfen; seine Selbstwahrnehmung und seine Selbstinszenierung. Wer sich als Opfer wahrnimmt und inszeniert, entzieht sich jeder Verantwortung. Insofern sind die Opferrolle sowie die reflexartige Abwehrhaltung der allermeisten Muslime gegenüber dem Terror ihrer radikalen Glaubensbrüder zwei Seiten der gleichen Medaille.
Abkehr von der Aufklärung
Es gibt keinen Zweifel, die Geschichte Europas und des sogenannten christlichen Abendlandes ist eine Geschichte von grauenhaften Verbrechen, von Glaubensterror und -kriegen, von Intoleranz und Verachtung anderer Kulturen, die ihren Höhepunkt in der Barbarei der Nationalsozialisten findet. Das aber ist nicht alles. Renaissance, Aufklärung, Frauen- und Arbeiterbewegung haben immer wieder auch andere Akzente gesetzt und schließlich etwas Besonderes postuliert: Ein Individuum, das mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, die sich nicht durch die Barmherzigkeit eines Gottes oder die Großzügigkeit eines Souveräns legitimieren, sondern allein durch seine Existenz. Das ist radikaler Humanismus im besten Sinn, der Spiritualität und Gottesbezug nicht ausschließt, sie aber nicht benötigt, um grundlegende Menschenrechte zu legitimieren.
Diese Werte sind zwingend globaler, universeller Natur. Zu behaupten, dieser Grundsatz sei heute in Gefahr, bagatellisiert die weltweite Situation. Dieser Grundsatz ist bereits aufgegeben worden! Und zwar vor allem von denen, die sich so vehement darauf berufen: Nahezu alle politischen Gruppierungen und Personen des öffentlichen Lebens treten dafür ein, dass Muslime in Deutschland und Europa durch den Bau von Moscheen und Koranschulen, durch die Errichtung von universitären Fakultäten, durch die Entsendung von Imamen aus islamischen Ländern etc. optimale Bedingungen vorfinden, ihren Glauben leben zu können. Das ist das Wesen der Religionsfreiheit.
Gleichzeitig nehmen dieselben Persönlichkeiten achselzuckend zur Kenntnis, dass den letzten Christen im Nahen Osten jeder Boden entzogen wird; und das nicht nur durch die Radikalen des Islamischen Staates. Während die Türkei Jahr für Jahr über die DITIB bis zu 900 Imame nach Deutschland entsendet, damit die von der Regierung in Ankara vorgegebene Richtung des Islam gewährleistet bleibt, verweigert Staatspräsident Erdogan den letzten Christen in einem Land mit einer fast 2000-jährigen christlichen Tradition jede Möglichkeit, selbige zu bewahren – ohne dass jemand im »christlichen« Europa daran wirklich ernsthaft Anstoß nähme.
Damit haben Politiker, Kirchenvertreter, Wissenschaftler, Intellektuelle, Publizisten und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine Abkehr von den Idealen der Aufklärung vollzogen. Deren Forderung war es gerade, dass die grundlegenden Menschenrechte nicht von der Großzügigkeit des Souveräns abhängen, sondern universelle Geltung besitzen – und genau diese Universalität der Werte ist im christlich-islamischen Miteinander nicht gewährleistet. Eine wesentliche Ursache dafür ist die Wahrnehmung des Islam als Opfer. Wer Opfer ist, ist im Recht und kann für seine Missetaten nicht verantwortlich gemacht werden. Diese Opferrolle zurückzuweisen und die Muslime in die Verantwortung für die Schattenseiten ihrer Glaubensgemeinschaft zu nehmen, bedeutet auch, die universellen Werte der Aufklärung gegen diejenigen zu verteidigen, die zum Prinzip zurückgekehrt sind, dass Toleranz von der Generosität des Souveräns abhängt.
Christen und Muslime stellen etwa die Hälfte der Weltbevölkerung. Beide besitzen einen ausgeprägten Missionsanspruch. Ihr Umgang miteinander ist für die globale Entwicklung von großer Bedeutung, und für eine friedliche Koexistenz ist ein schonungsloser Blick auf die gemeinsame Geschichte unverzichtbar. Die Selbstinszenierung des Islam als Opfer ist in keiner Weise gerechtfertigt. Der Abschied von der Opferrolle ist gleichzeitig auch ein wichtiger Schritt zu einer umfassenden Emanzipation der islamischen Gesellschaften.
Ich lade ausdrücklich zu einem kontroversen Diskurs über das Buch und meine Thesen ein; einem Diskurs, der sich allein an den Inhalten orientiert und nicht reflexartig mit Totschlagargumenten wie »Populismus« oder »Islamophobie« jede Auseinandersetzung im Keim erstickt.
Anmerkungen
[3] Todenhöfer, Warum tötest du, Zaid?, S. 177
[4] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/diskriminierung-islamfeindlichkeit-antisemitismus-kopftuch-kippa, 20.04.2018
Kapitel 1Tragende Werte? Das Abendland und die islamische Welt
Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Miteinander verschiedener Kulturen ist kontrovers, heftig und droht bisweilen, die eigene Basis, die eigenen Errungenschaften, aus dem Auge zu verlieren. Wer von »Werten« redet, macht sich schnell verdächtig, ein Reaktionär zu sein, ein Ewiggestriger, an dem die Herausforderungen einer globalisierten Welt vorübergegangen sind oder der davon so verunsichert ist, dass er sich in die Wagenburg der eigenen Tradition zurückzieht. Wer gar von einer »Leitkultur« spricht, muss damit rechnen, in die rassistische oder sogar braune, völkische Ecke gedrängt zu werden. Das sind keine Auswüchse einer lebhaften Debatte, es sind weitverbreitete Überzeugungen von öffentlichen Meinungsführern.
Dabei wird pikanterweise häufig übersehen, dass die Debatte über Leitkultur nicht von konservativen Politikern angestoßen wurde, sondern von einem arabisch-islamischen Migranten, Bassam Tibi. Der polyglotte emeritierte Politologieprofessor, der aus einer alten syrisch-islamischen Gelehrtenfamilie stammt, wusste, was er tat: »Mit der Debatte über Leitkultur wurde eine lange überfällige Diskussion über eine bisher tabuisierte Thematik entfacht, die das Land braucht. Die Kritik an der Wertebeliebigkeit der multikulturellen Gesellschaft ist der Hintergrund des von mir geprägten Begriffs der Leitkultur als konsensueller Werteorientierung.«[5] Tibi forderte in dem Zusammenhang eine »kulturelle Moderne«, deren Basis Vernunft, Säkularisierung, Demokratie, Pluralismus und Toleranz sein sollten.
Die Reaktionen auf seine Initiative waren nicht gerade ermutigend: »Wie bei anderen Debatten, so auch bei diesem Thema, holten die Kontrahenten von links und rechts ihre Keulen, mit denen sie ihre Gegner k. o. schlagen wollten, heraus, ohne auf die Inhalte des Begriffs ›Leitkultur‹ einzugehen und seine Bedeutung für die Integration zu erkennen.«[6] Dabei verteidigt Bassam Tibi die grundlegenden Werte gegen Bedrohung von allen Seiten: »Wenn es deutsche Feinde der offenen Gesellschaft gibt, sollen wir sie vermehren mit Feinden der offenen Gesellschaft aus dem Ausland? Als ehemaliger Ausländer sage ich: ›Wer die Grundwerte nicht akzeptiert, soll gehen.‹«[7]
Zahlreiche weitere Stimmen von Migranten treten entschieden für eine europäische Leitkultur der Toleranz und Offenheit ein: »Der Begriff Leitkultur erzeugt bei vielen Menschen eine extreme, fast aggressive Abwehrhaltung, als sei er ein Angriff auf ihre politisch korrekten Überzeugungen von Liberalität und Toleranz. Ich kann mir diese Überreaktion teilweise erklären, wirklich verstehen kann ich sie nicht. Denn wenn wir über Leitkultur sprechen, sprechen wir über Werte, diskutieren wir über Werte. Es geht dabei um das Entdecken gemeinsamer, transkultureller Werte, um das Gegenteil einer intoleranten, antiliberalen, alles Fremde und anderen ausgrenzenden Blut-und-Boden-Ideologie. […] Wir brauchen eine europäische Leitkultur, an der sich nach Europa zugewanderte, eingewanderte Menschen orientieren können und müssen«,[8] fordert die aus der Türkei stammende Rechtsanwältin, Autorin und liberale Imamin Seyran Ates, die sich selbst gern als »Deutschländerin« bezeichnet.
Während Begriffe wie »Werte« und »Leitkultur« Abwehr erzeugen, erklären Politiker des gesamten Parteienspektrums vor allem seit der großen Migrationsbewegung von 2015 geradezu gebetsmühlenartig, Migranten hätten selbstverständlich das Grundgesetz zu akzeptieren. Doch was bietet es anderes als Werte und Leitkultur? Die Frage muss erlaubt sein, ob Werte an sich etwas Reaktionäres, Rückwärtsgewandtes sind, das abzulehnen ist, weil es keinen Raum für Vielfalt und Toleranz lässt? Oder ob sich die Vorbehalte speziell gegen die Werte und Traditionen der abendländischen Welt richten?
Doch was ist eigentlich das Abendland? Der französische Philosoph Roger-Pol Droit stellt dafür zahlreiche Möglichkeiten zur Disposition: »Ist es ein Ort, eine Region? Europa oder Amerika? Sind es beide? Oder nur die reichen Staaten? Handelt es sich um einen historischen Zeitabschnitt? Oder nur um ein Wirtschaftssystem? Sind es ethische Grundsätze oder ist es eine Religion? Ein Lebensstil oder eine Geisteshaltung? Ist es ein Fluch oder ein Segen?«[9] Oder noch etwas ganz anderes, nämlich »schon im 18. Jahrhundert ein antiaufklärerischer Kampfbegriff«?[10]
Droit nimmt die Herausforderung an und bestimmt das Abendland. Als Ausgangspunkt dafür ortet er Athen und das antike Griechenland als den ersten »Grenzmeridian«: »Im Osten trafen die Griechen auf die Perser, den heutigen Iran, die Küste von Kleinasien, die am Mittelmeer gelegenen Gebiete der heutigen Türkei und jenseits des Schwarzen Meeres auf die Ausläufer des Kaukasus und Zentralasiens. Diese Region war für sie das ›Morgenland‹. Im Westen, auf der Seite, die bald ›Abendland‹ bezeichnet wurde, befinden sich Italien, Sizilien, Spanien, Gallien, alle Länder, die Griechenland von der anderen Seite des Mittelmeers trennen und die darüber hinaus das Mittelmeer vom Atlantik trennen.«[11]
Doch »Abendland« ist weit mehr als ein geografischer Begriff. Erst Religion, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und die gesellschaftliche Ordnung charakterisieren den Begriff in seiner Vielfalt. Droit, ein entschiedener Gegner jeder Form von Totalitarismus, bringt seine Definition auf den Punkt, wenn er das Abendland heute als eine »grenzüberschreitende Idee von einer Modernität in konstanter Entwicklung« bezeichnet, »in dem politische und religiöse Macht getrennt sind, in dem grundlegende Freiheiten garantiert und die Gleichheit der Geschlechter beschlossen ist, in dem die Demokratie nicht nur ein Wort ist. […] Dieses Abendland ist kein Land, und auch keine Zivilisation, sondern eine Geisteshaltung – eine, in der der Geist, im Gegensatz zur Sonne, es ablehnt zu ruhen.«[12]
Bei allen Schattenseiten, auf die später noch eingegangen wird, hat die abendländische Kultur in dem Raum zwischen Mittelmeer, Atlantik und Ostsee grundlegenden Werten den Weg bereitet, die nicht hoch genug geschätzt werden können und nicht zur Disposition gestellt werden dürfen; auch nicht im Namen der Toleranz. Dazu zählt an erster Stelle die Bedeutung des Individuums. Ungeachtet aller Versuche totalitärer Bewegungen – auch im Abendland –, diese Errungenschaften auszuhöhlen, zieht sich der Kampf um die Bedeutung und Achtung des Individuums wie ein roter Faden durch 2500 Jahre abendländische Geschichte. Daraus resultieren Werte wie persönliche und politische Freiheit, Selbstbestimmung, Pluralismus, die Bedeutung von Bildung und Wissenschaft, soziale Verantwortung, Menschenwürde sowie die unveräußerlichen und durch sich selbst legitimierten Menschenrechte. In der uns bekannten Geschichte hat es keine Kultur gegeben, in der dem Individuum eine solche Bedeutung beigemessen wurde.
Die Wurzeln abendländischer Kultur
Manche Historiker datieren die Geburt der abendländischen Kultur noch 1000 Jahre früher als die griechische Antike und betrachten den ägyptischen Pharao Echnaton (Amenophis IV.) im 14. vorchristlichen Jahrhundert als deren Stammvater. Er gilt als Begründer der Monotheismus und beeinflusste damit den jüdischen Stammvater Moses, der den Monotheismus über Ägypten hinaus verbreitete. Heinrich August Winkler, Emeritus der Humboldt-Universität in Berlin, sieht in diesem kulturhistorisch bemerkenswerten Schritt »einen gewaltigen Schub in Richtung Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung«.[13]
Die Betonung des Individuums jedoch hat seine Wurzeln in der antiken griechischen Kultur. Die mündigen Bürger der polis, des alten griechischen Stadtstaats, gestalteten ihre öffentlichen Angelegenheiten selbst; ein Grundsatz, der von der jungen römischen Republik übernommen wurde. Dass es sich bei den »Souveränen« nur um freie Männer gehandelt hat, mag aus heutiger Sicht die Errungenschaften schmälern; es ändert indes nichts an der Grundidee, wonach die Gemeinschaft von ihren Bürgern zu gestalten sei und die Bürger eine eigenständige Rolle gegenüber dem Kollektiv und dessen Autoritäten einnehmen. Feudalismus, Monarchie, Gottesgnadentum und Willkürherrschaft blieben dem Abendland zwar nicht erspart, aber es gab immer auch die entgegengesetzte Bewegung hin zu verbrieften Rechten und individuellen Freiheiten. Der Philosoph Karl Jaspers sieht in der antiken Polis »den Grund allen abendländischen Freiheitsbewusstseins, sowohl in der Wirklichkeit der Freiheit wie des Freiheitsdenkens.«[14] Die Individualität wurde auch philosophisch begründet. Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik den Zusammenhang von Vernunft und Ethos dargelegt, die Möglichkeit des Menschen, autonom zu handeln, für sich zu entscheiden, was ihm als gut erscheint.
Die Antike ist auch in Sachen Rechtssicherheit und Bildung die Basis für viele der heutigen Errungenschaften. Aus der Zeit von Kaiser Justinian I. im frühen 6. Jahrhundert stammt der Gesetzeskodex Corpus Iuris Civilis, der 533 n. Chr. in Kraft trat. Es war die Zeit, als das Römische Reich im Westen den Höhepunkt seiner Macht überschritten hatte und sein kultureller Einfluss mehr und mehr zurückging. Mit dem Gesetzeskodex gelang es dem in Konstantinopel regierenden Kaiser, die alten Rechtstraditionen zusammenzufassen und zu modernisieren. Der Rechtsstatus der Frauen und Sklaven verbesserte sich erheblich.
Der Corpus Iuris Civilis hatte seine Bedeutung nicht nur in der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern er sollte auch zu einem höchst einflussreichen Werk für die Rechtsgeschichte Europas bis in die Gegenwart hinein werden, schuf er doch die Grundlage für die Herausbildung rechtsstaatlicher Traditionen, die zu den wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation gehören. Im Hochmittelalter sorgte insbesondere die Rechtsschule von Bologna für die Rezeption und Verbreitung des Kodexes, der schließlich zur Grundlage der Rechtsprechung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurde. Gerade den nicht-privilegierten Schichten wie der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit gewährte der Kodex weit mehr Rechtssicherheit als in außereuropäischen autoritären Gesellschaften üblich. Um sich gegen Willkürherrschaft und Frevel des Adels zur Wehr zu setzen, beriefen sich die Bauern während ihres großen Aufstands von 1525 auf das alte oder gemeine bzw. das göttliche Recht, eben den Corpus Iuris Civilis. In der Neuzeit beeinflusste der Kodex auch die Rechtspraxis der Preußen, Habsburger und Franzosen, bis sein Geist schließlich Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 fand. Somit stehen die rechtsstaatlichen Strukturen Europas in einer eineinhalb Jahrtausende alten juristischen Tradition, eine weltgeschichtlich vermutlich einmalige Kontinuität.
Ein weiterer Meilenstein im Kampf um Rechtssicherheit, Freiheit und Achtung des Individuums war die englische Magna Charta Libertatum von 1215. Damit zwang der Adel den König, rechtlichen Garantien zuzustimmen, die seine Macht begrenzten und auch nicht-feudalen Gruppen einen Schutz vor Willkür sicherten.
Säkularisierung
Die Renaissance, die ihre Wurzeln in Italien hatte, verhalf dem antiken Wert der Individualität zu neuer Bedeutung und leitete damit eine allmähliche Schwächung der dominierenden Institutionen von Kirche und Kaiser ein. Obwohl sich ihre Vertreter noch als selbstverständliche Teile der Kirche betrachteten, markierte die Renaissance den Anfang vom Ende der uneingeschränkten Herrschaft des Klerus. Die von Deutschland ausgehende Reformation forcierte dessen Entmachtung. Der Augustinermönch Martin Luther (1483–1546) bestritt dem Papst das Recht, über den Nachlass der Sünden verfügen zu können. Dies sei allein der Gnade Gottes vorbehalten, nicht guten Taten oder dem weitverbreiteten Ablasshandel. So bereiteten Renaissance und Reformation auch den Boden für Aufklärung und Säkularisierung.
Die Reformation hatte auch weitreichende politische Folgen, wie Winkler ausführt: »Die Reformation war, theologisch gesehen, eine deutsche Revolution, was die politischen Wirkungen angeht, eine angelsächsische. Ohne die Reformation würde es die Vereinigten Staaten von Amerika vermutlich nicht geben. […] Ohne Luther kein Calvin und ohne die calvinistischen Nonkonformisten nicht das, was man die westliche Demokratie nennt. Calvin war zwar alles andere als ein Demokrat, doch die unterdrückten calvinistischen Minderheiten waren später die ersten, die in Nordamerika die Prinzipien der politischen Gleichberechtigung aller Menschen zum Programm erhoben.«[15]
1689, knapp ein halbes Jahrtausend nach der Magna Charta, wurde ebenfalls in Großbritannien die »Bill of Rights« verabschiedet, ein erstes Grundgesetz, das die Kompetenzen des Königs in Friedenszeiten erheblich einschränkte. Es beeinflusste auch die Verfassung der USA vom 17. September 1787, in die zudem zahlreiche Ideen der europäischen Aufklärung sowie die Gewaltenteilung Eingang fanden. Noch zur Kolonialzeit, am 12. Juni 1776, hatten die nach Unabhängigkeit strebenden Nordamerikaner die »Virginia Declaration of Rights« veröffentlicht, in der die Rechte der Bürger und ihre Beziehungen zur Regierung niedergelegt waren.
Unter dem Eindruck der Epoche des »Sonnenkönigs« Ludwig XIV. (1638–1715), als der Absolutismus seinen Höhepunkt erreicht hatte, entwickelte der Staatstheoretiker und Antimonarchist Charles de Secondat Montesquieu (1689–1755) seine modernen Staatstheorien. Interessanterweise nannte er eines seiner frühen Hauptwerke Persische Briefe. Darin machen sich zwei fiktive Europareisende aus Persien Gedanken über »Gott und die Welt«. Montesquieus bedeutendster Verdienst ist die Theorie von der Gewaltenteilung, bis heute die Basis demokratischer Gemeinwesen, in denen Exekutive, Legislative und Judikative unabhängig voneinander agieren und sich gegenseitig kontrollieren.