Die Ordensburg des Wüstenplaneten - Frank Herbert - E-Book

Die Ordensburg des Wüstenplaneten E-Book

Frank Herbert

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Beschreibung

Arrakis, der Wüstenplanet, wurde zerstört. Das, was vom alten Imperium noch übrig war, wurde von den Geehrten Müttern vernichtet. Ihrem endgültigen Sieg über die Galaxis steht nur noch eine Kraft im Weg: Die Schwesternschaft der Bene Gesserit, die einst hinter den Kulissen die genetischen Verflechtungen der Herrscherhäuser kontrolliert hat. Darwi Odrade, die Anführerin der Bene Gesserit, will einen neuen Planten zum Wüstenplaneten machen, um dort Sandwürmer anzusiedeln und Gewürz zu ernten. Gleichzeitig schmiedet sie einen Plan, um ihre Gegnerinnen auszuschalten. Dazu braucht sie die Hilfe eines Mannes – eines außergewöhnlichen Kämpfers, der schon Gottkaiser Paul Muad’Dib gedient hat …

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Nach dem Tod des Gottkaisers Leto II., dem Sohn von Paul Atreides, der eine bizarre Symbiose mit einem Sandwurm eingegangen war, ist das Imperium zerfallen. Milliarden von Menschen mussten ihre Heimatplaneten verlassen und in die Weiten des Weltalls aufbrechen – ein Ereignis, das als »Die Zerstreuung« in die Geschichte eingegangen ist. Über ein Jahrtausend später kehren die ersten Menschen aus der Zerstreuung ins Alte Imperium zurück. Darunter sind auch die Geehrten Matres, die einen Vernichtungsfeldzug gegen die Bene Gesserit führen und dabei sogar Arrakis, den Wüstenplaneten, zerstören. Doch die Bene-Gesserit-Schwestern schmieden einen Plan: Mithilfe eines der Sandwürmer von Arrakis wollen sie ihre Heimatwelt, auf der sich ihre Ordensburg befindet, in einen neuen Wüstenplaneten verwandeln. Es ist ein so atemberaubendes wie riskantes Vorhaben – denn die Geehrten Matres sind ihnen dicht auf den Fersen.

Mit Dune – Der Wüstenplanet schrieb Frank Herbert den berühmtesten und erfolgreichsten Science-Fiction-Roman aller Zeiten. Von David Lynch erstmals verfilmt, lief 2021 und 2024 die spektakuläre Neuverfilmung von Denis Villeneuve in den Kinos. Herbert ließ seinem Roman mehrere Fortsetzungen folgen, in denen er seine Weltenschöpfung auf faszinierende Weise ausbaute.

FRANK HERBERT

DIE ORDENSBURG DES

WÜSTEN

PLANETEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: CHAPTERHOUSE DUNE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Neuausgabe 11/2024 Redaktion: Alexander Martin Copyright © 1985 by Herbert Properties LLC Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von iStockphoto (Nataniil) und Motiven von Shutterstock.com (Ruslan Kokarev, Irina Qiwi) Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25995-2V002

www.diezukunft.de

Die Ordensburg des Wüstenplaneten

Wer die Vergangenheit wiederholen will, muss die Kontrolle darüber haben, was als Geschichte gelehrt wird.

– Bene-Gesserit-Coda

Als das Ghola-Baby aus dem ersten Axolotl-Tank der Bene Gesserit geholt wurde, berief die Mutter Oberin Darwi Odrade eine stille Feier in ihrem privaten Speisezimmer hoch oben in Central ein. Der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen, und die beiden anderen Mitglieder des Rats – Tamalane und Bellonda – zeigten sich ungehalten über ihre Einbestellung, obwohl Odrade das Frühstück von ihrem persönlichen Koch zubereiten ließ.

»Nicht jede Frau hat die Möglichkeit, der Geburt ihres eigenen Vaters beizuwohnen«, scherzte Odrade, als sich die beiden anderen beschwerten, dass sie für eine derlei »alberne Zeitverschwendung« zu viel zu tun hätten.

Nur die alte Tamalane zeigte eine leise Belustigung, während Bellondas fleischiges Gesicht ausdruckslos blieb, was bei ihr oft Verärgerung bedeutete. War es möglich, überlegte Odrade, dass sich Bell ihrer Ablehnung der relativen Opulenz, mit der sich die Mutter Oberin umgab, noch nicht entledigt hatte? Odrades Räume kündeten deutlich von ihrer Position, doch das verwies eher auf ihre Pflichten als darauf, dass sie innerhalb der Schwesternschaft eine herausgehobene Stellung einnahm. Das kleine Speisezimmer erlaubte es ihr, sich während der Mahlzeiten mit ihren Beraterinnen zu treffen.

Bellonda sah sich ungeduldig um, offenbar wollte sie so schnell wie möglich wieder weg. Es war schon viel Mühe auf den erfolglosen Versuch verschwendet worden, ihre harte, abweisende Schale zu durchdringen.

»Es fühlte sich wirklich seltsam an, dieses Baby in den Armen zu halten und zu denken: Das ist mein Vater«, sagte Odrade.

»Ich habe es ja verstanden!« Bellondas Stimme kam tief aus ihrem Bauch, ein Bariton-Rumpeln, das sich anhörte, als würde ihr jedes einzelne Wort Verdauungsbeschwerden bereiten.

Tatsächlich verstand sie Odrades trockenen Witz durchaus. Der alte Baschar Miles Teg war der Vater der Mutter Oberin gewesen. Und Odrade hatte Zellen von ihm (etwa abgeschnittene Fingernägel) gesammelt, um diesen Ghola zu züchten – als Teil eines »Möglichkeitsplans«, sollte es ihnen jemals gelingen, die Tleilaxu-Tanks nachzubauen. Aber Bellonda würde sich eher mit Pauken und Trompeten davonjagen lassen, als Odrade darin zuzustimmen, dass etwas Derartiges für die Schwesternschaft überlebenswichtig war.

»Ich empfinde das zu diesem Zeitpunkt als frivol«, sagte Bellonda. »Diese besessenen Frauen sind hinter uns her, um uns zu vernichten, und du willst feiern!«

Mit einiger Mühe wahrte Odrade einen milden Tonfall. »Wenn die Geehrten Matres uns finden, bevor wir bereit sind, dann womöglich auch deshalb, weil es uns nicht gelungen ist, unsere Moral aufrechtzuerhalten.«

In Bellondas Schweigen und ihrem starren Blick lag eine düstere Anklage: DieseFrauenhabenschonsechzehnunsererPlanetenausgelöscht!

Odrade wusste, dass es falsch war, die sechzehn zerstörten Planeten als Besitz der Bene Gesserit zu betrachten. Die lockere Konföderation planetarer Regierungen, die sich nach der Hungerzeit und der Zerstreuung zusammengefunden hatte, war zwar stark von der Schwesternschaft abhängig, was lebenswichtige Dienstleistungen und verlässliche Kommunikation anging, doch es gab immer noch die anderen Machtblöcke: die MAFEA, die Raumgilde, die Tleilaxu, die Überreste der Priesterschaft des Geteilten Gottes, Hilfstruppen der Fischsprecherinnen und weitere Gruppen von Schismatikern. Der Geteilte Gott hatte der Menschheit ein geteiltes Imperium vermacht – ein Imperium, in dem es nun angesichts der wütenden Attacken der Geehrten Matres aus der Zerstreuung nicht mehr darauf ankam, zu welchem Machtblock man gehörte. Die Bene Gesserit, die an den meisten ihrer Traditionen festhielten, waren das natürliche Hauptziel der Attacken.

Bellondas Gedanken entfernten sich nie allzu weit von der Bedrohung durch die Geehrten Matres. Odrade sah das als Schwäche, und immer mal wieder war sie versucht, Bellonda durch eine andere Schwester zu ersetzen, aber sogar in den Reihen der Bene Gesserit gab es nun unterschiedliche Fraktionen, und es ließ sich nicht abstreiten, dass Bell eine erstklassige Organisatorin war. Das Archiv der Schwesternschaft hatte noch nie so effizient gearbeitet wie unter ihrer Leitung.

Wie so oft gelang es Bellonda auch diesmal, die Aufmerksamkeit der Mutter Oberin auf die Jägerinnen zu lenken, die ihnen unerbittlich auf den Fersen waren – und damit die Atmosphäre des stillen Triumphs, die Odrade an diesem Morgen hatte erzeugen wollen, zu verderben. Sie bemühte sich, an den neuen Ghola zu denken. Teg! Wenn es ihnen gelang, seine ursprünglichen Erinnerungen wiederherzustellen, würde erneut der beste aller Baschars in den Diensten der Schwesternschaft stehen. Ein Mentaten-Baschar! Ein militärisches Genie, dessen Taten schon jetzt der Stoff von Mythen im Alten Imperium waren.

Aber womöglich würde auch Teg sie nicht gegen diese aus der Zerstreuung zurückgekehrten Frauen schützen können.

Welche Götter es auch immer geben mag, ich bete zu ihnen, dass uns die Geehrten Matres nicht finden. Noch nicht!

Teg repräsentierte etliche verstörende Unbekannte und Möglichkeiten. Die Zeit unmittelbar vor seinem Tod während der Zerstörung des Wüstenplaneten war geheimnisumwittert. Er muss auf Gammu etwas getan haben, das den Zorn der Geehrten Matres entfacht hat. Sein selbstmörderisches letztes Gefecht auf dem Wüstenplaneten kann nicht der alleinige Grund für ihre berserkerhafte Attacke gewesen sein. Es gab viele Gerüchte und Informationsbruchstücke über seine Tage auf Gammu. Er bewegte sich so schnell, dass ihm das menschliche Auge nicht folgen konnte! War das wirklich so gewesen? Handelte es sich um eine weitere unerwartete Eigenschaft der Atreides-Gene? Eine Mutation? Oder war es nur ein Teil des Teg-Mythos? Was immer es gewesen war, die Schwesternschaft musste es so schnell wie möglich herausfinden.

Eine Akoluthin brachte das Frühstück, und die drei Schwestern aßen es rasch – als müssten sie diese Unterbrechung schnell hinter sich bringen, weil jede Zeitverschwendung gefährlich war. Dann, als die beiden anderen gegangen waren, spürte Odrade das Nachbeben von Bellondas unausgesprochenen Ängsten.

Und von meinen Ängsten.

Sie erhob sich und trat an das breite Fenster, das über die niedrigen Dächer hinweg eine Aussicht auf einen Teil des Rings aus Obstgärten und Weiden bot, der Central umgab. Es war später Frühling, und schon wuchsen dort draußen die ersten Früchte. Wiedergeburt.EinneuerTegistheutezurWeltgekommen. Doch der Gedanke brachte keine Euphorie mit sich. Normalerweise fand sie die Aussicht hier belebend, aber nicht heute. WoliegenmeinewirklichenStärken?AufwelcheTatsachenkannichmichstützen? Die Ressourcen, die einer Mutter Oberin zur Verfügung standen, waren beträchtlich: die tiefe Loyalität jener, die ihr dienten; ein militärischer Arm, befehligt von einem von Miles Teg ausgebildeten Baschar (der derzeit mit einem Großteil der Truppen den weit entfernten Schulplaneten Lampadas bewachte); Handwerker und Techniker, Spione und Agenten überall im Alten Imperium; unzählige Arbeiter, die darauf hofften, dass die Schwesternschaft sie vor den Geehrten Matres beschützen würde; und all die Ehrwürdigen Mütter mit ihren Erweiterten Erinnerungen, die bis an den Anbeginn des Lebens zurückreichten. Ohne falschen Stolz wusste Odrade, dass sie den Höhepunkt der stärksten Eigenschaften einer Ehrwürdigen Mutter repräsentierte. Wenn ihre persönlichen Erinnerungen eine bestimmte Information nicht enthielten, konnten jene, mit denen sie sich umgab, diese Lücke füllen. Darüber hinaus verfügte sie über maschinengespeichertes Datenmaterial – auch wenn sie sich eingestehen musste, dass sie diesen Daten gegenüber grundsätzlich misstrauisch war.

Odrade war versucht, in den anderen Leben zu stöbern, die sie als zweites Gedächtnis in sich trug – die tieferen Schichten ihres Bewusstseins. Vielleicht würde sie ja in den Erfahrungen der anderen Ehrwürdigen Mütter Lösungen für ihre Notlage finden. Doch das war gefährlich! Man konnte sich darin verlieren, fasziniert von den vielfältigen Variationen des Menschlichen. Es war besser, die Erweiterten Erinnerungen in einem Gleichgewicht zu halten, wo sie entweder bei Bedarf zur Verfügung standen oder sich aus Notwendigkeit einmischten. Das Bewusstsein – das war der Dreh- und Angelpunkt. Es bewahrte ihre Identität.

Was das anging, war Duncan Idahos merkwürdige Mentatenmetapher hilfreich. Selbst-Bewusstsein: einander zugewandte Spiegel, die durch das Universum ziehen und dabei neue Bilder sammeln. Endlose Reflexivität. Das Unendliche als Endliches betrachtet – die Entsprechung des Bewusstseins, das die sinnesbegabten Teile der Unendlichkeit trägt. Nie waren Worte Odrades wortlosem Erfahrungswissen nähergekommen. Duncan nannte es »spezialisierte Komplexität«. »Wir kommen zusammen, erstellen Ordnungssysteme und reflektieren sie.« Tatsächlich war es die Sichtweise der Bene Gesserit, dass Menschen Leben waren, das die Evolution erzeugt hatte, um Ordnung herzustellen.

Und was hilft uns das jetzt gegen diese unkontrollierten, mörderischen Frauen, die uns jagen? Welchen Zweig der Evolution stellen sie dar? Ist Evolution nur ein anderes Wort für Gott?

Die anderen Schwestern würden sich über derart »haltlose Spekulationen« bestimmt lustig machen. Und dennoch, in den Erweiterten Erinnerungen mochte es Antworten geben.

Wie verlockend!

Da war diese tiefe Sehnsucht, ihr belagertes Ich in vergangene Identitäten zu projizieren, zu spüren, wie es sich angefühlt hatte, damals zu leben. Doch die unmittelbare Gefahr dieser Sehnsucht ließ Odrade erschauern. Die Erweiterten Erinnerungen lauerten an den Rändern ihrer Wahrnehmung. »So war es!« – »Nein! Doch eher so!« Wie gierig sie waren! Man musste die richtigen Erinnerungen auswählen, die Vergangenheit Schritt für Schritt zum Leben erwecken. Und war nicht genau das der Sinn und Zweck von Bewusstsein, war nicht genau das die Essenz des Lebens? Aus der Vergangenheit auswählen und mit der Gegenwart abgleichen. Die Konsequenzen begreifen. So betrachteten die Bene Gesserit die Geschichte, und die uralten Worte Santayanas hallten in ihren Leben wider: »Jene, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.«

Die Gebäude von Central, der mächtigsten aller Bene-Gesserit-Anlagen, spiegelten diese Haltung wider, wohin Odrade auch blickte. Usiform – das war die beherrschende Idee. Nur wenig an den Arbeitszentren der Bene Gesserit durfte über den Zeitraum der Funktionalität hinaus aus reiner Nostalgie erhalten werden. Die Schwesternschaft benötigte keine Archäologen. Die Ehrwürdigen Mütter selbst waren die Verkörperung der Geschichte.

Langsam – viel langsamer als sonst – spürte Odrade die beruhigende Wirkung der Aussicht aus dem hohen Fenster. Was die Augen ihr meldeten, war die Ordnung der Bene Gesserit. Doch die Geehrten Matres konnten diese Ordnung schon im nächsten Moment vernichten. Die gegenwärtige Situation der Schwesternschaft war schlimmer als alles, was sie unter dem Tyrannen erdulden mussten. Etliche der Entscheidungen, die Odrade fällen musste, waren abscheulich.

Die Bene-Gesserit-Festung auf Palma abschreiben?

Dieser Vorschlag war in Bellondas Morgenbericht enthalten, der auf ihrem Schreibtisch lag. Odrade bewilligte ihn mit einem knappen »Ja«.

Abschreiben – weil ein Angriff der Geehrten Matres unmittelbar bevorsteht und wir die Festung weder verteidigen noch evakuieren können.

Elfhundert Ehrwürdige Mütter, und nur das Schicksal wusste, wie viele Akoluthinnen, Anwärterinnen und andere, die wegen dieses einen Wortes – »Ja« – den Tod oder Schlimmeres erleiden würden. Von all den »gewöhnlichen Leben« im Schatten der Bene Gesserit ganz zu schweigen. Die Last derartiger Entscheidungen erzeugte in Odrade eine ganz neue Art von Erschöpfung. Eine Erschöpfung der Seele? Gab es die Seele überhaupt? Sie verspürte eine tiefe Müdigkeit dort, wohin das Bewusstsein nicht vordrang. Sie war müde, müde, müde.

Sogar Bellonda sah man die Belastung an – und Bell nährte sich von Gewalt. Nur Tamalane schien über all dem zu stehen, aber sie konnte Odrade nichts vormachen. Tam hatte jene Stufe höchster Beobachtungsgabe erklommen, die alle Bene-Gesserit-Schwestern eines Tages erreichten, wenn sie nur lange genug lebten. War man erst einmal so weit, spielte außer Beobachten und Urteilen nichts mehr eine Rolle. Der größte Teil der Urteile wurde nie verkündet, außer als flüchtiges Mienenspiel auf faltigen Gesichtern. Tamalane geizte in diesen Tagen auf fast schon lächerliche Weise mit Worten. »Kauf mehr Nicht-Schiffe.« – »Berichte Sheeana.« – »Sieh die Idaho-Akten durch.« – »Frag Murbella.« Manchmal gab sie auch nur ein Schnauben von sich, als fürchtete sie, ihre eigenen Worte könnten ihr in den Rücken fallen.

Und die ganze Zeit über streiften dort draußen die Jägerinnen umher. Durchkämmten das All nach einem Hinweis auf die Koordinaten von Ordensburg.

In ihren geheimsten Gedanken verglich Odrade die Nicht-Schiffe der Geehrten Matres mit Piraten, die über das unendliche Meer zwischen den Sternen zogen. Sie hatten zwar keine schwarzen Totenkopfflaggen gehisst, aber diese Flaggen waren dennoch da. Und es war nichts Romantisches an ihnen. Tötenundplündern!ImBlutderMenschenReichtümeranhäufen.IhnendieEnergieabsaugenundaufmitBlutgeschmiertenFörderbänderndieeigenenmordendenNicht-Schiffeproduzieren. Aber sie erkannten nicht, dass sie selbst in ihrem Schmiermittel ertrinken würden, wenn sie nicht ihren Kurs änderten. DortdraußeninderZerstreuung,ausderdieGeehrtenMatresstammen,mussesMenschengeben,dievorWutrasen,dieihrLebeneinereinzigenIdeewidmen:siezuzerstören!

Es war ein gefährliches Universum, in dem solche Gedanken frei umherschweifen konnten. Gute Zivilisationen achteten darauf, dass derartige Ideen nicht zu stark wurden. Ja, dass sie nicht einmal geboren wurden. Wenn sie doch auftauchten, durch Zufall oder aufgrund einer Fehlentwicklung, musste man sie schnell umlenken, weil sie dazu neigten, an Bewegungsmoment zu gewinnen. Es verblüffte Odrade, dass die Geehrten Matres das nicht begriffen – oder es sehenden Auges ignorierten.

Tamalane bezeichnete sie als »ausgewachsene Hysterikerinnen«.

»Nein, es ist Xenophobie«, widersprach Bellonda, die die anderen Schwestern immer korrigierte, als würden ihr die Archive einen besseren Zugriff auf die Realität ermöglichen.

Beide haben recht, dachte Odrade. Die Geehrten Matres verhielten sich hysterisch: alle Außenseiter waren der Feind. Die Einzigen, denen sie zu trauen schienen, waren die Männer, die sie sexuell versklavt hatten, und auch dieses Vertrauen war begrenzt. Laut Murbella – unserer einzigen gefangenen Geehrten Matre – überprüften sie unablässig, ob sie diese Männer noch fest im Griff hatten.

»Manchmal eliminieren sie einen von ihnen allein aus gekränkter Eitelkeit, um den anderen eine Lehre zu erteilen.« Das waren Murbellas Worte gewesen, und sie hatten die Frage aufgeworfen: Wollen sie an unserem Beispiel auch jemanden eine Lehre erteilen? »Seht! Das geschieht mit jenen, die es wagen, sich uns zu widersetzen.«

»Ihr habt sie erregt«, hatte Murbella gesagt. »Und wenn sie erst einmal erregt sind, lassen sie nicht von euch ab, bis sie euch zerstört haben.«

Vernichtet die Außenseiter! Außerordentlich direkt. Das ist ihre Schwäche, wir müssen sie nur richtig zu nutzen wissen. Xenophobie – in ein lächerliches Extrem getrieben? Durchaus möglich.

Odrade schlug mit der Faust auf den Tisch, eine bewusste Geste für jene Schwestern, die die Mutter Oberin ständig beobachteten. Dann sagte sie laut in Richtung der allgegenwärtigen Kom-Augen: »Wir werden hier nicht herumsitzen und in unseren Verteidigungsenklaven warten! Wir sind alle so fett wie Bellonda geworden (Soll sie sich doch ärgern!) und bilden uns ein, wir hätten eine unantastbare Gemeinschaft und beständige Strukturen geschaffen.« Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. »Dieser Ort ist eine unserer Schwächen!«

Dann setzte sie sich an den Tisch und dachte über Architektur und Gemeindeplanung nach – ausgerechnet! Aber das war das gute Recht einer Mutter Oberin.

Die Gemeinden der Bene Gesserit wuchsen nur selten nach dem Zufallsprinzip. Auch wenn sie bestehende Anlagen übernahmen, wie etwa die alte Harkonnenfestung auf Gammu, hatten sie ganz spezifische Umbaupläne. Sie integrierten Pneumoröhren, durch die sie kleine Pakete und Nachrichten schicken konnten. Und Lichtbänder und Hartstrahlprojektoren, um verschlüsselte Botschaften zu übermitteln. Sie betrachteten sich als Meisterinnen der abhörsicheren Kommunikation. Wichtigere Nachrichten wurden von Akoluthinnen und Ehrwürdigen Müttern direkt überbracht, die sich eher das Leben genommen hätten, als ihre jeweiligen Vorgesetzten zu verraten.

Dort draußen vor dem Fenster und über die Grenzen des Planeten hinaus konnte Odrade das alles visualisieren: ihr Netzwerk, bis ins letzte Detail organisiert, jede Schwester eine Erweiterung der anderen. Was das Überleben der Bene Gesserit betraf, existierte ein unantastbarer Kern aus Loyalität. Es mochte Abtrünnige geben, manchmal sogar spektakuläre Fälle (wie Lady Jessica, die Großmutter des Tyrannen), aber sie entfernten sich nie allzu weit von der Schwesternschaft. Die allermeisten Rückschläge dieser Art blieben vorübergehend.

All das war ein Muster bei den Bene Gesserit. Also war es eine Schwäche.

Odrade gestand sich ein, dass sie tief in ihrem Inneren Bellondas Ängste teilte. Aber ich will verdammt sein, wenn ich mir davon jegliche Freude am Leben nehmen lasse! Dann hätten die Geehrten Matres genau das bekommen, was sie wollten. »Es sind unsere Stärken, die die Jägerinnen wollen«, sagte sie und blickte zu den Kom-Augen in der Decke auf. Wie Wilde aus Vorzeiten, die die Herzen ihrer Feinde verspeisen. Nun … geben wir ihnen etwas zu essen! Und wenn sie erkennen, dass es unverdaulich ist, wird es zu spät sein.

Mit Ausnahme der speziell auf Akoluthinnen und Anwärterinnen zugeschnittenen vorbereitenden Lehren gab man bei der Schwesternschaft nicht viel auf mahnende Worte, doch Odrade hatte ihre eigene persönliche Regel: »Jemand muss das Pflügen besorgen.« Sie lächelte und beugte sich erfrischt über ihre Arbeit. Dieses Zimmer, diese Schwesternschaft, das alles war ihr Garten, und sie hatte Unkraut zu jäten und eine Saat auszubringen. Und ich muss düngen. Ich darf den Dünger nicht vergessen.

Als ich mich daranmachte, die Menschen auf den Goldenen Pfad zu führen, versprach ich ihnen eine Lektion, die sich ihnen bis auf die Knochen einprägen würde. Ich kenne ein grundlegendes Muster, das die Menschen mit Worten abstreiten und mit ihren Handlungen bestätigen. Sie behaupten, dass sie nach Sicherheit und Ruhe streben – einem Zustand, den sie als Frieden bezeichnen. Doch noch während sie das sagen, säen sie Aufruhr und Gewalt.

– Leto II., der Gottkaiser

Sie nennt mich also Spinnenkönigin!

Die Große Geehrte Matre lehnte sich in ihrem schweren Sessel zurück, der hoch oben auf einem Podest stand. Ein stilles Lachen ließ ihre welke Brust erzittern. Sie weiß, was geschehen wird, wenn ich sie in mein Netz bekomme. Dann sauge ich sie aus. Ja, das werde ich tun. Die Große Geehrte Matre war eine kleine Frau mit einem unauffälligen Gesicht. Ihre Muskeln zuckten nervös, als sie den Blick auf den gelb gekachelten, von Deckenlichtern erhellten Boden des Audienzsaals richtete. Dort lag eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit in Shigadrahtfesseln. Die Gefangene kämpfte nicht gegen ihre Fesseln an. Für solche Zwecke eignete sich Shigadraht hervorragend. Er würde ihr die Arme abtrennen!

Die Große Geehrte Matre mochte den Audienzsaal, einmal wegen seiner Dimensionen, aber auch, weil die Geehrten Matres ihn anderen weggenommen hatten. Er maß dreihundert Quadratmeter und war einmal der Versammlungsraum der Gildennavigatoren hier auf Junction gewesen, jeder Navigator in seinem eigenen gewaltigen Tank. Die Gefangene auf dem gelben Boden wirkte verloren in der Weite des Saals. Dieses schwache Geschöpf hatte zu viel Vergnügen daran zu verraten, wie mich ihre sogenannte Mutter Oberin nennt. Trotzdem war es ein wunderschöner Morgen – getrübt nur dadurch, dass bei diesen Hexen weder Folter noch Gehirnsonden funktionierten. Wie sollte man jemanden foltern, der sich jederzeit entschließen konnte zu sterben? Und es auch tat! Außerdem hatten die Hexen Methoden, mit denen sie den Schmerz unterdrücken konnten. Diese Primitiven waren sehr hintertrieben. Und mit Shere war sie auch vollgepumpt! Ein Körper, der diese Droge enthielt, verfiel nach dem Tod so schnell, dass man ihn nicht mehr wirksam mit Sonden untersuchen konnte.

Die Große Geehrte Matre gab einem ihrer Sekretäre ein Zeichen, worauf der Mann die am Boden liegende Bene Gesserit mit dem Fuß anstieß. Dann, auf ein weiteres Zeichen hin, lockerte er die Shigadrahtfesseln, sodass sich die Ehrwürdige Mutter ein winziges bisschen bewegen konnte.

»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte die Große Geehrte Matre. Ihre Stimme war heiser vom Alter – und von vorgetäuschter Gutherzigkeit.

»Ich werde Sabanda genannt.« Eine klare, junge Stimme, noch unberührt vom Schmerz der Sonden.

»Würdest du gerne zusehen, wie wir ein Männlein gefangen nehmen und versklaven, Sabanda?«

Sabanda wusste, was sie auf diese Frage erwidern sollte. Man hatte sie gewarnt. »Vorher sterbe ich.« Sie sagte das ganz ruhig und blickte dabei in das uralte Gesicht hoch, das die Farbe einer von der Sonne ausgedörrten Wurzel hatte. Diese merkwürdigen orangefarbenen Flecken in den Augen der Greisin. Ein Zeichen von Wut, hatten ihr die Sachwalterinnen gesagt.

Die locker sitzende rot-goldene Robe mit den schwarzen Drachenverzierungen an der offenen Vorderseite und der rote Ganzkörperanzug darunter betonten die dürre Gestalt der Großen Geehrten Matre. Sie verzog keine Miene, während sie einmal mehr dachte: Verdammt seien diese Hexen! »Was hattest du auf dem schmutzigen kleinen Planeten, auf dem wir dich gefangen genommen haben, für eine Aufgabe?«

»Ich habe junge Menschen unterrichtet.«

»Ich fürchte, von euren jungen Menschen haben wir niemandem am Leben gelassen.« Warum lächelt sie? Um mich zu ärgern – darum! »Hast du sie gelehrt, die Hexe Sheeana zu verehren?«

»Warum sollte ich sie lehren, eine Schwester zu verehren? Das würde Sheeana nicht gefallen.«

»Würde? Willst du damit sagen, dass sie wiederauferstanden ist? Und dass du sie kennst?«

»Kennen wir nur die Lebenden?«

Wie klar und furchtlos die Stimme dieser jungen Hexe war! Sie verfügten wirklich über eine bemerkenswerte Selbstkontrolle, doch auch das würde sie nicht retten. Seltsam war allerdings, wie beharrlich sich der Kult der Sheeana hielt. Die Geehrten Matres würden ihn mit Stumpf und Stiel ausrotten müssen – ihn so vernichten, wie sie die Hexen vernichten würden. Die Große Geehrte Matre hob den kleinen Finger der rechten Hand, und ein Sekretär trat mit einem Injektor an die Gefangene heran. Vielleicht würde ja diese neue Droge die Zunge einer Hexe lösen. Vielleicht auch nicht. Es spielte keine Rolle.

Sabandas Lippen zuckten, als der Injektor ihren Nacken berührte. Sekunden später war sie tot. Diener trugen ihre Leiche weg. Sie würden sie an die Futars verfüttern, die sie gefangen hatten. Nicht dass die Futars von irgendeinem Nutzen waren – sie pflanzten sich in Gefangenschaft nicht fort und befolgten nicht einmal die einfachsten Befehle. Sie schmollten, warteten.

»Wo Abrichter?«, fragte manchmal einer von ihnen. Auch andere nutzlose Worte drangen zuweilen aus ihren menschenähnlichen Mündern. Und doch, Futars eigneten sich für gewisse Vergnügungen. Außerdem zeigte ihre Gefangenschaft, dass sie verwundbar waren. Genau wie die Hexen. Wir werden ihr Versteck finden. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Wer das Banale und Gewöhnliche in einem neuen Licht erscheinen lässt, kann damit andere erschüttern. Wir wollen nicht, dass sich unsere Vorstellungen ändern. Wir fühlen uns dadurch bedroht. »Die wichtigen Dinge weiß ich schon!«, sagen wir. Dann kommt der Wandler und wirft unsere alten Ideen über den Haufen.

– Der Zensufi-Meister

Miles Teg spielte gerne in den Obstgärten, die Central umgaben. Odrade hatte ihn das erste Mal dorthin mitgenommen, als er noch ein Kleinkind war. Das war eine seiner frühesten Erinnerungen: Er war kaum mehr als zwei Jahre alt und wusste bereits, dass er ein Ghola war, auch wenn er die volle Bedeutung des Wortes nicht erfasste.

»Du bist ein besonderes Kind«, sagte Odrade. »Wir haben dich aus den Zellen eines sehr alten Mannes erschaffen.«

Obwohl er ein kluges Kind war und Odrades Worte einen leicht verstörenden Unterton hatten, interessierte sich Teg damals mehr dafür, durch das hohe Sommergras zwischen den Bäumen zu laufen. Zu diesem ersten Tag in den Obstgärten kamen weitere hinzu, und er sammelte Eindrücke von Odrade und den anderen Schwestern, die ihn lehrten. Schon früh begriff er, dass die Mutter Oberin ihre gemeinsamen Ausflüge genauso schätzte wie er.

Als er vier war, sagte er eines Nachmittags zu ihr: »Der Frühling ist meine Lieblingszeit.«

»Meine auch.«

Als er sieben war und bereits die mentale Brillanz sowie das holografische Gedächtnis zeigte – jene Merkmale, die die Schwesternschaft veranlasst hatten, seiner vorangegangenen Inkarnation eine so große Verantwortung zu übertragen –, sah er in den Obstgärten plötzlich einen Ort, der etwas tief in seinem Inneren anrührte, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er Erinnerungen in sich trug, zu denen er keinen Zugang hatte. Zutiefst verstört wandte er sich Odrade zu, die im Gegenlicht der Nachmittagssonne stand, und sagte: »Es gibt Dinge, an die ich mich nicht erinnern kann.«

»Eines Tages wirst du dich erinnern«, erwiderte sie.

Er konnte ihr Gesicht im hellen Licht nicht sehen, sodass ihre Worte aus einem tiefen Schatten kamen. Sie hätten ebenso von ihm selbst wie von Odrade kommen können.

Damals begann er, das Leben von Baschar Miles Teg zu studieren, aus dessen Zellen er hervorgegangen war. Odrade hatte ihm einige Aspekte des Vorgangs erklärt und dabei ihre Fingernägel in die Höhe gehalten. »Ich habe winzige Hautpartikel von seinem Hals entnommen. Diese wenigen Zellen enthielten alles, was wir brauchten, um dich ins Leben zu holen.«

In jenem Jahr hatten die Obstgärten eine besonders intensive Qualität. Die Früchte waren größer und schwerer und die Bienen betriebsamer, beinahe hektisch.

»Das liegt daran, dass die Wüste im Süden größer wird«, sagte Odrade. Sie hielt seine Hand, während sie unter schwer beladenen Apfelbäumen durch einen taufrischen Morgen schlenderten.

Teg sah zwischen den Bäumen hindurch nach Süden, und für einen Moment zog ihn das vom Schatten der Blätter gesprenkelte Sonnenlicht in den Bann. Er hatte sich mit der Wüste beschäftigt und meinte zu spüren, wie sie auf diesem Ort lastete.

»Bäume fühlen es, wenn ihr Ende naht«, sagte Odrade. »Das Leben verwendet mehr Energie auf die Fortpflanzung, wenn es bedroht ist.«

Teg wandte sich ihr zu. »Die Luft ist sehr trocken. Das muss die Wüste sein.«

»Ist dir aufgefallen, dass einige Blätter an den Rändern braun und gekräuselt sind? Wir mussten die Haine dieses Jahr stark wässern.«

Teg mochte es, dass Odrade fast nie von oben herab mit ihm redete. Meistens war er für sie einfach nur ein Gesprächspartner. Er sah Blätter mit braunen, gekräuselten Rändern. Das Werk der Wüste.

In der Mitte des Obstgartens angekommen, hörten sie für eine Weile schweigend den Vögeln und Insekten zu. Bienen, die im Klee einer nahe gelegenen Wiese zugange waren, näherten sich, um Teg in Augenschein zu nehmen, aber wie alle, die sich auf Ordensburg frei bewegten, war er mit Pheromonen markiert. Die Bienen summten an ihm vorbei, erkannten seine Identifikation und wandten sich wieder den Blüten zu.

Äpfel. Odrade deutete nach Westen. Pfirsiche. Sie dirigierte Tegs Blick. Und ja, dort, östlich von ihnen, jenseits der Weide, waren die Kirschen. Er sah das Harz an den Ästen.

Vor tausendfünfhundert Jahren hatten die ersten Nicht-Schiffe Samen und Setzlinge hierhergebracht, erklärte Odrade. Samen, die man mit liebevoller Fürsorge eingepflanzt hatte.

Teg stellte sich Hände vor, die in der Erde gruben, diese Erde um die jungen Schösslinge herum festklopften, sie sorgfältig wässerten und dann Zäune aufstellten, um das Vieh auf den wilden Weiden rund um die ersten Plantagen und Gebäude auf Ordensburg einzuhegen.

Zu dieser Zeit hatte er schon damit begonnen, mehr über den riesigen Sandwurm herauszufinden, den die Schwesternschaft von Rakis nach Ordensburg gebracht hatte. Sein Tod hatte Geschöpfe hervorgebracht, die man als Sandforellen bezeichnete, und diese Sandforellen waren der Grund für die Ausbreitung der Wüste. Ein Teil der historischen Berichte nahm auch auf Tegs vorangegangene Inkarnation Bezug: einen Mann, den man »den Baschar« genannt hatte. Ein großer Soldat, der gestorben war, als die schrecklichen Frauen, die sich als Geehrte Matres bezeichneten, Rakis zerstört hatten.

Teg empfand das, was er über diese vergangenen Ereignisse lernte, faszinierend und beunruhigend zugleich. Er spürte, dass es Lücken in seinem Inneren gab, Stellen, an denen Erinnerungen hätten sein sollen. Diese Lücken sprachen in seinen Träumen zu ihm. Und manchmal, wenn er in Gedanken versunken war, sah er Gesichter vor sich und vernahm beinahe Worte. Bei anderen Gelegenheiten wusste er die Namen von Dingen, bevor sie ihm jemand sagte. Vor allem die Namen von Waffen.

Er wurde sich großer Veränderungen bewusst. Dieser Planet würde zu einer Wüste werden – eine Entwicklung, die damit begonnen hatte, dass die Geehrten Matres die Bene Gesserit, die ihn aufzogen, hatten vernichten wollen.

Die Ehrwürdigen Mütter, die sein Leben kontrollierten, hatten etwas Ehrfurcht Gebietendes: ihre schwarzen Roben, ihre Strenge, ihre blauen Augen, die keinerlei Weiß enthielten. Das kam von dem Gewürz, sagten sie. Nur Odrade zeigte ihm gegenüber etwas, das er als echte Zuneigung interpretierte, und Odrade war eine sehr bedeutende Persönlichkeit. Alle nannten sie Mutter Oberin, und so sollte er sie ebenfalls nennen, wenn sie nicht gerade gemeinsam durch die Obstgärten streiften – dann durfte er sie Mutter nennen.

Als Teg neun war, stiegen sie während eines ihrer Morgenspaziergänge kurz vor der Erntezeit den dritten Hügel des Apfelhains nördlich von Central hinauf und kamen zu einer baumfreien Senke, in der eine üppige, vielfältige Pflanzenwelt wucherte. Odrade legte ihm die Hand auf die Schulter und brachte ihn an einer Stelle zum Stehen, von wo aus sich ein Pfad aus schwarzen Trittsteinen durch dichtes Grün und winzige Blumen schlängelte. Er hörte ihrer Stimme an, dass sie in einer seltsamen Stimmung war.

»Besitz ist eine interessante Angelegenheit«, sagte sie. »Besitzen wir diesen Planeten? Oder besitzt er uns?«

»Ich mag es, wie es hier riecht«, sagte er.

Odrade ließ ihn los und bedeutete ihm weiterzugehen. »Wir haben das hier alles für die Nase angepflanzt, Miles. Aromatische Kräuter. Sieh sie dir genau an und informiere dich über sie, wenn du das nächste Mal in der Bibliothek bist.« Dann, als er gerade einem Pflanzenstiel auf dem Weg ausweichen wollte, sagte sie: »Tritt ruhig drauf.«

Teg setzte den rechten Fuß auf die grünen Zweige und atmete ihren durchdringenden Geruch ein.

»Sie wurden dafür gemacht, dass man auf sie tritt, damit sie ihren Duft abgeben können«, sagte Odrade. »Deine Lehrerinnen haben dir beigebracht, wie man mit Nostalgie umgeht. Haben sie dir auch gesagt, dass Nostalgie sehr oft vom Geruchssinn befeuert wird?«

»Ja, Mutter.« Teg wandte sich um und sah auf die Stelle, wo er auf die Zweige getreten war. »Das ist Rosmarin.«

»Woher weißt du das?« Der Geruch war sehr intensiv.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es einfach.«

»Womöglich eine deiner ursprünglichen Erinnerungen.« Odrade klang erfreut. Dann, als sie den Spaziergang in der Senke fortsetzten, wurde ihre Stimme nachdenklicher. »Jeder Planet hat seinen eigenen Charakter, der auf Mustern von der Alten Erde basiert. Oft ist er nur eine blasse Skizze, aber hier waren wir erfolgreich.« Sie kniete sich hin, zupfte einen Zweig von einer zitronig-grünen Pflanze, zerdrückte ihn zwischen den Fingern und hielt ihn Teg unter die Nase. »Salbei.«

Sie hatte recht, aber er konnte nicht sagen, woher er das wusste. »Ich habe das schon einmal im Essen gerochen. Ist es so etwas Ähnliches wie Melange?«

»Es verbessert den Geschmack, aber verändert nicht das Bewusstsein.« Odrade richtete sich wieder auf. »Präg dir diesen Ort gut ein, Miles. Die Welten unserer Vorfahren sind verschwunden, aber hier haben wir einen Teil unseres Ursprungs eingefangen.«

Teg spürte, dass sie ihm gerade etwas sehr Wichtiges beibrachte. »Warum hast du dich vorhin gefragt, ob dieser Planet uns besitzt?«

»Meine Schwesternschaft glaubt, dass wir die Verwalterinnen dieses Landes sind. Weißt du, was Verwalter sind?«

»Wie bei Roitiro, dem Vater meines Freundes Yorgi? Yorgi meint, dass seine älteste Schwester eines Tages die Verwalterin ihrer Plantage sein wird.«

»Ja. Auf einigen Planeten sind wir schon länger als irgendwer sonst, von dem wir wissen. Und doch sind wir nur Verwalterinnen.«

»Wenn Ordensburg nicht euch gehört, wem gehört er dann?«

»Vielleicht niemandem. Meine Frage lautet: Wie haben wir einander gezeichnet – meine Schwesternschaft und dieser Planet?«

Teg blickte auf, betrachtete erst Odrades Gesicht, dann ihre Hände. Zeichnete Ordensburg ihn jetzt in diesem Moment?

»Die meisten Hinweise darauf befinden sich tief in unserem Inneren«, sagte die Mutter Oberin und nahm seine Hand. »Komm mit.« Sie verließen die Senke und stiegen nach oben in Roitiros Reich. Während sie gingen, sagte Odrade: »Die Schwesternschaft legt nur selten botanische Gärten an. Gärten müssen viel mehr leisten, als nur den Augen und der Nase zu gefallen.«

»Nahrung?«

»Ja, zunächst einmal müssen sie dem Überleben dienen. Gärten produzieren Essen. In der Senke hinter uns ernten wir Kräuter für unsere Küchen.«

Teg spürte, wie Odrades Worte in ihn einströmten und sich in den Lücken festsetzen. Er begriff, dass die Schwesternschaft Jahrhunderte im Voraus plante: Bäume, um Balken in Gebäuden zu ersetzen, um Wasserscheiden zu halten; Pflanzen, die verhinderten, dass Uferböschungen bröckelten, die die oberen Erdschichten vor Regen und Wind schützten, die Küstenverläufe festigten und im Wasser sogar Brutplätze für Fische schufen. Die Bene Gesserit dachten auch an Bäume als Sonnenschutz – oder als Zierrat, der interessante Schatten auf den Rasen warf.

»Bäume und andere Pflanzen für unsere vielfachen symbiotischen Beziehungen«, sagte Odrade.

»Symbiotisch?« Das war ein neues Wort.

Odrade erklärte es am Beispiel von etwas, von dem sie wusste, dass Teg es bereits kannte: mit anderen loszuziehen, um Pilze zu sammeln. »Pilze wachsen nur in der Nähe von freundlich gesinnten Wurzeln. Jeder Pilz hat eine symbiotische Beziehung zu einer bestimmten Pflanze. Alles, was wächst, holt sich das, was es braucht, von anderen.«

Sie führte das Thema weiter aus, und Miles, gelangweilt vom ewigen Lernen, trat gegen ein dickes Büschel Gras. Dann bemerkte er, dass Odrade ihn auf ihre irritierende Art ansah. Offenbar hatte er etwas Falsches getan. Warum war es bei manchen Dingen, die wuchsen, in Ordnung, auf sie draufzutreten, und bei anderen nicht?

»Miles! Das Gras sorgt dafür, dass die obersten Erdschichten nicht vom Wind an Orte getragen werden, wo sie nicht hingehören, zum Beispiel auf den Grund von Flüssen.«

Teg kannte diesen Ton. Tadelnd. Er blickte auf das Grasbüschel, dem er Unrecht getan hatte.

»Von diesen Gräsern ernährt sich auch unser Vieh. Manche von ihnen haben Samen, die wir für unser Brot und andere Nahrungsmittel verwenden. Und manche Rohrgräser dienen dazu, den Wind zu brechen.«

Das wusste er. Um sie abzulenken, sagte Teg betont langsam: »Den Wind … brechen?«

Aber Odrade lächelte nicht, und Teg begriff, dass es falsch gewesen war, zu meinen, er könnte sie an der Nase herumführen. Schicksalsergeben hörte er sich den Rest der Lektion an.

Wenn die Wüste kommt, erklärte sie, würden die Trauben, deren Wurzeln etliche Hundert Meter in die Tiefe reichen, vermutlich als Letztes verschwinden. Die Obsthaine dagegen würden zuerst sterben.

»Warum müssen sie sterben?«

»Um Platz für wichtigeres Leben zu machen.«

»Sandwürmer und Melange.«

Es erfreute die Mutter Oberin sichtlich, dass Teg über die Beziehung zwischen den Sandwürmern und dem Gewürz Bescheid wusste, das die Bene Gesserit benötigten, um ihre Existenz zu sichern. Er wusste zwar nicht, wie das alles ganz genau funktionierte, stellte sich aber einen Kreislauf vor: Sandwurm zu Sandforelle zu Melange und wieder von vorne. Die Bene Gesserit entnahmen das, was sie brauchten, aus diesem Kreislauf. Immer noch ermüdet vom vielen Lernen, fragte er: »Wenn alle diese Pflanzen hier ohnehin sterben müssen, warum soll ich dann in die Bibliothek gehen und ihre Namen lernen?«

»Weil du ein Mensch bist, und Menschen haben das tief sitzende Bedürfnis zu klassifizieren, den Dingen ein Etikett anzuheften.«

»Aber warum tun wir das?«

»So erheben wir Anspruch auf das, was wir benennen. Wir machen es uns zu eigen – auf eine oft irreführende und gefährliche Weise.«

Es ging also wieder um Besitz.

»Meine Straße, mein See, mein Planet«, fuhr Odrade fort. »Von mir etikettiert, auf ewig. Wobei ein Etikett, das man einem Ort oder einem Objekt gibt, womöglich nicht einmal das eigene Leben lang hält, außer vielleicht als besänftigende Geste eines Eroberers. Oder als ein Laut, an den sich die Menschen voller Angst erinnern.«

»Der Wüstenplanet«, sagte Teg.

»Du denkst schnell.«

»Die Geehrten Matres haben den Wüstenplaneten in Schutt und Asche gelegt.«

»Und das Gleiche werden sie mit uns machen, wenn sie uns finden.«

»Nicht, wenn ich euer Baschar bin!« Die Worte waren aus seinem Mund heraus, noch bevor er über sie nachgedacht hatte, doch als er sie sagte, hatte er das Gefühl, dass sie etwas Wahres beinhalteten. Laut den historischen Berichten hatte der Baschar den Feind allein schon dadurch erzittern lassen, dass er auf dem Schlachtfeld erschienen war.

Als wüsste sie, was er gerade dachte, sagte Odrade: »Der Baschar Teg war ebenso bekannt dafür, Situationen herbeizuführen, in denen eine Schlacht gar nicht nötig war.«

»Aber er hat eure Feinde bekämpft.«

»Vergiss nie den Wüstenplaneten, Miles. Er ist dort gestorben.«

»Ich weiß.«

»Hast du dich schon mit Caladan befasst?«

»Ja. In den Texten heißt er Dan.«

»Etiketten, Miles. Namen sind interessant, um sich zu erinnern, aber davon abgesehen stellen die meisten Menschen keine Verbindungen her. Geschichte ist langweilig, nicht wahr? Namen – bequeme Wegweiser, die vor allem bei jenen weiterhelfen, die die gleiche Abstammung haben.«

»Haben wir die gleiche Abstammung?« Das war eine Frage, die Teg seit Längerem beschäftigte, die er aber bisher nicht in Worte gefasst hatte.

»Wir sind beide Atreides, du und ich. Denk daran, wenn du dich wieder deinen Studien über Caladan zuwendest.«

Sie gingen durch die Obstgärten zurück, und als sie zu dem Aussichtspunkt mit dem von Ästen gerahmten Blick auf Central kamen, nahm Teg den Verwaltungskomplex und die umliegenden Plantagen plötzlich auf eine ganz neue Art wahr. Er bemühte sich, diese neue Wahrnehmung in seinem Inneren abzuspeichern, während sie der von Zäunen gesäumten Allee zu dem Torbogen folgten, hinter dem die Erste Straße begann.

»Ein lebendes Juwel« – so nannte Odrade Central.

Als sie durch den Torbogen gingen, betrachtete Teg den Straßennamen, der dort eingebrannt war. Galach – in einer fließenden, auf jene für die Bene Gesserit typische Weise dekorativen Schrift. Sämtliche Straßen und Gebäude in Central waren mit solchen kursiven Schriftzügen versehen.

Teg ließ seinen Blick schweifen – zu dem sprudelnden Springbrunnen auf dem Platz vor ihnen, über die vielen eleganten Details – und erahnte etwas von der Tiefe menschlicher Erfahrung. Die Bene Gesserit hatten hier einen Ort geschaffen, der seinen Bewohnern auf eine Weise, die er noch nicht ganz ergründen konnte, eine Stütze war. Dinge, die er gelernt oder bei seinen Ausflügen in die Obstgärten aufgeschnappt hatte, einfache wie komplexe Sachverhalte, erschienen in einem neuen Licht. Es war eine latente Mentatenreaktion, aber das wusste er nicht, er spürte lediglich, dass sein Gedächtnis einige Beziehungen verändert und neu organisiert hatte. Unvermittelt hielt er inne und blickte dorthin zurück, woher sie gekommen waren – der Obstgarten wurde jetzt von dem Bogen eingerahmt, den die Straße beschrieb. Alles hing mit allem zusammen. Centrals Abwässer erzeugten Methan und Dünger. (Er hatte mit einer seiner Lehrerinnen die Kläranlage besucht.) Mit dem Methan wurden Pumpen und einige der Kühlelemente betrieben.

»Was siehst du da, Miles?«

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Aber er erinnerte sich an einen Herbstnachmittag, an dem Odrade ihn auf einen Thopterflug über Central mitgenommen hatte, um ihm diese Zusammenhänge zu erklären und ihm »einen Überblick zu verschaffen«. Damals waren es nur Worte gewesen – jetzt gewannen sie eine Bedeutung. »Es kommt einem ökologischen Kreislauf so nahe, wie wir es bewerkstelligen können«, hatte Odrade im Thopter gesagt. »Die Wettersatelliten in der Umlaufbahn überwachen alles und ordnen die Ströme.«

Jetzt fragte sie: »Warum stehst du da und betrachtest den Garten, Miles?« Ihre Stimme hatte etwas Gebieterisches, dem er sich nicht widersetzen konnte.

Er wandte sich um und sah sie an. »Im Ornithopter hast du gesagt, dass er wunderschön, aber auch gefährlich ist.«

Sie hatten bisher nur einen gemeinsamen Thopterausflug unternommen. Odrade wusste gleich, worauf er sich bezog. DerökologischeKreislauf. »Einhegungen«, sagte sie. »Wie groß doch die Versuchung ist, Mauern zu errichten und den Wandel auszusperren. In unserer selbstzufriedenen Bequemlichkeit langsam zu verrotten.«

Ihre Worte erfüllten Teg mit Unruhe. Er hatte das Gefühl, sie schon einmal gehört zu haben – an einem anderen Ort, von einer anderen Frau, die seine Hand gehalten hatte.

»Einhegungen sind ein fruchtbarer Boden für Hass auf Außenseiter«, sagte Odrade. »Und ein solcher Hass erzeugt eine bittere Ernte.«

Es waren nicht die gleichen Worte, aber es war die gleiche Lektion. Teg ging neben Odrade her, seine verschwitzte Hand in der ihren.

»Warum bist du so schweigsam, Miles?«

»Ihr seid Farmer«, erwiderte er. »Das ist die eigentliche Arbeit der Bene Gesserit.«

Odrade erkannte sofort, was geschehen war. Tegs Mentatenausbildung kam zum Vorschein, ohne dass er sich dessen bewusst war. Es war am besten, die Dinge für eine Weile ruhen zu lassen. »Wir sorgen uns um alles, was wächst, Miles. Es zeugt von einer guten Beobachtungsgabe, dass dir das aufgefallen ist.«

Dann, als sie sich trennten und Odrade zu ihrem Turm und Teg auf sein Zimmer im Schulsektor zurückkehrte, sagte sie noch: »Ich instruiere deine Lehrerinnen, dass sie sich mehr auf den subtilen Einsatz von Macht konzentrieren sollen.«

Doch Teg verstand sie falsch. »Ich übe bereits mit Lasguns. Sie sagen, dass ich sehr gut bin.«

»Das habe ich gehört. Aber es gibt Waffen, die man nicht mit Händen greifen kann, sondern nur mit dem Verstand.«

Regeln errichten Mauern, hinter denen sich kleine Geister ihre Satrapien erschaffen. In den besten Zeiten ist das ein gefährlicher Zustand, in Krisen ist es katastrophal.

– Bene-Gesserit-Coda

Stygische Schwärze in den Schlafräumen der Großen Geehrten Matre. Logno, eine Grand Dame und die oberste Sekretärin der Herrin, trat ihren Anweisungen gemäß vom schwach beleuchteten Korridor her ein und erschauderte, als sie in völliger Dunkelheit stand. Diese Konsultationen ohne jedes Licht versetzten sie regelmäßig in Angst und Schrecken, und sie wusste, dass die Große Geehrte Matre genau daran ihre Freude hatte. Allerdings konnte das nicht der einzige Grund für die Finsternis sein. Fürchtete die Große Geehrte Matre einen Überfall? Man hatte sich schon einer ganzen Reihe von Herrinnen in ihren Betten entledigt. Aber nein … das allein war es ebenfalls nicht, auch wenn es sich womöglich auf die Entscheidung auswirkte, wo und wie bestimmte Treffen abgehalten wurden.

Schnaufen und Stöhnen in der Finsternis.

Einige Geehrte Matres behaupteten mit einem Kichern, dass die Große Geehrte Matre so kühn sei, einen Futar mit in ihr Bett zu nehmen. Logno hielt das für möglich. Diese Große Geehrte Matre wagte vieles. Hatte sie nicht sogar die Waffe aus der Katastrophe der Zerstreuung geborgen? Aber Futars? Die Schwestern wussten, dass sich Futars nicht durch Sex binden ließen. Zumindest nicht durch Sex mit Menschen. Doch womöglich waren die Vielgesichtigen Feinde dazu in der Lage, wer konnte das schon wissen?

In den Schlafräumen roch es nach Pelz. Logno schloss die Tür hinter sich und wartete. Die Große Geehrte Matre mochte es nicht, wenn man sie bei ihrem Treiben in der Dunkelheit unterbrach. Aber sie erlaubt mir, sie Dama zu nennen.

Ein weiteres Stöhnen, dann: »Setz dich auf den Boden, Logno. Ja, dort bei der Tür.«

Sieht sie mich wirklich, oder rät sie nur? Logno hatte nicht den Mut, ihre Herrin auf die Probe zu stellen. Gift. Damit erwische ich sie irgendwann. Sie ist wachsam, aber es ist möglich, sie abzulenken. Auch wenn ihre Schwestern sie dafür verhöhnen mochten, war Gift ein durchaus anerkanntes Werkzeug der Nachfolge – vorausgesetzt, die Nachfolgerin hatte noch andere Mittel, um ihren Anspruch zu untermauern.

»Logno, diese Ixianer, mit denen du heute gesprochen hast. Was sagen sie zu der Waffe?«

»Sie verstehen ihre Funktion nicht, Dama. Ich habe sie ihnen nicht erklärt.«

»Natürlich nicht.«

»Wirst du erneut vorschlagen, Waffe und Ladung zusammenzufügen?«

»Machst du dich über mich lustig, Logno?«

»Dama! So etwas würde ich nie tun.«

»Das will ich hoffen.«

Schweigen. Logno begriff, dass sie beide über das gleiche Problem nachdachten. Lediglich dreihundert Einheiten der Waffe hatten die Katastrophe überstanden. Jede Einheit konnte nur ein einziges Mal verwendet werden, vorausgesetzt, dass sich der Rat, der über die Ladung verfügte, bereit erklärte, sie scharf zu machen. Die Große Geehrte Matre, die die Waffe kontrollierte, gebot also nur über die Hälfte dieser schrecklichen Macht. Ohne die Ladung war die Waffe nicht mehr als eine kleine schwarze Röhre, die man mit einer Hand halten konnte. Mit der Ladung schnitt sie innerhalb ihrer Reichweite eine Schneise des unblutigen Todes.

»Die mit den Vielen Gesichtern«, murmelte die Große Geehrte Matre.

Logno nickte in die Dunkelheit. Vielleicht kann sie mich sehen. Wer weiß schon, was sie noch geborgen hat. Oder was ihr die Ixianer gegeben haben. Und die mit den Vielen Gesichtern – verflucht bis in alle Ewigkeit sollten sie sein – hatten die Katastrophe ausgelöst. Sie und ihre Futars. Die Leichtigkeit, mit der alle Einheiten der Waffe bis auf eine Handvoll konfisziert worden waren. Diese ungeheure Macht! Dama hat recht. Wir müssen uns gut bewaffnen, bevor wir wieder in die Schlacht ziehen.

»Dieser Planet, Buzzell«, sagte die Große Geehrte Matre. »Bist du sicher, dass er ungeschützt ist?«

»Wir können keinerlei Verteidigungsvorkehrungen erkennen. Auch die Schmuggler sagen, dass er ungeschützt ist.«

»Aber dieser enorme Reichtum an Soosteine, über den er verfügt!«

»Hier im Alten Imperium wagt man es offenbar nur selten, die Hexen anzugreifen.«

»Ich glaube nicht, dass sich auf diesem Planeten nur wenige von ihnen aufhalten. Es ist irgendeine Art von Falle.«

»Diese Möglichkeit besteht immer.«

»Ich vertraue den Schmugglern nicht, Logno. Binde noch mehr von ihnen und gehe dieser Sache auf Buzzell genau nach. Die Hexen mögen schwach sein, aber dumm sind sie nicht.«

»Ja, Dama.«

»Und sag den Ixianern, dass wir verstimmt sein werden, sollte es ihnen nicht gelingen, die Waffe nachzubauen.«

»Aber ohne die Ladung, Dama …«

»Damit beschäftigen wir uns, sobald es so weit ist. Geh jetzt.«

Logno hörte noch ein gezischtes »Jaaaa!«, als sie die Schlafräume verließ. Jetzt war ihr sogar die Düsternis des Korridors willkommen, und schnell eilte sie dem Licht entgegen.

Wir neigen dazu, das zu werden, was an jenen, die wir bekämpfen, das Schlimmste ist.

– Bene-Gesserit-Coda

Wieder diese Bilder von Wasser!

Wir verwandeln den ganzen verdammten Planeten in eine Wüste, und ich sehe Wasser.

Odrade saß inmitten der gewohnten morgendlichen Unordnung ihres Arbeitszimmers und spürte, wie das Meereskind in den Wellen dahintrieb, wie es sich von ihnen umspülen ließ. Die Wellen hatten die Farbe von Blut. Ihr Meereskind-Ich sagte grausame Zeiten voraus.

Sie wusste genau, woher diese Bilder kamen: aus jener Zeit, als ihr Leben noch nicht von Ehrwürdigen Müttern beherrscht wurde; aus ihrer Kindheit in ihrem wunderbaren Zuhause an der Küste auf Gammu. Trotz all ihrer gegenwärtigen Sorgen musste sie lächeln. Papa, der Austern zubereitete. Der Eintopf, den sie bis heute so mochte. Was ihr aus ihrer Kindheit am deutlichsten im Gedächtnis war, waren die Ausflüge ans Meer. Im Wasser dahinzutreiben, berührte etwas tief in ihrem Inneren. Das Auf und Ab der Wellen, der weite, unverstellte Horizont, der einem das Gefühl gab, dass gleich hinter den gekrümmten Grenzen dieser Wasserwelt fremde, neue Orte lagen, der Nervenkitzel der Gefahr, der jener Substanz innewohnte, die sie trug. Das alles zusammen gab Odrade die Gewissheit, dass sie ein Meereskind war.

Auch Papa war am Meer sanfter. Und Mama Sibia, ihr Gesicht im Wind, ihr dunkles Haar wild flatternd, war glücklicher. Diese Zeit strahlte ein Gefühl der Balance aus, eine Botschaft der Beruhigung in einer Sprache älter als Odrades älteste Erweiterte Erinnerungen. »Das hier ist mein Zuhause, mein Medium. Ich bin ein Meereskind.« Ihr persönliches Konzept eines gesunden Geistes stammte aus diesen Jahren. Die Fähigkeit, auf fremden Meeren das Gleichgewicht zu halten. Die Fähigkeit, unerwarteten Wellen zum Trotz sein innerstes Selbst zu bewahren.

Mama Sibia hatte Odrade diese Fähigkeit vermittelt, lange bevor die Ehrwürdigen Mütter gekommen waren und das »versteckte Atreides-Wunderkind« mitgenommen hatten. Mama Sibia, nur eine Ziehmutter, hatte Odrade beigebracht, sich selbst zu lieben. In einer Bene-Gesserit-Gesellschaft, in der jede Form von Liebe verdächtig war, war das Odrades ultimatives Geheimnis. Ich bin glücklich mit mir selbst. Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Nicht dass irgendeine Ehrwürdige Mutter, nachdem die Gewürzqual sie mit den Erweiterten Erinnerungen geflutet hatte, je wirklich allein gewesen wäre. Aber Mama Sibia und, ja, auch Papa, die für die Bene Gesserit als Eltern fungiert hatten, hatten ihrem Schützling in jenen Jahren im Geheimen eine tiefe innere Kraft mitgegeben, und die Ehrwürdigen Mütter hatten diese Kraft lediglich verstärken können.

Ihre Lehrerinnen hatten versucht, Odrade das »tiefe Verlangen nach persönlicher Zuneigung« auszutreiben, aber letztlich waren sie gescheitert und, da sie sich ihres Scheiterns nicht sicher gewesen waren, immer misstrauisch geblieben. Schließlich hatte man Odrade nach Al Dhanab geschickt, einen Planeten, auf dem bewusst die schlimmsten Eigenschaften von Salusa Secundus nachgeahmt worden waren, ein Planet wie eine unaufhörliche Prüfung, ja, in mancher Hinsicht ein noch schlimmerer Ort als der Wüstenplanet: hohe Klippen und tiefe Spalten, heiße Winde und eisige Winde, zu wenig Feuchtigkeit und zu viel. Die Bene Gesserit hatte Al Dhanab als Testgelände für jene betrachtet, die später einmal auf dem Wüstenplaneten überleben sollten. Auch Odrade sollte dort konditioniert werden – aber nichts von alldem hatte an dem geheimen Kern gerührt, den sie in ihrem Inneren bewahrte. Das Meereskind war unbeschädigt geblieben.

Und es ist das Meereskind, das mich jetzt warnt.

War es eine hellsichtige Warnung?

Sie besaß diesen Anflug eines Talents, ein unmerkliches Zucken, das sie vor einer unmittelbaren Gefahr für die Schwesternschaft warnte. Die Atreides-Gene, die auf sich aufmerksam machten. Ging es um eine Bedrohung für Ordensburg? Nein, der leise Schmerz, den sie nicht genau lokalisieren konnte, verwies auf eine Gefahr für andere. Und war doch eine wichtige Warnung.

Lampadas? Sie konnte es nicht sagen.

Die Zuchtmeisterinnen hatten versucht, diese gefährliche Gabe der Hellsicht aus der Linie der Atreides zu tilgen – mit begrenztem Erfolg. »Wir dürfen keinen weiteren Kwisatz Haderach riskieren!« Sie wussten, dass sich in ihrer Mutter Oberin die Gabe zeigte, aber Odrades verstorbene Vorgängerin Taraza hatte zu einer »vorsichtigen Anwendung ihres Talents« geraten. Taraza war der Meinung gewesen, dass Odrades Hellsicht nur dann funktionierte, wenn es um Gefahren für die Bene Gesserit ging.

Odrade war der derselben Meinung. Es waren unerwünschte Momente, in denen sie Bedrohungen aufblitzen sah. Kurze Momente. Und seit einiger Zeit auch ein Traum – ein lebhafter, wiederkehrender Traum, bei dem sich alle ihre Sinne auf das richteten, was sich in ihrem Kopf abspielte. Sie balancierte auf einem gespannten Seil über einen Abgrund, und jemand (sie wagte nicht, sich umzudrehen, um herauszufinden, wer es war) näherte sich von hinten mit einer Axt, um das Seil zu kappen. Sie spürte die groben, geflochtenen Fasern unter den nackten Füßen. Sie spürte einen kalten Wind, der Brandgeruch heranwehte. Und sie wusste, dass sich die Person mit der Axt näherte! Jeder Schritt forderte ihr alle ihre Kräfte ab. Ein Schritt! Noch ein Schritt! Das Seil schwankte, und Odrade streckte die Arme zu den Seiten aus, um das Gleichgewicht zu halten.

Wenn ich falle, fällt die Schwesternschaft!

Die Bene Gesserit würden in dem Abgrund unter ihr enden. Wie alles, was lebte, würde auch die Schwesternschaft irgendwann zu existieren aufhören. Keine Ehrwürdige Mutter konnte das abstreiten.

Aber nicht hier! Nicht durch einen Sturz. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Seil gekappt wird. Ich muss es über den Abgrund schaffen. »Ich muss! Ich muss!«

So endete der Traum jedes Mal: mit ihrer eigenen Stimme, die ihr in den Ohren widerhallte, wenn sie in ihrem Schlafzimmer erwachte. Zitternd vor Kälte. Kein Schweiß. Sogar in den Fängen eines Albtraums gestatteten sich die Bene Gesserit keine unnötigen Verausgabungen.

Körper benötigt keinen Schweiß? Körper bekommt keinen Schweiß.

Jetzt, als Odrade in ihrem Arbeitszimmer saß und an den Traum dachte, spürte sie die tiefere Wahrheit hinter der Metapher des Seils. Der dünne Faden, an dem ich das Schicksal der Schwesternschaft halte. Das Meereskind nahm den nahenden Albtraum wahr und mischte sich mit Bildern von blutigem Wasser ein. Diese Warnung galt nicht irgendeiner Nebensächlichkeit – sie verkündete Unheil. Odrade wollte aufstehen und rufen: »Lauft ins Unterholz, meine Küken! Lauft! Lauft!«

Wie das die Wachhunde wohl erschreckt hätte!

Es gehörte zu den Pflichten einer Mutter Oberin, dass sie all ihrer Ängste zum Trotz gute Miene zum bösen Spiel machte und so tat, als würde nichts außer die unmittelbar anstehenden formalen Entscheidungen eine Rolle spielen. Panik war um jeden Preis zu vermeiden. Nicht, dass irgendwelche der unmittelbar anstehenden Entscheidungen in diesen Zeiten unwichtig gewesen wären. Aber Gelassenheit war erforderlich.

Einige ihrer Küken rannten bereits – hinein ins Unbekannte. Geteilte Leben in den Erweiterten Erinnerungen. Die auf Ordensburg Zurückbleibenden würden wissen, wann sie die Flucht ergreifen müssen. Wenn man uns entdeckt. Dann würde die Notwendigkeit des Moments ihr Verhalten bestimmen. Letztlich kam es auf ihre erstklassige Ausbildung an. Das war die verlässlichste Vorbereitung.

Jede neue Bene-Gesserit-Zelle, an welchem Ort auch immer, war in der gleichen Weise vorbereitet wie Ordensburg. Sie würde die vollständige Zerstörung der Unterwerfung vorziehen. Die tosenden Flammen würden kostbare Leben und Aufzeichnungen verzehren, und die Häscher würden lediglich nutzlose Trümmer finden: verformte Bruchstücke, von Asche bedeckt. Einige Schwestern würden womöglich von Ordensburg entkommen. Doch im Moment des Angriffs zu fliehen – wie sinnlos! Die Schlüsselpersonen teilten ohnehin die Erweiterten Erinnerungen. Um sich vorzubereiten. Etwas, das die Mutter Oberin noch vermied. Aus Gründen der Moral.

Wohinsollmanfliehen?Werkönnteentkommen?Undwerkönntegefangengenommenwerden? Das waren die eigentlichen Fragen. Was, wenn sie Sheeana gefangen nahmen, dort unten am Rand der neuen Wüste, wo sie auf Sandwürmer wartete, die vielleicht nie kamen? Sheeana und die Sandwürmer: eine mächtige religiöse Kraft, und die Geehrten Matres mochten durchaus wissen, wie man sie sich zunutze machte. Und was, wenn sie Ghola-Idaho oder Ghola-Teg gefangen nahmen? Sollte einer dieser Fälle eintreten, würde es womöglich keine Zuflucht mehr vor ihnen geben.

Was dann? Was dann?

Die hilflose Wut in Odrade sagte: »Wir hätten Idaho in dem Moment, in dem wir ihn in die Finger bekamen, töten sollen! Und wir hätten Ghola-Teg niemals heranwachsen lassen dürfen!«

Nur die Ratsmitglieder, ihre engsten Beraterinnen und einige der Wachhunde teilten ihren Verdacht. Widerwillig bewahrten sie das Geheimnis. Keiner von ihnen war sich bezüglich der beiden Gholas sicher, auch nicht, nachdem sie das Nicht-Schiff vermint hatten, um es für die tosenden Flammen verwundbar zu machen. War Teg in den letzten Stunden vor seinem heldenhaften Opfer in der Lage gewesen, das Nicht-Sichtbare zu sehen (auch Nicht-Schiffe)? Woher wusste er, wo er uns auf dem Wüstenplaneten antreffen würde? Und wenn Teg dazu in der Lage war, dann konnte der gefährlich talentierte Duncan Idaho mit seinen über unzählige Generationen hinweg gesammelten Atreides-Genen (und anderen, unbekannten Genen) ebenfalls auf diese Fähigkeit stoßen.

Vielleicht könnte ich es sogar selbst!

Plötzlich begriff sie, dass Tamalane und Bellonda ihre Mutter Oberin mit den gleichen Ängsten betrachteten, wie sie Odrade bezüglich der beiden Gholas empfand. Allein das Wissen darum, dass es möglich war – dass ein Mensch hinreichend sensibilisiert werden konnte, um Nicht-Schiffe und vergleichbar Abgeschirmtes aufzuspüren –, würde ihre Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Und ganz bestimmt würde es die Geehrten Matres völlig unkontrollierbar machen. Ungezählte Nachkommen von Duncan Idaho waren über das Universum verstreut. Er hatte zwar stets darauf beharrt, kein »verdammter Zuchtbulle« für die Schwesternschaft zu sein, und doch hatte er oft genug seine Schuldigkeit für sie getan.

Ich dachte immer, dass er es für sich selbst getan hat. Und vielleicht war es auch so.

Jeder Abkömmling des Atreides-Hauptstrangs konnte dieses Talent besitzen, von dem der Rat mutmaßte, dass es sich in Teg entfaltet hatte.

Wo waren nur all die Monate und Jahre hin? Und die Tage? Wieder eine Erntezeit – und die Schwesternschaft verharrte in diesem furchtbaren Zwischenreich. Odrade wurde bewusst, dass es bereits später Morgen war. Sie nahm die Geräusche und Gerüche von Central wahr. Menschen draußen auf dem Korridor. In der Gemeinschaftsküche wurden Huhn und Kohlgemüse zubereitet. Die Dinge gingen ihren normalen Gang.

Aber was war schon normal für jemanden, der sogar während der Arbeit in Wasserbilder eintauchte? Das Meereskind konnte Gammu nicht vergessen. Die Essenzen der Algen, die vom Wind herangetragen wurden. Das Ozon, das jeden Atemzug mit Sauerstoff anreicherte. Die wunderbare Freiheit der Menschen, die in ihrem Gang und ihrer Art zu reden zum Ausdruck kam. Die Gespräche auf dem Meer reichten auf eine Weise tiefer, die Odrade nie ganz ausgelotet hatte. Sogar beiläufige Konversationen hatten dort verborgene Aspekte, eine ozeanische Diktion, die tieferen Strömungen folgte. Sie rief sich in Erinnerung, wie ihr Körper in diesem Meer der Kindheit dahingetrieben war. Sie musste wieder Zugang zu den Kräften finden, die ihr damals so vertraut gewesen waren, musste die stärkenden Eigenschaften wiedergewinnen, die sie sich in unschuldigeren Zeiten angeeignet hatte. Mit dem Gesicht nach unten, die Luft so lange wie möglich anhaltend, schwebte sie in einem meeresumspülten Jetzt, das sie von ihrem Kummer reinigte. Es war auf den Kern reduziertes Stressmanagement. Eine große Ruhe erfüllte sie. Ich treibe, also bin ich. Das Meereskind sprach Warnungen aus – und das Meereskind gab neue Kraft. Auch wenn Odrade es sich nicht eingestanden hatte, hatte sie dringend diese neue Kraft benötigt.

Am Abend zuvor hatte sie ihr Gesicht in einem Fenster des Arbeitszimmers gespiegelt gesehen, und es hatte sie erschreckt, wie sehr das Alter und die Verantwortung zusammen mit der Erschöpfung ihre Wangen aushöhlten und ihre Augenwinkel nach unten zogen. Ihre Lippen waren schmaler geworden, die sanften Rundungen ihres Gesichts waren in die Länge gezogen. Nur die ganz und gar blauen Augen leuchteten wie eh und je, und noch immer hatte sie einen straffen und muskulösen Körper.

Aus einem Impuls heraus betätigte sie eines der Rufsymbole und betrachtete die über dem Tisch aufflackernde Projektion: das Nicht-Schiff auf dem Landefeld von Ordensburg, eine mysteriöse Maschine, die von der Zeit getrennt existierte. In den langen Jahren seines Winterschlafs hatte es eine tiefe Mulde in das Landefeld gedrückt, in der es nun mehr oder weniger feststeckte. Das Nicht-Schiff war eine riesige Ausbeulung, deren derzeitige Maschinenleistung gerade ausreichte, um es vor hellsichtigen Suchern zu verbergen, insbesondere vor den Gildennavigatoren, denen es eine besondere Freude gewesen wäre, die Bene Gesserit zu verraten.

Warum hatte sie dieses Bild gerade jetzt aufgerufen?

Wegen der drei Personen, die dort gefangen waren: Scytale, der letzte überlebende Tleilaxu-Meister, sowie Murbella und Duncan Idaho, das sexuell gebundene Paar, das durch diesen wechselseitigen Bann ebenso festgehalten wurde wie durch das Nicht-Schiff.

Nichts von alldem ist einfach.

Es gab selten einfache Erklärungen für ein größeres Unterfangen der Bene Gesserit, und das Nicht-Schiff und seine sterblichen Inhalte waren zweifellos als größeres und ausgesprochen kostspieliges Unterfangen einzustufen. Selbst im Bereitschaftszustand waren die Energiekosten enorm. Dass derartige Aufwendungen mittlerweile extrem sparsam bemessen wurden, hatte mit der aktuellen Energiekrise zu tun. Das war eine von Bells Sorgen. Man hörte es ihr an, selbst wenn sie einen möglichst nüchternen Tonfall anschlug: »Inzwischen geht es uns ans Mark, und an anderer Stelle können wir keine Schnitte mehr setzen.« Alle Schwestern wussten, dass die wachsamen Augen der Buchhaltung auf ihnen ruhten, dass sie das Ausströmen der Bene-Gesserit-Lebenskräfte streng überwachten.

In diesem Moment betrat Bellonda, eine Rolle ridulianisches Kristallpapier unter dem Arm, unangekündigt das Arbeitszimmer. Sie ging, als wäre ihr der Boden zuwider, stampfte auf ihn ein, als wollte sie sagen: »Hier! Nimm das! Und das!« Sie prügelte den Boden, weil er sich des Zu-Füßen-Seins schuldig gemacht hatte.

Als Odrade den Ausdruck in Bells Augen sah, schnürte sich ihr die Kehle zu. Klatschend landeten die ridulianischen Akten auf dem Tisch, und Bellonda sagte mit gequälter Stimme: »Lampadas!«

Odrade musste die Rolle nicht öffnen. Sie wusste Bescheid. Die blutigen Wasser des Meereskinds sind Wirklichkeit geworden. »Überlebende?«, flüsterte sie.

»Keine.« Bellonda ließ sich in ihren persönlichen Sesselhund fallen, der auf der anderen Seite von Odrades Arbeitstisch stand.

Dann trat Tamalane ein. Sie setzte sich hinter Bellonda. Beide Schwestern sahen aus, als hätte sie jemand heftig durchgeschüttelt.

Keine Überlebenden.

Odrade erlaubte es, dass ein Zittern ihren Körper durchlief – von der Brust bis hinunter zu den Fußsohlen. Es war ihr egal, dass die anderen beiden diese Reaktion bemerkten, mit der sie ihre Gefühle offen zur Schau stellte. In diesem Raum hatte sich schon Schlimmeres ereignet. Sie räusperte sich und fragte: »Von wem stammt der Bericht?«

»Er hat uns über unsere MAFEA-Spione erreicht«, sagte Bellonda. »Er hatte die spezielle Markierung. Zweifellos kam die ursprüngliche Information vom Rabbi.«