1,99 €
Auf einer kleinen Südseeinsel haben sich mehrere Handelsschiffe eingefunden, um mit den eingeborenen Perlenfischern ins Geschäft zu kommen. Einer der Perlenfischer bietet eine besonders große und schöne Perle an. Er verlangt für die Perle den Gegenwert eines kleinen Hauses. Anfangs findet er keinen Käufer. Einer seiner Gläubiger nutzt den Druck der Schulden, um ihm die Perle günstig abzukaufen. Währenddessen nähert sich ein Hurricane, der die Kraft besitzt, die Besitzverhältnisse auf der Insel gründlich zu verändern. Die Naturgewalten haben in der Erzählung »Die Perle«, wie so oft beim Autor Jack London, entscheidenden Einfluss auf das Geschehen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 40
Jack London
Aus dem Englischen von Peter Friedrich
Trotz ihrer schwerfälligen, plumpen Linien war die Aorai in der schwachen Brise leicht zu führen und der Kapitän brachte sie dicht unter Land, bevor er unmittelbar außerhalb des Soges der Brandung beidrehte. Das Hikueru Atoll ragte kaum aus dem Wasser, ein Ring feinen Korallensandes, dreißig Meter breit, mit mehr als dreißig Kilometern Umfang, der zwischen einem und anderthalb Metern über der Hochwassermarke lag. Auf dem Grund der riesigen, glasklaren Lagune wimmelte es von Muscheln, und vom Deck des Schoners aus konnte man über den schmalen Ring des Atolls hinweg die Taucher bei der Arbeit sehen. Doch die Einfahrt der Lagune war zu eng, selbst für einen Handelsschoner. Bei günstigem Wind mochte ein Kutter durch den gewundenen und seichten Kanal schlüpfen, aber die Schoner hielten sich außerhalb und schickten ihre kleinen Boote hinein.
Die Aorai setzte geschickt ein Boot aus, und ein halbes Dutzend braunhäutiger, nur mit knallroten Lendentüchern bekleideter Seeleute sprang hinein. Sie ergriffen die Riemen, während auf dem Achterdeck am Steuerruder ein junger Mann in der weißen Tropenkleidung stand, die ihn als Europäer auswies. Aber das Erbe Polynesiens verriet sich im Goldton seiner hellen Haut und ließ goldene Lichter und Flecken im blauen Schimmer seiner Augen tanzen. Er war ein Raoul, Alexandre Raoul, der jüngste Sohn der reichen Marie Raoul, in deren Adern ein Viertel weißes Blut floss und die ein Flottille von einem halben Dutzend Handelsschoner ähnlich der Aorai besaß und befehligte. Durch einen Strudel unmittelbar vor der Einfahrt hindurch, dann hinein und über die kochenden Wasser zweier gegenläufiger Strömungen kämpfte sich das Boot voran bis in die spiegelglatte Ruhe der Lagune. Der junge Raoul sprang heraus auf den weißen Sand und schüttelte einem hochgewachsenen Eingeborenen die Hand. Der Mann hatte eine mächtige Brust und gewaltige Schultern, aber der Stumpf seines rechten Armes, aus dessen Fleisch der verwitterte Knochen mehrere Zentimeter weit herausragte, zeugte von der Begegnung mit einem Hai, die seinen Tagen als Taucher ein Ende gesetzt und ihn zu einem Speichellecker gemacht hatte, der um kleine Gefälligkeiten betteln musste.
Hast du schon gehört, Alec?“ waren seine ersten Worte. Mapuhi hat eine Perle gefunden – und was für eine Perle! Eine, wie sie nie zuvor auf Hikueru gefischt worden ist, nicht einmal in den Paumotus, in der ganzen Welt nicht. Kauf sie ihm ab. Er hat sie noch. Und denk daran, dass ich dir zuerst davon erzählt habe. Er ist ein Narr und du wirst sie billig bekommen. Hast du ein bisschen Tabak übrig?“
Raoul ging über den Strand direkt zu einer Hütte unter einem Pandanusbaum. Er war der Frachtmeister seiner Mutter, und seine Aufgabe bestand darin, die gesamten Paumotus nach dem Reichtum an Kopra, Perlmutt und Perlen abzuklappern, den sie erzeugten.
Er war noch nicht lange Frachtmeister, dies war erst seine zweite Reise in dieser Funktion, und er litt insgeheim große Sorge wegen seiner mangelnden Erfahrung im Beurteilen von Perlen. Aber als Mapuhi diese Perle vor seinen Augen enthüllte, gelang es ihm, seine Verblüffung zu verbergen und einen gleichmütigen, geschäftsmäßigen Ausdruck beizubehalten.
Denn der Anblick der Perle hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Sie war so groß wie ein Taubenei, makellos rund und von einem Weiß, das in opalisierenden Lichtern aller Farben zu schillern schien. Sie war lebendig. Nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Als Mapuhi sie in seine Hand fallen ließ, war er überrascht von ihrem Gewicht. Das zeigte, dass es eine gute Perle war. Er sah sie sich durch ein Taschenvergrößerungsglas genauer an. Sie war ohne Makel oder Fehler. Ihre Reinheit schien geradezu aus seiner Hand in die Atmosphäre auszustrahlen. Im Schatten leuchtete sie von innen heraus, schimmernd wie ein sanfter Mond. Sie war von derart durchscheinendem Weiß, dass er sie fast nicht entdecken konnte, als er sie in ein Glas Wasser fallen ließ. An der Art, wie sie geschwind und gerade zu Boden sank, erkannte er, sie war von ausgezeichnetem Gewicht.
„Nun, was willst du dafür haben?“ fragte er mit gut gespielter Nonchalance.
Ich will –“ begann Mapuhi und hinter ihm, sein eigenes dunkles Gesicht einrahmend, nickten die dunklen Gesichter zweier Frauen und eines Mädchens zustimmend zu seinen Wünschen. Ihre Köpfe waren vorgereckt, erfüllt von unterdrückter Ungeduld, ihre Augen glitzerten begehrlich.
Ich will ein Haus,“ fuhr Mapuhi fort. Es muss ein Dach aus verzinktem Eisenblech haben und eine achteckige Pendeluhr. Es muss zehn Meter lang sein und rundum eine Veranda haben. In der Mitte muss es einen großen Raum haben, mit einem runden Tisch im Zentrum und der achteckigen Pendeluhr an der Wand. Es muss vier Schlafzimmer haben, zwei zu jeder Seite des großen Raums, und in jedem Schlafzimmer müssen ein eisernes Bett, zwei Stühle und ein Waschtisch stehen. Hinter dem Haus muss eine Küche sein, eine gute Küche, mit Töpfen und Pfannen und einem Herd. Und du musst das Haus auf meiner Insel errichten, auf Fakarava.“
Ist das alles?“ fragte Raoul ungläubig.
Es muss auch eine Nähmaschine dabei sein,“ ergriff Tefara das Wort, Mapuhis Frau.
Nicht zu vergessen die achteckige Pendeluhr,“ fügte Nauri, Mapuhis Mutter hinzu,
Ja, das ist alles,“ sagte Mapuhi.