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Justus erwacht auf dem Exerzierplatz einer Burg. Er ist kein Teil mehr von Lamentos Armee. Er ist eine Bedrohung. Auf magische Weise gelingt ihm die Flucht, doch läuft er geradewegs der Hexe Mali in die Arme. Jetzt kann ihm nur noch der geheimnisvolle Ginn helfen. Der Fantasy-Mehrteiler 'Die Perlen von Palen' erzählt die fantastische Geschichte des Lämmichs Justus, dem das Schicksal scheinbar unschaffbare Aufgaben stellt. Bis Justus beschließt, erwachsen zu werden und der Mann zu sein, der er sein muss, für sich und für die Liebe.
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Seitenzahl: 408
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FÜR MEINEN MANN.
DU BIST MEINE INSPIRATION,
MEINE KRAFT,
MEIN GLÜCK,
MEINE LIEBE,
JEDEN TAG.
Justus erwacht auf dem Exerzierplatz einer finsteren Burg. Er ist kein Teil mehr von Lamentos Armee. Er ist eine Bedrohung, flieht und ist frei, bis die Hexe Mali vor ihm auftaucht. Kann ihm der geheimnisvolle Ginn helfen? Wird ihm die schöne Larklady Wing zur Seite stehen? Oder muss er allein vor der Vergangenheit fliehen, um herauszufinden wer er ist und wer er sein könnte?
Kirby Dixon wurde 1979 in Neuss geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt.
Schon in früher Jugend entfachte ihre Leidenschaft für Literatur. Sie schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und Romane, entschloss sich aber erst nach der Fertigstellung des Fantasy-Mehrteilers ’Die Perlen von Palen' dazu, zu veröffentlichen.
Prolog
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Epilog
Die Piraten der 'Sukhothai' kauerten dicht gedrängt im Speiseraum. Das Meer tobte unter dem Heulen des Sturms. Bedrohlich wachsende Wellen wurden mit Wucht gegen den Rumpf des Schiffes geschleudert. Zu stark war das Unwetter, als dass die Besatzung sich hätte dagegen stemmen können. So harrten sie aus, während die Elemente auf die Sukhothai einpeitschten. Im flackernden Licht der Öllampen erzählten sie nacheinander Geschichten.
Nun war Ginn an der Reihe, der zwischen den Piraten durch seine zarte Gestalt herausstach. Mit seinem jungenhaften Aussehen und dem langen blonden Haar, hätte man ihn fälschlicherweise für eines ihrer Opfer halten können. Doch alle Männer um ihn herum, behandelten Ginn mit Ehrfurcht und Respekt und das nicht zuletzt, weil er um sich und seine Herkunft stets ein Geheimnis gemacht hatte. Das einzige, das sie von ihm wussten, war, dass Ginn vor einigen Jahren als Sklave auf die Sukhothai kam und schon Tage später die rechte Hand des Kapitäns geworden war. Das allein reichte aus, um den Aberglauben der Seeleute zu schüren und Ginn in ihren Augen zu einer Art Hexer zu machen. Ginn ließ sie gern in diesem Glauben. Die Angst der Piraten war sein Schutz vor ihnen und es gab einen Mann, den jeder Mensch auf See und an Land fürchtete. Der Name dieses Mannes war Lamento und Ginn prahlte auch während dieses Unwetters nur zu gern mit seinem Wissen über Lamento und die Exklamationsburg.
Er zog die Öllampe zu sich herüber, tauchte sein blasses Gesicht, das nicht den Hauch eines Bartschattens aufwies, in ein schauriges Licht und begann zu erzählen:
„Weit im Norden gibt es Tal mit Namen Laudarus. Rings herum breiten sich goldgelbe Getreidefelder aus. Es ist ein malerischer Ort und doch der dunkelste, an dem ich jemals war".
Ginn machte eine kleine Pause und beugte sich ein wenig vor. Als er sich der Aufmerksamkeit aller gewiss war, fuhr er fast flüsternd fort.
"Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem Dorf wissen, dass sie nie allein sind, niemals unbeobachtet. Denn hoch oben, auf der Spitze der Berge in ihrem Rücken thront die Exklamationsburg. Wie todbringende Speere ragen ihre Türme in den immer blutrot schimmernden Himmel."
Wieder stockte Ginn und atmete theatralisch aus. Er liebte es, seine Geschichten so dramatisch wie möglich zu erzählen.
"Die Exklamationsburg ist umgeben von hohen schwarzen Mauern und uneinnehmbar. Aber wer würde jemals auf die Idee kommen, freiwillig auch nur einen Fuß in diese Burg zu setzen?"
Niemand gab eine Antwort.
"Jeder, der weiß wer dort herrscht, rennt so weit weg wie irgend möglich, denn man muss ihn nicht gesehen haben, um ihn zu fürchten. Über seine grauenvolle Gestalt gibt es genug Geschichten. Ich selbst jedoch habe ihm geradewegs in seine hässliche Fratze geblickt!“
Ein Raunen ging durch den Speisesaal und ein Schauer huschte von Rücken zu Rücken. Draußen heulte der Wind und das Schiff knarrte. Die Seemänner rückten noch näher zusammen, während der Seegang sie schüttelte. Sie waren lange genug auf den Ozeanen gesegelt, um sich auf den Bänken halten zu können.
Draußen knallte der Donner, gerade als Ginn den Herrn der Exklamationsburg beschrieb.
„Sein Gesicht ist schmal wie ein Totenkopf, seine Haut aschfahl und dünn wie altes Pergament. Er hat weder Nase noch Ohren, nur einen lippenlosen Mund und lange schwarze Fühler, die aus seinen leeren Augenhöhlen ragen."
Ginn zappelte mit den Fingern und imitierte die Fühler.
"Wenn der Burgherr seinen dürren Körper durch das Gemäuer der Burg schleppt, stützt ihn stets einer seiner Gehilfen. Um seine morschen Knochen schneller bewegen zu können, schlägt er bei jedem zweiten Schritt mit seinen Flügeln. Die von Adern durchzogenen Fetzen reichen ihm von den Schultern bis zu den Fersen und umflattern ihn wie ein alter Umhang. Sein Name lautet Lamento.“
Nervös blickten sich die Seemänner um, als befürchteten sie, Lamento käme jeden Augenblickin den Speiseraum geschlichen.
„Auch wenn der Herr über Laudarus nicht stark genug ist seine Burg zu verlassen, hat er doch einen Weg gefunden über seine Untertanen zu wachen. Er schart eine Armee um sich, bestehend aus schaurigen grauen Gestalten, die sich alle samt durch nichts unterschieden."
Ginn schüttelte sich, um seinen Zuhörern zu verdeutlichen, wie abstoßend diese Wesen waren.
"Man nennt diese Biester Lämmiche. Alle sind sie nicht größer als ein Kind von zehn oder elf Jahren. Ihre Haut ist grau und ihre Köpfe sind kahl. Lamento bedient sich ihrer Gedanken, sieht durch ihre Augen, spricht durch ihre Münder und schlägt mit ihren Fäusten auf fremde Tische.
Ohne Lamento denken diese Dinger gar nichts. Sie fühlen weder Schmerz, noch verspüren sie Durst oder Hunger. Alles, was sie vorantreibt, sind Lamentos Befehle. Nichts außer der perfekten Ausführung dieses Befehls interessiert sie und jeder der ihnen dabei im Weg ist, wird beseitigt."
Ernst blickte Ginn jedem Zuhörer ins Gesicht, dann erzählte er weiter.
"Nicht nur den Kindern richten sich die Nackenhaare auf, wenn ein Lämmich an ihnen vorüberhuscht. Auch ihre Eltern zucken zusammen, wenn Augen, um das Doppelte größer als beim Menschen, sie unerwartet anstarren. Egal, wo die Bewohner sich befinden oder womit sie beschäftigt sind, ein Lämmich findet immer einen Grund, seine Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken. Nichts entgeht ihren Ohren. Selbst nachts schrecken die Kinder aus bösen Träumen auf und sehen Schatten an ihren Fenstern vorbeihuschen.
Die Laudaner wissen, dass sie nie allein sind. Lamento bewacht sie Tag und Nacht, in jeder Sekunde. Manche von ihnen glauben sogar, er könne ihnen bis in ihre Träume folgen. Ich glaube das auch."
"Sie müssen sich doch wehren" rief einer der Seeleute.
"Dem hätte ich schon längst die löchrigen Flügel ausgerissen" rief ein anderer und alle grölten zustimmend. Ginn zog nur eine Augenbraue hoch und fuhr fort, jedoch um einiges lauter als zuvor. "Die Laudaner saugen die Angst vor ihrem Herrscher mit der Muttermilch auf und da überrascht es wenig, dass kaum einem in den Sinn kommt, sich zu wehren. Doch hin und wieder lockert der Alkohol in den Schenken einem jungen Mann die Zunge und er schreit sich seinen Hass von der Seele so wie ihr Trunkenbolde."
Alle lachten und prosteten sich zu.
"Doch stolpert dieser junge Mann mit sich und seinem Mut zufrieden ins Bett", fuhr Ginn fort "so ist es um ihn geschehen. Schon am nächsten Morgen findet die Familie sein Bett leer und verlassen vor. Nichts bleibt von ihm übrig, gerade so, als hätte es ihn nie gegeben.“
„Wie gruselig“, entfuhr es einem der Seemänner und seine Kameraden lachten gehässig.
Auch Ginn grinste. Er wusste, wie wichtig es war, vor diesen Männern keine Schwäche zu zeigen. Wenn es ihm darüber hinaus noch gelang ihnen Angst zu machen, umso besser.
„Die Laudaner leben von den Erträgen der Getreidefelder. Natürlich müssen sie die Hälfte aller Einkünfte an Lamento abtreten. Fällt die Ernte einmal schlecht aus, bleibt ihnen also kaum genug zum Leben. So sieht sich manch ein Familienvater gezwungen, einen Teil seiner Einkünfte vor dem Herrn der Exklamationsburg zu verheimlichen. Leider bleiben solche Unterschlagungen nie unentdeckt. Hatte die Familie vorher schon unter Hunger zu leiden, muss sie dann auch noch den Vater am Pranger auf dem Dorfplatz sehen, wo er für seinen Diebstahl bestraft wird.
Was bleibt den Laudanern anderes übrig, als ihre missliche Lage zu verdrängen? Sie alle haben schon erlebt, wie sich Familien verabschiedeten, um andern Orts ihr Glück zu finden. Keinen Tag später waren sie wieder in ihrem Haus in Laudarus, mit blasser Haut und schweigsamer als je zuvor.
Um ihr Schicksal besser ertragen zu können, denken die Laudaner nicht an die Burg über ihren Köpfen und an die Lämmiche mitten unter ihnen. Sie blicken in die entgegengesetzte Richtung, wenn ein Lämmich ihren Weg kreuzt und richten den Blick nie den Berg hinauf. Sie verlieren sich in ihren Alltagspflichten und sind dann sogar fast glücklich dabei.“
Die Tür zum Speiseraum flog auf und ein stämmiger Seemann trat ein:
„Der Sturm zieht ab. Macht euch wieder an die Arbeit.“
Unter Gemurre und Geächze erhoben sich die Piraten. Auf Ginns Gesicht lag ein wehmütiges Lächeln, als er die Öllampe löschte.
Der Herr der Exklamationsburg erwachte. Schwarze Fühler schossen aus seinen Augenhöhlen und weckten alle Lämmiche, noch ehe Lamento das schwarze Betttuch zurückgeschlagen hatte. Kein Wort kam über seine Lippen und doch befahl er allen Lämmichen, sofort zur Burg zu kommen.
Es dauerte nicht lange und die Lämmiche traten einer nach dem anderen aus der Tür ihres Turmes am Rande des Dorfes Laudarus. Wortlos stiegen die identisch aussehenden Wesen den Berg hinauf. Am Gipfel angekommen warteten sie, bis die schwere Zugbrücke herunter gelassen wurde. Kaum hatte diese festen Boden berührt, schritten die Lämmiche in zwei Reihen in die Burg. Der grob gepflasterte Weg zum Burgtor war glitschig und kalt. Die nackten Füße der Lämmiche glitten oft aus und waren blau vor Kälte. Sie aber spürten die Kälte nicht. Sie dachten nur an ihre Aufgabe. Jeder Lämmich wusste auf Anhieb, wo er sich aufzustellen hatte. Bald war der Burgplatz übersät mit Lämmichen, die den Blick stur auf die Empore gerichtet hielten. Eine Trommel schlug im Takt ihrer Herzen. In Kürze würde ihr Herr vor sie treten.
Der Hof war groß und von einer hohen Mauer umgeben. Wie Soldaten warteten die Lämmiche auf Lamento. Der Himmel über ihnen war schwarz und es roch nach Regen. Ein ungewöhnlich kalter Wind fuhr den Lämmichen unter die dünnen Leinenzweiteiler, doch das schien ihnen rein gar nichts auszumachen. Die Reihen blieben reglos. Kein Wort wurde gesprochen. Nicht einmal, als Lamento selbst den Hof der Exklamationsburg betrat.
Auf eine kleine pelzige Gestalt gestützt, schritt er auf die Empore zu. Seine löchrigen Flügel vor Anstrengung heftig schlagend, kämpfte er sich die wenigen Stufen bis zu seinem Thron hinauf. Den Schlund hatte er weit aufgerissen, um gierig die kalte Luft des regnerischen Sommermorgens einzusaugen.
Die Stütze Lamentos war sein Schweigling Flagand. Er war in etwa so groß wie ein Lämmich, beharrte jedoch darauf, deutlich größer zu sein. Sein borstiges schwarzes Haar ging in buschigen Koteletten zu einem ebenso borstigen Kinnbart über. Die rosa Schweinsnase glänzte vom Regen und ein Tropfen rann seitlich über einen der beiden bedrohlich hervorstehenden Eckhauer.
Flagand war wie annähernd alle grauen Schweiglinge leidenschaftlich böse. Eine Tatsache, die ihn mit seinem Herrn verband. Der Schweigling liebte es, sich neue Foltermethoden für die Lämmiche auszudenken. Und jedes Mal wenn ihm eine der kleinen Gestalten ins Netz ging, hoffte er, ihm einen Schmerzenslaut zu entlocken. Bisher war ihm das nie gelungen, doch eines Tages, da war sich sicher, würde er es schaffen.
Kaum hatte Lamento auf seinem Thron Platz genommen, schossen wieder die schwarzen Fühler aus seinen Augenhöhlen. Die Kontrolle konnte beginnen. Er durchleuchtete jeden einzelnen Lämmich, überprüfte die Schärfe ihrer Augen, roch durch ihre Nasen den Regen und überprüfte, ob sich außer ihm selbst nichts in ihren kahlen Köpfen befand. So ging er die Reihen durch. An keinem anderen Ort auf der Welt konnte es vergleichbar still und reglos sein.
In Reihe neun beim Neunzehnten von links tat Lamento, was er bei allen anderen Lämmichen getan hatte und konzentrierte sich dann auf die Nummer zwanzig. Dabei entging ihm jedoch, was mit der Nummer neunzehn geschah, nachdem er ihn inspiziert hatte. Das kleine Wesen formte einen eigenständigen Gedanken. Den ersten Gedanken, den dieser Lämmich je gedacht hatte: „Mir ist langweilig!“
Der Lämmich erschrak fürchterlich.
„Waswar das denn eben?“ fragte er sich und erschrak von neuem.
Doch egal, wie sehr er versuchte, nicht mehr zu denken, er konnte nicht aufhören. Immer wieder formten sich Worte, ja sogar ganze Sätze in seinem Kopf. Seine Gedanken schienen eine neue Stimme zu haben. Sie klangen so anders als Lamentos Befehle.
Mit aller Gewalt zwang er sich dazu, ruhig stehen zu bleiben und nicht in Panik laut schreiend durch die Reihen zu laufen.
„Alles wird wieder gut, Iustus“ sagte er sich selbst, und tatsächlich flatterte sein Herz nicht mehr gar so sehr.
„Iustus“, dachte er wieder und hätte beinahe gelächelt.
Er hatte einen Namen. Wie er auf den Namen gekommen war, konnte er sich nicht erklären. Aber darauf kam es wohl auch nicht an. Viel Grundlegenderes bereitete ihm Kopfzerbrechen: Was war mit ihm geschehen? Wieso war er aus heiterem Himmel so anders, als er es noch eine Minute zuvor gewesen war?
Iustus wusste auf keine seiner Fragen eine Antwort. Und als wären diese Gedanken und Fragen nicht schon schrecklich genug, hatte sich etwas noch viel Schlimmeres in seinen Körper geschlichen: Er hatte Gefühle.
Nie zuvor hatte Iustus gespürt, wie kalt seine Füße waren oder wie sich sein Herz bei jedem Schreck zusammenzog. Er fühlte sich allein und das inmitten all der anderen Lämmiche. Verstohlen blickte er sich um. Wie er seine Kameraden beneidete. Sie waren nichts als emotionslose Hüllen und was konnte es denn Schöneres geben? Selbstvergessen standen sie da, während Iustus gegen Gedanken, kalte Füße und Angstschweißattacken kämpfte.
Iustus blieb auf seinem Platz stehen. Wie hätte er sich auch bewegen sollen? Lamento hatte ihm nicht gesagt, er solle sich bewegen. Es war ihm schon ein Rätsel, wie ihm überhaupt der Gedanke ans Bewegen gekommen war.
Ein Gefühl der Scham überkam ihn. Irgendwie musste er dieses plötzliche Erwachen selbst verschuldet haben. Vielleicht war er kaputt. Sollte er sich womöglich melden? Immerhin war es augenscheinlich niemandem sonst passiert, also lag die Schuld wohl bei ihm. Doch Iustus bekam Angst. Er wollte sich schützen. Es war wohl am besten sich ruhig zu verhalten. Wenn er sich anstrengte, würde seine Veränderung hoffentlich niemandem auffallen. Was Lamento wohl mit ihm täte, wüsste er von Iustus plötzlichem Erwachen? Was immer es war, Iustus würde es danach nicht mehr geben.
Der Lämmich verharrte, bis sich Lamentos Stimme wieder in seinen Kopf schaltete und sie alle aus der Inspektion entließ. Leicht gebeugt, mit einer Furche auf der Stirn, folgte er den Lämmichen hinaus aus der Burg und stapfte durch die hohen Wiesen zurück nach Laudarus. Nur noch leise drangen Lamentos Befehle zu ihm durch. Lief er Gefahr, Lamento ganz zu verlieren?
Das Vogelgezwitscher um ihn herum, das laute Stapfen der Schritte, die Gerüche der Nadelbäume, alles drehte sich in seinem Kopf und machten ihn schwindelig: „Vielleicht muss ich mich nur ausruhen und morgen wird alles wieder so sein, wie es gestern war.“
Diese Hoffnung nahm ihm etwas Druck von der Brust.
Ein Bauer schob seinen Karren samt Saatgut den Berg hinauf. Völlig synchron drehten alle Lämmiche ihre dünnen Hälse und starrten den Laudaner neugierig an. Dieser schüttelte sich unauffällig und schob seinen Karren weiter. Iustus hatte nichts davon mitbekommen. Sein Blick hing an einem Einhornschmetterling, der ihm seit dem Verlassen der Burg nachgeflogen war. Hätte auch nur ein einziger Lämmich Iustus' asynchrones Verhalten aus dem Augenwinkel wahrgenommen, Iustus hätte sein warmes Bett wohl nicht mehr heil erreicht.
In dieser Nacht fand Iustus keinen Schlaf. Er lag auf einer Pritsche in seiner Kammer und starrte an die Decke. Nie war ihm die spartanische Einrichtung im Turm aufgefallen. Jetzt fragte er sich, wie er bisher mit einer Pritsche, einer Waschschüssel und einem Schrank ausgekommen war. Er besaß rein gar nichts Persönliches. Alles um ihn herum war ebenso grau wie er selbst. Nichts konnte ihn ablenken und ihm die Angst vor der Dunkelheit nehmen. Sein einziger Halt war ein abgegriffenes fast federloses Kissen.
Iustus hörte Lamentos Stimme an diesem Tag nicht mehr. Nicht einmal den Befehl zur Nachtruhe hatte er empfangen. Vielleicht konnte er deswegen nicht einschlafen?
Was hatte er früher in der Dunkelheit gehört? Hatte er vielleicht gesummt oder war außer Lamento immer nur Stille um ihn herum gewesen? Was hörten die anderen Lämmiche jetzt?
So viele Fragen beschäftigten ihn. Urplötzlich ein anderer geworden zu sein, kam Iustus vor, als habe man ihn aus dem obersten Fenster des Turms geworfen und er hörte einfach nicht auf zu fallen.
Iustus hatte sich gerade erst gefunden, aber kein Gedanke oder Gefühl verankerte sich in ihm, außer der Angst.
Zum ersten Mal in seinem Leben kamen ihm Tränen. Sein Kinn bebte und obwohl er sich so fest an sein Kissen klammerte, tropften die Tränen immer weiter aus seine müden Augen. Leise weinte er, bis sich der Schlaf schließlich doch erbarmte und ihm ein paar Stunden der Stille schenkte.
„Sind sie weg?“, fragte sich Iustus direkt nach dem Aufwachenund ließ sich stöhnend wieder in sein Kissen fallen.
„Wiesohaut ihr nicht ab?“, zischte er zornig, doch seinen Gedanken war das egal. Sie tanzten weiter durch seinen Kopf und ließen sich nicht verscheuchen. Sie hatten nur Fragen, nie Antworten. Genau wie die kleinen Kinder im Dorf. Er hatte wirklich gehofft, der Schlaf könne wieder einen normalen Lämmich aus ihm machen.
Iustus' Magen zog sich zusammen, als er an den bevorstehenden Tag dachte. Erschrocken tastete sich der Lämmich ab. Das Ziehen im Magen war ihm nicht geheuer. Bedeuteten solche Schmerzen etwas Schlimmes? War er vielleicht viel defekter, als er vermutet hatte? Er hatte schon von defekten Lämmichen gehört. Lamento fand ihre Fehler bei den Inspektionen heraus und ließ sie aussortieren. Vielleicht wurden sie repariert, vielleicht auch ersetzt. Früher hätte das keinen Unterschied für ihn gemacht. Da er nun aber selbst defekt war, gewann der Unterschied zwischen reparieren und ersetzen doch an erheblicher Wichtigkeit für ihn.
„Tafelpflichten“, hörte er Lamentos Stimme in seinem Kopf und sprang reflexartig aus dem Bett. Es tat gut wieder eine andere Stimme als seine eigene zu hören. Draußen vernahm er das vertraute Geräusch der anderen Lämmiche, die im Gleichschritt die Wendeltreppe hinabliefen. Hastig ging er zur Waschschüssel und wischte sich mit einem feuchten Tuch über sein Gesicht. Er eilte aus dem Zimmer. An der Treppe verlangsamte er seinen Schritt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Iustus war in der Gruppe derer, die schweigend ihren Weg zur Exklamationsburg antraten. Die andere Hälfte blieb in Laudarus.
Jeder Lämmich bekam am Morgen eine Aufgabe zugeteilt, und heute war es Iustus' Pflicht für Lamentos leibliches Wohl zu sorgen.
Über Nacht hatte es zu regnen begonnen und Iustus fror fürchterlich. Obwohl er immer wieder verstohlen zu den anderen Lämmichen sah, war ihnen die Kälte nicht anzusehen. Sie marschierten durch den immer tiefer werden Matsch, als bemerkten sie gar nicht, wie durchnässt sie schon waren. Möglichst unauffällig rieb sich Iustus die eiskalten Hände und versuchte, sie mit seinem Atemzu wärmen.
Den ganzen Weg über wartete er geradezu darauf, dass einer der Lämmiche zu ihm herübersehen, auf ihn deuten und schreien würde. Iustus selbst kam sich so auffallend anders vor. Jeder seiner Schritte war zögerlich, während seine Kameraden im Gleichschritt voraus stolzierten.
Iustus' Blick wanderte zu den Wolken. Dicke Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht. „Wie Regen wohl schmeckt?“, fragte er sich. Doch bevor er den Mund öffnen und den Regen probieren konnte, lenkte ihn ein lautes Knarren ab. Er kannte dieses Geräusch genau. Die Zugbrücke wurde heruntergelassen. Diese alte verwitterte Brücke war die einzige Möglichkeit, von der Spitze des einen Berges zur Burg auf der Spitze des anderen Berges zu gelangen. Zwischen diesen Bergklippen klaffte eine Hunderte Meter tiefe Leere.
Während Iustus über die Brücke ging, wagte er einen Blick über den Rand und bereute es sofort. Schwindelfrei war er offenbar nicht. Die Tiefe begann zu rotieren und verwandelte sich in einen mitreißenden Sog. Schwer atmend, taumelte Iustus zur Mitte der Brücke zurück. Niemand hatte etwas bemerkt, doch seine Knie zitterten noch immer. Nur mit Mühe erreichte er die Burg aufrecht, obwohl seine innere Stimme ihn zwingen wollte auf allen vieren weiter zu kriechen.
In der Küche fühlte sich der Lämmich deutlich wohler. Seine Arbeit ging ihm leichter von der Hand, als er erwartet hatte. Die jahrelange Routine half ihm dabei. Erst deckte er die meterlange Tafel für Lamento und Flagand ein, dann fuhr er den Servierwagen in einen angrenzenden Raum. Dort war ein Stück des Bodens durch einen Speiselift ersetzt worden. Iustus stellte den Servierwagen exakt auf die Markierung und begann fleißig an einer Kurbel zu drehen. Stück für Stück versank der Wagen samt Bodenplatte in Richtung der unteren Etage und ein Loch klaffte im Fußboden. Danach schlüpfte Iustus durch eine selbst für ihn schmale mit Stoff bezogene Tür, hinter der eine Wendeltreppe in die Küche führte. Dort traf ihn die Heftigkeit seiner Empfindungen unvorbereitet. Der Duft des Essens stieg ihm in die Nase und sofort meldete sich sein Magen. Die Lust auf das Probieren all dieser Speise war einfach zu groß. Zuerst schnappte er sich eine Schüssel mit Rührei und sog den Duft tief ein. Wie von selbst griff er nach einer Scheibe geröstetem Brot. Kurz bevor er das Ei auf das Brot zu schaufeln begann erstarrte Iustus. So beiläufig wie möglich legte er das Brot zurück und stellte die Schüssel mit dem Ei auf den Servierwagen. Er sah aus dem Augenwinkel einen Lämmich an der Tür stehen und betete inständig, dass sich Lamento nicht dessen Augen bedient hatte, als Iustus Heißhunger ihn überkommen hatte.
Schnell belud er den Wagen und fuhr ihn zurück zum Aufzug. Erst als er zu kurbeln begann, atmete er erleichtert aus. Diesmal hatte er noch Glück gehabt, doch langsam wurde ihm klar, was es bedeutete etwas vor Lamento geheim zu halten.
„Mach gefälligst schneller!“, donnerte Lamento. „Muss ich dir erst zeigen, wozu deine mickrigen Arme da sind, du schwächliche Graupe?“
Lamento hatte ihn kritisiert und beleidigt. Eigentlich war das nichts neues, doch Iustus‘ Schmerz darüber war neu. Er hörte den Schweigling Flagand lachen und das machte ihn auch noch wütend.
Vor zwei Tagen wären ihm sowohl die Kritik als auch der Spott egal gewesen. Nun kurbelte er wie ein Verrückter, um seinen Herrn doch noch zufrieden zu stellen. In seinen Gedanken verschluckte sich Flagand am Rührei und fiel röchelnd zu Boden. Helfen würde er ihm nicht.
Kaum hatte sich das Loch im Boden wieder geschlossen, erschien ein weiterer Lämmich hinter Iustus. Gemeinsam trugen sie das Frühstück auf und Iustus' Ärger über seinen Herrn verlor sich wieder.
Flagand hatte dem Herrn der Exklamationsburg einiges zu berichten. Nur gelegentlich wurde er von Lamento unterbrochen, wenn dieser durch seine Lämmiche die Bewohner von Laudarus befehligte. Iustus folgte der Unterhaltung möglichst unauffällig.
Das Abdecken der Tafel übernahm Iustus gemeinsam mit drei weiteren Lämmichen. Lamento war bereits aufgestanden, um wie jeden Morgen in den Thronsaal geleitet zu werden.
Iustus wirbelte fleißig herum, räumte das Geschirr auf den Wagen und pfiff in seinem Kopf eine fröhliche Melodie. Das Warten hatte ihm in den Füßen geschmerzt und er war dankbar dafür, sich wieder bewegen zu dürfen. Während er Teller auf Teller schichtete, schweiften seine Gedanken ziellos umher, doch plötzlich blieb die Zeit stehen. Ein kalter Schauer jagte über seinen ganzen Körper. Er drehte sich um. Die drei Lämmiche starrten ihn an, Flagand starrte ihn an und Lamento hatte ihm sein augenloses Gesicht zugewandt.
Jetzt erst hörte Iustus es. Seine eigenen Gedanken hatten Lamentos Befehl übertönt, doch nun hörte er Lamento wieder mehr als deutlich in seinem Kopf. Er hatte Lamento zum Thron führen sollen und es einfach nicht getan. Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können? Was sollte er jetzt machen? Sollte er einfach zu Lamento gehen und so tun als sei nichts geschehen? Das schien ihm zu riskant. Iustus schluckte hörbar.
„Packt ihn!“, schrie Lamento.
Ein Lämmich kam von vorne, einer von rechts und der dritte von links auf ihn zu. Iustus brach der Schweiß aus. Einem Impuls folgend zerschmiss er eine Vase und langte nach einer der spitzen Scherben. Wie ein Messer richtete er sie abwechselnd auf die ihn umkreisenden Lämmiche. Mit einem so aggressiven Verhalten hatte nicht mal Lamento gerechnet. Einen Moment lang war der Herr der Exklamationsburg irritiert. Mehr brauchte Iustus nicht und lief los. Er rannte zur versteckten Wendeltreppe, stolperte die Stufen hinab und landete mit einer Vorwärtsrolle in der Küche. Vor Iustus' Nase zückte der Koch ein Fleischermesser und ging auf ihn los. Erschrocken wich Iustus zurück und stolperte rückwärts über die unterste Stufe. Aus dem Augenwinkel erspähte er einen Servierwagen, der in einem äußerst günstigen Winkel stand. Kurzerhand griff er unter dem angreifenden Koch hindurch, bekam den Servierwagen zu fassen und schleuderte ihn dem Koch vor die Beine. Dieser ging mit einem Ächzen zu Boden und Iustus sprang über Koch und Servierwagen hinweg. Keuchend schaffte er es bis in den Flur der Burg.
Iustus lief so schnell, wie er konnte, doch der Rattenschwanz an Verfolgern wurde immer länger. Mit brennender Lunge und schmerzenden Beinen schaffte es der Lämmich bis zum Hof der Burg. Der Regen war seit dem morgen noch stärker geworden. Einer seiner Verfolger sprang ihm in den Weg, Iustus wich trotz der Nässe geschickt aus und steuerte auf die Zugbrücke zu. Er hörte das Quietschen der Kurbel und fluchte leise. Offensichtlich war jemand dabei die Brücke heraufzuziehen, um ihm so den Weg abzuschneiden. Iustus rannte noch schneller. Mit Anlauf sprang er auf die Zugbrücke, die bereits ein gutes Stück über dem Boden hing. Zwischen den Holzbrettern hindurch erspähte er den klaffenden Abgrund. Ihm blieb nicht viel Zeit zu überlegen. Hinter ihm schwoll der Lärm sich nähernder Verfolger an. Was blieb ihm anderes übrig als zu springen?
Auf allen vieren landete Iustus am Rand des gegenüberliegenden Berges. Er schlug sich Knie und Hände auf. Tränen traten ihm in die Augen. Er blinzelte sie weg. Er musste dringend weiterlaufen. Entschlossen richtete sich der Lämmich auf. Anstatt aber festen Boden unter seinen Füßen zu fühlen, rutschte er vom Felsvorsprung, und einen Wimpernschlag später hingen seine Beine bereits in der Luft, während seine Hände verzweifelt nach Halt suchten. Er zerrte am nassen Gras, doch immer wieder riss es aus der Erde ohne ihn ein Stück näher in Sicherheit gebracht zu haben. Ein panisches Schluchzen entfuhr ihm. Hektisch suchte Iustus nach irgendeinem Halt und fand ihn letztendlich in einem Strauch. Die Dornen an den biegsamen Ästen bohrten sich tief in sein Fleisch und der Schmerz schrillte in seinen Ohren. Beinahe hätte er vor Schreck losgelassen, doch der klaffende Abgrund zwang ihn zum Durchhalten.
Leise wimmernd krallte sich der Lämmich an den Strauch und begann zu ziehen. Da seine Füße keinen Halt fanden, mussten seine Arme die ganze Arbeit übernehmen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Zugbrücke wieder absenkte. Seine Verfolger brannten bereits darauf, ihm endlich nacheilen zu können.
Iustus musste den Schmerz verdrängen und sich heraufziehen. Seine letzten Kraftreserven aufzehrend, zog er sich unter einem gewaltigen Schrei nach oben. Keuchend hockte Iustus im Gras und sah etwas vor sich liegen. Irritiert schaute er zu einem Paar schwarzer Schuhe. Glänzend standen sie da, mitten im Regen auf einer Bergspitze. Iustus griff sie sich und zog sie einem Impuls folgend über. Plötzlich sah er wieder klar und auch alle Erschöpfung fiel von ihm ab. Während die Lämmiche schon von der Zugbrücke sprangen, ergab sich Iustus diesem magischen Gefühl, dass ihn durchströmte. Es fühlte sich an, als pulsiere jede einzelne Zelle seines Körpers.
Der schnellste Verfolger war fast an ihn herangekommen und streckte schon die Hand aus, um sich Iustus zu greifen. Iustus spürte diese Bewegung im Nacken und lief los. Er rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben und mit einer ungeahnten Leichtigkeit. Die Landschaft flog an ihm vorüber, gerade so, als seien ihm Flügel gewachsen. Seinen Augen entging trotz des hohen Tempos nichts. Jeder einzelne Stein prägte sich ihm ein, ebenso wie alle Sträucher. Alles strahlte in einer neuen Schönheit. Seine Verfolger hatten kaum verstanden, dass er sie abgehängt hatte, da befand er sich schon in Laudarus.
"Ihr müsst magisch sein" flüsterte Iustus seinen Schuhen zu und schüttelte fassungslos den Kopf. Aber er hatte keine Zeit sich weiter mit dem Mysterium seiner Schuhe aufzuhalten.
Ohne zu zögern, stieß Iustus die Tür zum Turm auf. Er hoffte inständig, dass auch die Lämmiche aus der Stadt noch nicht den Turm erreicht hatten. Sicher hatte Lamento sie bereits ebenfalls auf Iustus angesetzt. Zu seiner Erleichterung fand er den Gemeinschaftsraum des Turms leer vor.
Seit Iustus' Flucht war Lamentos Stimme nur ein unverständliches Flüstern zwischen seinen eigenen Gedanken gewesen. Kaum beruhigte sich aber sein Herzschlag in der dunklen Stille des Turms, da drehte Lamento derart die Lautstärke auf, dass Iustus auf die Knie sank und sich den schmerzenden Kopf hielt.
„Komm auf der Stelle zurück zur Burg! Das ist ein Befehl. Steh auf und mach Dich auf den Weg! Sofort!“
Der kleine Lämmich zitterte am ganzen Körper. Seine Muskeln wollten dem Herrn gehorchen, doch Iustus' Geist wollte es nicht. Er wollte nur weg von Lamento, so weit es ging.
„Ich komm nicht zurück“, schrie er und begann vorwärts zu kriechen.
„Und ob du das tust!“, brüllte Lamento. „Du bist mein Eigentum.
Du tust, was ich dir sage.“
Lamentos Worte machten Iustus keine Angst, sie machten ihn wütend. Dort er durfte weder Lamento noch seine Wut siegen lassen. Sein Herr wollte ihn nur ablenken, bis die anderen Lämmiche im Turm ankamen, um ihn zu schnappen.
Mühsam richtete sich Iustus auf. Sein Kopf schmerzte derart, dass er trotz der Schuhe alles verschwommen sah.
Der Lämmich zog sich die Treppen hoch und oben angekommen, war der Schmerz überstanden. Lamento schwieg und Iustus atmete erleichtert aus.
Die Erleichterung hielt nur kurz an. Draußen hörte er das Getrampel einer Horde Lämmiche. Wenn sie ihn zu Lamento und seinem fiesen Gehilfen Flagand zurückbrachten, würde man ihm Unbeschreibliches antun.
Iustus lief in seine Kammer. Aus dem schmalen Schrank zog er hektisch einen Rucksack hervor, packte ein Stück trockenes Brot hinein und schob ein Set Leinenbekleidung und seine wenigen Habseligkeiten hinterher. Unten wurde die Tür aufgestoßen.
Iustus lief zu seiner Tür und schob die schwere Holzkommode davor. Er schnallte sich den Rucksack um und riss das kleine runde Fenster auf. Zum ersten Mal war er froh darüber, wie klein er war. Jeder andere wäre wahrscheinlich in dem Fenster stecken geblieben, er aber schaffte es sich mit den Füßen zuerst hindurch zu zwängen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, doch als die ersten Lämmiche gewaltsam versuchten, seine Tür aufzustemmen, schaffte er es die Fensterbank loszulassen und er fiel hinab.
Iustus stand allein auf dem höchsten Hügel der südwestlichen Felder. Ringsherum umgab ihn nichts als goldgelbes Getreide. Die Halme tanzten im Wind und formten sich am Horizont zu einer Welle, die geradewegs auf Iustus zu schwappte.
Laudarus, die Berge und besonders die Exklamationsburg lauerten in Iustus Rücken. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mutig in die Tiefen der Felder zu stürzen. Die Halme überragten ihn um mehr als eine Kopfhöhe. Aber immerhin hatte er den Sturz aus dem Fenster des Turms auch recht gut überstanden. Auch wenn er die Landung im Regenwasserfass nicht in bester Erinnerung hatte.
Die schwarzen Schuhe brachten Iustus schnell voran, mitten durch die Felder vor Laudarus. Den Blick auf den Boden geheftet, bahnte er sich seinen Weg durch die Getreidehalme. Was immer ihn aufhalten wollte, drückte er beiseite und ärgerte sich, während er seinen Weg fortsetzte immer weniger, wenn es ihm nachtragend auf den Rücken peitschte.
Auch nach Stunden der Wanderung wurde Iustus das Gefühl nicht los, noch zu nah an der Exklamationsburg zu sein. Er wusste tief in seinem Innern, dass, egal wie weit er auch lief, diese Burg ihn eines Tageswiedersehen würde.
Iustus wollte nicht zurückkehren, doch es würde so kommen. Das spürte er einfach.
Wie gerne hätte Iustus mit jemandem über seine Ängste gesprochen. Als Lämmich war es Iustus nicht gewohnt alleine zu sein. Lämmiche waren immer in Gruppen eingeteilt und verrichteten annähernd all ihre Arbeiten mindestens zu dritt. Nun war Iustus nicht nur auf sich allein gestellt, er war noch dazu fern ab von jeglicher Zivilisation. Sogar die Stimme Lamentos begleitete ihn nicht länger. In seinem Kopf spukten nur die eigenen wirren Gedanken.
Mit hängenden Schultern und schwerem Herzen zog der Lämmich weiter durch die Felder. Er schleppte sich voran, voller Sehnsucht auf die nächste Stadt.
Saatkrähen kreisten über ihm, und aus Einsamkeit begann er mit ihnen zu sprechen.
„Wohinseid ihr denn unterwegs?“
„Krahhh!“
„Oh, ihr mögt also Getreide, was?“
„Krahh, krahh!“
„Soll ich euch von einer gruseligen Vogelscheuche erzählen, die...“
Die Krähen flatterten davon und Iustus seufzte. Es war gar nicht leicht, ein Gespräch in Gang zu halten, wenn nicht Lamento die Worte für ihn aussuchte.
Die Sonne versank hinter dem Yamaliagebirge und Iustus bereitete sich auf eine Nacht im Freien vor. Er kletterte auf einen Hügel und sah überrascht die Umrisse einer Stadtmauer in der Ferne. Sein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus. Sofort eilte er auf die Stadtmauer zu. Stimmen und Gerüche quollen über die Mauer und schwappten ihm entgegen.
„Wie das Leben außerhalb von Laudarus wohl aussieht?“, fragte sich Iustus. „Kannten die Menschen in dieser Stadt Lämmiche? Falls dem so war, wie standen sie zu ihnen? Werden sich die Menschen mit mir unterhalten wollen? Werde ich einen Platz zum Schlafen finden?“
Ohne Geld in eine fremde Stadt zu kommen war gefährlich. Vielleicht würde er an den Pranger gestellt werden, weil die Menschen ihn für einen Bettler hielten. So wäre es ihm in Laudarus ergangen.
Vielleicht werden die Menschen sich vor ihm fürchten, wie die Laudaner es taten. Ob die Kinder ihn auch hier mit Steinen bewerfen werden? So hatten es die Kinder in Laudarus einmal mit ihm gemacht. Seine anfängliche Freude verwandelte sich mehr und mehr in Panik.
Gerne hätte sich Iustus einfach ins hohe Getreide fallen lassen und wäre so der Beantwortung all seiner Fragen aus dem Weg gegangen. Aber irgendwann musste er sich seinen Ängsten stellen. „Immer noch besser als umzukehren“, sagte er sich und ging unsicheren Schrittes auf die Stadt zu.
Zuallererst fiel ihm der fremdartige Geruch auf. Es roch so anders als in seiner Heimat. Die Luft war kühler und schmeckte rau und salzig im Rachen. Der kräftige Wind fegte ihm in die Lungen und erfüllte ihn mit Frische, wie es sonst nur ein kühles Bad tat. Er fühlte sich erholter, aber auch hungrig.
Immer schneller eilte Iustus durch die Gassen, drückte sich an Passanten vorbei und folgte dem frischen Duft wie einer unsichtbaren Spur. Zum einen genoss es der Lämmich, nach der Zeit in den einsamen Feldern wieder umringt von Menschen zu sein. Auf der anderen Seite waren die Straßen auch zur Abendzeit noch so stark besucht, dass er kaum vorankam.
Die Passanten nahmen keine Notiz von dem kleinen Lämmich. Iustus' anfängliche Angst, man würde ihn womöglich für seine bloße Anwesenheit bestrafen, hatte sich als unsinnig herausgestellt.
Den gleichgültigen Blicken der Menschen war anzusehen, dass Besucher hier keine Besonderheit waren. Iustus fühlte sich zwischen so viel Desinteresse immer mutiger und nahm sogar die Hände zu Hilfe, um sich an den Menschen vorbeizuschieben.
Am Ende einer Gasse kletterte Iustus über Fässer und zwängte sich dann durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Häusern hindurch. Er betrat eine Promenade, breiter und belebter, als er je eine gesehen hatte. Überall standen Fässer und Kisten, die die Menschen zwangen, im Zickzack zu laufen. In einigen der Kisten türmten sich noch zuckende Fische. Iustus schauderte. Schnell wandte er den Blick von den glasigen Fischaugen ab, in denen er einen stummen Hilferuf zu sehen glaubte.
Das geschäftige Treiben auf der Promenade raubte dem Lämmich den Atem. Er sah Menschen, andere Kreaturen, hörte allerlei Sprachen und das Gepolterte von Kutschen, Schubkarren und Fässern.
Er hockte sich in einen Hauseingang und beobachtete einen Streit zweier Muskelmänner, die sich in einer fremden Sprache Beleidigungen an den Kopf warfen. Als sie damit nicht weiterkamen, nahmen sie schließlich die Hände zu Hilfe. Sie zogen und stießen sich, bis einer von ihnen mit dem Gesicht zuerst in einen Eimer voller Seetang fiel. Den Mund vor Schreck weit aufgerissen, richtete sich der vormals glatzköpfige Mann wieder auf und präsentierte seine neue Frisur aus glitschigem Seetang. Sein Widersacher brach bei diesem Anblick derart in Gelächter aus, dass er sich den schmerzenden Bauch halten musste. Kaum hatte sich der eine den Seetang abgewischt und der andere mit dem Lachen aufgehört, da verschwanden sie Arm in Arm im nächsten Gasthaus. Iustus sah ihnen fasziniert nach.
Schließlich stand er auf und konzentrierte sich wieder auf seine Suche nach dem salzigen Duft. Er war bereits so nah, dass er ihn beinahe schmecken konnte. Stinkende Männer drängten sich an seiner Nase vorbei und versperrten ihm die Sicht. Getrieben von Neugier zwängte sich der Lämmich weiter vorwärts, kletterte zwischen Beinen hindurch, bis ein Anblick der Unendlichkeit sich vor ihm auftat.
Iustus blickte in die Ferne und das Meer lag ihm zu Füßen. Noch nie war er am Meer gewesen. Donnernd schlugen die Wogen gegen die Hafenmauern und ein Zittern ging durch den Lämmichkörper. Das Wasser zog sich zurück und schien Iustus' Sorgen mit sich zu nehmen. Für den Lämmich war es Liebe auf den ersten Blick. Und wie die meisten, die sich in das Meer verlieben, liebäugelte auch Iustus gleich mit einem anderen Objekt der Begierde. Er betrachtete voll Bewunderung ein gewaltiges Segelschiff.
Wenige Meter vor ihm ragten hohe Masten in den Himmel. Er musste den Kopf weit in den Nacken werfen, um sie in Gänze betrachten zu können. Das Schiff war dunkelgrün und glänzte im Schein der untergehenden Sonne. Iustus las den Namen, der in großen schwarzen Lettern auf der Seite des Schiffes stand: SUKHOTHAI.
Der Lämmich kannte Schiffe und das Meer aus Lamentos Gedanken, doch hatte er sich bei weitem nicht ihre wahre Pracht ausmalen können. Die Schiffe lagen leicht schwankend auf dem Wasser, als schunkelten sie unbekümmert im Takt des Meeresrauschens.
Betrachtete man die dunkelblaue Weite, waren diese prachtvollen Schiffe nicht mehr als winzige Nussschalen. Sah man stattdessen, wie verloren die Seeleute auf den weitläufigen Decks wirkten, schienen die Schiffe groß wie die südwestlichen Felder.
Iustus fühlte sich nicht länger verfolgt. Inmitten des abendlichen Treibens am Hafen fühlte er sich zugleich frei und zuhause. Von hier aus konnte es ihn an jeden Ort der Welt verschlagen. Freiheit war ein berauschendes Gefühl und Iustus genoss es in vollen Zügen. So stand er eine lange Zeit bewegungslos am Ufer und ließ seinen Blick über Schiffe und Wellen schweifen. Seine Gedanken flossen dahin. Er fragte sich, woher wohl Lamento das Meer kannte, ob der Herr der Exklamationsburg jemals selbst die Freiheit auf hoher See genossen hatte.
Vielleicht war Lamento nicht weniger ein Gefangener, als die Lämmiche und auch die Laudaner es waren. Wie es wohl sein musste, nur durch andere sehen und riechen zu können, stets auf den Schutz einer Festung angewiesen zu sein. Iustus wusste nicht warum, und doch glaubte er, Lamento sei nicht immer so ein Monster gewesen. Vielleicht war er ebenso umher gezogen, wie Iustus es jetzt tat. Allerdings fehlte es dem Lämmich an Phantasie, um sich einen jungen Lamento vorzustellen. Besonders wenn sich dieser auch noch außerhalb der Exklamationsburg befinden sollte.
Die Wassermassen klatschten an die Stege und Schiffswände, während die Sonne vollends im Wasser dahinschmolz. Tränen der Rührung schossen dem Lämmich in die Augen. Er fand es selber furchtbar albern und doch konnte er nicht aus seiner Haut. So viele Jahre war er ohne Gefühle ausgekommen und jetzt konnte er sich nicht einmal mehr umschauen, ohne von Gefühlsausbrüchen niedergerafft zu werden.
„Hoffentlich gibt es auch mal was zu lachen“, murmelte Iustus verdrossen.
„Hast du was gesagt, Kleiner?“, erschrocken fuhr Iustus herum.
Ein großer breitschultriger Mann stand direkt vor ihm. Die Haut des Mannes war von der Sonne gegerbt und seine Augen vom Alkohol trübe. Er trug eine schmierige Schirmmütze über dem grauen Haar. Ein Zigarrenstummel hing schlapp zwischen seinen schmalen Lippen. Iustus schwankte zwischen Furcht und Freude. Wie gerne hätte er sich wieder mit einem anderen Lebewesen unterhalten, doch der stinkende Seemann machte ihm ziemliche Angst.
„Hab noch nie einen Lämmich so weit weg vom alten Lamento gesehen. Was gibt es denn in Hagburm so Wichtiges, dass er seine Spione hierher schickt?“
„Ich bin nicht wegen dem Herrn... ähm wegen Lamento hier. Ich habe Laudarus verlassen.“
Der Seemann lachte laut auf.
„Und Lamento hat nichts damit zu tun?“
Iustus schüttelte den Kopf. Ihm gefiel es nicht, über seinen ehemaligen Herrn zu sprechen. Alles, was mit Lamento zu tun hatte, war streng geheim, jeder Lämmich wusste das. Darüber hinaus kam es ihm reichlich eigenartig vor, dass dieser Mann vom Herrn der Exklamationsburg sprach, als wären die beiden alte Bekannte. Er hatte erwartet, dass die Existenz von Lamento und den Lämmichen außerhalb von Laudarus unbekannt war.
„Hast du schon immer gemacht, was Du wolltest?“, fragte der Mann.
Iustus beäugte sein Gegenüber vorsichtig. Wieso grinste ihn der Mann so an, als habe er ein glänzendes Goldstück gefunden? Am liebsten wäre der Lämmich einfach weggelaufen, aber er wollte den Mann nicht verärgern.
„Nein, ich bin erst seit kurzem... ich selbst“, erklärte er leise.
Iustus wusste selbst nicht, wie er beschreiben sollte, was mit ihm geschehen war.
„Weißt du, ich habe schon mal gehört, dass mitunter Lämmiche flügge werden. Am besten erzählst du deine Geschichte einem guten Freund von mir. Ihn wird sie sehr interessieren.“
Ohne Iustus Antwort abzuwarten, schob er den Lämmich in Richtung einer Gasse. Iustus bekam es nun richtig Angst. Er wollte wirklich nicht unhöflich sein, aber gegen seinen Willen verschleppt zu werden, kam nicht in Frage. Da hätte er ja gleich in Laudarus bleiben können.
"Stop" rief er empört und sprang zur Seite, so dass der Seemann ins Stolpern geriet. Leider fing er sich recht schnell wieder und versuchte erneut nach Iustus zu greifen.
"Lassen Sie das. Ich bin neu in der Stadt und möchte Ihren Freund jetzt nicht sehen."
Iustus richtete sich kerzengerade auf, strich sein Oberteil glatt und sah den Mann mit ernster Miene an. Dieser lachte nur, packte den Lämmich wie einen Sack voll Mehl und schmiss ihn sich über die Schulter. Wenig später befanden sie sich schon einer dunklen Kneipe, einige Gassen vom Hafen entfernt.
Die Kneipe roch nach Zigarren, Schnaps und ungewaschenen Seemännern. Fast alle Holztische waren voll besetzt. Karten- und Würfelspiele vertrieben den Männern die Zeit. Sie knallten die Würfelbecher auf die Tischplatten und schlugen sich grölend die Karten aus den Händen. Iustus hätte sich am liebsten in der nächstbesten Ecke vor ihnen verkrochen, aber der Geruch nach Essen und die unnachgiebige Hand des Mannes in seinem Rücken trieben ihn voran.
Der Seemann zog den Lämmich dicht an den Tischen vorbei. Für Iustus fühlte es sich an, als würde er an die Gitterstäbe eines Raubtierkäfigs gepresst. Ihn erschraken die Fratzen der betrunkenen Männer. Er schüttelte sich bei dem Anblick ihrer zahnlosen, verkrusteten Gesichter. Schluckte, wenn er ihren säuerlichen Geruch einatmete.
Iustus wurde in ein noch dunkleres Separee geführt, in dem es zum Glück weniger stickig und weitaus ruhiger war. Er atmete erleichtert die frischere Luft ein. An einer ausnehmend langen Tafel saß eine schmale Gestalt, das Gesicht unter einer schwarzen Kapuze verborgen.
„Sobald er mein Hemd loslässt, lauf ich weg“, sagte sich Iustus wieder und wieder.
„Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mir einen Lämmich anzuschleppen, Klaas“, sprach der Mann unter der Kapuze.
„Den habe ich, Ginn.“
Mit einer beiläufigen Geste erteilte der Mann unter der Kapuze Klaas das Wort. Dieser entschied sich dazu, den Lämmich für sich sprechen zu lassen. Aufmunternd, wenn auch etwas zu grob klopfte Klaas dem Lämmich auf den Rücken. Dieser stolperte einen Schritt vorwärts und fing sich wieder und hüstelte nervös. Von den Blicken der beiden Männer eingeschüchtert, starrte Iustus mit roten Wangenzu Boden.
„Mein Name ist Iustus...“, begann er zaghaft.
„Lämmiche haben keinen Namen“, zischte Ginn.
„Ich aber schon“, gab Iustus patzig zurück. Die Abfälligkeit des Mannes hatte ihn wütend gemacht, doch als Ginn ihn fixierte, zog Iustus erschrocken den Kopf ein. Er zwang sich dazu, weiter zu reden.
„Allerdings hab ich mir den Namen selbst gegeben.“
Als darauf niemand mehr etwas sagte, fuhr der Lämmich einfach fort.
„Ich bin nicht mehr so wie die anderen Lämmiche. Etwas in mir ist ... aufgewacht.“
Warum er so offen und ehrlich zu diesen Fremden war, wusste er selbst nicht. Irgendwie hoffte Iustus wohl auf etwas Verständnis und vielleicht sogar neue Freunde oder einfach nur etwas zu essen.
„Was soll das bedeuten?“ fragte Ginn und klopfte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Er konnte es offensichtlich kaum erwarten den Lämmich wieder loszuwerden.
„Er hat einen eigenen Willen, hat er gesagt. Was hältst du davon?“, fragte Klaas.
Ginn schwieg einen Moment. Er senkte den Kopf, weswegen ihm die Kapuze noch tiefer vor sein Gesicht rutschte.
„Du kannst gehen, Iustus“, sagte er schließlich.
Das musste er dem Lämmich nicht zweimal sagen. Iustus drehte sich um und schlüpfte durch die Tür. Die beiden Männer blieben alleine zurück.
„Willst du mich umbringen oder was? Wie oft hab ich gesagt, dass Lamento es auf mich abgesehen hat? Wenn er meine Stimme erkannt hat, sind bald Hunderte seiner kleinen Diener hier, um mir den Hals umzudrehen.“
„Aber du hast den Jungen doch gehört, er steht nicht mehr unter Lamentos Bann“ verteidigte sich Klaas.
Ein Glas schoss am Kopf des älteren Mannes vorbei und zerschellte an der Wand.
„Glaubst du jeden Mist, der dir aufgetischt wird? Soll der Kleine hier rumlaufen und laut rufen 'Ich suche Lamentos Feinde, bitte helft mir?' Glaubst du das?“
Ginn zog seine Kapuze zurück und zeigte ein für seine tiefe Stimme erstaunlich kindliches Gesicht. Er rieb sich die Schläfen und vergrub beide Hände kurz in seinem zerzausten blonden Haar.
Schließlich fixierte er Klaas mit funkelnden Augen. Der alte Seemann senkte beschämt den Blick. Ginn fühlte, wie das schlechte Gewissen in ihm hochkroch. Klaas hatte es sicher gut gemeint, auch wenn Ginn die Tat seines Freundes noch immer für dämlich hielt.
„Wir sind hier einfach zu nah an der verdammten Burg. Am besten wäre ich hier gar nicht erst von Bord gegangen. Wann legen wir ab?“
Klaas versuchte, sich die Enttäuschung über Ginns Reaktion nicht weiter anmerken zu lassen.
„Der Kapitän macht morgen noch einen Landgang. Übermorgen hat uns die See zurück.“
Ginn nickte. Ihm wäre eine frühere Abreise lieber gewesen. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und klopfte Klaas beim Hinausgehen versöhnlich auf die Schulter. Ginn war zwar ein ganzes Stück kleiner als der alte Seemann, doch er überstrahlte ihn mit Leichtigkeit.
Klaas verabschiedete Ginn am Hafen und schlenderte dann in Richtung der Altstadt davon. Die Gassen lagen im spärlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Nur vereinzelt zogen noch betrunkene Seemänner umher, ansonsten wurde es ruhig in Hagburm. Klaas glaubte nicht, dass er es schwer haben würde zu finden, wonach er suchte. Ginn war sein Freund, und er hielt große Stücke auf den jungen Mann, aber deswegen tat er noch lange nicht alles, was Ginn verlangte. Wenn der Lämmich nicht das geeignete Geschenk für seinen blonden Freund war, wusste Klaas noch jemand anderen, der sich sicher über seinen eigenen Lämmich freuen würde.
Die Nacht in einer fremden Stadt war unheimlich. Besonders, wenn man noch kurz vor Einbruch der Dunkelheit einer Entführung entkommen war. So war es nicht verwunderlich, dass Iustus von Haus zu Haus huschte wie ein scheues Eichhörnchen. Immer wieder verbarg er sich hinter Fässern und Kisten, oder hüpfte in unbeleuchtete Hinterhöfe.
Schließlich beschloss er, eine Backstube zu suchen, die nachts die Öfen anfeuerte, und sich an einer einigermaßen warmen Hauswand für die restliche Nacht schlafen zu legen. Sobald es hell genug sein würde, wollte er weiterziehen. Die nächste Stadt war sicher vielversprechender als Hagburm. Das Meer allerdings verließ er nicht gern.
„Iustus? Bist du hier irgendwo, Kleiner?“
Der Lämmich duckte sich und machte eine ungeschickte Rolle hinter zwei Ölfässer. Er kannte diese heisere Stimme, wenn auch erst seit wenigen Stunden.
Auf allen vieren robbte der Lämmich weiter und verkroch sich im Hinterhof eines Gasthauses. Ein großes Fass mit Küchenabfällen diente ihm als Versteck. Was die Dunkelheit seines Verstecks betraf, war er sehr zufrieden. Den Gestank der vergammelnden Lebensmittel hatte er allerdings unterschätzt. Schon nach Sekunden schossen ihm Tränen in die Augen und sein Magen begann sich zusammenzuziehen und Knurrgeräusche zu machen. Nur die sich nähernden Schritte hielten ihn davon ab aufzuspringen und möglichst viel Abstand zwischen sich und das Fass zu bringen.
„Iustus? Hey, jetzt komm schon raus Kleiner. Großer Gott, was für ein Gestank.“
Wieder waren schwere unrhythmische Schritte zu hören, doch diesmal wurden sie leiser. Iustus entspannte sich ein wenig. Ganz langsam robbte er etwas weiter von den Abfällen weg, bemüht kein Geräusch zu machen. Ein Zischen ertönte und Iustus erstarrte. Zwei leuchtend grüne Augen fixierten ihn. Eine Katze war auf das Fass mit den Küchenabfällen gesprungen und sah in Iustus einen unwillkommenen Konkurrenten.
„Schon gut. Ich will die Fischköpfe nicht“, flüsterte Iustus beschwichtigend.