Die Pestheilerin von Straßburg - Heidrun Hurst - E-Book
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Die Pestheilerin von Straßburg E-Book

Heidrun Hurst

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Beschreibung

Der Schwarze Tod lauert überall: Der mitreißende Historienroman »Die Pestheilerin von Straßburg« von Bestseller-Autorin Heidrun Hurst als eBook bei dotbooks. Straßburg im Jahre 1349: Der Schatten der herannahenden Pest liegt über der Stadt, Unheil brodelt in den Gassen und Finsternis schleicht sich in die Herzen der Menschen … Das Kloster am Rande Straßburgs scheint der letzte Ort des Friedens zu sein – bis dort eine Todsünde begangen wird: Eine der Nonnen hat sich erhängt … und bald folgen weitere dem dunklen Ruf des Todes. Die kräuterkundige Adelheid, die selbst viele Jahre im Kloster lebte, hegt den schrecklichen Verdacht, dass in Wahrheit ein perfider Mörder sein Unwesen treibt. Aber warum schlägt er dort zu, wo nur Unschuld zu finden ist? Als die Pest über Straßburg hereinbricht, droht die Stadt im Chaos zu versinken – Adelheid und ihr Verlobter Martin, der Sohn des Henkers, setzen alles aufs Spiel, um so viele Menschen wie möglich vor der tödlichen Epidemie zu retten … und dem eiskalten Mörder. Doch wird der Preis dafür ihr Leben sein? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende historische Roman »Die Pestheilerin von Straßburg« von Heidrun Hurst – nach dem Bestseller »Der Teufel von Straßburg« der zweite schillernde Historienroman über die Klosterschülerin Adelheid, den Scharfrichtersohn Martin – und ihre Liebe, die als helles Licht in der dunklen Zeit der Pest erstrahlt. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 439

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Über dieses Buch:

Straßburg im Jahre 1349: Der Schatten der herannahenden Pest liegt über der Stadt. Unheil brodelt in den Gassen, Finsternis schleicht sich in die Herzen der Menschen … und ein perfider Mörder treibt sein Unwesen – ausgerechnet an den Orten des Friedens und der Unschuld. Die kräuterkundige Adelheid und ihr Verlobter Martin, der Sohn des Henkers, setzen alles aufs Spiel, um so viele Menschen wie möglich vor der tödlichen Epidemie zu retten … und dem eiskalten Mörder das Handwerk zu legen. Doch wird der Preis dafür ihr Leben sein?

Über die Autorin:

Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, ging schon als Kind gerne mit Hilfe von Büchern auf Reisen in fremde Welten und ferne Zeiten. Ihr Hunger nach geschriebenen Abenteuern und Literatur wurde schließlich so groß, dass sie sich einige Jahre später selbst dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlicht sie historische Romane, für die sie mit Leidenschaft und Neugier tief in die Recherche längst vergangener Zeiten eintaucht.

Weitere Informationen über die Autorin auf ihrer Website: www.heidrunhurst.de

Auf Facebook: www.facebook.com/heidrun.hurst

Auf Instagram: www.instagram.com/heidrunhurst/

Bei dotbooks veröffentlichte Heidrun Hurst bereits den ersten Band ihrer Straßburg-Saga:»Der Teufel von Straßburg«

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Originalausgabe Juni 2020

Copyright © der Originalausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt von der litmedia.agency, Offenburg.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Renate Kunstwadl

Titelbildgestaltung: Nele Schüzu Design unter Verwendung von shutterstock/Faestock und eines Bildes von Johannes Boosboom

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-986-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Heidrun Hurst

Die Pestheilerin von Straßburg

Historischer Roman

dotbooks.

Glossar

Ammeister: In elsässischen Städten, besonders in Straßburg, Bezeichnung für den Bürgermeister

Aschkenasim: Eigenbezeichnung der mittel-, nord- und osteuropäischen Juden und ihrer Nachfahren

Bar Mitzwa: religiöse Mündigkeit

Bima: Lesepult im Zentrum der Synagoge

Breusch: ältere Bezeichnung des Flusses Ill

Bruche: von Männern getragene Unterhose

Chanukka: jüdisches Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung des 2. Jerusalemer Tempels im Jahr 164 v. Christus

Cotte: langärmliges Schlupfkleid (Unterkleid)

Dormitorium: Schlafsaal eines Klosters

Fehpelz: Fell eines Eichhörnchens

Genisa: Hohlraum zur Aufbewahrung unbrauchbar gewordener Schriften des Judentums

Goi: jüdischer Begriff für alle Nichtjuden

HaSchem: Bedeutet: Der Name. Wird im Judentum verwendet, um das Aussprechen des Gottesnamens zu vermeiden

Horen: Stundengebete

Infirmaria: Nonne, die für die Versorgung und Pflege der Kranken zuständig ist

Jom Kippur: Tag der Sühne und Versöhnung mit Gott

Kalefaktorium: Wärmestube des Klosters

Kapitelsaal: Versammlungsstätte des Klosters

Kirchenstaat: weltlich-politisches Herrschaftsgebiet des Papstes

Memoria: Totengedenken, Gebet für die Toten

Motte: Wehranlage auf einem künstlich angelegten Erdhügel mit hölzernem Wohnturm

Pessach: Jüdisches Fest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.

Profess: Ablegen der Ordensgelübde

Purim: freudiges Fest zur Erinnerung daran, dass Königin Esther die persischen Juden vor dem Tod rettete

Rosch Ha-Schana: jüdisches Neujahrsfest

Sorn: ältere Bezeichnung des Flusses Zorn

Surcot: ärmelloses Überkleid, das beide Geschlechter und alle Stände trugen

Talmud: Sammlung und Interpretation jüdischer Gesetze und religiöser Überlieferungen

Tanach: jüdische Bibel

Trippen: hölzerne Unterschuhe

Prolog

Straßburg, Heiliges Römisches Reich

20. Mai 1349

Der engelsgleiche Gesang der Nonnen verhallte mit den letzten Tönen des Gotteslobes zwischen den von bunten Bleiglasfenstern durchbrochenen Kirchenwänden. Der hohe Bau gehörte zum Kloster der »Büßerinnen der heiligen Magdalena«, doch im Volksmund nannte man die Ordensfrauen die »Reuerinnen«, was dem Zweck der Gründung ebenso nahekam, denn ursprünglich war es dafür gedacht, unzüchtigen Frauen und bußwilligen Straßendirnen ein sittliches, gottgefälliges Leben zu ermöglichen. Das Kloster lag vor den Toren Straßburgs, ein gutes Stück von der Wehrmauer entfernt, erreichte man es auf dem schnellsten Weg durch das Judentor.

Wie ein hässlicher Riss in einem schönen Gewand ragte die es umgebende hohe Mauer aus Feldsteinen zwischen den üppigen Gärten der reichen Städter empor. Das dort urbar gemachte Land, das auf einem breiten Streifen zwischen der Breusch im Westen und den Sümpfen im Osten lag, war heiß begehrt. Auch die Juden hatten sich einen Teil davon gesichert und hier einen Platz für ihre Grabstätten angelegt. Praktischerweise hatte man am diesjährigen Valentinstag die meisten von ihnen direkt daneben verbrannt, da man sie für den Ausbruch der herannahenden Pest verantwortlich machte. Und so war es kein Wunder, dass der Friedhof nun still und verlassen dalag.

Auch der Konvent der Reuerinnen erhielt einst selten Besuch. Bei seiner Gründung im Jahr 1225 unterlag er strengen Regeln, die aus Zucht, Stillschweigen und der vollkommenen Abschottung von der Außenwelt bestanden. Selbst in der Kirche hörten die Nonnen die Predigt des Priesters durch ein Gitter. Heute jedoch traten fast nur noch Töchter des gehobenen Bürgerstandes in das Kloster ein, dessen Stiftungen und Pfründe ihnen ein angenehmes Leben ermöglichten, und auch mit der kompromisslosen Einhaltung der Normen nahm man es nicht mehr ganz so genau.

Nun war das Stundengebet verklungen, mit dem die Nonnen den Tag begrüßten und im Angesicht der aufgehenden Sonne der Auferstehung des Herrn gedachten. Obwohl ein klarer Morgen die Dämmerung inzwischen vertrieben hatte, war Schwester Benedikta immer noch nicht erschienen.

Schwester Petronilla warf der Priorin einen fragenden Blick zu, während die übrigen sechsundzwanzig weiß gewandeten Nonnen die beiden neugierig beobachteten. Natürlich war Benediktas Fehlen niemandem entgangen.

Die alternde Vorsteherin des Klosters verstand. »Seht nach ihr«, flüsterte sie, so leise wie es ihr möglich war, doch in der Stille, die sich nach dem hellen Gesang unter den Ordensfrauen ausbreitete, schallte das Gewisper wie der Widerhall einer Posaune.

Schwester Petronilla fühlte die neugierigen Blicke der anderen in ihrem Rücken, als sie die Kirche verließ. Die kleine, füllige Nonne war nur wenige Jahre jünger als die Priorin und als Subpriorin ihre rechte Hand. Geschäftig eilte sie die Treppe empor, die den Chorraum direkt mit dem Dormitorium verband. Ihre Schritte hallten durch den Zellengang des länglichen Gebäudes, von dem Türen in die Schlafstätten der Schwestern führten.

Was mag wohl geschehen sein?, dachte Schwester Petronilla, von Sorge erfüllt.

Es gab nicht viele Gründe, weshalb man den vorgeschriebenen Horen fernblieb. Von allen Aufgaben der klösterlichen Gemeinschaft waren sie neben der Fürbitte und Memoria für die Stifter und Familien der Nonnen die wichtigsten. Doch die Laudes fanden im Anschluss an die Nachtruhe statt, und so war zunächst niemandem aufgefallen, dass Benedikta fehlte.

Sie ist noch so jung. Hoffentlich ist sie nicht ernsthaft erkrankt!

Petronillas Herz klopfte vor Aufregung bis zum Hals, als sie vor Benediktas Schlafzelle ankam. Die Tür war geschlossen. Irgendetwas verstärkte das ungute Gefühl in ihrer Brust.

»Benedikta. Seid Ihr da?« Die Stimme der älteren Nonne klang so zaghaft wie das Klopfen, mit dem sie Einlass begehrte. Nicht ein Laut drang durch die hölzernen Bohlen.

»Benedikta!«, versuchte sie es noch einmal. Diesmal etwas lauter.

Als wieder nichts geschah, öffnete sie beherzt die Tür.

Der Anblick, der sie dahinter erwartete, verschlug ihr fast den Atem. »Himmeldonnerwetter!«, stieß sie laut hervor und vergaß für einen Moment, dass dies in einem Kloster nicht angemessen war.

Doch was sie sah, war inmitten dieser heiligen Mauern so unvorstellbar wie eine Hochzeit. Nur wenige Handbreit unter dem Deckenbalken schwankte Benediktas Leib so sacht wie eine flackernde Kerze hin und her. Ihr weißer Habit wirkte wie ein Hohn angesichts dessen, was sie getan hatte. Ihren Schleier hatte sie abgelegt. Stattdessen wallte langes offenes Haar über die zarten Schultern. Ein kräftiger Strick lag wie ein pompöses Schmuckstück um ihren Hals, doch er war zu etwas gänzlich anderem gedacht. Er verwehrte den Kontakt ihrer Füße mit dem Boden. Petronilla erschauerte. Das aufgequollene Gesicht der jungen Nonne erweckte nun nicht mehr den Eindruck von Schönheit, und die starren, weit geöffneten Augen waren ein sicheres Zeichen für ihren Zustand.

Ganz ohne Zweifel war sie tot!

»Sie hat sich erhängt, sagt Ihr?« Maria, die alternde Priorin des Klosters, sandte einen anklagenden Blick die Wände des Chors hinauf, bevor ihre Augen über das bunte Glas der hohen Fenster zu Schwester Petronilla zurückkehrten. »Gott steh uns bei! Wie konnte sie nur so etwas tun?«, presste sie zwischen den Lippen hervor. Wie um sich zu schützen, schlug sie schnell ein Kreuz vor ihrer Brust.

Prüfend betrachtete sie die bestürzten Gesichter der Nonnen, die sie im Chor noch immer umringten. Der Schreck war auch ihnen deutlich anzusehen. Das faltige Gesicht der Priorin verzog sich vor Kummer. »Wir müssen es dem Generalpropst melden.«

»Ehrwürdige Mutter«, wandte Schwester Petronilla ängstlich ein, »sollten wir nicht lieber ...?«

»Ihr meint, sie einfach in geweihter Erde bestatten, als ob sie eines natürlichen Todes gestorben wäre?« Maria reckte ihre kleine, schmale Gestalt, damit sie etwas größer wirkte und die Autorität ihres Amtes besser zur Geltung kam. In der Miene ihrer Subpriorin las sie, dass sie richtig vermutet hatte. »Das darf nicht geschehen! Du sollst nicht töten, heißt es in der Heiligen Schrift. Benedikta hat dieses Gebot böswillig verletzt – ein Gebot Gottes!« Die Priorin blickte bedeutsam in die Runde. In ihrer Stimme lag nun ein herausfordernder Ton, den man sonst nur selten hörte. »Es gibt kaum eine schlimmere Sünde, als sich diesem Gebot zu widersetzen. Ich kann nicht verschweigen, was sie getan hat, denn ich bin es, die einst für ihre Seele Rechenschaft ablegen muss! Der Propst ist ein verständiger Mann. Gewiss weiß er Rat und wird uns helfen.«

Die Schwestern senkten zur Antwort den Blick. Ihr betretenes Schweigen sagte mehr, als Worte es vermochten.

Teil IDer Scharfrichter

WanderschaftZwei Tage zuvor

Eine warme Frühlingssonne beleuchtete das weite Tal, als Martin mit seinem Vater das in nordwestlicher Richtung liegende Burgtor passierte. Es war eines von sieben Stadttoren und vier Nebenpforten Straßburgs, das seinen Namen der Kronenburg verdankte, die einige Meilen entfernt auf dem Kocherberg thronte, um die ebene Landstraße nach Straßburg zu überwachen. In der entgegengesetzten Richtung führte sie nach Zabern, und dort wollten sie hin.

Zu Fuß war es ein weiter Weg, dennoch war Martin froh über den ausgedehnten Marsch, an dessen Ende seine Meisterprobe stattfinden würde. Es war ihm nicht wohl dabei, aber sein Vater Veit hielt es für angebracht, die Lehrzeit zu vollenden. Martin schien es, als ob er mit aller Macht daran erinnert werden sollte, dass die Geburt in eine Scharfrichterfamilie ein unwiderrufliches Los war, dem auch er nicht entfliehen konnte. Doch selbst die schlichte Tatsache seiner neunzehn Jahre wies auf das Unausweichliche hin. Er musste selbstständig werden. Wenn er die Probe bestand, war er ein ausgebildeter Scharfrichter und konnte auf der Suche nach einer Anstellung durch die Gegend ziehen. Sein Dienst in anderen Städten und Dörfern würde ihn von Straßburg wegführen, bevor er sich auf diese Weise einen Ruf erarbeiten und sesshaft werden konnte. Aber auch immer näher zu Adelheid hin, denn erst wenn er über ausreichenden Lohn verfügte, um eine Familie zu ernähren, stand einer Hochzeit mit ihr nichts mehr im Weg. Sie war Oblatin im Kloster St. Klara am Rossmarkt gewesen, als die Jagd nach einem Mörder sie zu Verbündeten machte. Während der langwierigen Suche hatten sie sich so sehr ineinander verliebt, dass Adelheid die Gemeinschaft verlassen und sich für eine Zukunft mit ihm entschieden hatte.

Wie üblich fand der letzte Akt seiner Lehrzeit, bei der der arme Sünder nach allen Regeln der Kunst zu Tode gebracht werden sollte, unter den Augen des Lehrmeisters statt. Die Anwesenheit eines weiteren Scharfrichters sorgte für eine gerechte Beurteilung. Es hatte nicht lange gedauert, bis eine geeignete Hinrichtung zur Verfügung stand. Der Zaberner Henker hatte seinem Vater ausrichten lassen, dass er die amtliche Genehmigung für die Prüfung erhalten habe und mit seinem Sohn kommen solle.

Ihr Weg führte sie am Richtplatz Straßburgs vorbei, den ein hoher, dreibeiniger Galgen markierte. Auch das Rad, auf das man einst Kunz, einen angeblichen Kindsmörder, geflochten hatte, stand immer noch da und wies wie ein Mahnmal auf die entsetzlichen Strafen hin, die für ein kaltblütiges Verbrechen zu erwarten waren. Kunz hatte stets bestritten, für den Tod der Jungen verantwortlich zu sein, doch niemand glaubte einem Zwerg, dessen Aussehen an sich schon nichts Gutes verhieß. Ein Gottesurteil und die Hartnäckigkeit des Dominikanerpriors hatten sein Schicksal schließlich besiegelt. Kunz‘ verwitterte Knochen hatte man inzwischen abgenommen, um ihm wenigstens im Nachhinein ein anständiges Begräbnis zu verschaffen. Der verrottende Leib des wahren Mörders hing immer noch da. Ein eisiger Schauer stellte die Härchen in Martins Nacken auf, als er daran dachte, dass der Zwerg qualvoll für etwas gestorben war, woran er nicht die geringste Schuld trug. Erst als die Morde weitergingen, stellte sich heraus, dass man den Falschen gerichtet hatte.

Jäh durchfuhr ihn ein Gedanke. Würde bei der bevorstehenden Hinrichtung auch ein Unschuldiger sinnlos sein Leben lassen müssen? Der Gedanke jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Doch selbst wenn es so war – er würde nichts daran ändern können.

Der Marsch von Straßburg nach Zabern führte sie durch eine Landschaft aus wucherndem Grün. Sie folgten einer ehemaligen Römerstraße, die sich geradlinig durch die fruchtbare Ebene des Rheintals zog. Um sich abzulenken, betrachtete Martin die Wiesen und Felder, an denen sie gemächlich vorbeischritten. Die junge Gerste, die auf den Äckern stand, deren lange Grannen sie so seidig wie fließendes Tuch überzogen. Den bunten Schmuck der Wiesen, die mit zahlreichen Blumen durchsetzt waren. In den angrenzenden Wäldern aus Eichen, Eschen und Buchen trugen die Bäume ein üppiges Blätterkleid. Und den Waldsaum aus Brombeeren schmückten liebliche weiße Blüten. Die Natur war voller Unschuld, nichts ahnend, was um sie herum geschah.

Unversehens kehrten seine Gedanken zu der bevorstehenden Hinrichtung zurück. All dies würde der Delinquent nicht mehr sehen können, der seinem Tod in der Gestalt eines Scharfrichterlehrlings entgegensah.

Martin schluckte schwer, als er die mit Unkraut übersäte Straße betrachtete, die zu einem zerfurchten Karrenweg verkommen war. Von ihrer einstigen Befestigung war so gut wie nichts mehr erhalten. Es war kein Vergnügen, mit einem Gefährt auf ihr zu reisen, sobald man die Stadt eine Weile hinter sich gelassen hatte. Aber auch zu Fuß war es nicht sehr angenehm.

Während des Tages sprachen die beiden Männer nicht viel. Ihre Gedanken verschlossen sie voreinander und richteten sie doch auf ein gemeinsames, unausweichliches Ziel.

Als der Abend anbrach, hatten sie die zu ihrer Linken hoch über ihnen thronende Motte der Kronenburg hinter sich gelassen, aber Zabern noch immer nicht erreicht. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in die Büsche des angrenzenden Waldes zu schlagen und dort ein notdürftiges Lager zu errichten. Nach einem kargen Mahl hüllten sich Vater und Sohn in ihre Umhänge, um auf einem Bett aus altem, aufgehäuftem Laub zu ruhen. Zuvor hatte Martin Holz gesammelt und ein kleines Feuer entzündet. Es würde die Raubtiere fernhalten, die sich nachts in den Wäldern herumtrieben.

Während sein Vater geräuschvoll neben ihm zu schnarchen begann, fand Martin kaum Schlaf. Gegen Morgen musste er dennoch eingenickt sein. Es dämmerte bereits, als Veit ihn aus unangenehmen Träumen weckte, die sich allesamt um eine misslungene Hinrichtung drehten und ihn keineswegs sorgloser stimmten.

Sie verzehrten die Reste des Brotes, das ihnen die Mutter mitgegeben hatte, und tranken Bier aus einem Tonkrug, den der Vater in seinem Bündel verwahrte.

»Hast du dir alles gemerkt, was ich dir über das schnelle Richten eines Delinquenten beigebracht habe?«, fragte Veit mit scharfer Stimme, die darauf schließen ließ, dass er den inneren Aufruhr seines Sohnes bemerkt hatte.

»Gewiss doch, Vater«, erwiderte Martin lahm. Er wusste, wie man einen Dieb zum Galgen führte. Ihm fachgerecht Hände und Füße fesselte und ihn die Leiter hinaufbeförderte. Das Hängen eines Delinquenten erforderte kein besonderes Geschick. Viel schwerer wog dagegen das Rädern oder Verbrennen, wovon Martin nicht hoffte, dass er es tun musste. Aber auch ein schneller Tod durch Enthaupten wollte gelernt sein. Aus diesem Grund hatte sein Vater es oft und unerbittlich mit ihm geübt.

»Gut, dann lass uns aufbrechen.«

Martins Beine wurden immer schwerer, je weiter sie vorankamen. Jeder Schritt brachte ihn näher an das Unausweichliche, das es zu bestehen galt. Doch obwohl er wusste, dass er nicht darum herumkam, hatte er gänzlich anderes im Sinn. Er war verliebt, er wollte nett sein und nicht der Schlächter, der zu sein man von ihm verlangte.

Auch für Adelheid war er am Anfang lediglich der Sohn eines Scharfrichters gewesen. Erst mit der Zeit gelang es ihm und dem alten Kräuterweib Gertrudis, dass sie trotz des abschreckenden Rufes, den sein Stand mit sich brachte, den gesehen hatte, der er war: ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen, dem es schwerfiel, ein Amt auszuführen, das die schlichte Tatsache seiner Herkunft von ihm forderte.

Der Morgen war fast vorüber, als sie die Stadt am Fuß der Vogesen erreichten. Dort, wo sich die Zaberner Steige über die schmalste Stelle des Gebirges schlängelte, hatten schon die Römer, so sagte man, eine Militärstation und mehrere Tavernen errichtet, um den Reisenden die Querung des Gebirges zu erleichtern und gleichzeitig ein Auge auf sie zu haben. Zabern war längst nicht so groß wie Straßburg, aber immerhin eine Stadt, die sich im Tal ausbreitete. In südwestlicher Richtung ragte ein nackter Bergkamm aus dem dichten Wald heraus und offenbarte an seinem höchsten Punkt die längliche Form einer Burganlage, die stolz auf sie herabblickte.

»Sie gehört dem Straßburger Bischof«, erklärte Bentz, der hiesige Scharfrichter, dessen Haus sie mühelos am äußersten Rand der Stadt gefunden hatten. Eigentlich hatte es diese Bezeichnung nicht im Mindesten verdient. Es war winzig und schäbig und erinnerte Martin daran, wie gut es ihnen in den letzten Jahren ergangen war. Der ärmliche Eindruck wurde von der Frau am Kochfeuer überstrahlt, die ihnen eine Speise bereitete, damit sie sich von den Strapazen der Reise erholen konnten.

Auf Geheiß des Scharfrichters nahmen die beiden Männer auf einer der beiden groben Holzbänke Platz, die den Esstisch flankierten. Bentz setzte sich ihnen gegenüber. Es dauerte nicht lange, bis er ihre verstohlenen Blicke bemerkte, die der offensichtlichen Schönheit seines Weibes galten.

»Hab Gerlin vor dem sicheren Tod gerettet.« Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln, das die anmutige junge Frau mit der gleichen Zuneigung erwiderte. »Komm. Setz dich zu uns und erzähle es ihnen.«

Gerlin folgte seiner Aufforderung, nachdem sie aufgetragen hatte. Während Vater und Sohn tüchtig zulangten, erfuhren sie, dass Gerlin als Dienstmagd in einem städtischen Haushalt gearbeitet hatte und ihrem Herrn auch in anderen Dingen gefügig sein musste. Heimlich und verschwiegen, damit sein Weib nichts davon mitbekam. Gerlin hatte sich wohl oder übel darauf eingelassen. Sie wusste, dass ihr Überleben von diesem Mann abhing, der sie mit Nahrung und einem Dach über dem Kopf versorgte. Ein armes Mädchen, deren Eltern eine große Zahl an Kindern durchfüttern mussten, hatte keine andere Wahl. Doch die Folgen blieben nicht aus.

Als Gerlin schließlich ein Kind unter dem Herzen trug, wurde die Verzweiflung übermächtig, denn damit musste sie allein fertigwerden. Ihrer Herrin konnte sie sich nicht anvertrauen und auch von ihrem Dienstherrn brauchte sie keine Hilfe zu erwarten. Man würde sie davonjagen, ganz gleich, von wem das Kind stammte. Zurück nach Hause konnte sie ebenfalls nicht. Ihre Eltern würden sie wegen der unübersehbaren Schande verstoßen, die sie ihnen bereitete. Doch keiner ihrer Versuche, das Kind still und heimlich auszutreiben, zeigte Wirkung. Nach zwei Tränken, die sie von einem verschwiegenen alten Kräuterweib erhalten hatte, war ihr mühsam erspartes Geld aufgebraucht, ohne dass sich der erhoffte Erfolg eingestellt hatte. Das Kind in ihrem Bauch wuchs munter heran, und es blieb Gerlin nichts anderes übrig, als es unter ihren Röcken geschickt zu verbergen.

Monate später, nachdem sie schon den ganzen Tag ziehende Schmerzen in ihrem Leib verspürt hatte, schlich sie sich eines Nachts aus dem Haus, um das Kind in einem Schuppen am Stadtrand zur Welt zu bringen.

»Es musste einsam, heimlich und vor allem leise geschehen«, erzählte Gerlin. »Und so biss ich auf ein Stück Holz, wenn der Schmerz anschwoll und mich zu zerreißen drohte. Kurz vor dem Morgengrauen gebar ich ohne fremde Hilfe einen Säugling. Einen kleinen Jungen, der mich ins Elend stürzen würde, sobald jemand von ihm wusste. Und dennoch fühlte ich Zuneigung für dieses zarte, hilflose Wesen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte nicht einmal eine Windel oder ein Tuch, mit dem ich es bedecken konnte.«

Gepeinigt von Elend und Schmerz geriet Gerlin in große Angst. Sie musste zurück, damit ihre Herrschaft nichts bemerkte. Traurig gab sie dem Neugeborenen einen letzten Kuss und bettete ihn auf einen Haufen aus aufgeschüttetem Stroh, der ihr als Lager gedient hatte. Dann machte sie sich auf, um das Feuer im Herd ihrer Herrschaft zu schüren, Wasser zu holen und zu tun, was sonst am Morgen noch anfiel.

Der Tag wurde zu einem der längsten ihres Lebens. Die nächtliche Geburt hatte an ihren Kräften gezehrt. Sie war todmüde und ihr Leib schmerzte. Gerlin gab sich alle Mühe, diesen Makel zu überdecken, obwohl ihre Herrin sie mit scharfen Augen beobachtete. Nachts schlich sie zurück in den düsteren Schuppen.

»Behutsam holte ich mein Kind aus dem Stroh, in das ich es gelegt hatte, und drückte es an meine Brust. Es war ganz kalt, als ich es auf die Stirn küsste. Der kleine Körper fühlte sich hölzern und starr unter meinen Fingern an.«

Gerlins Augen richteten sich auf die Tischplatte. Ihr Gesicht verzog sich vor Trauer. »Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich hatte mein Kind vernachlässigt, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Und nun war es tot! Ich war eine Kindsmörderin! Da nützte auch das wollene Tuch nichts mehr, das ich im Lauf des Tages heimlich beiseitegeschafft hatte. Schlagartig erkannte ich, dass es noch viel mehr bedeutete: Wenn man mich erwischte, würde man mich töten!«

Entsetzt verscharrte sie den leblosen Jungen tiefer im Stroh, deckte mehrere Lagen darüber in der Hoffnung, dass man ihn nicht fand, und machte sich rasch davon.

Nur kurze Zeit gelang es Gerlin, den harmlosen Schein aufrechtzuerhalten. Angst und Trauer führten dazu, dass sich ihr Zustand verschlimmerte. Ruhen konnte sie ohnehin nicht. Am Morgen des vierten Tages war sie zu schwach, um aufzustehen. Es bedurfte nur weniger gezielter Blicke ihrer Herrin, um sie über die Lage in Kenntnis zu setzten.

»Wo ist das Kind?«, hatte sie kalt gefragt.

»Es ist fort«, stammelte Gerlin, da ihr nichts Besseres einfiel.

Ihre Herrin holte die Hebamme, die sie eingehend untersuchte. Nicht länger als eine Woche«, stellte diese sachkundig fest. »Ihr wisst, dass man in einem Schuppen die Spuren einer Niederkunft und einen toten Säugling gefunden hat? Vor wenigen Tagen wurde ihm dort ein kaltes Grab beschert.«

Die Not hatte Gerlin wie ein eisiger Stachel durchbohrt. Sie war verloren. Ihre Niederkunft wurde dem Rat gemeldet, und nachdem man sie in den Diebesturm gebracht hatte, der als Kerker für jede Art von Verbrechen diente, gestand sie unter Tränen, dass sie die Mutter des toten Kindes war. Das anschließende Todesurteil war die unausweichliche Folge. Und so verkündete der Richter, dass ihr Tod durch Ertränken herbeigeführt werden solle.

Am Tag ihrer Hinrichtung wurde sie vom örtlichen Henker zur Sorn geführt, einem Fluss, der von den Vogesen herabkam. Eine schaulustige Menge erwartete sie dort bereits.

Der Scharfrichter war während ihrer Zeit im Henkerturm überaus gütig zu ihr gewesen. Auch jetzt warf er ihr mitleidige Blicke zu, die ihn nicht zu der bevorstehenden Tat zu befähigen schienen.

»Das Mitleid des Scharfrichters steigerte meine Angst zu einem tödlichen Grauen. Ich befürchtete, dass sein weiches Herz ihn bei der raschen Durchführung des Urteils behindern könnte. Im Stillen erflehte ich inbrünstig die Hilfe des Herrn, doch ich rechnete nicht im Geringsten mit dem, was dann geschah.« Ein liebevoller Blick traf ihren Mann, als sie fortfuhr. »Bevor das Urteil vollstreckt werden konnte, warf sich Bentz vor der versammelten Obrigkeit zu Boden. ›Ich bitte Euch, verschont dieses junge Weib! Sie kann doch nichts dafür, dass es so gekommen ist‹, flehte er mit eindringlicher Stimme. ›Ich verspreche Euch, sie zu ehelichen, sie zu schützen und zu ehren und in Zukunft über ihr Tun zu wachen.‹ Ein Raunen ging durch die Menge. Selbst den Richter, die Schöffen und Räte ließ Bentz’ Rede nicht kalt.«

Gerlin fühlte sich wie im Traum, als der Richter sie schließlich fragte: »Bist du mit dem Vorschlag des Scharfrichters einverstanden?« In ihrem Kopf drehte sich alles. Eben noch sollte sie ertränkt werden, und nun sollte sie stattdessen den Scharfrichter heiraten? Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. Schon in den vorangegangenen Tagen hatte sie bemerkt, dass er nicht dem Bild des gemeinen Schlächters entsprach, das die Leute nur allzu gern heraufbeschworen. Sein freundliches Wesen gefiel ihr, darüber hinaus war er noch recht jung. Und so kam es, dass aus dem Scharfrichter und der schönen Kindsmörderin Mann und Weib wurden.

Nicht jede Frau würde solch einem Schicksal zustimmen, dachte Martin, nachdem Gerlin geendet hatte. Er hatte schon von Fällen gehört, in denen die Frau lieber starb, als einen unehrlichen Scharfrichter zu heiraten. Die Tatsache des Folterns und Tötens und der Aberglaube, der damit einherging, machte sie fast zu Geächteten. Die meisten Menschen fürchteten, etwas von dem Bösen abzubekommen, das angeblich von ihnen ausging. Neben vielen Dingen, bei denen man sie von vorneherein ausschloss, gab es eine ganze Reihe an Vorsichtsmaßnahmen: Einem Henker sah man weder in die Augen noch berührte man ihn oder etwas, das er berührt hatte. Viele sprachen nicht einmal seinen wirklichen Namen aus. Das Haus, in dem er wohnte, war für alle Zeit verdorben. Und all diese Dinge galten nicht nur ihm. Darüber hinaus fand sich kaum eine Hebamme, die es auf sich nahm, seinem Weib beizustehen, wenn sie in den Wehen lag. Natürlich gab es immer wieder Menschen, die sich darüber hinwegsetzten, doch es waren nur wenige. So beschränkte sich der Kontakt mit anderen meist nur auf die Ausführung des Amtes. Und nur selten war eine Frau dazu bereit, all dies freiwillig auf sich zu nehmen, wenn sie nicht selbst aus der Familie eines Scharfrichters stammte. Doch Gerlin hatte eingewilligt – und die beiden sahen sich so zärtlich an, wie man es nur tat, wenn man glücklich war.

Ich kann nur hoffen, dass Adelheid und mir dasselbe Glück beschieden ist.

»Doch nun zu dir«, wandte sich Bentz an Martin. »Walther von Dossenheim wird es nicht so ergehen. Er ist der verarmte Spross eines Ritters und ein Schnapphahn, wie er im Buche steht. Auf einem der umliegenden Berge besitzt er eine Feste, nicht mehr als ein hölzerner Wohnturm mit einer Befestigung, die allerdings durch ihre Lage auf einem steilen Felsen schwer einnehmbar ist. Zusammen mit seinen Schergen hat er reisende Kaufleute überfallen und einige von ihnen getötet, um an Geld und Waren zu kommen, die er benötigte, um seine Schulden zu bezahlen.« Bentz nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, bevor er weitersprach. »Die von Dossenheim angeführten Überfälle sind schon seit Langem bekannt, doch bis jetzt konnte niemand etwas dagegen tun. Erst die List einiger Kaufleute brachte ihn zu Fall. Sie hatten sich bewaffneten Geleitschutz besorgt und die Bande in einen Hinterhalt gelockt. Die meisten Schergen wurden zur Strecke gebracht, einige sind entkommen, Walther von Dossenheim aber wurde lebend gefangen. Seine Strafe soll eine Warnung für alle Wegelagerer sein, die die Gegend unsicher machen, ob sie nun ritterlichen Geblüts sind oder nicht.«

»Eine Enthauptung also«, entgegnete Martin, der sich darüber im Klaren war, dass einem Mann von Adel ein unehrenhafter Tod durch den Strang erspart blieb.

»Bist du dazu in der Lage?«

Martin holte tief Luft. »Ich denke schon.«

»Gut«, erwiderte Bentz. »Morgen kannst du dein Können unter Beweis stellen.«

Noch einmal verbrachte Martin eine unruhige Nacht im Haus des Zaberner Scharfrichters. Er war bereits auf den Beinen, als der Morgen graute, wusch und rasierte sich sorgfältig, bevor er seine Kleidung in Ordnung brachte und sich ankleidete. Wenigstens wollte er einen sauberen, respektablen Eindruck machen.

»Bist du bereit?«

Martin bedachte seinen Vater mit einem langen Blick und nickte. In Wahrheit fühlte er sich alles andere als das. Sie saßen beide zusammen mit Bentz beim Frühmahl, das aus dicker Milchsuppe und einem Krug Bier bestand. Doch die Suppe schmeckte in Martins Mund wie der Leim, den die Schinder aus den Knochen verendeter Tiere kochten.

»Dies ist einer der wichtigsten Augenblicke deines Lebens«, ermahnte ihn Veit, bevor sie sich auf den Weg machten. »Sei kalten Blutes und sieh zu, dass du mir keine Schande machst.«

Martin unterdrückte ein Schnauben. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich, wie so oft in letzter Zeit. Der Weg zu Adelheid würde nur durch diese Tür führen und auch sonst blieb ihm nichts anderes übrig. Aus dem Amt des Scharfrichters gab es kein Entrinnen. Es wurde vom Vater auf den Sohn übertragen, der zwar fortziehen, aber keinen anderen Beruf ausüben durfte. Überall, wo er hinkam, war er nicht mehr als ein unehrlicher Henker. Unrein und für alle Zeit verdorben.

Ein schöner Tag brach an, als sie sich auf den Weg zum Diebesturm machten. Anders als gestern Abend, als die Wolken wie dampfender Rauch an den Gipfeln der Bergkette hingen. In der Nacht hatte es geregnet, doch nun zogen harmlose weiße Wölkchen über den blauen Morgenhimmel.

Der Zug des Schinderkarrens zu der öffentlichen Richtstätte, die in diesem Fall der Marktplatz war, unterschied sich nicht von dem, was Martin in Straßburg erlebt hatte. Der Geruch nach gebratenen Würsten, frischem Brot, feinen Küchlein, frisch gebrautem Bier und Wein hing in der Luft und konkurrierte mit Erdklumpen und Fäkalien, die auf den Delinquenten niedergingen. Eine erboste Menge folgte dem Karren, vermied peinlichst den Kontakt mit den Scharfrichtern, die ihn begleiteten, und vereinte sich mit den bereits Wartenden, die einen guten Platz ergattert hatten, um nur ja nichts zu verpassen.

Die Menschen scheinen überall gleich zu sein, dachte Martin. Etwas Mordgieriges ging von ihnen aus, für das sie später, schwelgend in grausiger Erinnerung, nur einen Einzigen verantwortlich machten: Ihn, den Henker, der ausführen musste, womit sie sich nicht beflecken wollten! Diese Lust, das Böse mit Stumpf und Stiel auszurotten, um der immer näher rückenden Pest Einhalt zu gebieten, hatte auch hier den Juden den Tod gebracht. Einen kläglichen Rest hatte man in die Fremde gejagt, wie Bentz erzählte.

Das Gericht hatte sich bereits versammelt. Die in Purpur gekleideten Herren verfolgten, wie der zum Tode Verurteilte auf die Richtbühne geführt wurde. Zwei Geistliche begleiteten ihn, sprachen beruhigend auf ihn ein, doch er würdigte sie keines Blickes und musterte stattdessen die Fallsüchtigen in der ersten Zuschauerreihe mit einem spöttischen Lächeln. Jeder von ihnen hielt eine Schale in den Händen, bereit, sie mit dem Blut des Gerichteten zu füllen. Der noch warm getrunkene Lebenssaft galt als Heilmittel gegen die schrecklichen Zuckungen, die sie von Zeit zu Zeit befielen.

Walther von Dossenheim war ein großer Mann, der stolz und aufrecht vor der Menge stand, ganz, wie es seinem Stand gebührte. Dass er dennoch großes Unrecht getan hatte, schien ihn nicht zu kümmern. Der Adel war es gewohnt, mit den niederen Ständen nach Gutdünken zu verfahren. Für sie war es eine gottgegebene Ordnung. Doch mit dem Aufschwung der Städte und des an Bedeutung verlierenden Ritterstandes geriet dieses Verhältnis ins Ungleichgewicht. Die Macht des Adels schrumpfte und längst nicht mehr alles wurde klaglos hingenommen. Jede Untat in der Stadt oder an ihren Bürgern wurde streng bestraft.

Die drei Scharfrichter stellten sich hinter den Angeklagten, bevor der Richter sich erhob und sein Wort an ihn richtete: »Walther von Dossenheim, Sohn des verstorbenen Reinbold von Dossenheim. Ihr werdet beschuldigt in mindestens fünf Fällen, einen Zug reisender Kaufleute überfallen und ausgeplündert zu haben, den ehrenwerten Weinhändler Nicolaus Wunderlich, dessen Sohn und den Kaufmann Michael Greuther erschlagen zu haben sowie etliche Fuhrmänner und Knechte während Eurer Raubzüge. Gesteht Ihr diese Schandtaten?«

»Lasst Ihr mich am Leben, wenn ich es nicht tue?«, fragte von Dossenheim in provozierender Arroganz.

Der Richter ließ sich nicht davon beeindrucken. »Ihr wisst genauso gut wie wir, dass Ihr es wart. Aber wenn Ihr Eure Taten vor Gott und den Menschen gesteht, wird das Euer Gewissen erleichtern und den Herrn milde stimmen.«

»Spart Euch das Weibergeschwätz für einen anderen auf«, erklärte von Dossenheim, was ein schrilles Aufbegehren der Menge zur Folge hatte.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er ungerührt fort. »Da Ihr aber so versessen darauf seid, will ich bekennen, dass ich mir nahm, was einem Mann von Adel zusteht, und dieses jämmerliche Gewürm tötete, das sich für gewöhnlich wie winselnde Köter hinter Stadtmauern versteckt.« Er warf einen zornigen Blick in die Richtung der vornehmen edlen Geschlechter, die es vorzogen, hinter diesen Mauern zu wohnen, um an Einfluss und Geld zu gewinnen, während der Landadel immer mehr verarmte.

»Walther von Dossenheim«, fuhr der Richter fort. »Ihr seid des mehrfachen Mordes und schändlichen Diebstahls überführt. Eure Strafe ist der Tod durch das Schwert!«

Die Menge brüllte bestätigend, während Veit und Bentz die Kleidung von Dossenheims bis zu den Schultern herabzogen. Sie fieberte dem endgültigen Akt entgegen. Wollte endlich Blut sehen.

»Scharfrichter, tu dein Werk«, forderte der Richter Martin auf.

Martin spürte Hitze in sich aufsteigen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst. Tu es für Adelheid, obwohl er wusste, dass sie es nicht war, die dies von ihm forderte.

Das frisch geschärfte Richtschwert seines Vaters hing an seiner Seite. Er dachte an den gekreuzigten Christus, den der Schmied in die Klinge graviert hatte. Hilf mir!, betete er stumm. Dann richtete Martin seine Augen auf den kräftigen Nacken des Delinquenten. Walther von Dossenheim war ein Kämpfer von Jugend an. Es würde nicht leicht sein, die starken Muskeln zu durchtrennen. Er musste den Kopf sauber abschlagen. Auf keinen Fall durfte es geschehen, dass er ein zweites Mal zuschlagen musste oder das Schwert im Hals des Delinquenten stecken blieb.

»Habt ihr noch etwas zu sagen?«, fragte Martin den zum Tode Verurteilten laut.

Von Dossenheim schnaubte. »Ich bereue nichts.«

Die beiden Priester neben ihm holten entrüstet Luft.

»Herr, Ihr verliert Euer Seelenheil, wenn Ihr so redet!«, begehrte einer der beiden auf.

»Was geht dich das an, Pfaffe?«, schnauzte von Dossenheim. Veit und Bentz wollten den hochmütigen Ritter auf die Knie zwingen, doch er wehrte sie zornig ab. »Ich gedenke, im Stehen zu sterben.« Er sah in Martins dunkle Augen. »Macht dir das Richten Angst, Junge?«, fragte er. Der Anflug eines hämischen Grinsens lag um seinen Mund. »Ich schätze, ich war ein paar Jahre jünger als du, als ich meinen ersten Mann tötete. Und ich rate dir, es ebenso geschickt zu tun, wie ich es einst tat. Sonst komme ich direkt aus der Hölle, um meine Rache zu fordern!« Ein grimmiger Zug umspielte nun seine Lippen, bevor er sein Gesicht wieder in die Richtung der Zuschauer drehte. Mit hocherhobenem Haupt stand er da und erwartete den tödlichen Streich.

Martin strich sich das schwarze Haar aus der Stirn, das ihm bis zu den Schultern reichte. Dann zog er das Richtschwert aus der hölzernen, mit Leder umhüllten Scheide. Mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf einen sauberen Schlag, der binnen eines Augenblicks den Kopf vom Rumpf trennen sollte. Jetzt kam es nur darauf an, die Klinge richtig auszubalancieren und dabei die nötige Kraft zu entwickeln. Der aufgeblasene Unhold vor seinen Augen hatte sein Mitleid nicht verdient. Einen Wimpernschlag später schnitt das Schwert durch die Luft.

Die Menge seufzte ehrfürchtig, als Blut in einer tiefroten Fontäne aufspritzte und der Kopf des Ritters über die Bühne rollte, während sein Körper zuckend vornüberfiel. Nur einen Moment später hasteten die Fallsüchtigen in diese Richtung, um den hervorschießenden Lebenssaft aufzufangen. Andere sahen in wohligem Entsetzen dabei zu, wie sie ihn tranken.

Bentz betrachtete den toten Leib des Gerichteten, dessen sorgfältig abgetrenntes Haupt nicht weit davon entfernt lag. Anerkennend nickte er in Martins Richtung.

Martin wagte nicht, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, der ihm nachträglich ausgebrochen war. Er wusste, dass es noch etwas zu erledigen gab. So hob er sein Kinn und blickte in die Richtung der in Purpur gewandeten Herren, die auf einer eigens errichteten Tribüne saßen. »Herr Richter, habe ich recht gerichtet?«

Der Richter nickte ihm anerkennend zu. »Es ist alles getan, was Urteil und Recht verlangten.«

Ein beifälliges Summen stieg von den Zuschauern auf.

Nun trat Bentz an den Rand der Richtbühne. Mit einer gemessenen Geste hob er die Hände. Die Menge unter ihm verstummte. Alles blickte nun zu dem jungen Zaberner Scharfrichter, der sich zu Martin umwandte, bis er ihm direkt gegenüberstand. Seine Stimme dröhnte laut über den Platz. »Martin von Straßburg, Sohn des Scharfrichters Veit. Du hast geschickt und ohne Fehl gerichtet und wirst künftig als Meister anerkannt.« Dann gab er ihm drei kräftige Ohrfeigen, die Teil der Zeremonie waren.

Die Menge applaudierte. Einige höhnten laut, dass ausgerechnet dieser hochmütige Laffe als Meisterstück herhalten musste. Martin aber blickte in die stolzen Augen seines Vaters.

Walther von Dossenheim war kein Unschuldiger gewesen und hatte nicht eine seiner Schandtaten bereut. Im Gegensatz zu anderen Hinrichtungen, bei denen Martin seinem Vater behilflich sein musste, fühlte er kein Mitleid mit dem Mann, der sein Leben entehrt und selbst die göttliche Gnade in den Wind geschlagen hatte. Zum ersten Mal empfand er etwas Erhabenes.

Das überraschend befriedigende Gefühl, Teil einer Gerechtigkeit zu sein, die soeben einen Sieg errungen hatte.

21. Mai 1349

»Gelobt sei Jesus Christus.« Priorin Maria neigte ehrfurchtsvoll das Haupt vor dem großen, stattlichen Mann, dessen langes Gewand von einem prächtigen, mit Fehpelz verbrämten Mantel gekrönt wurde, der alle Laterankonzilien Lügen strafte, die sich mit der Kleiderordnung für Kleriker beschäftigt hatten. Die anspruchsvolle Aufmachung zeugte vom außerordentlichen Reichtum der Weltgeistlichkeit des Domkapitels.

»In Ewigkeit, Amen«, entgegnete er.

»Hochwürdiger Propst, meinen ergebensten Dank, dass Ihr meiner Bitte so unverzüglich nachgekommen seid.« Mühsam versuchte Maria, ihre Nervosität zu verbergen, als sie Johannes von Kageneck im Priorinnenhaus empfing. Er entstammte einem der ältesten Adelsgeschlechter des Elsass und hatte im Auftrag des Bischofs die geistliche Begleitung und Kontrolle ihres Klosters inne. Von Kageneck verfügte über ein gewisses Maß an Mitgefühl, wenn man von der natürlichen Arroganz der hohen Geschlechter einmal absah.

Inzwischen hatte sich Maria darauf besonnen, dass es besser wäre, einen Skandal zu vermeiden und die sündige Schwester ohne großes Aufsehen zu bestatten. Trotzdem musste sie das schwere Vergehen melden. Früher oder später würde es ans Licht kommen. Auch in einem Kloster gab es immer jemanden, der redete – besonders, wenn es sich um eine Gemeinschaft von Frauen handelte. Und es würde ihr nicht zum Vorteil gereichen, wenn die Sache irgendwann in ein falsches Ohr geflüstert würde.

Die Chorherren des Bischofs waren zwar nicht ganz so frömmlerisch wie die Ordensbrüder der Klöster. Dennoch war ihr nicht wohl bei dem, was sie nun offenbaren musste.

Die blauen Augen des Klerikers blickten fragend auf sie herab. Ihre innere Unruhe verstärkte sich. Im Angesicht seiner stattlichen Gestalt fühlte sich die Priorin stets wie ein Kind.

»Ich denke, es gibt einen triftigen Grund, warum Ihr mich außerhalb unserer üblichen Treffen herzitiert habt«, sagte er freundlich.

Marias feuchte Hände umklammerten ihren Rosenkranz, als sie dem Propst Platz auf einem der schweren, lederbezogenen Stühle anbot, die einen massiven Tisch aus dunklem, geöltem Holz umrahmten. Eine mit Schnitzereien verzierte Truhe und ein Schreibpult standen der erlesenen Qualität der pröpstlichen Kleidung in nichts nach, ebenso wie das goldene Kruzifix und der große Bildteppich mit einer Szene vom letzten Abendmahl des Herrn.

»Was ich mit Euch zu besprechen habe, ist in der Tat von großer Wichtigkeit«, hob sie an.

»Nun, dann sprecht.«

Die Priorin suchte nach einer passenden Einleitung, mit der sie die unschöne Wahrheit ein wenig mildern konnte, doch von Kageneck war ihr bisher immer vernünftig erschienen und so begnügte sie sich mit der schonungslosen Essenz dessen, was geschehen war. Es führte ohnehin kein Weg daran vorbei. »Eine unserer Nonnen hat sich erhängt.«

Die Verblüffung ließ die Gesichtszüge des Propstes für einen Moment entgleisen. »Was sagt Ihr da?«

Maria holte tief Luft und ergab sich ihrem Schicksal. »Ihr habt richtig gehört. Sie hat sich erhängt.«

Der Propst sprang auf und begann rastlos auf und ab zu gehen.

»Wie war ihr Name?«, stieß von Kageneck zwischen den Zähnen hervor.

»Schwester Benedikta.«

»Diese abscheuliche Untat kann auch nur einem Weib einfallen! Sie ist ein schweres Verbrechen gegen unseren Herrn. Er allein bestimmt, wie lange wir leben und wann wir sterben sollen. Schon der Kirchenlehrer Augustinus war dieser Meinung. Lehrt Ihr Eure Nonnen das nicht?«

Marias Mund verwandelte sich in einen dünnen Strich.

»Dessen bin ich mir wohl bewusst, und natürlich wissen die Ordensfrauen darüber Bescheid. Aus diesem Grund benötige ich dringend Euren Rat, wie wir diese Misere ohne großes Aufsehen aus der Welt schaffen können.«

Der Propst blieb ruckartig stehen. »Wie stellt Ihr Euch das vor? Dieser Frevel darf nicht ungesühnt bleiben! Es gibt kaum eine schlimmere Sünde als diese. Und dass sie darüber hinaus noch von einer Nonne verübt wurde, macht es umso abscheulicher.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut.

Maria duckte sich unter von Kagenecks Zorn und wurde noch kleiner, als sie es ohnehin schon war.

»Und das im Angesicht der herannahenden Pest! Vermutlich wisst Ihr wegen Eurer Klausur nicht einmal, dass sie immer näher rückt.«

Maria wusste es wohl, vermied aber, den Propst darüber aufzuklären.

Entrüstet setzte sich von Kageneck wieder hin. »Wir müssen ein Exempel statuieren. Diese Schuld muss wie jedes schwere Verbrechen bestraft werden. Gerade jetzt bleibt uns nichts anderes übrig als Konsequenz! Nur so wird der Herr uns Gnade schenken und die Pest an uns vorüberziehen lassen.« Seine Augen warfen der Priorin einen selbstgefälligen Blick zu. »Verscharrt sie auf dem Schindanger. Sie hat nichts anderes verdient.«

»Ich weiß, Ehrwürdiger Propst, dass Schwester Benedikta diese Strafe gebührt«, versuchte es die Priorin von Neuem, »aber wäre es nicht ein großer Skandal, wenn bekannt würde, was geschehen ist?«

Und wie soll ich das den armen Eltern erklären?, dachte sie. Benediktas Eintritt in diesen Orden hatte sie einen Teil ihres Vermögens gekostet. Zwar war es immer noch billiger, eine hochbürgerliche Tochter in einem Kloster unterzubringen, als sie standesgemäß zu verheiraten, aber dennoch eine Investition, die niemand vergeudet sehen wollte. Und weder Skandale noch ein unwürdiges Grab zwischen den unverwertbaren Teilen verendeter Tiere gehörten zu der Vorstellung eines wohlbehüteten, geheiligten Lebens.

»Vielleicht könnten wir es dennoch heimlich tun?«

Von Kageneck schnaubte. Doch der Einwand war nicht unberechtigt. Schließlich hatten sie es mit der Tochter eines angesehenen Bürgers zu tun, der seit dem Sturz des Magistrats im Februar an Einfluss gewonnen hatte. »Da sie eine Nonne ist, bleiben ihr eine postmortale Gerichtsverhandlung und die anschließende Hinrichtung in aller Öffentlichkeit erspart. Tut es, bevor der Morgen graut, dann wird niemand etwas davon bemerken. Und falls es dennoch der Fall sein sollte, so haben wir immer noch unsere heilige Pflicht getan. Niemand kann uns deswegen einen Vorwurf machen – auch der Vater der Sünderin nicht.«

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr so fromm seid, hochwürdiger Propst«, erwiderte Maria herausfordernd.

Er setzte ein nachsichtiges Lächeln auf. »Es gibt vieles, was Ihr nicht wisst, Ehrwürdige Mutter.«

Maria seufzte verdrießlich. Sie würde sich seinen Anordnungen beugen müssen, sonst lag die Schuld auf ihr.

22. Mai 1349

Das erste, zaghafte Licht der Dämmerung lag über dem Straßburger Richtplatz und weckte die Singvögel, deren Gezwitscher aus den dunklen Umrissen von Hecken und Bäumen immer mehr anschwoll. Martin und Veit waren fast zu Hause.

Nach der Hinrichtung hatten sie einen weiteren Tag bei Bentz und Gerlin verbracht, um in dem winzigen Scharfrichterhaus die bestandene Probe gebührend zu feiern. Sie mussten ohnehin auf den gesiegelten Brief des Zaberner Richters warten, der Martin als Meister bestätigte und ihn so zum selbstständigen Richten berechtigte. Länger hätte es Martin dort nicht ausgehalten. Er sehnte sich nach Adelheid und wollte ihr unbedingt erzählen, wie gut es gelaufen war.

Auf ihrer gestrigen Wanderung war ihm das Tal nie schöner erschienen als auf diesem Rückweg. Die sanft geschwungenen Linien der Berge, das friedvolle Grün der Wälder und die Geräusche des Lebens, die sie von überallher vernahmen. Sogar eine mehrere Fuß hohe, moosbewachsene Steinsäule am Wegesrand konnte ihn begeistern, die hier umgestürzt und halb in die Erde gesunken dem nutzlosen Schicksal des Vergessens überlassen wurde. Vermutlich war sie schon sehr alt und hatte bereits den Römern als Wegweiser gedient. Die tiefen Linien der eingemeißelten Schrift hatten sich mit dem Dreck vergangener Jahre gefüllt und waren kaum noch zu erkennen. Überall fand man Spuren der einstigen Herrscher. Selbst in Straßburg waren sie gewesen, und manche sagten, dass man ihnen die Gründung der Stadt zu verdanken hatte.

Über all das dachte Martin nach, als er, erfüllt von einem Gefühl der tiefen Zufriedenheit, auf der Zaberner Straße wanderte. Natürlich lag es daran, dass die Hinrichtung geglückt war. Vielleicht aber auch, weil er noch lebte und dies alles in sich aufnehmen konnte, während der frevlerische Raubritter nun in einem kalten Grab lag. Walther von Dossenheim hatte erbarmungslos gequält und gemordet. Bei ihm selbst sah es ganz anders aus. Ihm fiel es nicht leicht, einen Menschen zu töten oder ihm Schmerz zuzufügen – doch die Arbeit musste getan werden. Und dennoch wäre es falsch,Freude dabei zu empfinden, dachte er. Sein Gewissen ließ dies nicht zu.

Trotz alledem brannte er darauf, Adelheid endlich die gute Neuigkeit zu bringen. Zwar würde die erforderliche Wanderschaft sie für einige Zeit trennen, aber wenigstens würde er nun einen Lohn für seine Arbeit erhalten. Einen Teil davon wollte er eisern sparen, um ihnen eine gemeinsame Zukunft zu sichern.

Obwohl Martin seinen Vater zur Eile angespornt hatte, hatten sie es am Vorabend nicht mehr geschafft, die Stadt vor der Schließung der Tore zu erreichen. Zu seinem Verdruss mussten sie eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen, wo sie in der Nähe des Straßburger Hinrichtungsplatzes ein Lager aufschlugen. Voller Ungeduld hatte er den mürrischen Veit noch vor Sonnenaufgang geweckt, um als Erste an den Stadttoren zu sein.

Überraschenderweise waren die beiden Männer um diese Zeit nicht allein. Eine Gruppe Reisender zu Pferde hatte sich ebenfalls schon auf den Weg gemacht. Noch erstaunlicher jedoch waren die weiß gewandeten Gestalten, die über den Schindanger schwebten.

Martin stockte das Herz. Waren das die Geister der verlorenen Seelen, die aus ihren Gräbern stiegen, um ruhelos umherzuwandern? Früher hatte er den Geschichten nicht so recht geglaubt, die man unartigen Kindern erzählte, doch es war etwas anderes, es mit eigenen Augen zu sehen.

Veit packte ihn am Arm und blieb wie angewurzelt stehen. Auch ihm schien nicht ganz wohl zu sein. Nur wenige Atemzüge später intensivierte sich das Licht und gab den Dingen mehr Tiefe. Das Trugbild verpuffte vor ihren Augen. »Das sind Reuerinnen«, stellte er erleichtert fest.

Was suchen sie auf dem Schindanger?

Normalerweise häutete der Schinder hier die verendeten Tiere und verscharrte die unbrauchbaren Reste der Kadaver in der Erde. Der Ort war so unrein wie der Richtplatz, und ganz gewiss hatten Nonnen hier nichts zu suchen. Wahrscheinlich hielten sie sich deshalb ganz am Rand des Platzes auf. Der anbrechende Morgen musste ihnen bei dem, was sie taten, zuvorgekommen sein. Ängstlich blickten sie sich um, als ob sie etwas zu verbergen hätten. Doch es war offensichtlich, dass es ein mit Tuch umwickelter Körper war, der eben in einer Grube verschwand.

Der Wind wehte einen schauderhaften Gestank aus dem frisch geschaufelten Loch zu ihnen herüber. Drei von ihnen begannen hastig damit, es zu schließen. Zwei weitere stellten sich vor den mitgeführten Karren und versuchten, die Bemühungen der anderen mit ihren Gewändern zu bedecken. Ein etwas unglückliches Ablenkungsmanöver, das nur unzureichend gelang. Ihr Benehmen war so auffällig, dass auch die anderen Reisenden ihnen neugierige Blicke zuwarfen.

»Was um alles in der Welt tun sie hier?«, raunte Veit.

»Eine tote Ziege begraben sie jedenfalls nicht«, entgegnete Martin.

»Nein. Sie wäre kleiner. Außerdem würde man dafür kein Leintuch verschwenden.«

Die beiden Männer verschränkten die Arme vor der Brust und blieben nachdenklich stehen, was die Nonnen noch nervöser machte.

»Sie vergraben einen Leichnam«, stellte Veit nüchtern fest. »Alles andere ergibt keinen Sinn.« Dennoch kam er nicht umhin, ihnen etwas zuzurufen. »Was tut Ihr da?«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte eine der Nonnen abweisend. Ihr besorgter Blick glitt in die Richtung der Männer zu Pferde, zu denen sich nun ein paar Bauern gesellten, die ihre Waren in die Stadt bringen wollten. Die Zuschauer behagten ihr nicht. Vermutlich war es nicht einfach gewesen und hatte zu lange gedauert, den schweren Leichnam auf den holprigen Wegen die vom Kloster hierherführten, zu transportieren.

Veit zuckte mit den Schultern. Er war es gewohnt, dass man ihn nicht freundlich behandelte. »Lass uns weitergehen. Ich werde den Schinder fragen, was hier vor sich geht.«

Gedankenverloren setzten sie ihren Weg fort. Dann waren sie wieder in der Stadt, tauchten ein in das Gewebe aus Gerüchen, Geräuschen und erwachender Betriebsamkeit. Die Ausdünstungen von Rauch, Fäkalien und frisch gegarten Speisen waren überwältigend, doch bald schon traten sie in den Hintergrund. Wie der lang gezogene Schrei eines Esels, das Geschnatter der Frauen und das fordernde Krähen eines Säuglings gehörten sie zur steten Gewohnheit des Stadtlebens.

Vor allem aber gab es Wichtigeres zu tun, und Martin wollte nichts lieber, als so schnell wie möglich zu Adelheid.

Adelheid erwachte mit dem ersten Zwitschern der Vögel. Blinzelnd sah sie sich um. In dem kleinen Häuschen, im Gerberviertel Straßburgs, erwachte das Licht. Mit gemächlicher Beschaulichkeit verdrängte es die Schatten und ließ den Kesselgalgen dunkel über der erloschenen Feuerstelle emporragen. Sie hörte das Kratzen von Theoderichs Krallen. Die Elster plusterte sich auf und begann auf der Stange, die dem schwarz-weißen Vogel als Nachtlager diente, sein Gefieder zu putzen. Gertrudis lag noch in tiefem Schlummer neben ihr.

Adelheid rekelte sich und dachte an Martin. Ob er heute zurückkehren würde? Hoffentlich war alles gut gegangen! Adelheid wusste von Martins Handwerk, und dennoch liebte sie ihn, obwohl sie das selbst nie für möglich gehalten hätte. Vor Kurzem war sie noch Oblatin im Kloster St. Klara gewesen, und nun würde sie ohne den Segen der Kirche heiraten müssen, denn dieser stand einem Scharfrichter nicht zu.

Nun gut, dachte Adelheid, wenn es die Kirche so will, werden wir eben ohne ihren Segen unser Leben teilen. Doch ihren Glauben würde sie trotzdem nicht aufgeben. Allem Widerstand zum Trotz! Langsam richtete sie sich auf und glitt von ihrem Strohsack.

Auch Veit war nicht erfreut über den starrköpfigen Wunsch seines Sohnes, sie zur Frau zu nehmen. Doch Martin hatte daran festgehalten, bis Veit schließlich knurrend nachgab. Sein Weib, von dem sie nun wusste, dass sie Brida hieß, hatte einen nicht unerheblichen Anteil daran. Adelheid mochte Brida, die still und unscheinbar im Hintergrund agierte, aber dennoch die Fäden der Familie in der Hand hielt. Sie hatte Veit dazu gedrängt, dem Glück seines Sohnes nicht im Wege zu stehen, und hatte ihn zu der Einsicht gebracht, dass es so am besten war.

Möglicherweise hatte ihn auch die Tatsache umgestimmt, dass Adelheid und Martin den Kindsmörder Jobst zur Strecke gebracht hatten, der viele Monate lang die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Jobst hatte es am Ende vorgezogen, sich selbst zu richten. Er stürzte sich vom Gerüst des Münsters, um sich einer grausamen Strafe zu entziehen. Doch man hatte seinen zerschmetterten Leib nachträglich aufs Rad geflochten und sein hochmütiges Weib mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt.

Adelheid war nun auf den Beinen. Um Gertrudis nicht zu stören, schlich sie an den hölzernen Regalen und etlichen Kochgeräten vorbei, die ordentlich an ihren Haken hingen.

An einer der fleckigen Wände hing ein einfaches Holzkreuz. Dort kniete sie nieder, senkte den Kopf und faltete ihre Hände. Nun, da sie das Kloster mit seinen täglichen Horen verlassen hatte, war es nicht einfach, ein geordnetes Glaubensleben aufrechtzuerhalten. Im Kloster hatte sie keine einzige Nacht durchgeschlafen. Doch nun weckte sie niemand mehr, und es war schwierig, sich in dieser Freiheit nicht zu verlieren. Sie hatte sich fest vorgenommen, wenigstens morgens und abends ein Gebet zu sprechen. Denn selbst wenn die Kirche sich gegen sie stellte, konnte sie nicht glauben, dass Gott dies auch tat.