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»Zuhause ist da, wo die Finsternis wohnt.« Hör den Ruf der Wellen. Sing das Lied des Windes. Geh in die Finsternis! Zurück im Polidorium: Die Familie ist wiedervereint, die Toten sind verschwunden und alles könnte ganz normal sein. Doch in einer sternlosen Herbstnacht verschwindet die kleine Edda Schrödersen spurlos – ausgerechnet im Garten der Polidoris. Das bringt das Fass zum Überlaufen: Die Bewohner von Tildrum wollen die seltsame Totengräberfamilie für immer aus der Stadt vertreiben. Als wäre das nicht genug, breitet sich die Finsternis erneut aus. Um dem Spuk endgültig ein Ende zu bereiten, müssen die Polidoris zusammenhalten. Nur gemeinsam können sie verhindern, dass die Finsternis gewinnt – und mit ihr Hodder Morkel… Das Finale der Trilogie – voller Rätsel und Wohlfühlgrusel.
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für meine Familie
Zuhause ist da,wo die Finsternis wohnt.
(NIEMAND)
Prolog
Teil 1 – Die Schatten von Tildrum
Kapitel 1 – Ein ganz normales Haus
Kapitel 2 – Wo die Spur sich verliert
Kapitel 3 – Die Jagd beginnt
Kapitel 4 – Kakao und Unheil
Kapitel 5 – Ein Fall von Finsternis
Kapitel 6 – Das Schweigen der Wildnis
Teil 2 – Willkommen in der Finsternis
Kapitel 7 – Das Band der kleinen Schwestern
Kapitel 8 – Ein Geheimnis
Kapitel 9 – Eine Schauergeschichte
Kapitel 10 – Harry
Kapitel 11 – Frag nicht
Kapitel 12 – In einer dunklen Gasse
Kapitel 13 – Auf der Seite der Finsternis
Kapitel 14 – Das Schwarze Licht von Tildrum
Kapitel 15 – Der Letzte Leuchtturmwärter
Kapitel 16 – Die Hüter und der Wächter
Kapitel 17 – Die Zeichen der Finsternis
Kapitel 18 – Frosthauch und Feuer
Kapitel 19 – Wer niemals stirbt
Teil 3 – Für die Familie
Kapitel 20 – Die Ewige Koje
Kapitel 21 – Den Tod im Gepäck
Kapitel 22 – Nichts ist umsonst
Kapitel 23 – Das Lächeln des toten Walfängers
Kapitel 24 – Das letzte Kapitel
Epilog
Es war eine sternlose Oktobernacht, kurz vor den ersten Herbststürmen, als das kleine Ruderboot an der Spitze der Landzunge anlegte. Niemand bemerkte das Kind in dem zu großen Parka, als es das Boot sorgsam vertäute – nur der Fuchs im Gebüsch, die Eule auf dem Dach und die Nachtfalter sahen zu. Und natürlich die Krähen, die in der Toten Linde wachten.
Sie beobachteten, wie die Kleine zunächst zögerlich, dann entschlossener und schließlich mit fast ausgelassenen Hüpfern auf den wilden Garten zuging. Ihr Schatten tanzte vor ihr her wie ein guter Gefährte, der stets zu ihr hielt.
Das Wispern und Zirpen, Flüstern und Rauschen im Garten schwoll an, bevor die Wildnis das Kind verschluckte. Als wollte sie es warnen. Doch es bahnte sich seinen Weg durch wilde Ranken und vorbei an dornigen Rosen.
Groß und düster ragte das Polidorium dem Vollmond entgegen, der nun immer höher stieg und alles in sein milchiges Licht tauchte, wodurch er die Schatten wachsen ließ … als wollte er sie stärken. Die Schatten und das Kind.
Doch in dieser Nacht war selbst der Mond machtlos.
Denn niemand bemerkte, dass das Mädchen einen Kieselstein gegen eins der Fenster warf und leise einen Namen rief.
»Roberta!«
Nicht einmal der Fuchs bemerkte es, denn er war längst auf leisen Pfoten davongehuscht. Die Eule hatte sich auf dem Dachboden versteckt und die Nachtfalter waren taumelnd, in Schwärmen davon geflattert. Selbst die Krähen hatten die Tote Linde verlassen. Als ahnten sie alle, dass sie dem Kind ohnehin nicht helfen konnten.
Und niemand hörte, dass das Wispern und Zirpen, Flüstern und Rauschen für einen Moment lauter wurde, als würde die Wildnis aufschreien. Niemand sah, was da groß und finster und vollkommen lautlos der Spur des Kindes gefolgt war.
Niemand wusste, was geschah in dieser sternlosen Oktobernacht, kurz vor den ersten Herbststürmen, im Garten des Polidoriums.
Pellegrino Polidori erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Es war bereits dunkel draußen. Donner grollte. Ein mittelstarker Sturm peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben und Blitze erhellten den Himmel. Was aber eigentlich keine Rolle spielte, denn nicht einmal die grellen Blitzlichter drangen in Pellegrinos Zimmer. Die Ranken der Wisteria villosa an der Fassade des Polidoriums waren über die vergangenen Monate so dicht geworden, dass die Sonnenstrahlen kaum noch ihren Weg hierhin fanden. Auch tagsüber war das unterwassergrüne Licht, dem Pellegrinos Zimmer den Namen »Aquarium« zu verdanken hatte, deswegen immer spärlicher geworden. Jetzt war es also richtig dunkel.
Und trotzdem bemerkte er es augenblicklich, als er den Raum betrat: Etwas fehlte.
Das Regal mit den Fundgläsern kam ihm beinahe vor wie ein verlängerter Teil seines eigenen Körpers, daher hatte er es vermutlich unterbewusst schon gespürt, bevor er das »Aquarium« betreten hatte. Er knipste die Deckenlampe an – und richtig: Ein Glas war leer.
Und zwar ausgerechnet …
»Vampyroteuthis polidoris«, flüsterte er erschrocken und blickte sich unheilwitternd um. Sein neuestes Fundobjekt, das bis vor Kurzem sicher präpariert und vollkommen leblos in seiner Konservierungsflüssigkeit eingelegt gewesen war! Nun war der Deckel aufgeschraubt und das Exemplar war verschwunden. Verschwunden!
Da – hatte er dort nicht etwas Kleines, Weißes mit acht Krakenarmen gesehen? Ein winziges, durchscheinendes Wesen, das sich per Rückstoßprinzip durch die Luft fortbewegte, eben wie ein Vampirtintenfisch es normalerweise unter Wasser tat … und das soeben durch die offene Zimmertür entwichen war.
»Ich dachte, es wäre tot«, murmelte Pellegrino.
Einer Eingebung folgend, stürzte er zu seiner Nachttischschublade und holte sein Spukglas hervor. Wie lange er es schon nicht mehr benutzt hatte! Nun hielt er es hoch und ging damit hinaus in den Korridor, als würde er einer Kompassnadel folgen. Er hielt die Luft an: Die Flüssigkeit im Innern des Glasröhrchens braute sich zu einem kleinen Wirbelsturm zusammen.
»Spiramentum polidorium«, flüsterte er und blieb stehen. »Das Spukglas zeigt Spuk an! Aber wie –«
Es donnerte. Pellegrino fuhr erschrocken zusammen.
Doch das war keine Spukgestalt gewesen, die den Lärm verursacht hatte, nicht einmal das Unwetter draußen, sondern …
»Hey, du Erdnuss!«
… Roberta, seine große Schwester, die mit viel zu viel Schwung die Treppen heruntergaloppiert kam. Nun stand sie mitten im Korridor und sah sich misstrauisch um. Pellegrino blinzelte. Roberta hatte nackte Füße, trug einen alarmroten Pullover und eine ebenso rote Hose. Ja, sogar ihre Haare waren leuchtend rot. Was sie vor einer Stunde, beim Abendessen, noch nicht gewesen waren. Genauso wie ihre Lippen und ihre Fingernägel.
Aber das war jetzt nebensächlich. Pellegrino sah an seiner Schwester vorbei. Der Korridor war leer. Natürlich bis auf die Vitrinen mit den ausgestopften Wasservögeln, die Treibholzregale und all die anderen wunderbaren Dinge, die sich meterhoch an den Wänden türmten.
»Hey!«, wiederholte Roberta laut und schnipste mit zwei Fingern vor seinem Gesicht herum. »Erde an Erdnuss! Hast du meine rubinroten Socken geklaut?«
Pellegrino blinzelte sie an. Er hatte jetzt keine Zeit für so etwas. »Roberta. Hast du vorhin etwas … Ungewöhnliches bemerkt?«
Roberta starrte zurück, dann fiel ihr Blick auf sein Spukglas, in dem sich der kleine Wirbelsturm inzwischen wieder gelegt hatte.
Bedauernd schüttelte Roberta den Kopf. »Nein, Pelle, tut mir leid. Du weißt doch: Diese Zeiten sind vorbei.« Sie seufzte. »Das Polidorium ist jetzt ein ganz normales Haus. Ich hab mein Spukglas seit Monaten nicht mehr gebraucht. Denk dran, was die Großeltern gesagt haben, Bruderherz.« Sie legte den Arm um seine Schultern und ihren Kopf auf seinem ab.
»Ähm.« Pellegrino machte sich los. »Ja, okay.«
Alle wurden immer so … gefühlvoll, wenn es um dieses Thema ging. Und dabei betonten sie ständig, dass es »das Beste für die Familie« sei, dass die Finsternis aus dem Polidorium verschwunden war – und mit ihr jegliches Spukaufkommen.
Vielleicht ist es das Beste für die Familie, wenn ich niemandem etwas verrate, überlegte er. Das gibt nur Ärger. Ich werde den Vampyroteuthis suchen und finden. Und dann stecke ich ihn wieder in sein Glas, als wäre nichts gewesen. Ganz einfach.
Er sah Roberta an.
Ihre Augen verengten sich. »Was ist los? Hast du etwa …«
»… etwas Ungewöhnliches bemerkt?«, unterbrach Pellegrino sie hastig. »Ich?« (Er war doch so schlecht im Lügen!)
»… meine rubinroten Socken geklaut, wollte ich eigentlich sagen.« Robertas Blick wurde eindringlich. »Also, was ist? Du verschweigst mir doch was.«
Pellegrino schluckte und wich ihrem Blick aus. »Ähm, hast du … dir die Haare rot gefärbt?«, fragte er, obwohl ihn das überhaupt nicht interessierte. (Roberta änderte ja ständig ihr Äußeres. Warum auch immer. Er selbst hatte sieben Pullover, sieben Hosen, vierzehn Unterhosen und vierzehn Sockenpaare. Die er alle gut kannte und mochte. Niemals würde er fremde Socken stehlen.)
Das Ablenkungsmanöver funktionierte. »Wow. Deine Beobachtungsgabe ist echt beeindruckend.« Roberta rollte mit den Augen.
»Danke«, erwiderte Pellegrino.
»Das war ironisch gemeint, du Erdnuss. Und meine Haare sind nicht rot. Die Farbe nennt sich Dragonheart. Gut, nicht?« Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr und betrachtete äußerst zufrieden lächelnd ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Ich werde Luk damit überraschen …« Als wäre ihr plötzlich wieder eingefallen, dass Pellegrino da war, wurde sie wieder ernst und bellte: »Also, was ist jetzt? Hast du die Socken oder nicht?«
»Äh, nein«, antwortete Pellegrino wahrheitsgemäß. »Aber frag doch mal Großvater.«
Roberta lachte schnaubend auf, dabei hatte Pellegrino gar keinen Witz gemacht. Dann drehte sie auf dem Absatz um und ließ ihn stehen.
Als sie außer Sichtweite war, hielt Pellegrino sein Spukglas hoch und trug es vor sich her, während er den Korridor in die andere Richtung entlangging. Er würde den toten Vampyroteuthis schon noch aufspüren! Er musste! Denn wie oft hatten die Großeltern wiederholt, dass es wichtig, ja, überlebenswichtig sei, das Polidorium frei von jeder Art von Finsternis zu halten. Nicht der kleinste Spuk, nicht der harmloseste Tote durfte hier im Haus verweilen.
So lautete die Regel. So wollten sie Hodder Morkel vom Polidorium fernhalten, denn er nutzte die Finsternis wie andere Leute eine Tür. Und was er machen würde, wenn er diese Tür benutzte und ins Polidorium eindrang, konnte – und wollte – Pellegrino sich nicht vorstellen.
Eigentlich wäre er der Letzte gewesen, der sich nicht an die Regel gehalten hätte … wenn dieser blöde kleine Vorfall mit dem Fundglas nicht gewesen wäre. Wie hatte der Vampirtintenfisch bloß daraus entkommen können? Denn auch wenn es sich bei dem flüchtigen Tier nur um einen winzigen kleinen Geisterkraken handelte, als angehender Naturwissenschaftler wusste Pellegrino nur zu gut: Das Einschleppen neuer Arten konnte großes Unheil bringen.
Kaum hatte Pellegrino diesen Gedanken zu Ende gedacht, erklang ein majestätisches Glockenläuten. Was merkwürdig war, denn das passierte eigentlich nicht mehr. Niemand läutete mehr an der Tür, seitdem die Großeltern beschlossen hatten, keine weiteren Toten mehr aufzunehmen, um der Finsternis keinen neuen Nährboden zu geben, und ein Schild an die Ehrfurcht gebietende Eingangstür aus Ebenholz und Messing gehängt hatten, das verkündete:
Deswegen konnte dieses Läuten nur eines bedeuten.
Hilfe!, dachte Pellegrino. Das ist er schon. Der tote Walfänger. Er ist gekommen, weil die Finsternis zurück ist. Und er wird uns alle holen …
Petronella saß auf dem nassen Strandsand. Am Ende des Stegs erahnte sie im Licht des abnehmenden Mondes die Umrisse der Polidoria, wie sie ihre schwarzen Segel majestätisch flatternd in den dunklen Himmel reckte. In Petronellas Rücken wogte die üppige Wildnis des Polidoriumgartens, rauschte, zirpte, flüsterte in einer geheimen Sprache vor sich hin.
In ihren Händen hielt Petronella ihr Reisetagebuch. Wie lange sie schon auf die aufgeschlagene Seite starrte, konnte sie nicht mehr sagen. Immer wieder las sie im schwachen Schein des Mondes ihre eigenen Worte:
Diese Zeilen hatte sie vor sieben Monaten geschrieben, nachdem ihre Mutter das Abenteuer gewagt und sich auf ihre letzte Reise in den Schwarzen Tümpel begeben hatte. Seitdem hatte Petronella das Tagebuch jeden Abend aufgeschlagen und nachgesehen, ob Dr. Stella sich gemeldet hatte. Manchmal auch mehrmals am Tag …
Eine Antwort hatte sie niemals erhalten.
Eine Windbö nach der nächsten zerrte an ihren Haaren; als wenn der Sturm versuchte, sie in die tosende See zu ziehen. Und es machte ihr nichts aus. Die Kälte, die durch ihren Hosenstoff drang, war ihr genauso egal wie die Salzwassertropfen, die wie feine Nadelstiche auf ihrem Gesicht prickelten. Mit geschlossenen Augen blieb sie sitzen und lauschte. Den Wellen. Dem Wind.
Komm komm komm!, sagten die Wellen.
Geh geh geh!, sagte der Wind.
»Entschuldigt«, sagte Petronella laut. »Aber ich verstehe euch nicht. Ist das eine Nachricht von Sedna? Soll ich zu ihr kommen, oder was?«
Komm!, rauschten die Wellen.
Geh!, toste der Wind.
Ja, da war sie wieder, diese Sehnsucht. Immer wieder musste sie an den Moment denken, damals vor vielen Monaten: unter Wasser, um sie herum der Atlantik, und für einen kleinen, ewigen Moment hatte es nur sie und das Meer gegeben. Eine uralte Verbindung, eine Kraft, größer und mächtiger als alles, was sie je gekannt hatte. Und kurz darauf hatte sie es getan: Sie hatte den toten Walfänger in die Flucht geschlagen!
Petronella stand auf. Sie machte einen Schritt auf die schwarzen Wellen zu, die gegen den Strand peitschten. Hier war das Wasser noch flach, aber dort hinten …
Sie nahm eine taumelnde Bewegung über ihrem Kopf wahr, dann landete etwas Kleines, Leichtes auf ihrem Unterarm. Augen, klug und schwarz, bohrten sich in ihren Blick.
Venra, dachte Petronella. Hallo!
Deine Großmutter sucht nach dir, sagten die Augen ihrer Freundin, der Krähe. Ihr habt Besuch bekommen.
Petronella runzelte die Stirn. Besuch? Wer denn? Für mich?
Für euch alle, glaube ich, antwortete Venra.
Ich hab aber keine Lust auf Besuch. Petronella seufzte. Wer konnte das schon sein? Sie warf einen Blick zurück zur See, die auf sie zu warten schien, schwarz und mächtig, weit und tief.
Hier, am geheimen Strand hinter dem Polidorium, fühlte Petronella sich am wohlsten. Hier konnte sie in Ruhe nachdenken. Hier fühlte sie sich Dr. Stella nah, auch wenn ihre Mutter im vergangenen Winter durch das Portal zur Ewigkeit gegangen war … oder auch nicht. Niemand wusste, ob sie es geschafft hatte. Es war, als würde der Sturm bei diesem Gedanken noch stärker an Petronella zerren, sie zum Wasser ziehen und schieben.
Petronella, meine Freundin! Venra zwickte sie sanft mit dem Schnabel in den Arm. Es scheint wichtig zu sein. Deine Großmutter ist irgendwie … aufgebracht.
Petronella zuckte die Schultern. Das war kein aussagekräftiger Hinweis. Großmutter regte sich doch immer nur über die kleinsten Dinge maßlos auf (kalter Tee, Spinnen an der Decke, Katzenhaare auf dem Toast; solche Dinge), während die wirklich großen Herausforderungen des Lebens (und des Todes) sie scheinbar niemals aus der Ruhe brachten. Was irritierend und beruhigend zugleich war. Wie Großmutter selbst.
Also gut. Petronella seufzte erneut. Dann geh ich eben. Sie klopfte sich den Sand von der Hose und stellte fest, wie durchgefroren sie eigentlich war.
Mit beiden Händen teilte sie den Strandhafer und betrat die wogende Wildnis des Gartens, die vor Kraft nur so strotzte – mehr denn je. Obwohl bereits Oktober war, schien sie nicht daran zu denken, sich zurückzuziehen. Nein, im Gegenteil, sie wucherte immer näher an das Polidorium heran, streckte ihre Ranken nach dem bröckeligen Mauerwerk aus und ließ sich kaum noch durch die üblichen Gaben besänftigen, die die Großeltern hin und wieder im Schwarzen Tümpel versenkten.
Ob die Wildnis bald überhandnehmen wird?, überlegte Petronella, während sie sich durch die in voller Pracht blühenden Rosenbüsche schlug. Sie spürte neben den Rosendornen, die an ihr zerrten, einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen und versuchte, nicht mehr an die Finsternis zu denken. Oder an Dr. Stella.
Petronella watete durch das Grasmeer, das die Steintreppe fest im Griff hatte, und winkte Venra zum Abschied, bevor sie die von Blauregen überwucherten Flügeltüren zur Bibliothek öffnete.
Kein Ächzen und Wispern, kein Heulen und Knarren empfing sie. Daran würde sie sich vermutlich niemals gewöhnen. Petronella blieb stehen. Laute Stimmen drangen aus dem Kaminzimmer. Besser gesagt: eine laute Stimme. Und die gehörte nicht Großmutter. Sie gehörte überhaupt niemandem, den Petronella kannte.
»Ha! Wer’s glaubt, wird selig!«, donnerte die Stimme. Sie war tief und rau. »Du brauchtest die Polidoria für deine eigenen Zwecke, Gloria, gib’s zu! Du hast dir doch schon immer einfach alles genommen, ohne zu fragen!«
Für einen kurzen Augenblick hatte Petronella den Impuls, an der Kaminzimmertür zu lauschen. Aber dann gab sie sich einen Ruck und stieß die Tür auf.
»Wenn ich es dir doch sage«, dröhnte Großmutter gerade zurück. Sie sprach langsam und betont geduldig, wie mit einem bockigen Kleinkind. »Es war nur zu deinem eigenen Schutz, Violante! Du warst einfach mal wieder völlig derangiert …«
Mitten im Zimmer stand eine große Frau in einem bodenlangen, tropfenden Mantel mit grauweißen Haaren, die sich wild auf ihrem Kopf türmten, obwohl sie klatschnass waren. »Ha!«, rief sie grimmig und stemmte die Hände in die Hüften. »Schutz … dass ich nicht lache! Tja, aber jetzt bin ich hier, Gloria, und ich werde mir die Polidoria zurückholen – ob du willst oder nicht!« Sie drehte sich schwungvoll um und erblickte Petronella. Im Mundwinkel der Besucherin steckte eine erloschene Pfeife, die dort auch haften blieb, als die Frau ihre Lippen nun zu einem breiten Lächeln verzog. »Und das muss unsere Petronella sein«, sagte sie und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Petronella wich zurück. Wer war diese Person?
»Mein Vögelchen, da bist du ja endlich!« Großmutter überholte die Fremde und baute sich vor Petronella auf. »Wo warst du denn schon wieder? Du bist ja komplett durchnässt! Bist du etwa draußen gewesen? Bei diesem –«
»Ein Sturmkind. Wie ich!«, stellte die Frau namens Violante zufrieden fest. »Ich hab’s mir doch gedacht.«
Petronella sah irritiert von einer zur anderen. Sie bemerkte Großvater, der im Sessel saß, vor sich eine Tasse Tee und im Gesicht einen milden Ausdruck. Daneben saßen Roberta und Pellegrino auf dem korallenroten Sofa und starrten Violante an wie einen Drachen, der soeben Feuer gespuckt hatte. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Petronella Dr. Oscar. Er stand ein wenig abseits und sah aus dem Fenster, als ginge ihn das Treiben im Kaminzimmer gar nichts an.
»Wer … wer sind Sie?«, fragte Petronella die große Frau.
»Das ist unsere Großtante Violante«, kam es von Pellegrino in einem Ton der Selbstverständlichkeit, als würde er die Besucherin schon sein Leben lang kennen. »Sie ist Großmutters kleine Schwester und bis gestern in einem Schweizer Bergsanatorium gewesen, sagt Großmutter. Weil sie völlig derangiert war.«
»Bei allen Seefrauen, das ist gelogen!«, rief Violante.
»Und Großtante Violante«, fuhr Pellegrino unbeirrt fort, »hat gesagt, dass Großmutter sie nur dort eingewiesen hat, um ihr die Polidoria zu entwenden.« Er runzelte die Stirn. »Wobei Diebstahl ja verboten ist.«
»Bapbapbap«, machte Großmutter.
»Großtante Violante ist nämlich die Kapitänin der Polidoria«, fügte Pellegrino erklärend hinzu. »Und sie ist gekommen, um ihr Schiff zurückzuholen.«
»Gut aufgepasst, du kleiner Scheißer.« Großtante Violante grinste breit.
»Violante, bitte!« Großmutter rollte mit den Augen und Petronella schoss durch den Kopf, dass sie aussah wie Roberta in fünfzig Jahren. »Du weißt genau, dass ich mich einfach nur um dich sorge, allerliebste Schwester! Immerfort, immer!« Sie rang theatralisch die Hände. »Nicht wahr, Pernell?«
»Ich halte mich da tunlichst raus, Gloria«, murmelte Großvater und nippte an seinem Tee.
Großtante Violante schnaufte und fuhr sich durch ihre Sturmfrisur, die daraufhin noch ein bisschen wilder vom Kopf abstand. »Danke, aber deine Sorgen kannst du für dich behalten!«
Petronella warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Das war also Großmutters Schwester. Ihre kleine Schwester, auch wenn »klein« keine Kategorie war für diese Frau. (Natürlich hatte Petronella nicht gewusst, dass Großmutter überhaupt eine Schwester hatte.)
Violante zwinkerte mit blitzenden Augen zurück. Trotz ihrer grauen Haare wirkte sie jung und voller Energie.
»Okay, seid ihr fertig?« Mit verschränkten Armen trat Roberta vor und reckte das Kinn. »Gibt’s jetzt die Geschenke?«
»Geschenke?«, piepste Petronella überrascht und ärgerte sich über ihre Mäusestimme. Schnell stülpte sie die Oberlippe über ihre, wie sie selbst fand, zu groß geratenen Schneidezähne (als wenn das irgendetwas bringen würde). Sie war völlig überrumpelt von der ganzen Situation und hatte das Gefühl, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Aber das war öfter so in Gegenwart ihrer Familie. Sie versuchte, Pellegrinos Blick einzufangen (was ihr nicht gelang, da er abwechselnd Großtante Violante anstarrte und fahrig zur Tür blickte).
»So, so.« Großtante Violante verschränkte ebenfalls die Arme und musterte Roberta. »Wie kommst du denn darauf, dass ich Geschenke für euch habe?«
»Na ja.« Roberta strich sich eine ihrer neuen drachenroten Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Du sagtest vor fünf Minuten: Wenn du so weitermachst, Gloria, gibt es für DICH kein Geschenk. Daraus schloss ich, dass es für uns andere durchaus Geschenke geben wird.«
»Hoho«, machte Großtante Violante und nahm ihre Pfeife aus dem Mund. »Du bist wohl eine ganz Schlaue, wie?«
»Yeppp.« Roberta ließ das P von ihren Lippen ploppen und betrachtete dabei betont lässig die knallroten Fingernägel ihrer linken Hand. »Also?« Sie schaute Großtante Violante mit unschuldigem Augenaufschlag an. »Wo sind diese Geschenke?«
Für einen Moment starrte Großtante Violante schweigend zurück und man hörte nur das Feuer im Kamin knistern und den Sturm ums Haus heulen. Dann brach sie in Gelächter aus, so dröhnend, dass Großmutters Portrait auf dem Kaminsims umkippte. »Ha! Du gefällst mir, Kleine!«
Das versetzte Petronella einen Stich. Natürlich. Roberta überstrahlte wieder alle mit ihrer selbstbewussten Art. Wie immer. Daran hatte Petronella sich eigentlich schon längst gewöhnt, doch aus irgendeinem Grund hätte sie sich gewünscht, dass es dieses Mal anders gewesen wäre. Ja, warum auch immer, aber Petronella wünschte sich, dass diese große laute Frau, die wie ein Komet hier im Kaminzimmer eingeschlagen war und die Wände beben ließ, sie beachtete.
»Ich bin nicht klein«, sagte Roberta.
»Na ja, du bist auf jeden Fall kleiner als ich«, gab Großtante Violante über die Schulter zurück.
Es stimmte: Sie überragte alle Anwesenden im Raum, (Großvater eingeschlossen, allerdings nur, weil er in seinem Sessel saß), was nicht nur an ihrer Turmfrisur lag. Mit ihrem weiten dunklen Mantel, den wilden Haaren und den derben Stiefeln war sie eine wirklich imposante, wenn nicht gar einschüchternde Erscheinung. Sie durchquerte den Raum und ging zu einem Seesack, der neben dem Kamin stand.
»Ich habe tatsächlich ein paar Souvenirs aus Übersee mitgebracht. Nachdem ich aus der verdammten Anstalt getürmt bin – danke noch mal, Gloria! –, musste ich nämlich erst mal einige Zeit untertauchen«, sprach sie weiter, während sie in ihrem Seesack herumkramte. »Ich wollte euch eigentlich einen idiotensicheren Allround-Toaster mit Anbrennsicherung mitbringen. Der toastet wirklich alles, hat man mir erklärt, eine komplett neue Produktentwicklung, die ich in einer Fabrik bei Mandalay gesichtet hatte.«
»Langweilig«, warf Roberta ein.
»Aber dann habe ich mich doch für ein neues Spielzeug entschieden, mein blutrünstiges Schwesterherz.« Großtante Violante drehte sich um und hielt eine kleine Pistole in der Hand, die sie auf Großmutter richtete.
»Nicht!«, rief Petronella erschrocken und Pellegrino ging sofort in Deckung.
Großtante Violante ignorierte sie beide.
Petronella atmete auf, als sie erkannte, dass sie nicht vorhatte, die Waffe zu benutzen, und Pellegrino richtete sich ganz langsam wieder auf.
»Das ist nicht irgendein Revolver, Gloria.« Mit diesen Worten überreichte Großtante Violante Großmutter die Pistole. »Das ist Spooky Pennys Taschenrevolver. Er tötet ausschließlich Tote. Er gehörte einst der legendären Penelope Pondicherry, auch bekannt als Spooky Penny oder ganz einfach The Dead Mississippi Killer.«
Großmutters Brillengläser funkelten, als sie den geheimnisvollen Taschenrevolver entgegennahm wie ein kostbares Schmuckstück. »Danke, kleine Schwester.« Sie warf ihr über den Rand ihrer getönten Brille einen bösen Blick zu, doch ihr zuckender Mundwinkel konnte die Freude über das Mitbringsel nicht verbergen.
»Und nach deinem Geschenk, mein lieber Pernell«, brummelte Großtante Violante in ihren Seesack, »habe ich nicht lange suchen müssen.« Sie drehte sich um und präsentierte eine nicht enden wollende Kette von großen, grünlich blau schimmernden Papierkugeln. »Voilá: Geisterfestlaternen, Original aus Hongkong.«
»Oh, vielen Dank.« Großvater stand aus seinem Sessel auf und hatte alle Hände voll zu tun, die Girlande entgegenzunehmen. »Sehr praktisch, meine Liebe, sehr praktisch!«
»Sie weisen den Toten den Weg«, erklärte Großtante Violante, »aber das weißt du natürlich selbst am besten.«
»Wir haben keine Toten mehr«, warf Pellegrino ein.
Großtante Violante musterte ihn und zog dabei an ihrer erloschenen Pfeife. »Und nun zu dir, du kleiner Scheißer.« Sie kramte in der Tasche ihres Hosenanzugs und holte einen kleinen Gegenstand hervor: einen grauen Stein an einem Band.
Pellegrino schob seine Brille hoch zur Nasenwurzel. »Also, ich trage üblicherweise keinen –«
»Das ist kein Schmuck«, unterbrach Großtante Violante ihn und stellte klar: »Das ist eine Halskette aus Madagaskar. Mit einem echten Leucht-Ammoliten. Weißt du, was das ist?«
Pellegrino nickte mit großen Augen. »Dabei handelt es sich um einen thermochromen Edelstein, der sich aus fossilen Überresten einer Unterart der ausgestorbenen Ammoniten bildet.«
»Und weißt du was? Er zeigt die Stimmung seines Trägers an.« Großtante Violante hängte ihm die Kette um den Hals. Sofort erstrahlte der Ammolit in einem leuchtenden Grün.
»Grün steht für Freude«, las Großtante Violante von einem kleinen Stück Papier ab, bevor sie es Pellegrino überreichte. »Hier. Die Gebrauchsanweisung.«
Vorsichtig berührte Pellegrino den Stein mit der Fingerspitze. »Ich bedanke mich bei dir, Großtante Violante«, hauchte er.
Schau mal, Nelli!, schickte er Petronella stolz in Gedanken zu.
Super, Pelle!, nickte sie zurück. Kurz überlegte sie, ob sie diesen Ammoliten nicht vielleicht gern selbst gehabt hätte. Mal sehen, was ich bekomme, fügte sie noch in Gedanken hinzu, aber da hatte sich Pellegrino schon längst wieder seiner neuen Errungenschaft zugewandt.
»Oscar.« Großtante Violante hatte inzwischen wieder in ihrem Seesack gekramt und drehte sich nun mit einem übertriebenen Strahlen auf dem Gesicht um. »Du hast mich noch gar nicht begrüßt, wenn ich mich nicht verhört habe. Kann das sein?«
Dr. Oscar war zusammengezuckt. Langsam drehte er sich um und sah dabei aus wie ein Schüler, der plötzlich im Unterricht aufgerufen worden war und die Antwort nicht wusste. Petronella hätte sich am liebsten schützend vor ihn gestellt, aber sie traute sich nicht.
»Ich sehe schon, du plapperst noch immer wie ein Wasserfall.« Großtante Violante rollte mit den Augen. »Hier, fang! Hepp! Und hepp!«
Zwei längliche, dunkle Gegenstände flogen durch die Luft und hätten Dr. Oscar fast am Kopf getroffen, wenn er nicht im letzten Moment die Arme hochgerissen hätte. Was zu Boden plumpste, waren zwei alte, abgetragene Stiefel. Als Dr. Oscar sich danach bückte, knackte sein Rücken. Er hielt die Stiefel im Arm wie einen stinkenden, zu großen Hund und starrte sie verwirrt an.
»Sie beißen nicht«, schmunzelte Großtante Violante. »Es sind Abenteurerstiefel. Wenn die jemand brauchen kann, dann du, habe ich mir gedacht!«
Eine unangenehme Stille entstand. Schließlich schluckte Dr. Oscar so laut, dass alle es hören konnten, und sagte leise: »Ich … ähm … das ist äußerst … prospektiv von dir, Tante Violante. Vielen Dank!«
Petronella wusste nicht, was prospektiv bedeutete, aber sie war es gewohnt, dass die Hälfte der wenigen Sätze, die ihr Vater sprach, aus Fremdwörtern bestand.
Roberta gähnte laut, während sie ein zerlesenes Buch mit dem Titel Miss Moonpennys letzter Fall zückte und demonstrativ darin zu blättern begann. »Dauert diese Übergabezeremonie noch lange?«, fragte sie.
»Also wirklich, mein Vögelchen«, sagte Großmutter, ohne dabei ihren neuen Taschenrevolver aus den Augen zu lassen, »was haben wir dir über Geduld beigebracht?«
»Dass du selber keine hast?«, murmelte Roberta.
Großmutter schien sie zum Glück nicht gehört zu haben. Wenn es zwischen den beiden krachte, war das stets nervenaufreibend für alle Anwesenden.
»Also gut!« Großtante Violante klatschte in die Hände und wandte sich um. »Das Beste kommt wie immer zum Schluss.« Sie beugte sich noch einmal zu ihrem Seesack hinunter und drehte sich blitzschnell wieder um, sodass ihr Mantel sich im Windzug blähte. Sie versteckte beide Hände hinter ihrem Rücken. »Links oder rechts?«, fragte sie Roberta.
»Links«, antwortete Roberta mit einem Schulterzucken.
»Richtig getippt.« Großtante Violante zog einen zerfetzten schwarzen Schlapphut mit einer breiten Krempe hinter ihrem Rücken hervor.
Die Langeweile in Robertas Gesicht verwandelte sich in Erstaunen. »Oh«, machte sie und nahm den ganz offensichtlich uralten Hut entgegen.
Petronella konnte nicht erkennen, was an diesem Hut so besonders sein sollte, doch Roberta anscheinend schon.
»Er stammt aus Transsilvanien.« Großtante Violante nickte Roberta zu. »Nach allem, was Gloria mir über dich erzählt hat, dachte ich, das wäre genau das Richtige für dich. Niemand weiß, wem er gehörte. Aber du kannst es dir denken, es gibt natürlich wildeste Spekulationen. Er tauchte plötzlich einfach aus dem Nichts auf, lag auf dem Tisch einer ärmlichen Spelunke in den Karpaten.«
Roberta setzte den Hut auf ihr drachenrotes Haar. »Eine neue Phase beginnt«, verkündete sie und verbeugte sich feierlich. »Die Gefährliche-Fremde-Phase.«
Alle klatschten höflich, auch Petronella, trotz des mulmigen Gefühls in ihrem Bauch. Man konnte nie wissen, was Roberta sich als Nächstes ausdachte, und keine ihrer Phasen, egal ob Nosferatus Erbin, Vornehme alte Dame, Meisterdetektivin, Bestsellerautorin oder wie sie sonst noch heißen mochten, war jemals komplett ungefährlich gewesen. Denn eng damit verwoben war Robertas andere Angewohnheit, stets neue Pläne zu schmieden, die immer das Potenzial hatten, in einer Katastrophe zu enden.
Großtante Violante hatte nicht geklatscht, denn sie hatte ihre Hände in den Manteltaschen vergraben. Petronella erwartete, dass sie sich nun ein weiteres Mal zum Seesack herunterbeugen würde, doch sie machte keine Anstalten.
Sie hat mein Geschenk vergessen, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Petronella stülpte erschrocken die Oberlippe über ihre Schneidezähne. Sie schrieb sich selbst die Fähigkeit zu, sich unsichtbar machen zu können – aber nicht auf eine gute Art. Vor allem, wenn Pellegrino mit seiner wissenschaftlichen Inselbegabung und Roberta mit ihrer übersprudelnden Fantasie im Raum waren, hatte sie sich schon oft wie ein Gespenst gefühlt, ein durchsichtiges Wesen, das niemand so richtig wahrnahm. Änderte sich das denn nie?
Da heftete Großtante Violante den stechenden Blick ihrer sturmgrauen Augen auf sie. »Und nun zu dir, Petronella«, sagte sie, nahm die Hand aus der Manteltasche und hielt ihr etwas entgegen. Es war eine winzige Topfpflanze. Sie hatte weder Blüten noch eine nennenswerte Anzahl von Blättern. »Das ist eine Ungewöhnliche Nachtviole«, erklärte Großtante Violante.
Mit klopfendem Herzen nahm Petronella das zarte, unscheinbare Pflänzchen entgegen. »Eine Ungewöhnliche Nachtviole?«
»Die unbekannte Schwester der Gewöhnlichen Nachtviole.«
»Sie sieht gar nicht so … ungewöhnlich aus«, stellte Petronella fest und fragte sich sofort, ob das unhöflich klang.
Doch Großtante Violante zwinkerte ihr verschwörerisch zu und trat näher. »Wart’s ab«, raunte sie. »Den Ungewöhnlichen Nachtviolen sagt man nach, dass sie eine besondere Beziehung zu ihrem Menschen aufbauen.« Petronella sah, wie Roberta und Großmutter neugierig die Köpfe reckten. »Und eines Nachts, wenn es so weit ist«, fuhr Großtante Violante fort und sah Petronella tief in die Augen, sodass sie die meergrünblauen Sprenkel um ihre Pupillen erkennen konnte, »wird sie leuchtend aufblühen und ihren Duft versprühen. Genau im richtigen Moment.«
»Und wenn ich den Moment verpasse?«, fragte Petronella.
»Das wird nicht passieren. Du musst sie ab jetzt allerdings immer bei dir tragen, sonst geht sie ein. Ich übergebe sie vertrauensvoll in deine Hände.« Großtante Violante legte ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte sie an. Petronella wurde so warm ums Herz, dass sie automatisch zurücklächelte. Es tat fast ein bisschen weh und fühlte sich an wie das erste Lächeln seit langer Zeit.
Freut mich ganz besonders, dich kennenzulernen, Petronella, hörte sie Großtante Violantes Stimme plötzlich in ihrem Kopf.
Petronella zuckte zurück. Du kannst mit deinen Augen sprechen? Das ging doch sonst nur bei Pellegrino. Und bei Tieren!
Großtante Violante nickte. Wir haben so einiges gemeinsam, glaube ich.
»Was heckt ihr beide da hinten aus?«, dröhnte Großmutter quer durch den Raum zu ihnen herüber. Sie hatte aufgehört, ihren Taschenrevolver zu bewundern, und musterte sie misstrauisch.
»Das geht dich gar nichts an, mein neugieriges Schwesterherz.« Großtante Violante löste ihren Blick von Petronellas, dann sah sie sich um, als würde sie ihre Umgebung zum ersten Mal mit wachen Augen wahrnehmen, und rümpfte die Nase. »Das wollte ich euch schon die ganze Zeit fragen«, sagte sie und fixierte die Großeltern mit zusammengekniffenen Augen. »Irgendwas stimmt doch hier nicht!«
»Zum letzten Mal, meine liebe Violante«, brummte Großvater und rührte beinahe ein wenig ungeduldig in seinem Frühstückstee. »Ja, die Finsternis ist fort. Wir haben sie eigenhändig aus dem Polidorium vertrieben. Alle Toten haben ihre letzte Reise angetreten. Es ist das Beste für die Familie. Für die ganze Familie.«
»Und damit basta«, schnappte Großmutter und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, woraufhin Pellegrino übertrieben erschrocken zusammenzuckte und sich an seinem Toast verschluckte.
Roberta rollte mit den Augen. Sie konnte die alte Leier langsam nicht mehr hören.
»Ts. Und ich hatte mich schon auf eine ordentliche Spuknacht gefreut.« Großtante Violante verzog den Mund. »Tja. Ziemlich, äh, gewagt, das Ganze, wenn ihr mich fragt. Aber ihr fragt mich ja nicht«, knurrte sie. »Habt ihr mal einen Blick in euren Garten geworfen? Ich bin gestern Abend kaum bis zur Haustür durchgekommen. Kann man dagegen nichts unternehmen? Wie wäre es mal wieder mit einem Gärtner?«
»Ach, das bringt doch nichts! Und du weißt genau, was mit dem letzten passiert ist«, winkte Großmutter ab.
»O ja, richtig, ich erinnere mich. Wie lange ist das jetzt her, zehn Jahre? Habt ihr den Ärmsten immer noch nicht gefunden?«
Roberta verschanzte sich hinter ihrem Buch und tat, als würde sie lesen. Mit dieser Methode hatte sie schon so manches Erwachsenengespräch erfolgreich belauscht. Und wenn die Zwillinge nicht wie Katzen beim Tennis abwechselnd Großmutter und Großtante Violante anstarren würden, hätte es sicherlich auch dieses Mal geklappt.
»Pscht, Violante, das ist lange her«, raunte Großvater mit einem Seitenblick auf die Zwillinge und Roberta.
Also beschloss Roberta, zur herkömmlichen Methode zu wechseln, und ließ das Buch sinken. »Wieso?«, fragte sie. »Was ist denn mit diesem Gärtner passiert?«
»Gar nichts, mein Vögelchen, überhaupt gaaar nichts ist passiert«, flötete Großmutter und warf Violante einen ihrer betont unauffälligen Erzähl-den-Vögelchen-nichts-Blicke zu. Roberta fragte sich, ob Großmutter wirklich glaubte, dass es niemand bemerkte.
»Er ist verschwunden«, beantwortete Großtante Violante Robertas Frage einfach trotzdem. »Im Garten. Und niemals wiederaufgetaucht. Die Knalltüten in der Stadt waren alle ganz außer sich! Haben den Aufstand geprobt. Deine Großeltern waren kurz davor zu fliehen.«
»Papperlapapp!«, fuhr Großmutter sie an. »Wir – und fliehen! Ha, dass ich nicht lache!«
»Verschwunden? In unserem Garten?« Robertas Augen wurden groß. Sie tauschte einen Blick mit den Zwillingen, die ebenso gebannt zugehört hatten. »Echt wahr? Ist er … tot?«
»Schluss jetzt!«, zischte Großmutter und setzte klirrend ihre Teetasse ab. »Du hörst jetzt sofort mit diesen alten Geschichten auf, Violante!«
Großtante Violante grinste zufrieden. Bevor Roberta weiter nachbohren konnte, veränderte sich allerdings ihr Gesichtsausdruck und wurde plötzlich ernst. »Aber dass ihr gleich alle gehen lassen habt …«, murmelte sie. »Ich meine, Dr. Stella …« Sie sprach nicht weiter und presste die Lippen aufeinander. Roberta schluckte. Großtante Violante straffte die Schultern und klatschte in die Hände. »Wo ist eigentlich mein herzallerliebster Oscar-Neffe, der kleine Abenteurer?«
Volltreffer, dachte Roberta. Endlich bin ich nicht mehr die Einzige, die die richtigen Fragen stellt. Großtante Violante mochte ja eine seltsame Frisur haben, aber ansonsten schien sie ganz okay zu sein. Ziemlich okay vielleicht sogar, fügte Roberta in Gedanken hinzu und strich mit der Hand über ihren neuen Schlapphut.
Sie blickte auf Dr. Oscars leeren Sessel, der anlässlich seiner Rückkehr vor acht Monaten dorthin gestellt worden war. Und seitdem so gut wie immer leer blieb. Es war beinahe, als wäre er gar nicht da. (Also, Dr. Oscar. Der leere Sessel schon.)
Großmutters Brillengläser verdunkelten sich. »Er schwänzt regelmäßig die Teezeiten«, sagte sie unheilvoll.
Großvater machte dazu ein Gesicht, als habe er soeben eine Todesnachricht erhalten, und die Zwillinge taten es ihm gleich, wie Roberta leicht genervt feststellte.
»Wir haben ihm schon eine angemessene Strafe angedroht«, fuhr Großmutter fort, »aber der Junge ist stur …«
»Vielleicht solltet ihr ein wenig nachsichtig mit ihm sein«, erwiderte Großtante Violante. »Er braucht womöglich noch etwas Zeit wegen –«
»Pah! Zeit!«, zischte Großmutter, doch ihre Stimme war leiser als sonst. »Die haben wir doch alle nicht.«
»Man muss sich an die Teezeiten halten«, belehrte Pellegrino Großtante Violante und erhob dabei sogar seinen Zeigefinger.
»Sehr richtig, mein Vögelchen, sehr richtig«, flötete Großmutter.
Roberta rollte mit den Augen, verschanzte sich wieder hinter Miss Moonpennys letzter Fall und hoffte, dass Großtante Violante das Gespräch wieder in interessantere Gefilde führte. Sie zuckte zusammen, als eine sanfte Stimme direkt neben ihr erklang:
»Möchte jemand ein Sandwich zum Tee?«
»Hein«, sagte Roberta, »musst du immer ohne Vorwarnung auftauchen …« (Dabei hatte sie sich schon längst gefragt, wo er blieb.)
Der blasse, hagere Junge, der wie aus dem Nichts neben dem Kamin erschienen war, trug ein Tablett mit Sandwiches und eine Schüssel mit Brombeeren, die er soeben auf den Tisch stellte.
Er lächelte Roberta entschuldigend an und reichte ihr einen Teller mit ihrem Lieblingsspezialsandwich. Seine Augen, die eigentlich viel zu schwarz waren, hatten immer eine seltsam beruhigende Wirkung auf Roberta. Sie wusste: Wenn niemand mehr zu ihr hielt, Hein würde da sein. Hein war ihr Freund. Sie biss herzhaft in ihr Sandwich und fühlte sich gleich ein bisschen besser als vorher.
»Ich dachte, unsere Besucherin hat vielleicht Hunger nach ihrer langen Reise. Willkommen, Violante!«, sagte Hein. »Ich hätte nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen.«
»Ach, Hein, du alter Charmeur.« Großtante Violante warf sich grinsend eine Brombeere in den Mund. »Du hast doch geglaubt, meine Zeit wäre schon längst gekommen … Gib’s zu!« Dann wurde sie ernst. »Apropos, Pernell: Hattest du nicht gesagt, alle Toten hätten ihre letzte Reise angetreten?«
»Nun. Nicht alle.« Großvater hüstelte. »Der, nun, wichtigste Tote fehlt noch. Und darum bleibt auch unser Freund Hein. So lange, wie es nötig ist.«
»Genau. Hein bleibt«, wiederholte Roberta mit Nachdruck hinter ihrem Buch.
Allerdings war Hein bereits wieder verschwunden. Stattdessen hatte jemand anderes den Raum betreten. Wenn man es nicht besser wusste, hätte man denken können, dass es lediglich ein Anorak in Kindergröße war, der wie von Geisterhand bewegt durch den Raum schwebte.
Doch Großtante Violante wusste es anscheinend besser. Sie starrte ihn an. »Sagtet ihr nicht –«
»Das ist Inuk!«, fuhr Großmutter sie an. »Er gehört jetzt zu uns. Und auch er bleibt, so lange es nötig ist.«
Das ist nicht mehr mein Name, erklang eine glockenhelle Kinderstimme aus der Kapuze des Anoraks. Aber es stimmt. Hein und ich bleiben, bis wir ihn gefunden haben.
»Ihn? Damit meint ihr doch nicht etwa …?« Großtante Violante sah fragend in die Runde.
»O doch. Den toten Walfänger«, zischte Großmutter und rammte ihre Gabel in ein Sandwich, als wollte sie es erstechen.
Hein und ich werden gemeinsam mit dem Walfänger durch das Portal zur Ewigkeit gehen. Der Anorak ließ sich auf einem Stuhl nieder. Erst dann ist der Fluch beendet.
»Der Walfänger, so, so … Ist er also zurück.« Gedankenverloren goss Großtante Violante sich so viel Sahne in ihren Tee, dass sie eine Überschwemmung auf der Untertasse verursachte, und griff nach ihrem Löffel.
»Nicht umrühren!«, rief Pellegrino erschrocken. »Du zerstörst das Wölkchen!«
Doch Großtante Violante schien ihn gar nicht zu hören. Sie nahm einen Schluck von ihrem ungehörigerweise umgerührten Tee und stellte langsam die Tasse ab, bevor sie in die Runde blickte. »Tja. Ich weiß nur eines: Egal, wie sehr ihr euch anstrengt, sie fernzuhalten«, sagte sie dann mit dunkler Stimme, »die Finsternis findet immer ihren Weg zurück.«
Als Roberta in den Schulbus stieg, spürte sie die Blicke sofort. Klar. Sie trug ihren neuen Schlapphut. Und die neue Haarfarbe. Und den blutroten Mantel, den sie, wie sie es bei Großtante Violante gesehen hatte, offen ließ, damit er sich so schön im Herbstwind blähte und nicht verbarg, dass sie darunter ebenfalls komplett in Knallrot gekleidet war. Das Outfit funktionierte offenbar.
Eine willkommene Ablenkung von ihren eigenen Gedanken. Die Gefährliche Fremde zu sein, war besser als die Roberta, die ihren fünfzehnten Geburtstag ohne ihre Mutter gefeiert hatte und die noch niemals jemandem erzählt hatte (auch nicht sich selbst), wie traurig und fassungslos sie darüber war, dass Dr. Stella auch bei keinem ihrer kommenden Geburtstage dabei sein würde. Oder an Weihnachten. Oder auch bei jeder langweiligen Teezeit im Polidorium … Nie wieder. Zwei Worte, die so sehr schmerzten, dass Roberta sie aus ihrem Kopf verbannt hatte.
»Na, habt ihr jetzt Angst vor mir?«, rief sie laut, während sie durch den Bus schritt und sich auf einen Platz in der letzten Reihe fallen ließ, woraufhin drei jüngere Schüler erschrocken aufsprangen und sich nach vorn trollten. »Offensichtlich«, bemerkte sie zufrieden und schlug ihr Buch auf.
Miss Moonpennys letzter Fall war spannend. Das klappte zum Glück immer noch: in die Welt zwischen den Seiten eines Buches einzutauchen und dabei alles andere zu vergessen. Darum fiel Roberta erst bei der Ankunft an der Schule auf, wie still es im Bus war. Die ganze Zeit über war kein Wort gesprochen worden. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Sie hatten also wirklich Angst vor ihr.
»Feiglinge«, murmelte Roberta und schwang sich aus dem Bus.
Allerdings warf sie doch noch einen verwunderten Blick zurück in die erschrockenen Gesichter der Schülerinnen und Schüler, die erst abgewartet hatten, bis sie sich in sicherer Entfernung befand, bevor sie nach ihr den Bus verließen.
Als wäre sie … wirklich gefährlich. Dabei tat sie doch nur so.
Klar, alle Polidoris, Roberta eingeschlossen, waren nicht besonders beliebt in Tildrum. Noch nie gewesen. Sie waren die Totengräberfamilie. In der Schule erntete sie ständig schiefe Blicke. Das war Roberta gewohnt. Doch das hier war jetzt etwas anderes.
Fremdsein für Fortgeschrittene, dachte sie und setzte ihren Rucksack ab, um nach einem Stift zu suchen, weil sie sich (wie alle Schriftstellerinnen das taten, wenn sie ihr Notizbuch vergessen hatten) den Ausdruck für später auf ihre Hand schreiben wollte. Da entdeckte sie ihn.
»Luk!«, rief sie, lauter als beabsichtigt.
Ein paar Köpfe flogen herum, scheue Blicke streiften sie.
Jemand murmelte etwas – ganz leise, doch Roberta konnte es trotzdem verstehen: »Dass die sich überhaupt noch traut, ihn anzusprechen.«
Luk schien sie nicht gehört zu haben. Er ging einfach weiter, die Schultasche unter den Arm geklemmt, auf die Eingangstür zu. Plötzlich fühlten sich die Blicke der anderen an wie kleine Stiche. Vielleicht lag es doch nicht an ihrer neuen Phase, zumindest nicht nur.
Dass die sich überhaupt noch traut, ihn anzusprechen. Was sollte das denn überhaupt heißen?
»Hey!« Sie riss sich den Schlapphut vom Kopf und rannte los. »Weg da!«, zischte sie einer Gruppe von Erdnüssen aus der Fünften zu und hätte um Haaresbreite eine Lehrerin gerammt, deren Namen sie sich nicht merken konnte (oder wollte).
»Luk.« Außer Atem stellte sie sich ihm in den Weg, den Gefährliche-Fremde-Schlapphut wie ein Schutzschild an sich gepresst. »Warte doch mal. Ich …«
Luk blieb stehen und starrte sie an.
Robertas Wangen fingen an zu brennen. Mit einem Mal fühlten sich ihre Haare zu rot an, die Lippen erst recht und der Mantel schien in Flammen zu stehen. Es gab niemanden in ihrem Leben, der so etwas schaffte. Außer Luk. Auch nachdem sie den ganzen Sommer fast jeden Tag zusammen verbracht hatten, war das noch so.
»Roberta«, sagte Luk mit belegter Stimme. Es klang komisch. Gar nicht so, wie er ihren Namen sonst aussprach. Er betonte nicht jede Silbe, sondern verschluckte sie alle.
Die Masse der anderen Schülerinnen und Schüler teilte sich um sie herum. Neugierige, abschätzige, ja, hasserfüllte Blicke trafen Roberta erneut.
»Hey, Mann.« Ein Junge mit einer blütenweißen Jacke, der normalerweise niemals freiwillig ein Wort mit jemandem wie Luk Schrödersen gewechselt hätte, klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. »Tut mir echt leid, Mann.«
Verständnislos blickte Roberta von Luk zu dem Jungen und zurück. Was war denn nur los hier? Vorgestern war doch noch alles wie immer gewesen!
Luk sah zu Boden. Er sah traurig aus. Selbst sein aufgemalter Schnurrbart zeigte nach unten. Die Schulglocke schrillte.
»Also … ich muss dann mal zu Französisch«, sagte er und wollte sich zum Gehen wenden.
»Jetzt warte doch mal!« Roberta hielt ihn am Arm zurück und versuchte zu ignorieren, dass er zusammenzuckte, als hätte er einen Stromschlag bekommen. »Ich wollte dich was fragen …« Sie schluckte und drehte den Gefährliche-Fremde-Schlapphut nervös in ihren Händen. Zum Glück hatte der Schulhof sich inzwischen geleert. Los, mach schon, Roberta Polidori!, feuerte sie sich selbst in Gedanken an und sagte dann laut: »Also. Es war ein … äh … wunderschöner Sommer … mit dir. Am Strand und in der Nebelklause immer und alles. Und ich denke …«
Luk blickte weiter zu Boden, was die Sache nicht leichter machte.
Roberta holte tief Luft. »Okay. Ich denke, wir sollten jetzt mal … ähm. Also. Ich möchte dich einladen. Zum, äh … D-dinner. Mit … Kerzenlicht und so. Heute Abend. Bei uns zu Hause. Also, bei mir, äh, in meinem Zimmer natürlich, nur wir zwei natürlich, nicht … mit meinen Großeltern oder so. Wenn du verstehst.«
Puh, dachte sie erleichtert. Jetzt ist es raus. Sie hätte nicht gedacht, dass das so schwer werden würde.
Jetzt sah Luk hoch und ihr direkt in die Augen. »Roberta …« Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarz gefärbten Haare und, Mann, das sah so verdammt lässig aus!
»Ja?« Erwartungsvoll schaute Roberta ihn an. »Um halb sieben? Du könntest eine einzelne rote Rose mitbringen. Oder nein, vielleicht lieber eine schwarze. Oder … Ach, wie du willst!« Sie lachte und fand sich selbst albern.
Luks Blick blieb an ihrem hängen und sie hörte sofort auf zu lachen. Für eine Millisekunde gab es nur sie beide.
Warum sieht er denn nur so traurig aus?, dachte sie und fragte leise: »Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?«
»Also, echt.« Luks Stimme klang plötzlich hart. »Was glaubst du denn? Ich meine, nach allem, was passiert ist.«
Roberta runzelte die Stirn. »Was?«, fragte sie verwirrt.
»Ach, komm.« Jetzt war es Luk, der auflachte, aber es klang beinahe hysterisch. »Du kannst es unmöglich nicht mitbekommen haben. Allein hier auf dem Schulgelände hängen ungefähr eine Million Plakate!«
»Was denn für …« Roberta sah sich um. Sie war so sehr in ihren Plan vertieft gewesen, Luk zum Dinner einzuladen, dass sie ihrer Umgebung gar keine Beachtung geschenkt hatte. Wozu auch? Die Schule war natürlich noch immer das gleiche langweilige Rechteck aus Klinkersteinen … Doch tatsächlich: An den Mauern des Gebäudes und der Turnhalle, am Bushaltestellenhäuschen, am Fahrradunterstellstand, am Stamm der Blutbuche … überall hingen sie: Plakate. Oder besser gesagt: die vielfache Ausfertigung des immer gleichen Plakats. Darauf war das ernste Gesicht eines kleinen Mädchens abgebildet, das Roberta sehr gut kannte. Sie machte einen Schritt auf die Buche zu und las:
verschwunden seit dem 24. Oktober, ca. 19 Uhr. Sie hat mittellange, mittelblonde Haare und ist mit einem dunkelgrünen Parka, Jeans und Gummistiefeln bekleidet. Wer hat sie gesehen? Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizei von Tildrum.
Roberta hatte ein Gefühl, als würde sich etwas Kaltes, Glitschiges um ihren Hals legen.
»Edda«, presste sie hervor. »Wie …?«
»Die Kleine Perle wurde heute Morgen direkt neben eurem Haus gefunden«, hörte sie Luk wie aus weiter Ferne sagen. »Die Polizei hat Fußspuren gefunden. Es waren eindeutig ihre. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen, bevor die Flut sie komplett verwischt hätte. Und weißt du, wo die Spur sich verliert, Roberta?«
Roberta nahm wahr, wie die Worte seine Lippen verließen, doch sie begriff nicht, was sie bedeuteten. Das Einzige, an das sie denken konnte, war Edda, diese kleine Erdnuss mit den nackten Füßen im Strandsand und den wissbegierigen Augen, deren Blau jeden einzelnen Buchstaben, jedes einzelne Wort, das Roberta ihr beigebracht hatte, sofort aufgenommen hatte wie das Meer den Regen. (Klar, manchmal wäre Roberta lieber mit Luk allein gewesen, aber sie konnte nicht umhin zuzugeben, dass sie seine kleine Schwester liebgewonnen hatte. Es war beinahe unheimlich gewesen, wie sehr sie sie an sich selbst erinnerte.)
»Edda …«, murmelte sie erneut.
»Ihre Spuren führen direkt in euren Garten.« Luk atmete zitternd aus. »Und dann – nichts mehr. Edda ist verschwunden. In eurem Garten!«
»In unserem –« Roberta versuchte zu schlucken, aber es ging nicht. Das kalte, glitschige Etwas um ihren Hals war immer noch da.
Und Luk sah wieder an ihr vorbei, als gäbe es nichts Interessanteres auf dieser Welt als die Rinde einer alten Blutbuche. Roberta spürte seine Aufregung, sie sah seine Halsschlagader pochen. Wie gern hätte sie ihn umarmt oder etwas Tröstendes gesagt. Doch sie war unfähig, sich zu bewegen. Sie schloss die Augen und versuchte, tief zu atmen.
Im nächsten Moment wurde es ruhig in ihrem Innern. Es war wie beim Lesen: Die Welt um sie herum verschwand. Nur schien es, als hätte sie einige Seiten übersprungen, als hätte sie im Buch vorgeblättert bis zu einer Stelle, die sie noch nicht kannte. Sie sah es vor sich, klarer und deutlicher, als die Gegenwart jemals sein könnte: Edda im Licht der tief stehenden Herbstsonne, das sich in ihren Haaren verfing. Wie sie einfach dastand, auf dem Deich, ratlos und verwirrt, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Der viel zu große, abgetragene Parka, den sie von Luk geerbt hatte, die dünnen Jeansbeine, die Gummistiefel, die heiß geliebte Mütze mit den Katzenohren, die Roberta ihr geschenkt hatte.
Aber da fehlt doch was. Irgendwas … Nur was?
Roberta ließ den Schlapphut einfach fallen und presste die Finger gegen ihre Schläfen. Doch Eddas Bild war genauso schnell wieder aus ihrem Kopf verschwunden, wie es gekommen war. Als hätte jemand ohne ihr Einverständnis das Buch zugeschlagen.
Roberta schüttelte sich und öffnete die Augen.
»Was wollte sie in eurem Garten?«, fragte Luk, ohne den Blick von der Buchenrinde zu nehmen. Es klang, als hätte er die Frage nicht zum ersten Mal gestellt. Ihr, Roberta. Und sich selbst. »Ich meine, wir wissen ja alle, dass ihr Polidoris …« Er ließ den Satz unvollendet zwischen ihnen in der Luft hängen.
»Ja?« Roberta horchte auf.
Da war noch etwas Unausgesprochenes, mehr als nur das Satzende.
»Ich meine, ich hab ja mit eigenen Augen gesehen, was … bei euch so los ist. Mit den ganzen Toten und so. Ich weiß, ihr seid nicht … Ich sag ja gar nicht, dass …« Luk hob die Arme und ließ sie hilflos wieder sinken.
»Dass … was?« Roberta versuchte, Luks Blick einzufangen. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen wuchs.
Doch er starrte weiter angestrengt zu Boden und murmelte: »Ich will doch einfach nur, dass Edda wiederkommt. Es ist kaum auszuhalten. Nicht zu wissen, wo sie jetzt ist. Sie ist doch noch so klein … Und in eurem Garten … dieser Tümpel … euer supergruseliges Haus …« Er zog die Nase hoch, dann fiel sein Mund in sich zusammen, der aufgemalte Schnurrbart zuckte. Weinte er?
»Hey … Warum hast du denn nicht sofort was gesagt? Warum hast du mich nicht angerufen?« Roberta legte ihre Hand auf seinen Arm, spürte seine warme Haut durch den Stoff seiner für einen kalten Herbsttag viel zu dünnen Jacke. »Jetzt hör mir mal zu. Wir finden sie, ja? Ich hab keine Ahnung, was Edda in unserem Garten gesucht hat. Aber … wir finden’s zusammen raus, ja? Wir finden sie! Jetzt gleich! Los, lass uns gehen!«
Luk machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen Nicken und Kopfschütteln lag. Dabei zuckte er die Schultern.
Dann sah er endlich auf und schaute ihr in die Augen.
Und dieser Blick sagte alles. Alles, was Luk nicht gesagt hatte. Warum er sie nicht angerufen hatte. Warum er nicht einfach zum Polidorium gekommen war und an der Ehrfurcht gebietenden Ebenholztür geläutet hatte, um nach Edda zu fragen.
Roberta ließ seinen Arm los. »Du glaubst mir nicht, oder?«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Du glaubst, wir Polidoris hätten was mit Eddas Verschwinden zu tun …?« Sie lachte auf, es klang schriller als beabsichtigt. »Luk – denkst du wirklich, wir … ich bin gefährlich oder so?«
Luks Wimpern, von denen Roberta einmal gesagt hatte, sie sähen aus wie kleine Mondstrahlen, zuckten. »Ich –« Er stockte.
»Ja?«
»Ichweißesnicht.« Luk spuckte den Satz ganz schnell und leise aus und verschwand dann im Treppenhaus.
Roberta war wie vor den Kopf geschlagen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah zu, wie die Tür langsam ins Schloss fiel. Das kalte, glitschige Gefühl um ihren Hals war noch da.
Roberta wartete.
Eine Minute. Drei.
Luk kam nicht zurück.
Schließlich holte sie tief Luft und setzte ihren Gefährliche-Fremde-Hut wieder auf. Und da spürte sie es. Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, dass sie nicht mehr allein war in der schmucklosen Vorhalle des Schulgebäudes. Es war fast, als hörte sie Herzschläge pochen, nicht ihre eigenen, sondern die der anderen, schnell und hart, denn sie waren aufgeregt. Und wütend. Und es waren viele. Viele Herzen voller Angst und Wut.
»Hallo, Totengräbertochter.« Der Junge gab sich Mühe, seine Stimme drohend und gefährlich klingen zu lassen. Seine Hände steckten in den Taschen seiner blütenweißen Jacke, vermutlich zu Fäusten geballt, während er Roberta anstarrte. Das hatte er bestimmt vor dem Spiegel geübt.
Links und rechts von ihm standen eine Riesin mit raspelkurzen Haaren in einem glänzenden Trainingsanzug und ein drahtiger Typ mit geflochtenen Zöpfen wie ein Wikinger. Zwei Kampfmaschinen, schoss es Roberta durch den Kopf.
Die Riesin hatte sehr große Fäuste, wie Roberta mit einem Seitenblick registrierte, die sie mit einem Schlag zurück ins Polidorium katapultieren könnten, und der kleine Wikinger wirkte wie ein gespannter Flitzebogen, der jeden Moment seinen Pfeil abschießen würde. Hinter den dreien stand eine ganze Gruppe von Schülern und Schülerinnen. Manche Gesichter kamen Roberta bekannt vor, vermutlich aus ihrer Klasse (sie hatte sich immer noch nicht die Mühe gemacht, sich die Namen zu merken), andere waren deutlich älter oder jünger als sie. Einige sahen ängstlich aus, manche wütend, andere einfach nur sensationslüstern.
»Totengräberenkelin. Wenn schon«, korrigierte Roberta den blütenweißen Jungen. (Gleichzeitig versuchte ihr Gehirn, den kürzesten Fluchtweg auszurechnen.) »Es sind meine Großeltern, die das Beerdigungsinstitut führen, auf das du anspielst. Nicht meine Eltern. Außerdem ist es inzwischen geschlossen. Du solltest dich vorher besser informieren, wenn du mich beeindrucken willst.«
»Wir wissen, was wir wissen müssen«, antwortete der Junge.
Den Satz hatte er bestimmt aus irgendeinem mittelmäßigen Film.
»So? Was wisst ihr denn?« Roberta hoffte, dass ihre Stimme kühl und ruhig klang, doch sie konnte ein leichtes Zittern nicht verbergen, als die Riesin einen Schritt auf sie zu machte. Der Geruch von Schweiß und so etwas wie Fichtenholz stieg ihr in die Nase.
»Wir wissen, dass ihr kleine Kinder verschwinden lasst«, sagte der Junge mit der blütenweißen Jacke. »Ihr wart das. Wir wissen es.«
Der Wikingerjunge ließ seine Finger knacken.
»Und ich sag dir was«, fuhr der blütenweiße Junge fort. Sogar seine Zähne waren weiß wie Gänseblümchenblüten. »Das lassen wir uns nicht gefallen. Das Maß ist voll, Totengräbertocher.«
Roberta erkannte, dass dies der letzte Moment war, um einfach auf dem Absatz umzudrehen und abzuhauen.
Doch ihre Beine taten das Gegenteil: Sie machten einen Schritt auf den Jungen zu. Er war kaum größer als sie, sodass sie ihm direkt in die Augen schauen konnte. Ihr Gefährliche-Fremde-Schlapphut warf einen Schatten auf sein Gesicht. Seine alberne Stupsnase zuckte. Sofort legte sich eine Riesenhand wie ein Schraubstock um Robertas Oberarm und es tat weh – aber sie war nicht mehr zu bremsen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und wenn es das Letzte war, was sie tun würde.
»Passt lieber auf«, raunte sie dem blütenweißen Jungen ins Ohr, »dass wir euch nicht verschwinden lassen.«
Der Junge schnappte nach Luft, wich zurück und keuchte: »Häme!! Wilma!! Ergreift sie und –«
Der theatralische Schlachtruf blieb ihm im Halse stecken und verwandelte sich in ein entsetztes Keuchen. Gleichzeitig wurde sein Gesicht plötzlich so weiß wie seine Jacke, während seine weit aufgerissenen Augen an Roberta vorbeistarrten.
»Oh!«, presste der Junge hervor und taumelte rückwärts, stolperte, fiel hin.
Dann ging alles ganz schnell. Roberta spürte eine Art Windzug von hinten und Tropfen im Haar – und der eiserne Griff um ihren Arm löste sich schlagartig. Wilma, die Riesin, wurde von ihren Füßen gerissen, als wäre sie von einer Windböe erfasst worden. Dabei begrub sie den Wikingerjungen unter sich und brachte auch Roberta ins Straucheln.
»HILFE!«
»Die ist …«
»Schnell! Weg hier!«
Als Roberta sich wieder aufrappelte, sah sie, dass die Gruppe von Schülerinnen und Schülern auseinanderstob wie eine Herde panischer Schafe bei Sturmflut; sie stürzten und stolperten übereinander.
Verdutzt sah Roberta dem Tumult hinterher. Erst jetzt bemerkte sie die Wasserlache auf dem Fußboden. Was war geschehen? Sie drehte sich um.
Hinter ihr stand Petronella.
Pellegrino starrte nervös aus dem Busfenster. Er hatte das erlösende Schellen zum Ende der letzten Schulstunde kaum abwarten können (obwohl sie Latein gehabt hatten – sein Lieblingsfach!) und rutschte nun ungeduldig auf seinem Sitz herum. Den ganzen Tag über hatte er an nichts anderes denken können als an den Vampyroteuthis polidoris. Wo mochte das Wesen jetzt wohl sein? Hatte es schon Schaden angerichtet? Er musste es finden!
Petronella, die neben ihm saß, schaute mit vorgestülpter Oberlippe aus dem Fenster. Hätte Pellegrino nicht andere Sorgen gehabt, hätte er sie gefragt, warum sie das tat und warum sie sich dabei auf ihre Hände setzte. Das tat sie nur, wenn sie nervös war. Aber vermutlich spürte sie bloß seine eigene Nervosität (ein Zwillingsding) und sie würde ihn bloß fragen, was eigentlich los war. Und das galt es unbedingt zu vermeiden, denn dann müsste Pellegrino lügen … und lügen, das konnte er nun einmal nicht.
Aber wenn er Petronella stattdessen erzählen würde, was er wirklich getan hatte, würde sie sich Sorgen machen. Ja, sie würde bestimmt Angst bekommen. Vor der Finsternis und vor allem davor, dass das eintreten würde, was niemand wollte: dass Hodder Morkel seinen Weg zurück ins Polidorium fand. Und das würde er! Die Finsternis gehörte ihm, hatte Großvater erklärt, und der tote Walfänger würde sie benutzen.
Ja, darum würde Petronella sich völlig zu Recht Sorgen machen und Angst bekommen, und es Roberta erzählen und den Großeltern, und dann würden sich alle Sorgen machen und Angst bekommen. Und daran wäre er, Pellegrino, schuld. Ausgerechnet er hatte die Regeln gebrochen!
Er bemerkte, wie Petronella ihn jetzt ebenfalls von der Seite musterte, und starrte weiter krampfhaft nach draußen.
»Alles in Ordnung, Pelle?«, flüsterte sie.
»Mhm«, machte er knapp. Nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, dachte er, ohne sie anzusehen.
»Lass dich nicht von den anderen verunsichern«, wisperte sie ihm zu. »Die starren doch immer so. Gut, heute ist es wirklich schlimm, aber –«
Jetzt sah er doch auf. »Welche anderen?«, fragte er.
Alle hier in diesem Bus zum Beispiel, antwortete Petronella mit ihren Augen, und erst jetzt bemerkte Pellegrino, dass wirklich alle sie die ganze Zeit unverwandt anschauten. Manche verstohlen, andere ganz offen feindselig.
»Es verstößt gegen die Umgangsformen, so zu starren«, sagte er laut. »In der Tierwelt gilt das als Zeichen von Aggression. Die Evolution ist zwar –«
»Pelle!«, unterbrach ihn Petronella, wobei sie ihm eine Hand auf den Arm legte. »Nicht jetzt!«
Niemand erwiderte etwas, aber kaum jemand hörte auf zu starren. Jetzt entdeckte Pellegrino, dass die meisten gar nicht wütend aussahen. Sondern eher ängstlich, wenn er sich nicht täuschte.
Er spürte, wie sich Petronella neben ihm verkrampfte. Auf ihrer Stirn hatte sich die horizontale Falte gebildet, die immer da war, wenn sich ihr innerer Tornado bildete, wie sie es nannte. Seltsamerweise fühlte es sich jetzt so an, als würde die Luft um sie herum wirklich aufgewirbelt … Ja, Pellegrino spürte es ganz deutlich. Und …
Ein paar Schüler erhoben sich von ihren Sitzen und drängten zu den Bustüren. Dabei war es doch verboten, während der Fahrt aufzustehen!
An der nächsten Haltestelle stiegen alle aus.
Der Busfahrer drehte sich zu ihnen um und murmelte etwas. Dabei berührte er mit der Hand kurz die kleine Figur, die am Rückspiegel baumelte, bevor er die Türen schloss und aufs Gaspedal trat.
Pellegrino stellte fest, dass sie nun schneller fuhren als vorher, viel schneller, und während er den Deich in irrwitziger Geschwindigkeit an sich vorbeiziehen sah, fragte er sich, ob der Fahrer eine oder vielleicht sogar mehrere Verkehrsregeln brach.
Petronella starrte auf ihre Hände. »Pelle, wir müssen vorsichtiger sein«, flüsterte sie schließlich.
Pellegrino wusste nicht, was genau sie damit meinte, aber für den Fall, dass sie auf das Einschleppen fremder Arten in ihre häusliche Umgebung anspielte, sagte er lieber nichts. Zum Glück stellte sie dazu keine Fragen. Und das sollte auch so bleiben, fand Pellegrino.
Als der Bus mit einer Vollbremsung am Deichweg hielt, sprang er deswegen sofort von seinem Sitz auf und drängte sich an Petronella vorbei. Er hoffte, dass sie seine roten Ohren nicht gesehen hatte, machte einen Satz ins weiche Deichgras und eilte an dem Bushaltestellenhäuschen vorbei, an dem ebenfalls eins von diesen Plakaten mit dem verschwundenen Mädchen hing, wie überall in der Stadt. Nur dass hier jemand einen Totenkopf darüber gemalt und
POLIDORIS VERSCHWINDET!
darunter gekritzelt hatte.
Er machte einen großen Bogen um Hodder Morkels Sprechenden Grabstein am Wegesrand, der inzwischen von Gras überwuchert war und auf Besuch wartete, dem er seine unheimlichen Dinge einflüstern konnte.
Erst nachdem Pellegrino die Ehrfurcht gebietende Ebenholztür aufgeschlossen und sein Spukglas mit fliegenden Fingern unter dem strengen Blick des Möwenskeletts an der Decke hervorgekramt hatte, zwang er sich zur Ruhe. Er zog leise seine Schuhe aus und bemühte sich, im Korridor nicht zu knarzen. Seitdem die so vertrauten Polidoriumsgeräusche zusammen mit der Finsternis verschwunden waren, hörte man hier jeden Schritt.
»MEINE VÖGELCHEN, SEID IHR DA?!«, dröhnte Großmutter prompt aus dem Kaminzimmer.