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Ein Buch, in dem man wohnen möchte – und ein wahrer Schatz der Kinderliteratur für Mädchen und Jungen ab 10 Seit ihre Eltern bei einer Tiefsee-Expedition im südlichen Atlantik verschollen sind, leben Petronella Polidori und ihre Geschwister bei ihren exzentrischen Großeltern im »Polidorium«, einer heruntergekommenen Villa am Meer. Schnell wird ihnen klar, dass das Beerdigungsinstitut im Keller nicht das einzige Geheimnis hinter den alten Mauern ist. Welche Macht haben die seltsamen Gestalten, die dort herumirren, wie Mausgret, die Tote Tante, Klamme Finger … und vor allem Hodder Morkel, der tote Walfänger, dem das Polidorium einst gehörte? Was verbirgt sich noch zwischen den wandernden Wänden? Als ein Erinnerungsstück an ihren Vater bei ihrer fiesen Mitschülerin Marie-Hedwig wieder auftaucht, beschließt Petronella, ihre Angst zu überwinden und den seltsamen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. »Der Pakt mit der Finsternis« ist der Auftakt der »Polidoris«-Reihe – voller hinreißender Figuren, origineller (Un-)Heimlichkeiten und atemberaubender Wendungen. Mit vielen fantastischen Illustrationen. Ein kleines Meisterwerk!
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2023
Wage das Abenteuer!
Es ist gefährlich und düster und buntund jede Sekunde wert!
Dr. Stellas Rat, falls du einmalunentschlossen sein solltest
Prolog
Teil 1 Willkommen im Polidorium
Kapitel 1 Das Turmzimmer
Kapitel 2 Die abschließbare Schreibtischschublade
Kapitel 3 Die Wandernden Wände
Kapitel 4 Das Windtelefon
Kapitel 5 Hortensias Spukglas
Teil 2 Wage das Abenteuer
Kapitel 6 Linnéa LeVanders Linkshänderinnenschere
Kapitel 7 Die Geheimnisse der Toten
Kapitel 8 Das Schneckenhorn
Kapitel 9 Freund Hein
Kapitel 10 Spiramentum polidorium
Kapitel 11 Puffi
Kapitel 12 Die Bändigung der Angst
Kapitel 13 Hodders Kiste
Kapitel 14 Die Entdeckung der Dunkelheit
Kapitel 15 Ostfriesische Grippe
Teil 3 Für immer Polidorium
Kapitel 16 Seelenverwandte
Kapitel 17 Lebewohl
Kapitel 18 Die tiefste Stelle im Atlantik
Kapitel 19 An Bord der Schneegestöber
Knapp hinter dem Ortsausgangsschild des kleinen Luftkurorts Tildrum thronte das Polidorium an der Spitze einer Landzunge. Groß und prunkvoll, aber auch ein wenig schief. Dahinter funkelte das grünblaue Meer. Das Gebäude stand dort einsam am Ende einer holperigen Straße, die Nachbarhäuser drängten sich einige hundert Meter entfernt dicht zusammen, als hätten sie Angst vor ihrem düsteren Artgenossen.
Man sah, dass das Haus seine Glanzzeiten bereits hinter sich gelassen hatte: Die dicken Backsteinmauern hinter dem verwitterten Zaun aus Pottwalknochen bröckelten, das Dach hatte sichtbare Löcher und die Natur des wilden Gartens hatte bereits einen beträchtlichen Teil des Hauses zurückerobert.
Was man nicht sah: Das Polidorium wusste sich zu wehren. Eine mächtige Dunkelheit hatte sich in seinem Innern eingenistet und schützte die verfallenden Mauern und alles, was sich darin befand.
So stand es da, während an seinen Mauern die Wildnis nagte.
So stand es da, als die drei Geschwister sich dem Anwesen entgegenschleppten, schwer bepackt mit Koffern und Taschen.
Die Dunkelheit schien einzuatmen und innezuhalten.
Als hätte sie diese drei Polidoris erwartet.
Petronella Polidori ärgerte sich über das aufgeregte Prickeln, das ihr über den Rücken lief. Nein, sie würde das Haus nicht mögen! Oder zumindest ignorieren. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Aber nun machte ihr diese Gänsehaut einen Strich durch die Rechnung. Wie unpassend! Dabei hätte sie vorhin noch platzen können vor Wut, Traurigkeit und Erschöpfung.
»Glaubt ihr wirklich, dass hier jemand wohnt?«, rief Roberta und lachte. Es sollte verächtlich klingen, doch Petronella kannte ihre große Schwester gut genug, um das freudige Beben in ihrer Stimme zu bemerken. »Das ist eins von diesen Häusern. Absolut typisch! Ihr wisst schon. Ich wette, da liegt irgendwo ein Skelett in der Badewanne. Wartet mal ab!«
Petronella blickte an den bröckeligen Mauern empor. Wilde Ranken überwucherten die Hälfte der Fassade und hatten sich bereits einige Fenster einverleibt. Was sich wohl dahinter verbergen mochte? Alles an diesem Haus schien ihr zu sagen: Bleib weg von mir! Ich bin gefährlich! Bei dem Gedanken daran spürte Petronella eine Art von … Vorfreude. Sehr verwirrend.
»Ausgesetzt in der ostfriesischen Einöde – von den Pfadfindern!«, rief Roberta begeistert. »Wenn das mal nicht der Anfang einer absolut haarsträubenden Geschichte ist!« Sie rückte ihren Federhut zurecht und stakste beschwingt weiter. Im Gegensatz zu Petronella und Pellegrino hatte sie ihre Pfadfinderkleidung gegen ein kariertes Kostüm mit steifer Bluse, wadenlangem Rock und Schuhen mit Pfennigabsätzen eingetauscht. Im Moment hatte sie ihre Vornehme-alte-Dame-Phase. Die zahlreichen wechselnden Hüte gehörten dazu. (Daher die vielen Hutschachteln, die sie Petronella und Pellegrino aufgeladen hatte – sie selbst dürfe in ihrem Alter ja nicht mehr so schwer schleppen, hatte sie behauptet. Wenn man Petronella fragte, waren diese Phasen eine nervliche Belastung für die ganze Familie. Aber niemand fragte Petronella.)
»Meine Füße und mein Rücken schmerzen. Die Sonne brennt auf meine Haut«, stellte Pellegrino fest – im Tonfall eines Wissenschaftlers, der seine Forschungsergebnisse zusammenfasst. »Zudem leide ich unter großem Hunger und … Oh! Was haben wir denn hier?« Von einem plötzlichen Eifer befallen, ließ er Hutschachtel, Koffer und Rucksack in den Staub fallen und eilte zu dem verwitterten Zaun, um ihn ausgiebig mit seiner kleinen Lupe zu begutachten. »Physeter macrocephalus! Ohne Zweifel.«
Petronella seufzte, aber nur innerlich. Pellegrinos Vorliebe für Naturwissenschaften und lateinische Begriffe war immer ein bisschen unpassend, doch hier und jetzt ganz besonders, fand sie. Sie selbst hatte Tiere auch gern, aber eben die lebendigen (ein eigenes Haustier war immer ihr größter Wunsch gewesen, oder zumindest ihr zweitgrößter), während Pellegrino sich eher für ihre Bestandteile und deren Bezeichnungen interessierte.
Wer einen Zaun aus Tierknochen um sein Haus baut, der kann kein netter Mensch sein, dachte sie – ein schwacher Versuch, gegen ihre unangemessene Vorfreude anzukämpfen.
Das behielt sie aber ohnehin lieber für sich. Es hatte keinen Sinn, mit Pellegrino zu diskutieren. Außerdem war sie zu erschöpft für solche Nebensächlichkeiten.
Seit heute Morgen kreisten ihre Gedanken nur um diesen einen Satz, der einen wilden Sturm in ihrem Kopf entfacht hatte und nun wie ein Echo nachhallte:
… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass die Schneegestöber seit sieben Tagen kein Signal mehr gesendet hat und Suchaktionen bislang ergebnislos geblieben sind …
Der Satz stammte aus einem Brief von der Gesellschaft für Tiefseeforschung, den der unfreundliche Campleiter der Kleinen Steinböcke ihnen heute Morgen mit tonloser Stimme vorgelesen hatte. Daraufhin hatte er die Geschwister persönlich zum Zug gebracht, mit Trauermiene das geheime Handzeichen der Kleinen Steinböcke gemacht und war erleichtert verschwunden.
Es war das abrupte Ende ihres Aufenthalts in dem Alpen-Pfadfindercamp gewesen, wo sie die Sommerferien verbracht hatten, während ihre Eltern zu einer Forschungsreise im Südatlantik aufgebrochen waren. Das war eigentlich nicht weiter ungewöhnlich, denn die beiden erforschten die Tiefsee. Allerdings waren sie bislang eher die Sorte Forscher und Forscherin gewesen, die lieber am Schreibtisch saß, als auf Tauchgänge zu gehen. Jedenfalls war das bei ihrem Vater so gewesen, während ihre Mutter stets darauf gedrängt hatte, endlich eine echte Expedition zu unternehmen. Dieses Mal hatte sie sich durchgesetzt. Und nun war das eingetreten, wovor ihr Vater sich stets gefürchtet hatte: Dr. Oscar und Dr. Stella Polidori waren im Atlantik verschollen.
Ja. Vielleicht war dies nicht nur das Ende ihrer Sommerferien, sondern auch das Ende ihres bisherigen Lebens. Bei diesem Gedanken spürte Petronella die Tränen heiß hinter ihren Lidern brennen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zu dem kleinen Türmchen auf dem löchrigen Hausdach. Die Turmfenster schienen herausfordernd zurückzustarren. Merkwürdigerweise ließ sie der Anblick ihre Tränen vergessen.
Nach der zehnstündigen Zugfahrt gen Norden, wobei sie zweimal den Anschlusszug verpasst hatten, stand die Sonne nun schon recht tief am Himmel und zeichnete ihre langen Schatten auf den Weg aus zerbrochenen Muschelschalen. Er führte zu einer Ehrfurcht gebietenden Eingangstür aus Ebenholz und Messing.
Roberta betätigte die Klingel und nickte erst Petronella, dann Pellegrino zu. Das sollte wohl heißen: Reißt euch zusammen, ihr Erdnüsse (eins von Robertas Lieblingswörtern), und Petronella stellte erneut fest, dass sie wirklich keine Angst hatte. Nein, es prickelte weiter unpassend die Wirbelsäule auf und ab.
Ein sehr lautes, majestätisches Glockenläuten ertönte. Nur eine Sekunde später wurde die schwere Tür schwungvoll geöffnet und eine – im Gegensatz zu Roberta echte – vornehme alte Dame stand in einem goldenen Morgenmantel vor ihnen. Petronella kannte ihre Großmutter nur von den wenigen Fotos in einem vergilbten Album, auf denen sie wesentlich jünger gewesen war. Nun war sie alt – und noch immer schön, stellte Petronella erstaunt fest. Trotz des weiß-goldenen Gehstocks, auf den Großmutter sich stützte – oder vielleicht gerade deswegen –, war sie auf eine seltsame, altmodische Art besonders elegant. Ihre Augen waren hinter der großen, getönten Brille kaum zu erkennen. Ihr Mund wirkte streng, verzog sich aber nun zu einem sehr breiten Lächeln, bei dem ihre Zähne zwischen den rosarot glänzenden Lippen wie perfekt aufgereihte Perlen schimmerten.
Sofort stülpte Petronella die Oberlippe über ihre eigenen Schneidezähne und sah zu Boden. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, mal wieder. Es sah bestimmt blöd aus und ihren Überbiss konnte sie damit sowieso nicht verstecken. (Nummer drei auf der Liste der größten Wünsche überhaupt, doch ihre Eltern waren stets unerbittlich geblieben. »Ich habe mein ganzes Leben mit diesem Überbiss verbracht«, pflegte Dr. Stella zu sagen, »und niemals einen Nachteil gehabt, nie!«, was Petronella für eine glatte Lüge hielt. Jetzt bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, wenn sie an die Stimme ihrer Mutter dachte.)
»PERNELL!«, rief Großmutter sehr laut, ohne die drei aus den Augen zu lassen, und Petronella dachte im ersten Moment, sie würden in einer fremden Sprache begrüßt. Großmutter meinte aber den Großvater, der sich noch irgendwo in den Tiefen des Hauses befand. »Sieh nur, die Vögelchen sind da!«
Sie strahlte Petronella, Pellegrino und Roberta der Reihe nach mit ihren Perlenzähnen an. Dann wurde ihr Gesicht urplötzlich ernst. Sie sog die Luft tief ein und starrte an ihnen vorbei nach draußen in die Ferne. Zögerlich wandte Petronella sich um und versuchte zu erkennen, was oder wer sie so aus der Fassung brachte. Als sie nichts und niemanden entdeckte, tauschte sie einen ratlosen Blick mit Roberta und Pellegrino. Hatte Großmutter gerade einen Herzinfarkt erlitten? War sie krank?
Jetzt hob Großmutter beide Hände zum Herzen und atmete endlich aus, was klang wie eine Mischung aus Grunzen und Seufzen. »Wie freue ich mich, euch drei zu sehen! Pernell, nun komm doch, sie sind da!«
Großvaters Kopf tauchte aus dem Dunkel auf, hoch und gerade stellte er sich neben Großmutter, legte ihr eine Hand auf die Schulter und räusperte sich. »Meine Enkel. Ihr seid pünktlich zum Tee.« Seine Stimme war tief und ruhig. »Tretet herein.«
»Es heißt: Tretet ein, Pernell«, korrigierte Großmutter ihn. »Oder: Kommt herein. Aber nicht: Tretet herein. Das ist falsches Deutsch, hörst du?«
Roberta kicherte und erntete einen strengen Blick der Großmutter.
»Über die Missgeschicke anderer lacht man nicht«, verkündete diese und schritt würdevoll voran ins Haus, den Saum ihres goldenen Morgenmantels wie eine Schleppe über den Boden schleifend. Sie breitete die Arme aus und dröhnte: »Willkommen! Es ist so weit. Hurra! Die Polidoris sind vereint.«
Nicht ganz, dachte Petronella, sagte aber nichts.
»Absolut seltsam, das alles hier«, flüsterte Roberta ihr zu und strahlte wie die Sonne.
Petronella seufzte, aber nur ganz leise. »Absolut seltsam« kannte sie schon von ihrer Familie. Die Großeltern schienen da also keine Ausnahme zu bilden.
Sie sah, wie ihre Großeltern bedeutungsvolle Blicke tauschten, während sie alle von der dunklen Kühle der Vorhalle verschluckt wurden. Es roch nach feuchtem Holz, Staub, Lilien und etwas Unbekanntem, und kaum hatte sich die Eingangstür hinter ihnen geschlossen, konnte sich Petronella nicht mehr vorstellen, dass es draußen achtundzwanzig Grad waren.
Pelle, denk an Plan B, wollte sie mit ihren Augen zu Pellegrino sagen. (Zu niemand anderem konnte sie mit den Augen reden, das war wohl ein Zwillingsding.) Plan B war Robertas Idee gewesen: Wenn es ihnen bei den Großeltern nicht gefiel, sollte jemand von ihnen, am besten Roberta selbst, mit verstellter Stimme bei den Kleinen Steinböcken anrufen und sagen, dass es sich um einen Notfall handelte und sie schnellstens abgeholt werden müssten.
Doch Petronellas Augen waren in diesem Moment viel zu beschäftigt, um zu sprechen. So düster und trist das Haus mit seinen schiefen Mauern von außen wirkte, so bunt und wild war sein Innenleben! Von unten bis oben war es vollgestellt mit allerhand seltsamen Dingen. Aus einer Vitrine starrte sie zum Beispiel ein ausgestopfter Kranich mit ausgebreiteten Flügeln aus seinen toten Augen an. Neben einer bunten Sammlung aus Schneckenhäusern fanden sich Flaschenschiffe in mehreren Größen und runde Gläser mit konservierten Meerestieren.
Na toll, dachte Petronella und ignorierte ihr hüpfendes Herz. Da scheint jemand deine Vorliebe für tote Tiere zu teilen, Pelle.
An den tiefseegrünen Wänden hingen unterschiedliche Gemälde, alle mit ein und demselben Motiv: dem Meer.
Petronella fühlte sich noch kleiner als sonst zwischen diesen hohen Wänden und den langen Korridoren mit zahllosen geschlossenen Türen. Dieses Haus hatte mindestens hundert davon, jedenfalls kam es ihr so vor.
»Meine Vögelchen, als Erstes zeigen wir euch eure Zimmer.«
Petronellas Herz machte einen weiteren Sprung. Noch so eine unerfüllte Sehnsucht: ein eigenes Zimmer! Nicht zu glauben. Ihr viertgrößter Wunsch rückte also in greifbare Nähe. Seit sie denken konnte, hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie großartig und erwachsen es sich anfühlen würde, wenn sie eines fernen Tages endlich ihr Zimmer nicht mehr mit Pellegrino teilen müsste. (Nicht dass sie Pellegrino nicht lieb hätte. Deswegen hatte sie ja auch ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich so etwas wünschte. Aber seine Fundstücksammlung und die selbst verfassten Lexika hatten zuletzt sehr viel Platz in ihrem gemeinsamen Zimmer eingenommen – kein Wunder also, dass Petronella kein eigenes Hobby hatte.) Und nun war dieser Tag plötzlich gekommen. Einfach so!
Nein, nicht einfach so. Das Echo des fatalen Satzes aus dem Brief der Gesellschaft für Tiefseeforschung wurde wieder lauter in ihrem Kopf.
»Dürfen wir uns ein Zimmer aussuchen?«, fragte sie atemlos.
»Aber nein«, rief die Großmutter und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre das die dümmste Frage, die jemals gestellt worden war, nur um in der nächsten Sekunde zu flöten: »Pernell wird euch die Zimmer zeigen. Dir, mein Vögelchen, haben wir das Turmzimmer zugeteilt.«
Auch Roberta und Pellegrino waren Großmutters »Vögelchen« und bekamen Zimmer zugeteilt, wobei Roberta die Arme verschränkte und verkündete, sie wäre niemandes Vögelchen und ein Zimmer, das würde sie sich, wenn überhaupt, selbst aussuchen, jawohl, nach genauester Begutachtung, denn ein Raum wäre eine wichtige Inspirationsquelle für eine Schriftstellerin, und da könnte nicht irgendeine Großmutter, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, meinen, sie in irgendein Zimmer zu stecken. Was, wenn das ihren Durchbruch verhindern würde? Sie bekam trotzdem das Perlmuttrosa Zimmer zugeteilt.
Das Wort Turmzimmer übte eine magische Wirkung auf Petronella aus. Sie bekam nicht bloß irgendein Zimmer, sie bekam das Turmzimmer! Mit klopfendem Herzen folgte sie ihrem Großvater eine gewundene Steintreppe hinauf und blieb sprachlos in der Tür stehen. Das Zimmer war rund.
Großvater ging mit langen Schritten in den Raum und öffnete eins der fünf Fenster, die alle den Blick auf die grünblaue See freigaben. Sofort wehten Möwenschreie und eine salzige Brise herein.
»Oh«, murmelte Petronella.
Überwältigt blickte sie sich um. Der Raum war in ihren Augen gigantisch groß. An den ozeanblauen Wänden hingen wissenschaftliche Zeichnungen von Fischen und Vögeln, die sie noch nie gesehen hatte, sowie eine alte Weltkarte. Doch ihr Blick wurde von dem wuchtigen Schreibtisch gefangen genommen, der in der Mitte des Zimmers stand. Dieser Schreibtisch hatte eine abschließbare Schublade! Sie konnte ihr Glück kaum fassen. (Eine abschließbare Schreibtischschublade war ihr fünftgrößter Wunsch.)
Absolut wunderbar, großartig, fantastisch!, jubelte Petronella.
Es stellte sich heraus, dass sie nur in ihrem Kopf gejubelt hatte, denn Großvater räusperte sich und flüsterte in verschwörerischem Tonfall: »Wenn es dir nicht gefällt, könnten wir vielleicht … Wobei deine Großmutter es nicht so gernhat, wenn man ihre Entscheidungen, wie soll ich sagen …«
»Nein!«, fiel Petronella ihm jetzt umso lauter ins Wort und fügte dann leise hinzu: »Es gefällt mir.«
Großvater lächelte sie an. Er erinnerte sie an einen Graureiher, wie er dort stand, kerzengerade und dünn, dunkel gekleidet und mit sorgfältig zurückgekämmtem grauschwarzem Haar. Sie mochte ihn, stellte sie fest.
»Dieses Zimmer hat einmal deinem Vater gehört, weißt du.«
Petronella wurde warm ums Herz. Sie versuchte, sich Dr. Oscar als Kind vorzustellen, wie er sich hier in seinem Zimmer am Schreibtisch erträumt hatte, einmal ein berühmter Tiefseeforscher zu werden.
Es funktionierte nicht.
Was auch daran lag, dass Dr. Oscar ihr nie viel von seiner Kindheit erzählt hatte. Wenn es um Flügelschnecken oder Seenadeln ging, konnte er stundenlange Vorträge halten. Doch über sich selbst verlor er so gut wie nie ein Wort. Nicht zum ersten Mal ärgerte sie sich darüber.
»Wie war Dr. Oscar denn so? Als Kind, meine ich«, fragte Petronella.
»Hm?« Großvater schien aus den Tiefen seiner Gedanken emporzusteigen, sein Blick hatte sich in der Weltkarte an der Wand verloren. Er fing sich wieder und fragte: »Wie bitte?«
»Wie Dr. Oscar … Papa so war! Als Kind!«
Sie hatten es sich angewöhnt, ihre Eltern »Dr. Oscar« und »Dr. Stella« zu nennen und nicht wie die meisten Kinder Mama und Papa zu sagen. Aber das wusste Großvater ja sicherlich nicht. Was wusste Großvater überhaupt von ihnen?
»Ach, Oscar. Ach, du weißt schon.«
»Nein, eben nicht! Deswegen frag ich ja, Großvater.«
Da schallte es von unten in ohrenbetäubender Lautstärke empor: »Ihr Vögelchen, es ist so weit!«
»Aaah, der Tee ist fertig«, sagte Großvater eifrig und schien fast erleichtert zu sein, nicht mehr über seinen Sohn reden zu müssen. Offenbar war Dr. Oscar nicht der Einzige, der nicht so gern über sich sprach.
»Ich will aber lieber eine Cola«, sagte Roberta.
Petronella, Roberta und Pellegrino hockten dicht gedrängt auf dem durchgesessenen korallenroten Sofa im Kaminzimmer, während die Großeltern in ihren Sesseln thronten. In diesem Raum zierte eine Tapete mit einem grün-blau-goldenen Muster die Wände. Früher hatte sie sicherlich einmal sehr edel gewirkt, jetzt aber blätterte sie bereits an vielen Stellen ab. Eine breite Fensterfront gewährte Einblick in den wilden Garten.
»Bapbapbap«, machte Großmutter und ließ in jede der perlmuttrosa Porzellantassen klimpernd drei Stück Kandiszucker fallen, bevor sie in einem übertrieben langen Strahl schwarzen Tee eingoss. »Es ist fünf Uhr und um fünf Uhr gibt es Tee. Und nun setz bitte dieses Ungetüm von einem Hut ab, Roberta!«
Großvater reichte das Kännchen mit der Sahne weiter.
»Halt!«, rief er, als Petronella zu ihrem Löffel griff. »Nicht umrühren!«
Petronella erstarrte auf der Sofakante und sah dabei zu, wie die Großeltern mit großer Sorgfalt ihre Sahne in den Tee gossen.
»Sieh nur, Gloria, was für ein schönes Wölkchen du da hast.«
»Ja, Pernell, heute sind unsere Wölkchen wirklich ganz besonders hübsch geworden.«
Roberta sah Petronella an, grinste und machte mit der Hand Scheibenwischerbewegungen.
»Möchte jemand Waffeln?«, erklang eine sanfte Stimme hinter ihnen.
Erst jetzt bemerkte Petronella den hageren, blassen Jungen am Kamin. Dem Äußeren nach war er nicht viel älter als Roberta, doch er hatte etwas an sich, das ihn aus der Zeit gefallen erscheinen ließ. Vielleicht lag es an dem ernsten Ausdruck in seinen Augen, die irgendwie zu groß für sein hohlwangiges Gesicht wirkten, oder aber auch an den altmodischen Hosenträgern, die er über dem Hemd trug. In den Händen hielt er ein Tablett mit einem Stapel duftender Waffeln, einem Kännchen Schlagsahne und einer Porzellanschale voll dunkel glänzender Brombeeren.
»Hein, mein Freund«, sagte Großvater. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
»Oh doch«, sagte Hein und lächelte. »Ich sehe hier drei weit gereiste Menschen, die dringend ein paar Waffeln zu ihrem Tee benötigen.«
Petronella spürte, wie hungrig sie tatsächlich war. Während der gesamten Zugfahrt hatte sie keinen Bissen heruntergebracht, obwohl der unfreundliche Campleiter ihnen mehrere Packungen der staubtrockenen Pfadfinderkekse mitgegeben hatte. Immer wieder hatte sich der Satz, der schlimme Satz aus dem Brief, wie eine Sturmwolke vor alle anderen Gefühle geschoben.
»Diese Waffeln sind absolut himmlisch!«, sagte Roberta mit vollem Mund, während sie einen großen Klacks Schlagsahne nachlud.
Es stimmte. Vermutlich waren das die besten Waffeln, die Petronella jemals gegessen hatte.
Hein allerdings war genauso unbemerkt verschwunden, wie er gekommen war.
»Ist Hein euer, äh, Diener?«, fragte Petronella und kam sich blöd dabei vor. Niemand hatte heute mehr Diener, nicht mal solche altmodischen Menschen wie ihre Großeltern.
»Hein ist mein Assistent«, sagte Großvater und räusperte sich. »Ich weiß gar nicht, wie es dazu kam, aber er hat sich mittlerweile im gesamten Haushalt unentbehrlich gemacht. Er ist so etwas wie die gute Seele des Hauses.«
Petronella fragte sich, ob Hein nicht auch eine Tasse Tee und eine Waffel wollte, doch sie hatte das Gefühl, dass weitere Fragen unangebracht waren.
»Meine Vögelchen«, setzte Großmutter an, ohne von ihrem Tee aufzusehen. Sie schaute so lange in ihre Tasse, dass Petronella überlegte, ob sie erstarrt war. Doch dann hob Großmutter den Blick und richtete ihn in das nicht brennende Kaminfeuer. »Auch wenn der Anlass ernst ist, Pernell und ich freuen uns ganz außerordentlich, euch endlich bei uns zu haben. Die Familie«, nun schaute sie hoch zur Wand über dem Kaminsims, an der Fotos und Gemälde von verschiedenen Menschen hingen, um dann ihren Enkeln nacheinander in die Augen zu sehen, »davon sind wir überzeugt, die Familie ist das Wichtigste im Leben. Wir möchten euch zeigen, was es bedeutet, ein Mitglied der Familie Polidori zu sein. Ihr seid nun zu Hause.«
Pellegrino hob seinen Arm, als wäre er in der Schule.
»Warte bitte, mein Vögelchen.« Großmutter nahm einen Schluck Tee, wobei sie das zarte Porzellan wie in Zeitlupe zum Mund führte und wieder absetzte, bevor sie fortfuhr: »Wir Polidoris gehören zu der Sorte Menschen, die – also bitte, was ist denn? So kann man sich nicht unterhalten«, fuhr sie Pellegrino an, der inzwischen begonnen hatte, mit den Fingern in der Luft zu schnipsen.
»Frage«, sagte Pellegrino. »Diese alte Frau in meinem Zimmer, gehört die auch zur Familie?«
Großmutter, die gerade Kandiszucker in ihre Tasse klimpern ließ, hielt inne und warf Großvater einen langen Blick zu. Es sollte wohl beiläufig wirken, aber wenn Großmutter etwas nicht lag, dann war das unauffälliges Verhalten, so viel hatte Petronella schon festgestellt. Großmutter straffte ihren Rücken und wandte sich wieder ihrer Teezeremonie zu. »Mein Vögelchen, in diesem Haus gibt es keine alten Frauen.« Sie lachte gekünstelt.
»Es ist auch keine echte alte Frau. Ich denke nicht, dass sie zur Spezies Homo sapiens gehört.« Pellegrino schob seine Brille mit dem Zeigefinger hoch. Sie rutschte immer herunter, weil sie wegen der dicken Brillengläser so schwer war. »Versteht mich nicht falsch. Vermutlich handelt es sich genauso wenig um einen Homunculus. Nagelt mich nicht darauf fest, aber mein erster spontaner Verdacht ist: eine optische Halluzination. Wobei sie auch etwas gesagt hat, also wäre es gleichzeitig eine akustische –«
»Täusche ich mich«, unterbrach Großvater ihn mit seiner tiefen Bassstimme, »oder hat dieser Junge eine blütenreiche Fantasie?«
»Es heißt blühende Fantasie, Pernell. Im Übrigen denke ich das auch.«
»Aber nein«, widersprach Pellegrino. »Ich besitze so gut wie gar keine Fantasie.«
»Absolut«, nickte Roberta. »Die mit der Fantasie bin ich.«
Petronella versuchte, Pellegrinos Blick einzufangen. Es stimmte – er war zwar äußerst belesen, wenn es um naturwissenschaftliche Zusammenhänge ging, aber es war nahezu ausgeschlossen, dass er sich diese offenbar sehr merkwürdige Begegnung in seinem Zimmer selbst ausgedacht hatte.
Ehrlich, Nelli, ich hab sie gesehen, sagte er mit seinen Augen zu ihr. Da war es wieder, dieses Kribbeln.
Ich glaube dir, Pelle, antwortete Petronella auf die gleiche Weise.
»Wo war ich stehen geblieben?« Großmutter presste Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel und schloss die Augen, bevor sie mit einer ausladenden Armbewegung den Zeigefinger hob. »Die Familie der Polidoris –«
»Was wir sagen wollen«, unterbrach Großvater sie. Er formte mit seinen langen Fingern ein Zelt, über dessen Dach hinweg er die Geschwister musterte. »Wir sind bei euch in dieser schweren Stunde.«
Während Großmutter ihren Zeigefinger langsam, fast widerwillig sinken ließ, blickte Petronella betreten zu Boden und schwieg. Sie wollte fragen, ob die Großeltern mehr wussten als der Campleiter bei den Kleinen Steinböcken, mehr, als in dem Brief stand, doch die Worte schafften es nicht über ihre Lippen. So war das öfter bei ihr: In den wichtigen Momenten blieb sie stumm, und dann wieder platzten die Worte nur so aus ihr heraus, wenn es vollkommen unpassend war. Wie sie das ärgerte!
»Gibt es Neuigkeiten vom Schiff?«, fragte Roberta an ihrer Stelle.
Sie knetete ihren Damenhut zwischen den Fingern, er hatte bereits einige Federn gelassen. Fast ein bisschen überrascht bemerkte Petronella ein Schimmern in Robertas Augen. Natürlich, letzten Endes war sie auch nicht mehr als ein vierzehnjähriges Mädchen, das um seine Eltern bangte. (Was für Petronella schwer zu glauben war, denn soweit sie wusste, hatte ihre große Schwester sich noch niemals gefürchtet.)
»Es tut mir leid, meine Lieben«, sagte Großvater. »Noch immer kein Lebenszeichen von der Schneegestöber.«
»Es ist, als habe der Atlantik sie verschluckt«, rief Großmutter mit dramatisch erstickter Stimme, woraufhin Großvater zur Beschwichtigung seine Hand auf ihre legte.
»Heißt das … ihr Schiff ist gesunken?«, fragte Roberta.
Nicht weinen! Nicht weinen!, dachte Petronella.
Großvater lächelte bedauernd. »Noch wissen wir nichts. Es ist hart, aber wir müssen warten. Doch wir werden alles tun, um euch diese schwere Zeit zu erleichtern. Nicht wahr, Gloria?«
»Frage«, hakte Pellegrino ein, und nur Petronella bemerkte, dass seine Unterlippe ein bisschen zitterte, während er hastig weitersprach: »Rein hypothetisch betrachtet: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Schiff unserer Eltern gesunken ist, aber zum Beispiel auf dem Rücken von einem Physeter macrocephalus gelandet ist, der sie dann bis zum nächstgelegenen Stück Land getragen hat? In Prozent? Fünf? Oder zehn?« Beim Reden war seine Stimme angeschwollen und den letzten Satz rief er laut aus: »Ich meine, Pottwale sind doch vergleichsweise intelligente Tiere!«
»Pelle, das ist einfach totaler Schwachsinn«, sagte Roberta trocken.
In diesem Moment zerriss ein schriller Schrei die Luft.
Alle Köpfe fuhren herum zu Großmutter, die plötzlich mitten im Raum stand und einen langen Gegenstand in der Hand hielt. So etwas hatte Petronella schon einmal auf einer Zeichnung in einem Buch gesehen … Wie hieß das noch gleich? Zum Glück richtete Großmutter die pfeilförmige Spitze nicht auf die übrigen Polidoris, sondern zum Fenster.
»Mmmmhhooo«, keuchte sie, bevor sie aus dem Kaminzimmer entschwand, erstaunlich behände trotz Waffe und Gehstock.
»Meine Liebe, bitte lege die Harpune aus der Hand!« Großvater eilte ihr nach.
Eine Harpune, dachte Petronella entsetzt. Damit tötet man Wale!
Die Geschwister folgten den Großeltern durch den Korridor in eine Bibliothek mit meterhohen Regalen voller alter, verstaubter Bücher und einem außergewöhnlichen Teppich, den eine Weltkarte zierte.
Großmutter stand auf Grönland und zielte mit lang ausgestrecktem Arm in den Garten.
»Bleibt zurück!«, raunte sie den anderen zu. »Die sind wieder da!«
Als Petronella mit den Augen der Richtung der Pfeilspitze folgte, sah sie, wer die waren. Eine große geöffnete Flügeltür führte hinaus in den verwunschenen Garten. Die salzige Abendluft trug neben dem entfernten Rauschen der See eine Ansammlung von nicht menschlichen Geräuschen – ein Rascheln und Brummeln – herein.
»Wow«, flüsterte sie überwältigt.
Am Fuße einer mit Moos überzogenen Steintreppe standen sie: Tiere. Petronella traute ihren Augen kaum, denn in ihrem bisherigen Leben in der Großstadt war sie solchen offensichtlich wilden Tieren noch nie so nah gewesen, dass sie den Geruch ihres Fells einatmen konnte. Sie sah ein Reh, mehrere Kaninchen, zwei Füchse und … waren das Schnecken dort im Gras? Die Luft war erfüllt vom Brummen und Summen verschiedener Insekten und in den Ästen einer gewaltigen Linde erkannte sie einen Schwarm schwarzer Vögel.
Einen Wimpernschlag lang standen sich die Polidoris, allen voran Großmutter mit der Harpune, und die Tierschar unbeweglich gegenüber.
»Aber, Großmutter, warum willst du diese süßen Tiere denn umbringen? Die tun uns doch nichts!«, durchbrach Petronella den Bann. Sie spürte eine Welle der Empörung in sich aufbranden.
»Ha! Das glaubst auch nur du, mein Vögelchen.« Großmutter schnaubte, ohne die Harpune zu senken. »Ich werde nicht zulassen, dass diese Wildnis überhandnimmt und am Ende noch unser Haus zerrüttet. Nicht, solange ich lebe!«
Beim Klang ihrer Stimme ertönte ein Krächzen aus der Linde, woraufhin sich der Vogelschwarm erhob und mit vielstimmigem »Krah! Krah!« in den Abendhimmel stieg. Dies schien das Zeichen für die gesamte Tierschar zu sein, das Weite zu suchen. Als Petronella nach draußen eilte, um ihnen nachzublicken, drehte ein Vogel noch einmal eine Schleife über dem Garten. Petronella hatte das Gefühl, er würde ihr direkt in die Augen blicken, ja, als würde er sie … erkennen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Gloria, schon dich!« Großvater runzelte besorgt die Stirn. »Warum holst du das alte Ding immer wieder hervor? Denk an dein Bein!«
»Was war das denn jetzt?«, fragte Roberta.
»Ungewöhnlich«, stellte Pellegrino verwundert fest, »eine Gruppierung solch unterschiedlicher Gattungen. Vielleicht eine Art Symbiose?«
Petronellas Herz klopfte. »Kommen die öfter hierher?«
»Eines Tages erwische ich sie.« Großmutters Stimme klang grimmig und fest, doch sie stützte sich mit schmerzverzerrter Miene auf ihren Gehstock.
»Geht es denn mit deinem Bein, meine Liebe?«, fragte Großvater in seinem sanften Bass.
»Kein Stück«, sagte Großmutter und lachte.
Irgendwo tief im Innern des Hauses schlug eine Uhr.
Großvater streckte den Rücken durch und sah noch hochgewachsener und gerader aus als vorher. »Erlaubst du, meine Liebe? Ich bringe das hier an den richtigen Platz zurück«, sagte er mit Nachdruck zu Großmutter und nahm ihr die Harpune aus der Hand.
Als Petronella auf den Korridor trat, sah sie, wie er eine schwarz gestrichene Tür öffnete und dahinter eine Treppe hinunterging. Die Tür hatte einen goldenen Knauf in Form einer Muschelschnecke – ein Perlboot, wie Petronella wusste.
»Was ist das für eine Tür, Großmutter?«, fragte sie.
»Diese Tür, meine Vögelchen, ist stets abgeschlossen.« Großmutter setzte sich mühsam in Bewegung und hinkte anmutig aus der Bibliothek. »Sie führt in den Keller. Und im Keller …« Petronella musste ihr hinterher stolpern, wenn sie den Rest mitbekommen wollte, denn Großmutter war nun wieder im Kaminzimmer verschwunden. »… befindet sich das Institut.«
»Das Institut? Was für ein Institut?«, fragte sie.
»Ja, was für ein Institut?«, tönte es neugierig von der Tür her. Roberta und Pellegrino waren ihnen gefolgt. (Schade. Eigentlich hätte Petronella gern noch mehr Zeit allein mit Großmutter verbracht. Da war es nun nämlich wieder, das vertraute Gefühl, unsichtbar zu sein.)
»Das Bestattungsinstitut, das wir Polidoris hier seit Generationen führen.« Großmutter ließ sich in den Sessel gleiten und schlug mit der flachen Hand auf die Lehne. »Was zum Teufel haben eure Eltern euch eigentlich erzählt?«
»Also, Dr. Oscar und Dr. Stella haben mit uns in erster Linie die Zusammenhänge der Meeresbiologie erörtert«, antwortete Pellegrino. »Sie wussten alles darüber, a-l-l-e-s! Hast du nie ihre Sendung im Fernsehen gesehen, Großmutter? Dr. & Dr. Polidoris Unterwasserwelten?«
»Jaja. Oscar, Stella und das Meer.« Großmutter lächelte. Dann wurde ihr Gesicht ernst und mit veränderter, dunkler Stimme sagte sie: »In diesem Haus gibt es ein paar Dinge zu beachten, wisst ihr.« Sie machte eine majestätische Handbewegung, woraufhin sie sich um ihren Sessel versammeln mussten. »Es gibt einige Türen in diesem Haus, die für euch verschlossen bleiben. Dazu gehören die Kellertür und die Tür zum Meergrünblauen Salon. Ihr erkennt die verbotenen Türen am Zeichen des Perlboots. Merkt euch: Diese Räume dürft ihr nicht ohne unsere Begleitung betreten.«
»Handelt es sich dabei um die Gattung Nautilus oder Allonautilus?«, fragte Pellegrino eifrig und verfiel in seinen Vortragston: »Beide zeichnen sich durch ihr schneckenförmiges Gehäuse aus, wie ihr vielleicht wisst. Das unterscheidet sie von Coleoidea, also dem gewöhnlichen Tintenfisch …«
Roberta stöhnte auf und Petronella warf ihm einen schnellen Blick zu. Pelle, nicht jetzt!
Gespannt biss sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte doch gespürt, dass dieses Haus ein Geheimnis verbarg!
»Warum dürfen wir da nicht rein? Etwa weil wir Kinder sind?« Roberta reckte empört das Kinn vor. »Die Zwillinge vielleicht. Aber ich bin praktisch fünfzehn, wisst ihr das nicht?«
Petronella warf ihr einen bösen Blick zu. Manchmal konnte Roberta wirklich gemein sein.
»Darüber hinaus gibt es noch einige weitere Regeln zu beachten«, fuhr Großmutter unbeeindruckt fort. »Wenn Schlafenszeit ist, bleibt ihr in euren Zimmern. Steht nicht auf und lauft im Haus herum.«
»Und wenn wir aufs Klo müssen?«, fragte Roberta.
»Nun, es gibt Nachttöpfe«, sagte Großmutter.
»Igitt!« Roberta schnaubte. »Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!«
»Es ist nicht optimal«, gab Großmutter zu, wischte jedoch jeglichen Zweifel sofort mit einer ausholenden Geste beiseite. »Wir müssen uns hierfür noch eine bessere Lösung überlegen. Für uns kam das Ganze ja ebenso unerwartet wie für euch.«
»Und verrätst du uns auch, warum wir nachts nicht im Haus herumlaufen dürfen?«, bohrte Roberta in leicht genervtem Tonfall nach.
Petronella hielt den Atem an.
Doch Großmutter zögerte. »Wir erklären es euch später. Was ist noch wichtig?« Sie überlegte. »Richtig. Wie ihr bemerkt habt, dulden wir keine Tiere in unserem Haus.«
»Lebendige Tiere«, sagte Pellegrino. »Du meinst vermutlich lebendige Tiere. Denn in diesem Haus habe ich bereits zahlreiche tote Tiere gesichtet, zum Beispiel den präparierten Grus grus im Flur oder den Vampyroteuthis infernalis sowie den Nautilus pompilius. Sie sind tot, dennoch sind es Tiere.«
»Du hast ja recht, mein Vögelchen. In der Tat spreche ich von lebendigen Tieren. Das ist ein Unterschied.«
»Auch keine … Fische?«, fragte Petronella und dachte an das Salzwasseraquarium in ihrer Wohnung in München. Das waren die einzigen Haustiere, die Dr. Oscar und Dr. Stella erlaubt hatten, und auch die hatten sie vor ihrer Abreise dem Zoo gespendet.
»Keine Fische, keine Katzen, keine Vögel, kein gar nichts«, sagte Großmutter und ihr Ton wechselte so schnell zwischen absoluter Härte und sorglosem Flöten, dass Petronella kaum mitkam. »Das Polidorium hat seine eigenen Regeln. Aber wenn ihr sie beachtet, ist alles gar kein Problem. Verstanden?«
»Verstanden«, kam es von Pellegrino wie aus der Pistole geschossen.
»Das Polidorium?«, fragte Roberta.
»So nennen wir die alte Ruine.« Großmutters Stimme klang nun beinahe zärtlich. »Auch ihr seid nun ein Teil des Polidoriums. Endlich!«
Als Petronella später am Abend die Turmzimmertür hinter sich schloss, rauschte es in ihren Ohren, und das war nicht das Meer. Todmüde schlüpfte sie aus der Kleidung und stieg in ihren Schlafanzug. Das Bett in ihrem neuen Zimmer war kein gewöhnliches Bett, sondern wie eine Koje in die Wand eingelassen. Sie kroch hinein und knipste die kleine Klemmlampe an. Es gab sogar einen Vorhang, den sie zuziehen konnte, sodass sie sich wie in einer Höhle fühlte. Absolut geborgen und sicher vor allen Gefahren innerhalb und außerhalb dieser Mauern.
Ob Dr. Oscar sich auch immer so gefühlt hatte, wenn er hier lag? Ob diese Koje extra für ihn gebaut worden war?
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, nicht an Dr. Oscar und Dr. Stella draußen auf dem Atlantik zu denken. Denn wenn sie das tat, war es, als wenn eine Welle eiskaltes schwarzes Wasser durch ihren Körper spülte und alle Gefühle mit sich fortriss, bis nur noch Kälte und Finsternis übrig blieben. Es war sehr anstrengend, mit aller Kraft nicht an etwas zu denken. Die Tränen, die sie den ganzen langen Tag über hinter ihre Augenlider zurückgepresst hatte, drängten nun hinaus und liefen in warmen Rinnsalen links und rechts an ihren Schläfen hinab auf das Kopfkissen. Sie konnte spüren, wie die kalte Dunkelheit hinter den Tränen lauerte wie ein großes, unbekanntes Wesen.
»Wenn du schon denkst, dann denk wenigstens an etwas Gutes«, sagte sie laut und etwas brüchig in die Stille der Koje hinein. Das hatte Dr. Stella oft zu ihr gesagt, wenn sie, auf ihrer Unterlippe kauend, mal wieder vor sich hin gegrübelt hatte. »Etwas Gutes« war, dass sie ein eigenes Zimmer – ein Turmzimmer! – hatte und das gemütlichste Bett, in dem sie jemals gelegen hatte. Die Koje war das Zweitbeste in ihrem Zimmer, gleich nach der abschließbaren Schreibtischschublade …
Sofort versiegten die Tränen und die Dunkelheit zog ihre Tentakel zurück. Die Schublade! Petronella sprang aus dem Bett und kniete sich mit klopfendem Herzen zu den Löwenfüßen des Schreibtischungetüms, das dort stand und geduldig auf sie zu warten schien. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sich etwas sehr Interessantes in dieser Schublade verbarg.
Doch leider war die abschließbare Schublade … abgeschlossen. Ratlos blickte Petronella sich im runden Turmzimmer um, suchte die gewölbte Decke, die blauen Wände und den staubigen Fußboden mit den Augen ab. Wo würde man hier wohl den Schlüssel zu einer geheimen Schublade verstecken? Außer einigen Wollmäusen konnte sie nichts entdecken, keine geheimen Fächer, keine verdächtigen Ritzen. Petronella schloss die Augen und dachte an Dr. Oscar. Er war ein stiller, schüchterner Mann mit einer leisen Stimme, der beim Reden nie so richtig wusste, wohin mit seinen Händen. Bestimmt war er auch als Kind schon so still und schüchtern gewesen. Petronella schluckte. Ja, sie waren sich sehr ähnlich.
Wo würde sie diesen Schlüssel verstecken?
Sie stand auf und kroch zurück in ihre Koje, schob die Hand unter die Matratze und tastete den Rand ab. Ihr Herz machte einen Sprung. Tatsächlich! Sie fühlte etwas Glattes, Ringförmiges. Den Kopf eines kleinen goldenen Schlüssels, der hier vermutlich viele Jahre gewartet hatte und den sie jetzt hervorzog. Sie hielt den Atem an, als sie ihn in das Schlüsselloch der Schreibtischschublade steckte. Er passte. Mit einem leichten Ruckeln ließ sich die Schublade öffnen und gab ihren geheimen Inhalt frei: ein gemustertes Meeresschneckenhaus, das mit einem goldenen Mundstück zu einer Art Blashorn umfunktioniert worden war, ein leeres Tintenfass und ein Notizheft, auf dessen Etikett jemand etwas durchgestrichen und in Kinderschrift darüber geschrieben hatte:
Darunter hatte dieser Jemand die Form eines Schneckenhauses gemalt.
Mit klopfendem Herzen schlug Petronella das Heft auf. Es enthielt Zeichnungen und Notizen. Über einem penibel mit Fachausdrücken beschrifteten Vogelskelett stand zum Beispiel:
Das Heft sah ähnlich aus wie eins der »Lexika«, die Pellegrino mit großem Eifer selbst verfasste, seit er schreiben gelernt hatte. Er hielt darin alles fest, was ihm wichtig erschien, und offensichtlich hatte Dr. Oscar als Kind das Gleiche getan.
Petronella spürte wieder den vertrauten Stich in ihrer Brust. Ja, alle waren sich schon immer einig gewesen, dass Pellegrino einmal in Dr. Oscars und Dr. Stellas Fußstapfen treten würde, während Roberta eine Karriere als Schriftstellerin plante. Und sie selbst? Was würde sie einmal machen?
Es folgten noch weitere Seiten mit feinen Zeichnungen und sorgfältigen Beobachtungen von Seevögeln, Fischen, Muscheln und Schnecken.
Doch dann änderte sich der Inhalt ohne Vorwarnung und auch die Kinderhandschrift sah anders aus. Petronella hätte das Heft beinahe fallen lassen. Vom Papier der linierten Seite starrte sie eine grauenhafte Grimasse aus kleinen schwarzen Augen an. Was Dr. Oscar hier mit genauen, feinen Bleistiftstrichen gezeichnet hatte, ließ sie zitternd die Luft einsaugen: Die Fratze war umrahmt von einem wilden Gestrüpp aus drahtigen Haaren, die der Gestalt bis zu den Kniekehlen reichten. Sie hatte schiefe, spitze Zähne und einen großen Körper mit kräftigen, langen Armen und Beinen mit riesenhaften Füßen, die in schwarzen, schweren Schuhen steckten. Das wirklich Verstörende aber war, dass Dr. Oscar diese Person, oder besser gesagt: dieses Monster, dreimal gezeichnet hatte.
»Abb. 1« zeigte es mit menschenähnlicher Anatomie.
»Abb. 2« veranschaulichte, wie Arme, Beine und ein Teil des Unterkörpers durch etwas anderes ersetzt wurden: Mäuse!
»Abb. 3« war ein Berg aus einer Unzahl übereinandergetürmter Mäuse.
Oben auf der Seite stand als Überschrift:
Petronella betrachtete die kohleschwarzen Äuglein, die vielen spitzen Zähnchen in Mausgrets großem Gesicht und die Mäusemasse, in die sich Mausgret offenbar Schritt für Schritt verwandelte.
Unter der dritten Abbildung stand:
Ihr Vater hatte auch diese Zeichnung mit Beschriftungen versehen, wie in einem Biologiebuch. Pfeile führten zu allen möglichen Körperteilen und daneben standen Begriffe wie:
Und so weiter. Es gab noch viele weitere Begriffe, deren Erklärung Pellegrino sicherlich Freude bereiten würde. Eine weitere Vorliebe, die Dr. Oscar, Dr. Stella und Pellegrino schon immer geteilt hatten. Und die ziemlich nervte. Was sie allerdings auch teilten, war der inbrünstige Glaube an die Wissenschaft. Und der Inhalt dieses Heftes hier hätte eher aus Robertas Feder stammen können. Die hatte nämlich eine blühende Fantasie (wie immer alle sagten, einschließlich sie selbst). Petronella fiel die alte Frau ein, zu der sie Pellegrino noch genauer befragen wollte. Ob es wirklich möglich war, dass diese Kreaturen hier in echt existierten?
Wohl kaum, dachte sie. Vermutlich ist Dr. Oscar als Kind eben doch nicht ganz so fantasielos gewesen. Wer weiß das schon. Ich sicher nicht.
Ganz unten auf der Seite stand:
Petronella schreckte auf. Hatte sie da etwas gehört? Sie lauschte schaudernd. Es war nie still in diesem Haus. Von irgendwo, weit entfernt auf einem anderen Stockwerk, aus einem der vielen Zimmer drang ein dumpfes Knarren an ihr Ohr, während es irgendwo anders jaulte – wahrscheinlich der Wind? Da sie keins der Geräusche wirklich seinem Ursprung zuordnen konnte, beschloss sie, ihnen keine weitere Bedeutung beizumessen, und blätterte mit schwitzigen Fingern weiter.
Auf der nächsten Seite befand sich nicht nur eine Schreckgestalt, sondern gleich mehrere. Darüber prangte die Bezeichnung:
Darunter hatte Dr. Oscar notiert:
Keines der abgebildeten Wesen glich dem anderen. Sie alle sahen so bizarr aus, dass Pellegrinos geliebte Gespensterfische dagegen wie Kuscheltiere wirkten.
Petronella blätterte fröstelnd weiter.
lautete die Überschrift der nächsten Seite –
»Was machst du denn da?«
Petronella fuhr herum.
Vertieft in das Heft, hatte sie Pellegrino gar nicht reinkommen gehört. Mit einer steilen Denkfalte zwischen den Brillengläsern trat er hinter sie.
»Ist das …?« Er hockte sich neben Petronella und starrte auf die Seite in Dr. Oscars Heft. »Nelli, wo hast du das her?«
»Das war hier in Dr. Oscars altem Schreibtisch. Wieso?«
»Weil die Zeichnung da genauso aussieht wie die alte Frau in meinem Zimmer.«
Die schwarzen Holzbohlen knarrten beinahe widerwillig unter ihren nackten Füßen, als wollten sie Petronella und Pellegrino darauf hinweisen, dass sie etwas Verbotenes taten. Sie schlichen den langen Korridor entlang, vorbei an vielen Türen zu unbekannten Räumen. Da sie sich nicht trauten, das Licht anzuknipsen, hatten sie ihre Stirnlampen aus dem Pfadfindercamp aufgesetzt.
In diesem abenteuerlich eingerichteten Haus wirkte ihre Ausrüstung nicht einmal fehl am Platz, fand Petronella.
Sie kamen an einer ganzen Menge unterschiedlichster Gegenstände vorbei. In ihrer wilden Zusammenstellung erinnerten sie Petronella gleichzeitig an das Naturkundemuseum, das sie mit ihrer Grundschulklasse besucht hatte, und einen Souvenirladen, in den ihre anderen Großeltern sie in ihrem ersten und einzigen Urlaub geschleppt hatten: Sanduhren in verschiedenen Ausführungen wechselten sich ab mit Vogelschädeln und Tierskeletten. Von Seepocken überwucherte Treibholzstücke, ein riesiger verrosteter Anker und anderes Strandgut dienten als Abstellflächen für Gläser und Setzkästen mit getrockneten Seesternen, bunten Steinen, Muscheln und Schneckengehäusen.
Petronella flüsterte: »Ich drücke jetzt die Klinke runter. Hast du das Taschenmesser?« Sie waren sich zwar nicht sicher, ob ein Schweizer Taschenmesser die richtige Verteidigung gegen die Erscheinung in Pellegrinos Zimmer war, aber etwas Besseres war ihnen nicht eingefallen. So genau hatten sie sich das Zusammentreffen mit der Toten Tante eigentlich auch nicht vorstellen wollen.
»Ich …« Pellegrino begann, in den Taschen seiner Schlafanzughose zu kramen. »… habe es oben vergessen, Nelli!«
Roberta hätte jetzt gesagt: »Oh Mann, Pelle, du Erdnuss! Du bist echt der schlechteste Pfadfinder, den diese Welt jemals hervorgebracht hat. Bald wird sie diesen Fehler korrigieren, glaub mir!« Oder etwas in der Art. Daraufhin hätte Pellegrino irritiert etwas über die Wahrscheinlichkeit der Tatsache gesagt, dass die Welt ein Bewusstsein für Fehler hätte. Petronella rollte nur im Dunkeln mit den Augen und stieß kaum hörbar die Luft aus.
Im nächsten Moment dachte sie wirklich, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Doch es war bloß eine große Standuhr am Ende des Korridors. Petronella traute ihren Augen kaum, als sich über dem Zifferblatt ein Türchen öffnete, aus dem ein kleines Skelett herausgefahren kam und mit mechanischer Sicherheit seine winzige Sense zu jedem Uhrenschlag schwang.
»Hilfe!«, murmelte Petronella. »Was ist denn das für eine Totenuhr?«
»Diese Uhr war schon immer hier. Sie ist sogar älter als die Großeltern. Ich habe sie natürlich direkt danach gefragt.« Eine goldene Gestalt mit einem Gehstock trat aus dem Schatten der Standuhr in das Mondlicht, das sich durch ein Fenster auf den schwarzen Holzboden ergoss.
»Roberta! Ist das Großmutters Morgenmantel? Und ihr Gehstock?«
»Hast du die geklaut? Roberta, gib sie lieber zurück, sonst werfen die Großeltern uns noch raus«, jammerte Pellegrino. Er klang wirklich ängstlich.
»Werden sie nicht. Hast du nicht zugehört? Wir sind eine Fami-li-e und Fa-mi-li-e ist das Wichtigste im Leben …« Roberta imitierte Großmutters dramatischen Tonfall ziemlich gut.
»Was machst du denn hier mitten in der Nacht? Großmutter hat doch gesagt, es ist verboten, nachts herumzulaufen.«
»Ha! Das frag ich euch.« Roberta stach mit dem Gehstock nach ihnen.
»Es ist ein Notfall. Wir sind einem rätselhaften Phänomen auf der Spur«, erklärte Pellegrino. »Du weißt schon, die optische Halluzination in meinem Zimmer.«
»Wie bitte?« Roberta verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr wolltet nachts auf Gespenstersuche gehen – ohne mich? Die sich von allen in dieser Familie ja wohl am besten mit Spuk auskennt!«
»Pscht, bitte«, machte Petronella, weil Roberta immer lauter geworden war. »Wie gesagt, es ist ein Notfall. Ich mach die Tür jetzt auf.«
»Lass mich!« Roberta drängte Petronella zur Seite und legte die Hand auf die Türklinke zu Pellegrinos Zimmer. »Achtung! Seid ihr bereit?« Sie drehte sich um, und das Mondlicht ließ ihr Gesicht aufleuchten, als sie Unheil witternd die Augen aufriss. Vermutlich hielt sie das Ganze für ein Spiel, denn sie kannte ja das Notizheft nicht.
Alle drei starrten sie wie gebannt auf die Tür.
Roberta drückte die Klinke herunter, und sie wagten nicht zu atmen, während die Tür aufschwang. Mit dem Anblick, der sich ihnen bot, hätten sie allerdings nicht gerechnet.
Eine Wand aus Mauersteinen.
Sonst nichts.
»Äh«, machte Roberta.
»Bist du dir sicher, dass das die richtige Tür ist, Pelle?«, fragte Petronella.
»Ohne Zweifel.« Pellegrino nickte ernst mit gerunzelter Stirn. Er deutete auf ein Glas mit einem aalförmigen Fisch, das in einer Vitrine im Korridor stand. »Die Tür neben dem Neunauge. Ich dachte noch, was für ein Zufall, weil ich gerade einen Artikel in der Tauchen & Lesen über Petromyzontiformes, also das Neunauge, gelesen habe. Habt ihr übrigens gewusst, dass Petromyzontiformes zu den lebenden Fossilien zählt? Genau wie Nautilus pompilius dort drüben …«
»Pelle, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen wissenschaftlichen Vortrag.« Petronella legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das half nicht immer, aber manchmal, um ihn aus seiner Gedankenschleife zu reißen.
Roberta klopfte mit Großmutters Gehstock gegen die Wand.
»Wow. Das ist so was wie eine Geheimtür«, murmelte sie. »Oder besser gesagt: das Gegenteil davon. Eine Art umgekehrte Geheimtür!«
»Aber meine ganzen Sachen sind dadrin!« Pellegrino schien erst jetzt den Ernst der Lage zu begreifen. Er drängte sich neben Petronella und tastete hektisch die Wand ab, als wollte er den geheimen Knopf finden, der alles wieder rückgängig machte. »Meine Lexika! Dr. Stellas kommentierte Ausgabe von 11 000 Meter unter der Meeresoberfläche! Grundlagen der Tiefseeforschung I + II! ALLES Wichtige ist dadrin!«
»Selbst schuld«, sagte Roberta ungnädig. Sie klang schon wieder wie Großmutter. »Was schleppst du das Zeug auch überall mit hin?«
(Es stimmte. Pellegrino ging nirgendwohin, ohne sämtliche Bücher über das Meer sowie seine umfangreiche Sammlung selbst verfasster Lexika dabeizuhaben. Bei den Kleinen Steinböcken waren sie auch nicht gerade begeistert gewesen über Pellegrinos raumgreifendes Gepäck, für das er sogar ein eigenes Zelt beansprucht hatte. Ein guter Grund, warum nicht nur er, sondern gleich sie alle drei von Tag eins an im Abseits gestanden hatten.)
»Nun, äußerst rätselhaft, das Ganze«, stellte Roberta fest. »Hier können wir jetzt nichts mehr tun. Ich muss nachdenken und dabei würdet ihr nur stören. Also: Husch!, ins Bett, meine Vögelchen.« Dann humpelte sie mit Großmutters Gehstock davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Sie klingt echt original wie Großmutter«, stöhnte Pellegrino.
»Das macht wohl der Morgenmantel«, vermutete Petronella. »Komm, Pelle, du kannst bei mir schlafen.«
Plötzlich spannte sich wieder alles in Petronellas Körper an. Ein heftiger Geruch stieg in ihre Nase und sie musste einen Hustenanfall unterdrücken. Was ist das, Pelle?
Ich rieche es auch … Pellegrinos Augen wurden weit hinter den Brillengläsern, als er seinen Kopf zur Wand hinter der Tür drehte, langsam, als fürchtete er, die Steine könnten wieder verschwunden sein und den Blick auf das freigeben, was die Quelle des Geruchs war.
Es roch intensiv nach … Staub.
Petronella und Pellegrino erstarrten beide gleichzeitig. Hinter der Mauer, in Pellegrinos Zimmer, war ein Flüstern zu hören. Es klang seltsam nah und gleichzeitig so fern, als käme es aus einer anderen Zeit. Die Stimme wiederholte zwei Wörter immer wieder. Petronella und Pellegrino sahen sich mit großen Augen an, denn sie erkannten gleichzeitig, was die Stimme flüsterte.
Es waren ihre Namen.
Petronella schreckte hoch, weil ein langer, dünner Tentakel sich in ihr Ohr bohrte. Im nächsten Augenblick nahm sie ein vertrautes Piepen wahr. Es kam aus Pellegrinos linkem Nasenloch, wenn er ausatmete. Sie seufzte. Das in ihrem Ohr war kein Tentakel, sondern der Bügel von Pellegrinos Brille, die aufs Kissen gerutscht war.
Die ersten Sonnenstrahlen drangen zusammen mit vereinzelten Möwenschreien durch die Gardinen, die sich sanft im Wind blähten. Petronella versuchte, sich zu strecken, wobei Pellegrino laut aufschnarchte und sich zur Wand drehte.
»Argonauta besitzen kein Exoskelett«, murmelte er, blieb aber regungslos liegen.
Kühl fühlte Petronella den Schlüssel zur Schreibtischschublade in der Tasche ihrer Schlafanzughose und war sofort wach. Vorsichtig, um Pellegrino nicht zu wecken, glitt sie aus dem Bett und schlich zum Schreibtisch, wo sie die Schublade so geräuscharm wie möglich aufruckelte.
Sie wollte allein sein mit Dr. Oscars Notizheft. Auch wenn der Inhalt unheimlich und verstörend war: Es handelte sich um die Gedanken und Beobachtungen ihres Vaters, als er ein Kind gewesen war. (Auf eine merkwürdige Art fühlte es sich an, als wäre sie ihm dadurch näher als jemals zuvor in ihrem Leben. Dabei waren Dr. Oscar und Dr. Stella so weit weg wie noch nie. Bei dem Gedanken daran verspürte Petronella ein Ziehen in ihrer Magengegend.) Das Heft in den Bund ihrer Schlafanzughose gesteckt, stahl sie sich aus dem Turmzimmer.
Über dem Haus lag eine schläfrige Stille. Es zog sie in die Bibliothek. Leise entriegelte sie die Flügeltüren und wollte sich auf die bemooste Steintreppe setzen. Doch als sie ihren Blick über den verwilderten Garten schweifen ließ, packte sie die Neugier. Sie dachte an die Tiere. Ob sie noch hier waren, in der Nähe? Und ob sie wirklich so gefährlich waren, wie Großmutter behauptete? Petronella konnte das kaum glauben. Die meisten waren ja nicht mal Raubtiere gewesen. Oder zählten Krähen dazu?
Das feuchte Gras war angenehm frisch unter ihren Fußsohlen, mit Tautröpfchen besprenkelte Spinnennetze zwischen den Zweigen funkelten in der Morgensonne. Im Gegensatz zu der verschlafenen Ruhe im Haus herrschte hier in der Natur bereits emsiges Treiben: Zwitschernde Vögel und summende Insekten erfüllten den gesamten Garten mit ihrem Leben. Die Seeluft mischte sich mit dem Duft der Jasminsträucher und hinterließ einen salzig-süßlichen Geschmack auf ihrer Zunge.