Die Prinzessin und der Kobold - George MacDonald - E-Book

Die Prinzessin und der Kobold E-Book

George MacDonald

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Beschreibung

"Die Prinzessin und der Kobold" von George MacDonald war, nach dessen eigenen Angaben, das Buch, das J.R.R. Tolkien entscheidend bei der Entstehung von "Der Herr der Ringe" beeinflusst hat. Das Buch gehört zu den Pionieren der Fantasy-Kinderliteratur und sollte in keinem Regal fehlen. Prinzessin Irene lebt in einem großen Haus, "halb Palast, halb Bauernhaus", an einem Berg. Sie wird vom gesamten Personal verwöhnt und geliebt, während ihr "Königspapa" durch sein Reich zieht und seinen Geschäften nachgeht. Sie haben keine Ahnung, dass tief unter ihnen eine Armee Kobolde den Sturm des Hauses plant. Um sie zurückzuschlagen, muss Irene auf die Hilfe des Bergmannsjungen Curdie und ihrer geheimnisvollen, wunderschönen Großmutter, die unbemerkt in einem der Türme des Palastes wohnt, vertrauen ....

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Die Prinzessin und der Kobold

George MacDonald

Inhalt:

Die Prinzessin und der Kobold

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Die Prinzessin und der Kobold, G. MacDonald

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

Übersetzer: Jürgen Beck

ISBN:9783849645915

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Die Prinzessin und der Kobold

Kapitel 1

Warum es überhaupt eine Geschichte über die Prinzessin gibt

Es war einmal eine kleine Prinzessin, die …

"Aber, Herr Schriftsteller, warum schreibst du immer über Prinzessinnen?"

"Weil jedes kleine Mädchen eine Prinzessin ist."

"Du wirst sie noch eitel machen, wenn du ihnen das erzählst."

"Nicht, wenn sie verstehen, was ich damit meine."

"Gut, was meinst du denn?"

"Was meinst DU denn, was eine Prinzessin ist?"

"Die Tochter eines Königs."

"Sehr gut, dann ist jedes kleine Mädchen eine Prinzessin, und man müsste darum auch überhaupt kein Aufhebens machen, außer weil sie immer Gefahr läuft, ihre Stellung zu vergessen und sich benimmt, als sei sie im Dreck aufgewachsen. Ich habe kleine Prinzessinnen gesehen, die sich benommen haben, als seien sie die Kinder von Dieben und lügenden Bettlern – und genau darum muss man sie daran erinnern, dass sie Prinzessinnen sind. Und darum erzähle ich auch am liebsten eine Geschichte über Prinzessinnen, wenn mir der Sinn nach einer Geschichte dieser Art steht. Dann kann ich besser ausdrücken, was ich meine, denn ich kann ihr all die schönen Dinge geben, die sie haben sollte."

"Bitte erzähle weiter."

Es war einmal eine kleine Prinzessin, deren Vater König über ein großes Reich voller Berge und Täler war. Sein Palast war auf einem dieser Berge erbaut worden und war sehr prächtig und schön. Die Prinzessin, die Irene hieß, war dort geboren worden. Weil ihre Mutter aber nicht sehr stark war, wurde sie schon bald nach ihrer Geburt zu Landleuten gebracht, um dort aufzuwachsen. Diese lebten in einem großen Haus, halb Schloss, halb Bauernhaus, auf einem anderen Berg, ungefähr auf halbem Weg zwischen dessen Fuß und dessen Gipfel.

Die Prinzessin war ein süßes, kleines Geschöpf und zu Beginn dieser Geschichte etwa acht Jahre alt. Glaube ich – aber sie wurde schnell älter. Ihr Gesicht war hübsch und ebenmäßig, mit Augen wie zwei Stückchen des Nachthimmels, in denen sich jeweils ein Stern im Blau auflöste. Man hätte glauben können, dass diese Augen gewusst haben, dass sie von dort oben kamen, so oft waren sie in diese Richtung gewandt. Die Decke ihres Kinderzimmers war blau, mit Sternen darin, und dem Himmel so ähnlich, wie es nur eben ging. Aber ich bezweifle, dass sie jemals den echten Himmel und die Sterne darin gesehen hatte, und ich werde dir auch gleich den Grund dafür erzählen.

In den Bergen wimmelte es vor unterirdischen Hohlräumen; riesige Höhlen und verschlungene Wege, manchmal auch mit Wasserläufen darin. Einige Gänge leuchteten in allen Regenbogenfarben, wenn man ein Licht darin entzündete. Man hätte sie bestimmt schon vergessen, wären da nicht die Minen gewesen, große, tiefe Gruben mit langen Stollen und Gängen, die man gegraben hatte, um an das Erz zu kommen, von dem die Berge voll waren. Während des Grabens trafen die Minenarbeiter immer wieder auf natürliche Höhlen. Viele hatten abgelegene Öffnungen, die auf die Seite des Berges oder in eine Schlucht führten.

In diesen unterirdischen Höhlen lebten seltsame Wesen, die von einigen als Gnome, von anderen als Kobolde oder Wichte bezeichnet wurden. Es hielt sich die Legende, dass sie einst auf der Erde lebten und genau so gewesen waren wie andere Menschen auch. Aus irgendeinem Grund, je nachdem welcher der verschiedenen, legendären Theorien man glauben wollte, hatte sie der König mit zu viel Steuern belegt, ihnen Vorschriften auferlegt, die sie nicht mochten, oder sie auf andere Art und Weise mit zu viel Härte behandelt und strengere Gesetze erlassen; als Konsequenz davon verschwanden sie vom Antlitz der Erde. Gemäß der Legende gingen sie aber nicht in ein anderes Land, sondern suchten Zuflucht in den unterirdischen Höhlen. Von dort kamen sie nur noch nachts heraus, zeigten sich fast nie in Gruppen oder mehreren Menschen gleichzeitig. Nur in den abgelegensten und unzugänglichsten Teilen der Berge versammelten sie sich angeblich noch unter freiem Himmel. Diejenigen, die sie zu Gesicht bekamen, bestätigten, dass sie sich im Lauf der Generationen sehr verändert hatten; was kein Wunder war, lebten sie abseits der Sonne an feuchten und dunklen Orten. Sie waren nicht einfach nur hässlich, sondern entweder absolut widerlich oder aberwitzig grotesk in Gesicht und Gestalt. Nicht mal die schrägste Vorstellungskraft könnte mit Stift oder Pinsel etwas zu Papier bringen, das die Extravaganz ihrer Erscheinung übertreffen würde. Und je mehr sich ihr Körper missbildete, desto größer wurde ihr Wissen und ihre Schlauheit. Bald konnten sie Dinge tun, die ein Sterblicher nicht für möglich gehalten hätte. Aber so, wie ihre Durchtriebenheit wuchs, wuchs auch ihr Misstrauen und ihre Freude daran, den Menschen an der frischen Luft über ihnen auf jede nur denkbare Art zu missfallen. Sie empfanden aber immer noch genug Selbstachtung, um nicht denen gegenüber, die ihre Wege kreuzten, nur um der Grausamkeit Willen grausam zu sein; dennoch pflegten sie herzlich den uralten Groll gegen jene, die ihre früheren Besitztümer besetzt hatten – und besonders gegen die Nachfahren des Königs, der ihre Vertreibung ausgelöst hatte. Sie nutzten jede sich bietende Gelegenheit diese zu quälen, und zwar auf genau so einfallsreiche und merkwürdige Art und Weise, wie sie selbst es waren; und obwohl sie kleinwüchsig und missgebildet waren, entsprach ihre Stärke ihrer List. Im Lauf der Zeit bekamen auch sie einen König und eine eigene Regierung, deren hauptsächliche Aufgabe es neben den eigenen, ziemlich belanglosen Geschäften war, Ärger und Probleme für ihre Nachbarn zu ersinnen. Nun dürfte es ziemlich klar sein, warum die kleine Prinzessin noch nie den Nachthimmel gesehen hatte. Man hatte viel zu viel Angst vor den Kobolden, um sie aus dem Haus zu lassen, nicht mal im Beisein der vielen Bediensteten; und diese Angst war nicht unbegründet, wie wir bald sehen werden.

Kapitel 2

Die Prinzessin verirrt sich

Ich habe gesagt, dass die Prinzessin ungefähr acht Jahre alt war, als meine Geschichte beginnt. Und so beginnt sie:

An einem sehr nassen Tag, als sich der Nebel auf dem Berg beständig in Regentropfen verwandelte, die auf die Dächer des großen, alten Hauses fielen, von wo sie dann aus den umlaufenden Regenrinnen wie ein Wasserfall nach unten rauschten, konnte die Prinzessin natürlich nicht raus gehen. Sie wurde sehr müde, so müde, dass sie nicht einmal mehr ihre Spielsachen erheitern konnten. Das würde dich erstaunen, wenn ich hier die Zeit finden würde, nur die Hälfte ihrer Spielsachen zu beschreiben. Aber dann hättest du immer noch nicht die Spielsachen selbst, und das macht den Unterschied: man kann eines Dings erst müde werden, wenn man es hat. Aber es war dennoch ein sehenswertes Bild: die Prinzessin, die in ihrem Zimmer an einem großen, mit Spielzeug übersäten Tisch saß, die Himmelsdecke über sich. Wenn ein Künstler dies zeichnen wollte, würde ich ihm raten, sich nicht mit den Spielsachen zu befassen. Ich fürchte mich vor dem Versuch, sie zu beschreiben und glaube, dass er sie lieber nicht zeichnen sollte. Das sollte er wirklich nicht. Er kann bestimmt tausend Dinge, die ich nicht in der Lage bin zu tun, aber ich glaube nicht, dass er die Spielsachen zeichnen kann. Andererseits könnte auch niemand die Prinzessin selbst besser darstellen als er – auf dem Stuhl sitzend, in dessen Lehne sie ihren Rücken drückt, ihren hängenden Kopf, die Hände in ihrem Schoß, armselig, wie sie es selbst ausdrücken würde, nicht mal selbst wissend, was sie wollte – außer rauszugehen, sehr nass zu werden, sich ordentlich zu erkälten, ins Bett zu müssen und Haferschleim zu essen. Im nächsten Augenblick verlässt ihr Kindermädchen das Zimmer.

Aber selbst das ist eine Abwechslung und die Prinzessin rührt sich etwas, schaut sich um. Dann steht sie auf, wirft dabei ihren Stuhl um und rennt zur Tür hinaus – aber nicht die Tür, durch die das Kindermädchen verschwunden war, sondern eine, die auf eine seltsame, alte Treppe aus wurmstichiger Eiche hinausführte, die so aussah, als habe noch nie jemand seinen Fuß darauf gesetzt. Schon einmal war sie sechs Stufen hinauf gegangen, und das war an so einem Tag Grund genug herauszufinden, was ganz oben war.

Immer höher rannte sie – es erschien ihr ein ewig langer Weg! – und erreichte schließlich die dritte Etage. Dort sah sie, dass das Treppenpodest das Ende eines langen Ganges war. Und den rannte sie entlang. Auf jeder Seite waren Türen über Türen. Es waren so viele, dass sie sich nicht entscheiden konnte, eine bestimmte zu öffnen, sondern zum Ende des Gangs rannte, wo sie in einen weiteren Gang abbog, der ebenfalls voller Türen war. Nach zwei weiteren Biegungen und immer noch mehr Türen bekam sie Angst. Es war so still hier! Und hinter all diesen Türen waren wohl menschenleere Räume. Das war schauderhaft. Und auch der Regen machte einen ziemlichen Radau auf dem Dach. Sie drehte sich um und begann zu rennen so schnell sie konnte. Ihre kleinen Schritte hallten im Klang des Regens wider – sie rannte zurück zu der Treppe und ihrem sicheren Kinderzimmer. So dachte sie, aber sie hatte sich schon lange verlaufen.

Sie rannte eine ganze Weile, bog mehrmals ab und wurde noch ängstlicher. Überall nur Gänge und Türen! Bald war sie sich sicher, dass sie den Rückweg nicht finden würde. Überall Räume und keine Treppe! Ihr kleines Herz schlug so schnell, wie ihre kleinen Füße rannten und in ihrem Hals bildete sich ein großer Tränenkloß. Aber sie war zu aufgeregt und vielleicht auch zu verängstigt, um jetzt zu weinen. Schließlich verließ sie die Hoffnung. Nichts als Gänge und Türen! Sie warf sich auf den Boden und begann zu jammern und zu weinen.

Aber sie weinte nicht lange, denn sie war so tapfer, wie man es von einer Prinzessin ihres Alters erwarten durfte. Nach einem wohltuenden Tränenguss stand sie auf und wischte sich den Staub vom Kleid. Was für alter Staub dies war! Dann wischte sie sich die Augen mit der Hand ab, denn Prinzessinnen haben nicht immer Taschentücher dabei, so wie andere kleine Mädchen, die ich kenne. Dann beschloss sie, wie eine echte Prinzessin, weise zu überlegen, wie sie ihren Weg zurück finden könnte. Das tat sie auch, aber ohne Erfolg. Immer wieder ging sie denselben Weg, ohne dass sie es bemerkte, denn die Gänge und Türen sahen alle gleich aus. Schließlich sah sie in einer Ecke, durch eine halb geöffnete Tür, eine Treppe! Aber ach! sie führte in die falsche Richtung: anstatt nach unten, führte sie nach oben. Obwohl sie immer noch Angst hatte, konnte sie sich des Wunschs nicht erwehren herauszufinden, wohin diese Treppe führte. Sie war sehr eng und so steil, dass sie wie ein Vierbeiner auf Händen und Füßen hinauf krabbeln musste.

Kapitel 3

Die Prinzessin – wir werden sehen, wer noch ...

Als sie oben ankam, befand sie sich an einem kleinen, viereckigen Platz mit drei Türen, von denen zwei sich gegenüberstanden und eine dem Ende der Treppe entgegengesetzt war. Für einen Moment stand sie da und hatte keine Idee, was sie als nächstes tun sollte. Als sie aber so dastand, begann sie einen seltsames, brummendes Geräusch zu hören. Konnte das der Regen sein? Nein. Es war sanfter, sogar noch monotoner als der Klang des Regens, den sie kaum mehr hörte. Das tiefe, süße Brummen hielt an, hörte dann kurze Zeit auf und begann von vorne. Es hörte sich an wie eine sehr glückliche Biene, die in einer großen, bauchigen Blume einen Honigbrunnen gefunden hatte – zumindest fiel ihr im Moment kein besserer Vergleich ein. Wo konnte es herkommen? Sie drückte ihr Ohr an eine der Türen, um zu lauschen, ob es von dort kam – dann probierte sie die nächste. Als sie ihr Ohr an der dritten Tür hatte, gab es keinen Zweifel mehr: es musste in diesem Raum sein. Was konnte es ein? Sie hatte etwas Angst, aber ihre Neugier war stärker und so öffnete sie die Tür und lugte hinein. Was glaubst du, hat sie gesehen? Eine sehr alte Dame, die im Sitzen spann!

"Ach, Herr Schriftsteller, ich kenne die Geschichte, die jetzt kommt: es ist Dornröschen; aber du spinnst auch und macht sie nur länger als nötig."

"Nein, wirklich nicht – es ist nicht diese Geschichte. Warum sollte ich eine Geschichte erzählen, die jedes einigermaßen gebildete Kind bereits kennt? Es gibt nicht nur eine alte Dame, die in einer Dachkammer am Spinnen war. Übrigens, die Dame in der Geschichte, die du meinst, hat nur mit einer Spindel gesponnen und diese hier hatte ein Spinnrad, wie hätte die Prinzessin sonst das süße Geräusch durch die Tür hören können? Kennst Du den Unterschied? Hast du jemals eine Spindel oder ein Spinnrad gesehen? Ich könnte mir denken, dass du weder das eine noch das andere gesehen hast. Nun, bitte deine Mama darum, dir den Unterschied zu erklären. Unter uns gesagt, würde ich mich allerdings nicht wundern, wenn sie den auch nicht kennen würde. Ein weiterer Punkt ist, es geht in dieser Geschichte nicht um eine Fee, sondern um einen Kobold. Und zu guter letzt, die alte Dame mit dem Spinnrad war kein altes Kindermädchen sondern – du wirst schon sehen. Ich denke, ich habe nun verständlich dargelegt, dass dies nicht die schöne Geschichte von Dornröschen ist. Es ist eine ganz neue, das kann ich dir versichern, und ich werde versuchen sie so schön wie möglich zu erzählen."

Vielleicht fragst du dich jetzt, wie die Prinzessin erkennen konnte, dass die alte Dame tatsächlich eine alte Dame war, denn ich muss sagen, sie war nicht nur schön, sondern ihre Haut auch glatt und weiß. Ich werde dir mehr darüber erzählen. Ihr Haar war aus ihrer Stirn und ihrem Gesicht nach hinten gekämmt und hing locker über ihren gesamten Rücken hinunter. Das hört sich nicht nach einer alten Dame an – oder? Ach! Aber es war fast so weiß wie Schnee. Und obwohl ihr Gesicht so glatt war, schauten ihre Augen so weise, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass sie alt sein mussten. Die Prinzessin hielt die Dame in der Tat für sehr alt, obwohl sie den Grund dafür nicht sagen hätte können – vielleicht fünfzig Jahre, dachte sie bei sich selbst. Aber sie war noch einiges älter, wie du noch hören wirst.

Während sie die Prinzessin, die gerade den Kopf durch die Tür gesteckt hatte, verwirrt anstarrte, erhob die alte Dame ihren Kopf und sagte in einer süßen, aber alten und schon zittrigen Stimme, die sehr schön zum andauernden Brummen ihres Rades passte:

"Komm herein, meine Liebe; komm herein. Ich bin froh dich zu sehen."

Dass die Prinzessin eine echte Prinzessin war, wurde nun offenbar; denn sie hielt sich nicht länger starrend und bewegungslos am Türgriff fest, so wie ich es bei einigen Mädchen gesehen habe, die gerne Prinzessinnen gewesen wären, aber stattdessen nur einfache, kleine Mädchen waren. Sie tat, was man ihr gesagt hatte, trat sofort herein und schloss die Tür sanft hinter sich.

"Komm zu mir, meine Liebe", sagte die alte Dame.

Und wieder tat die Prinzessin, was ihr gesagt wurde. Sie näherte sich der alten Dame – ziemlich langsam, muss ich zugeben, aber sie hielt nicht an, bis sie an ihrer Seite stand und mit ihren blauen Augen und den zwei geschmolzenen Sternen darin in ihr Gesicht schaute.

"Aber was hast du denn mit deinen Augen gemacht, Kind?", fragte die alte Dame.

"Geweint", antwortete die Prinzessin.

"Warum, Kind?"

"Weil ich den Weg hinunter nicht finden konnte."

"Aber du hast den Weg nach oben gefunden."

"Zuerst nicht – eine lange Zeit nicht."

"Aber dein Gesicht ist ja gestreift wie der Rücken eines Zebras. Hattest du kein Taschentuch, um deine Augen zu trocknen?"

"Nein."

"Warum bist du dann nicht zu mir gekommen, damit ich sie für dich trocknen hätte können?"

"Bitte, ich wusste ja gar nicht, dass Sie hier sind. Das nächste Mal weiß ich es."

"Du bist ein gutes Kind!", sagte die alte Dame.

Dann hielt sie ihr Rad an, erhob sich, ging aus dem Raum und kam mit einem kleinen, silbernen Becken und einem weichen, weißen Handtuch, mit dem sie das strahlende, kleine Gesicht wusch und trocknete, zurück. Und die Prinzessin dachte, wie weich und schön ihre Hände waren!

Als sie das Becken und das Handtuch zurückbrachte, war die Prinzessin erstaunt, wie aufrecht und groß sie war, denn obwohl sie so alt war, ging sie kein bisschen gebückt. Sie war in schwarzen Samt mit dicken, weißen, schwer aussehenden Borten gekleidet; und auf dem schwarzen Kleid schienen ihrer Haare wie Silber. Es gab kaum mehr Möbel in diesem Raum als vielleicht im Raum der ärmsten, alten Frau, die ihr Brot mit Spinnen verdiente, gewesen wären. Es gab keinen Teppich auf dem Boden, nirgendwo einen Tisch, nichts als das Spinnrad und den Stuhl daneben. Als die Dame zurückkam, setzte sie sich wieder hin und fuhr ohne ein weiteres Wort mit ihrer Spinnarbeit fort, während Irene, die noch nie ein Spinnrad gesehen hatte, an ihrer Seite stand und zuschaute. Als es der alten Dame gelungen war, ihren Faden wieder einigermaßen in Bewegung zu setzen, sagte sie zu der Prinzessin ohne diese anzuschauen:

"Kennst du meinen Namen, Kind?"

"Nein, den kenne ich nicht", antwortete die Prinzessin.

"Mein Name ist Irene."

"Das ist mein Name!", rief die Prinzessin.

"Das weiß ich. Ich hab dir meinen gegeben. Ich habe nicht deinen Namen bekommen. Du hast meinen bekommen."

"Wie kann das sein?", fragte die Prinzessin verwirrt. "Ich hatte schon immer diesen Namen."

"Dein Papa, der König, fragte mich, ob ich Einwände hätte, wenn du meinen Namen bekommen würdest; und natürlich hatte ich keine. Es war mir eine Freude."

"Das war sehr nett von dir, mir deinen Namen zu geben – und so einen schönen", sagte die Prinzessin.

"Ach, so nett auch wieder nicht!", sagte die alte Dame. "Ein Name ist eins dieser Dinge, die man verschenken und trotzdem behalten kann. Ich habe viele solche Dinge. Möchtest du nicht wissen, wer ich bin, Kind?"

"Oh, doch, das will ich – sogar sehr."

"Ich bin deine Ur-Urgroßmutter", sagte die Dame.

"Was ist das?", fragte die Prinzessin.

"Ich bin deines Vaters Mutter Vaters Mutter."

"Ach du je! Das verstehe ich nicht", sagte die Prinzessin.

"Das glaube ich. Und ich habe es auch nicht erwartet. Aber das ist ja kein Grund, warum ich es dir nicht sagen sollte."

"Oh, nein", antwortete die Prinzessin.

"Ich werde dir alles erklären, wenn du älter bist", fuhr die alte Dame fort. "Aber so viel wirst du auch heute schon verstehen: ich bin hierhergekommen, um auf dich aufzupassen."

"Bist du schon lange hier? Erst seit gestern? Oder vielleicht seit heute, weil es so nass war, dass ich nicht hinaus konnte?"

"Ich bin schon so lange da, wie du selbst hier bist."

"Was für eine lange Zeit!", sagte die Prinzessin. "Ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern."

"Nein. Das glaube ich."

"Aber ich habe dich noch nie vorher gesehen."

"Nein. Aber du wirst mich wieder sehen."

"Lebst du immer in diesem Raum?"

"Ich schlafe hier nicht. Ich schlafe auf der entgegengesetzten Seite des Flurs. Ich sitze hier nur die meiste Zeit des Tages."

"Mir gefällt es hier nicht. Mein Kinderzimmer ist viel hübscher. Du musst auch eine Königin sein, wenn du meine Groß-Urmutter bist."

"Ja, ich bin eine Königin."

"Wo ist dann deine Krone?"

"In meinem Schlafzimmer."

"Die will ich sehen."

"Das wirst du eines Tages – aber nicht heute."

"Ich frage mich, warum mein Kindermädchen mir das nie erzählt hat."

"Dein Kindermädchen weiß das nicht. Sie hat mich nie gesehen."

"Aber irgendjemand weiß doch, dass du im Haus bist?"

"Nein; niemand."

"Wie bekommst du dann dein Essen?"

"Ich halte Geflügel – sozusagen."

"Wo hältst du es?"

"Ich werde es dir zeigen."

"Und wer bereitet das Huhn für dich zu?"

"Ich töte nie eines meiner Hühner."

"Dann verstehe ich das nicht."

"Was hattest du heute Morgen zum Frühstück?"

"Oh! Ich hatte Brot, Milch und ein Ei. – Ich vermute, du isst ihre Eier."

"Genau das ist es. Ich esse ihre Eier."

"Ist dein Haar deswegen so weiß?"

"Nein, meine Liebe. Das kommt vom Alter. Ich bin schon sehr alt."

"Das dachte ich mir. Bist du fünfzig?"

"Ja – viel älter."

"Bist du hundert?"

"Ja – viel älter. Ich bin so alt, dass du es nicht erraten wirst. Komm, ich zeige dir meine Hühner."

Wieder hörte sie auf zu spinnen. Sie erhob sich, nahm die Prinzessin bei der Hand, führte sie aus dem Raum und öffnete die Tür, die der Treppe gegenüber stand. Die Prinzessin erwartete, dass sie eine Menge Hühner und Hennen sehen würde, aber stattdessen sah sie zuerst den blauen Himmel und die Dächer des Hauses. Erst dann erkannte sie eine Vielzahl der lieblichsten Tauben. Die meisten waren weiß, aber es gab auch viele andere Farben. Sie liefen umher, verbeugten sich gegeneinander und redeten in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte. Sie klatschte vor Freude in die Hände und es erhob sich so ein Flügelschlagen, dass auch sie erschreckte.

"Du hast meine Vögel erschreckt", sagte die alte Dame lächelnd.

"Und sie haben mich erschreckt", sagte die Prinzessin, ebenfalls lächelnd. "Aber welch schöne Vögel! Sind die Eier schön?"

"Ja, sehr schön."

"Was für einen kleinen Eierlöffel du haben musst! Wäre es nicht besser, Hennen zu halten und größere Eier zu bekommen?"

"Wie sollte ich die denn füttern?"

"Ach so", sagte die Prinzessin. "Die Tauben füttern sich selbst. Sie haben Flügel."

"Genau so ist es. Wenn sie nicht fliegen könnten, könnte ich nicht ihre Eier essen."

"Aber wie kommst du an die Eier? Wo sind ihre Nester?"

Die Dame ergriff eine kleine, aus Schnur gefertigte Schleife in der Wand neben der Tür und öffnete damit eine Klappe, hinter der man viele Taubenlöcher mit Nestern sah. In einigen lagen junge Tauben und in anderen Eier. Die Tiere flogen von der anderen Seite hinein und sie entnahm die Eier auf dieser Seite. Schnell schloss sie die Klappe wieder, damit sich die Jungen nicht erschrecken würden.

"Oh, wie schön!", rief die Prinzessin. "Gibst du mir ein Ei zum Essen? Ich bin ziemlich hungrig."

"Das werde ich eines Tages tun, aber jetzt musst du zurück, sonst wird sich dein Mädchen sorgen machen. Ich vermute, dass sie schon überall nach dir sucht."

"Außer hier", antwortete die Prinzessin. "Oh, wie überrascht sie sein wird, wenn ich ihr alles über meine Groß-Urmutter erzähle!"

"Oh ja, das wird sie!", sagte die alte Dame mit einem verschmitzten Lächeln. "Achte darauf, dass du ihr alles ganz genau erzählst."

"Das werde ich tun. Bitte, kannst du mich zu ihr zurückbringen?"

"Ich kann nicht den ganzen Weg mitkommen, aber ich werde dich zur Treppe zurückbringen und dann musst du ziemlich schnell in dein eigenes Zimmer zurückrennen."

Die kleine Prinzessin legte ihre Hand in die der alten Dame, die sie führte und sich dabei immer wieder nach allen Richtungen umschaute. Sie ging mit Irene zur untersten Stufe der zweiten Treppe hinunter und ließ sie nicht aus den Augen, bis sie etwa zur Hälfte der dritten Treppe gelangt war. Als sie den Freudenschrei des Kindermädchens hörte, drehte sie sich um und ging die Stufen wieder hinauf. Sie war ziemlich schnell für so eine alte Ur-Urgroßmutter und setzte sich mit einem weiteren, merkwürdigen Lächeln auf ihrem süßen, alten Gesicht wieder an ihr Spinnrad.

Ich werde dir das nächste Mal mehr über ihre Spinnarbeiten erzählen.

Rate mal, was sie da spann.

Kapitel 4

Was das Kindermädchen davon hielt

"Na, wo kannst du wohl gewesen sein, Prinzessin?", fragte das Kindermädchen und nahm sie in ihre Arme. Es ist sehr gemein von dir dich so lange zu verstecken. Ich hatte schon Angst – "

Hier beherrschte sie sich.

"Vor was hattest du Angst, Nanny?", fragte die Prinzessin.

"Ach, egal", antwortete sie. "Vielleicht erzähle ich es dir ein anderes Mal. Aber jetzt erzählst du mir, wo du gewesen bist?"

"Ich war ganz weit oben und habe dort meine uralte Urgroßmutter getroffen", sagte die Prinzessin.

"Was meinst du damit?", fragte das Kindermädchen in der Annahme, sie würde Spaß machen.

"Ich meine damit, dass ich ganz weit oben war und dort meine uralte Urgroßmutter getroffen habe. Ach, Nanny, du weißt gar nicht, was für eine schöne Mutter aller Großmütter ich da oben habe. Sie ist so eine alte Dame! Mit so schönem, weißem Haar! So weiß wie mein silberner Becher. Ja, jetzt wo ich es mir überlege, glaube ich, dass ihr Haar silbern war."

"Was für einen Unsinn du da redest, Prinzessin!", sagte das Kindermädchen.

"Ich rede keinen Unsinn", erwiderte Irene und war ziemlich beleidigt. "Ich werde dir alles über sie erzählen. Sie ist viel größer als du und viel hübscher."

"Oh, ich muss schon sagen!", bemerkte das Kindermädchen.

"Und sie lebt von Taubeneiern."

"Höchstwahrscheinlich", sagte das Kindermädchen.

"Und sie sitzt in einem leeren Raum und spinnt den ganzen Tag vor sich hin."

"Zweifellos", sagte das Kindermädchen.

"Und sie hat ihre Krone in ihrem Schlafzimmer."

"Natürlich – das ist ja auch der richtige Ort, um eine Krone aufzubewahren. Ich wette, dass sie sie im Bett trägt."

"Das hat sie nicht gesagt. Und ich glaube auch nicht, dass sie es tut. Das wäre ja nicht bequem – oder doch? Ich glaube nicht, dass mein Papa seine Krone als Schlafmütze aufzieht. Oder tut er das etwa, Nanny?"

"Ich habe ihn nie gefragt. Ich könnte mir denken, dass er es tut."

"Und sie lebt dort, seit ich auch hier bin – so viele Jahre lang."

"Das hätte dir jeder erzählen können", sagte das Kindermädchen, das kein Wort von dem, was Irene erzählte, glaubte.

"Warum hast du mir das dann nie erzählt?"

"Es gab keine Notwendigkeit. Du hast es ja auch ganz allein erfunden."

"Du glaubst mir nicht!", stieß die Prinzessin hervor, die so verärgert und überrascht war, wie sie nur sein konnte.

"Hast du etwa erwartet, dass ich dir glaube, Prinzessin?", fragte das Kindermädchen kalt. "Ich weiß, dass es Prinzessinnen in der Mode haben Fantasiegeschichten zu erzählen, aber du bist die erste, die erwartet, dass man sie glaubt", fügte sie hinzu, als sie sah, dass es das Kind ernst meinte.

Die Prinzessin brach in Tränen aus

"Nun, ich muss sagen", bemerkte das Kindermädchen, welches durch die Tränen noch mehr irritiert war, "es ziemt sich überhaupt nicht für eine Prinzessin Geschichten zu erzählen und zu erwarten, dass man diese glaubt, nur weil sie eine Prinzessin ist."

"Aber es ist wirklich wahr, bitte glaube mir, Nanny."

"Dann hast du es geträumt, Kind."

"Nein, ich habe es nicht geträumt. Ich bin die Treppen rauf gegangen, habe mich verlaufen und hätte ich nicht die schöne Dame gefunden, wäre ich verloren gewesen."

"Oh, ich muss schon sagen!"

"Gut, dann komm doch einfach mit mir und schau selbst, ob ich nicht die Wahrheit sage."

"Ich habe wirklich anderes zu tun. Es ist jetzt Essenszeit und ich möchte keinen weiteren Unsinn hören."

Die Prinzessin wischte ihre Augen ab und ihr Gesicht war so heiß, dass diese bald trocken waren. Sie setzte sich zum Mittagessen hin, aß aber so gut wie nichts. Keinen Glauben zu finden gefällt Prinzessinnen überhaupt nicht; denn eine echte Prinzessin kann überhaupt nicht lügen. Also sprach sie den ganzen Nachmittag kein Wort. Nur wenn das Kindermädchen sie ansprach, antwortete sie, denn eine echte Prinzessin ist niemals unhöflich – nicht mal, wenn sie beleidigt wurde.

Natürlich war es auch dem Kindermädchen nicht wohl in seiner Haut – nicht, weil sie doch noch ein Körnchen Wahrheit in Irenes Geschichte gefunden hätte, sondern weil sie sie über alles liebte und sich über sich selbst ärgerte, dass sie so grob zu ihr gewesen war. Sie dachte, dass ihre Grobheit der Grund für die Traurigkeit der Prinzessin war und hatte keine Ahnung, dass sie in Wahrheit wirklich tief verletzt war, weil man ihr nicht glaubte. Als aber im Verlauf des Abends jede Bewegung und jeder Blick des Kindes mehr und mehr klar machte, dass sein Herz zu durcheinander und verstört war, um das Spiel mit den Spielzeugen zu genießen, wuchs das Unbehagen des Kindermädchens zusehends. Als die Bettzeit nahte, entkleidete sie das Kind und legte es hin. Irene hielt ihr aber diesmal nicht ihren kleinen Mund für einen Kuss hin, sondern drehte sich weg und lag nur ruhig da. Nun gab Nannys Herz nach und sie begann zu weinen. Beim Klang ihres ersten Schluchzens drehte sich die Prinzessin wieder um und hielt ihr Gesicht wie gewöhnlich für einen Kuss hin. Aber das Kindermädchen hielt sein Taschentuch an die Augen und sah die Bewegung nicht.

"Nanny", sagte die Prinzessin, "warum glaubst du mir nicht?"

"Weil ich dir nicht glauben kann", sagte das Kindermädchen und wurde erneut ärgerlich.

"Ah! Dann kann ich es nicht ändern ", sagt Irene, "dann werde ich nicht länger verärgert sein über dich. Ich werde dir einen Kuss geben und schlafen."

"Du kleiner Engel!", schluchzte das Kindermädchen, nahm sie aus dem Bett und trug sie in ihren Armen unter vielen Küssen und Umarmungen durch den Raum.

"Du wirst mit mir zu meiner alten Ur-Urgroßmutter gehen, nicht wahr?", sagte die Prinzessin, als sie sie wieder ins Bett legte.

"Und du wirst nie wieder sagen, dass ich hässlich bin – nicht wahr, Prinzessin?"

"Nanny! Ich habe nie gesagt, dass du hässlich bist, was meinst du nur?"

"Nun, wenn du es nicht gesagt hast, dann hast du es gemeint."

"Nein, das habe ich niemals."

"Du hast gesagt, dass ich nicht so hübsch sei wie diese – "

"Wie meine schöne Großmutter – ja, das habe ich gesagt; und ich sage es wieder, denn es ist die Wahrheit."