Die Ratsherrentochter - Petra Waldherr - E-Book

Die Ratsherrentochter E-Book

Petra Waldherr

4,7

Beschreibung

Wymphen, im Jahre 1523. Die junge Bürgerstochter Anna wird Opfer einer Intrige und unschuldig zum Tode verurteilt. Getrieben vom Willen zu überleben, willigt sie in eine Ehe mit dem Mann ein, der sie eigentlich hinrichten sollte. Fortan fristet sie ihr Dasein am Rande der Gesellschaft. Wird es Anna gelingen, den wahren Mörder zu entlarven? Und werden die Wymphener Bürger sie, das Weib eines Henkers, wieder in ihre Kreise aufnehmen?

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Petra Waldherr

Die Ratsherrentochter

Historischer Kriminalroman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Portrait of a Woman« von Lucas Cranach d. Ä., http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Cranach_the_Elder_-_Portrait_of_a_Woman_-_Google_Art_Project.jpg

ISBN978-3-8392-4298-8

Widmung

Für meine Familie, die mich immer unterstützt

Vorbemerkung

»… Dreifach also ist das Haus Gottes, das man eines wähnt:

hier auf Erden beten, andere kämpfen und noch andere arbeiten;

diese drei gehören zusammen und ertragen nicht, entzweit zu sein;

derart, dass auf der Funktion des einen die Werke der beiden anderen beruhen, indem alle jeweils allen ihre Hilfe zuteilwerden lassen.«

Adalbero, Bischof von Laon, um 1025

Dieses Gefüge hatte zu jener Zeit nicht für alle Gültigkeit. Die ›Unehrlichen‹ verrichteten zwar notwendige Dienste, fristeten ihr Dasein jedoch, mehr oder weniger, am Rande der Gesellschaft. So wie etwa die Huren, Bader, Abdecker und Scharfrichter.

Obwohl ihm viel verwehrt blieb, hatte ein Scharfrichter dennoch das Recht, eine zum Tode Verurteilte von den Oberen einer Stadt freizubitten, um sie zu ehelichen.

Allerdings zog es die Auserwählte oftmals vor, lieber durch seine Hand vom Leben zum Tode befördert zu werden, als dieselbe zu ergreifen und in den Stand der Ehe zu treten.

WYMPHEN, IM JAHRE DES HERRN 1523:

In den unruhigenZeiten der Reformation, als Martin Luther die religiöse Weltanschauung neu ordnet, muss auch die junge Anna nach der erneuten Heirat der Mutter ihr Heimatdorf in der Nähe von Hall hinter sich lassen und zusammen mit ihrem Bruder in einer ihr unbekannten Stadt, beim Stiefvater ein neues Leben beginnen.

Wie neu und wie anders sich dieses jedoch noch gestalten wird, ist bei der Ankunft in Wymphen von niemandem absehbar.

Die Gerüchte nämlich, dass der angesehene Bürger offensichtlich ein Auge auf seine hübsche Stieftochter geworfen hat, nutzt ein ehrgeiziges und aufstrebendes Mitglied des Jungen Rates, um eine hinterhältige Intrige zu spinnen.

Anna wird des Mordes beschuldigt und vom Wymphener Rat zum Tode verurteilt …

WYMPHEN

– Donnerstag, 5. Februar 1523 –

Obwohl die Tage bereits wieder länger wurden, hatte die ungnädige Kälte das Land noch immer fest im Griff. Der Boden war hart gefroren und eine glatte Schicht aus unberührtem, weißem Schnee bedeckte die ganze Umgebung. Nur hier und da ragten dunkle, zuweilen schwarze Büsche und blattlose Sträucher aus dem Wintermantel, der das Gras, die Kräuter und die erfrorenen Wiesenblumen des längst vergangenen Sommers schwer niederdrückte. Die kahlen Äste und dürren Zweige streckten sich trotzig dem mit grauen Wolken verhangenen Himmel entgegen. Gerade so, als wollten sie wenigstens einige wenige wärmende Strahlen der verdeckten Sonne erflehen. Kein Vogel zwitscherte und sang sein Lied. Kein Summen der Bienen oder Käfer, kein Surren oder Zirpen der Grillen erfüllte die jetzt eisige Luft. Eine trostlose, beinahe unheilvolle Stille lag über dem Land. Die einzigen Farbtupfen in der Gegend bildeten die dunkelgrünen Tannen und Nadelhölzer, die verstreut in den winterschlafenden Wäldern standen. Nichts regte sich. Bis auf das schwer beladene Fuhrwerk, das sich langsam, aber stetig auf dem verwehten und daher beinahe nur noch zu erahnenden Weg vorwärtsbewegte. Der Schnee gab leise knirschend unter den eisenbeschlagenen Holzrädern nach, und soweit man die zurückliegende Strecke überblicken konnte, zogen sich die Spuren dahin: zu beiden Seiten die durchgehenden, geraden Linien der Wagenräder und in der Mitte die großen Trittspuren des schweren Zugpferdes. Anna saß mit dem Rücken in Fahrtrichtung auf dem Wagen und starrte gedankenverloren auf das immer wiederkehrende Muster im Schnee, das sie hinterließen. Sie, das waren ihr um vier Jahre jüngerer Bruder Peter, die Magd Walburga und vorne auf dem Bock, hinter dem Gaul, ihre Mutter Amalia und ihr Stiefvater Steffen Brel mit den Zügeln. Anna konnte das gleichmäßige Stapfen und kräftige Atmen des Tieres hören. Nur hin und wieder war zusätzlich ein Schnauben durch die bebenden Nüstern zu hören. Sie versuchte gar nicht erst das Gähnen zu unterdrücken, während sie weiter den einschläfernden Geräuschen des ledernen Pferdegeschirrs und des Holzkarrens lauschte. Die Augen fielen ihr zu, und als sich auch noch die Muskeln in ihrem Nacken entspannten, sackte der Kopf unangenehm nach vorne. Durch den Ruck war sie wieder wach und mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte sie sich, ihre steifen Glieder in eine andere Position zu bringen, indem sie sich vorsichtig von einer Seite auf die andere wiegte. Der Rücken scheuerte an der Bank, auf der ihre Mutter und ihr Stiefvater saßen, und in ihrem Hintern hatte sie so gut wie kein Gefühl mehr. Anna wünschte sich zurück in ihr altes Haus. In die warme Stube. Zu einem heißen Tee und einem knisternden Feuer. Leise seufzend schloss sie die Augen und stützte sich mit gestreckten Armen auf der mächtigen Holzkiste ab, auf der sie saß, um ihren Körper kurz anzuheben und die Muskeln zu dehnen. Ja, die Kiste – in ihr waren Annas restliche Sachen verstaut: Kleider, Wäsche, Hauben, Bänder. All die Dinge, die sie nicht schon vor Wochen hatte einpacken müssen, damit sie nach und nach aus dem Haus geschafft und weit weg nach Wymphen gekarrt werden konnten. Trotz der vielen Lagen Stoff, die aus Unterrock, Kleid, Mantel und Decken bestanden, spürte sie die Eisenbeschläge der stabilen Holztruhe. Müde rieb sich Anna die Augen. Wie lange die Fahrt wohl noch dauern würde? Sie hatten ihre Reise in Hall angetreten und die Fernstraße Richtung Westen genommen. Inzwischen lag die Jaxt zu ihrer linken Seite, und sie würden dem Flusslauf folgen, bis sie, nach der Beschreibung ihres Stiefvaters, bald die Mündung in den Nekker erreichen würden. Heute war bereits der fünfte Tag ihrer Reise, und bald würde es wieder Abend werden. Hoffentlich schafften sie es rechtzeitig zu ihrem neuen, noch unbekannten Heim – dem Haus des Stiefvaters. Traurig knetete Anna die Hände, die sie zum Schutz vor der Kälte unter dem Mantel verbarg. So viel hatte sie in Hall zurücklassen müssen. Wehmütig dachte sie an die anderen Bürgerstöchter in ihrem Alter. Wie sehr würde sie doch einige von ihnen vermissen! Aber am meisten schmerzte sie der Abschied vom Grab ihres Vaters. Versonnen legte sie die Hand über die Brosche, die zwischen Brustansatz und Hals auf ihrem Kleid befestigt war. Vor Jahren hatte sie sie von ihm geschenkt bekommen und hütete nun das wertvolle Erinnerungsstück wie einen Schatz. Sicher wechselten damals viele Gulden ihren Besitzer. Sie trug das ovale Schmuckstück eigentlich täglich und beinahe zu jedem Anlass und konnte sich nicht sattsehen an der wunderschönen Arbeit. Das fein modellierte Metall war teilweise vergoldet und die verschiedenfarbigen edlen Steine leuchteten bei Lichteinfall noch herrlicher. Nur die Halterung der Nadel hatte sich durch den steten Gebrauch schon etwas gelockert. Sicher würde es in Wymphen einen fähigen Handwerker geben, der diesen Mangel beheben konnte. Wieder seufzte sie. Die Erinnerung an ihren Vater würde hoffentlich nie verblassen. Sein großzügiges, gütiges Wesen. Seine angenehm tiefe Stimme. Die Falten um seine freundlichen Augen, die sich vertieften, sobald er verschmitzt lächelte, und die mit den Jahren immer mehr wurden an der Zahl. Er war erst vor gut einem Jahr gestorben und Anna wusste, dass er ihrer Mutter ebenfalls fehlte. Trotzdem hatte sie dem Werben des Bürgers aus Wymphen nachgegeben. Die beiden Männer kannten sich schon seit Jahren und hatten Handel getrieben. Doch obwohl sie den Entschluss ihrer Mutter verstand, da sie für sich und ihre Kinder geregelte Verhältnisse wollte, hätte die Hochzeit und die Reise hierher noch Zeit gehabt. Warum musste alles zu einer solch unwirtlichen Jahreszeit stattfinden? Waren seine Gefühle für die zierliche, aber kränkliche Frau so stark, dass er einfach nicht länger warten wollte, oder lockte ihn das kleine Vermögen, das sie mit in die Ehe brachte? Wenn sie rein auf ihr Gefühl vertraute, dann würde sie für diesen Mann keine Hand ins Feuer legen. Dennoch war es die Entscheidung ihrer Mutter. Kurz hielt sie sich die roten Finger vor den Mund und hauchte ihren warmen Atem dagegen, der sich in Form einer weißen Wolke in der kalten Luft zeigte. Schnell schlang sie wieder ihre Arme um den Oberkörper und steckte die Hände unter die Achseln. Die Füße begannen auch langsam kalt und gefühllos zu werden. Die Stoffstrümpfe, die Anna eine Hand breit über die Knie reichten und mit einem Band unter- und oberhalb des Gelenks befestigt waren, wärmten in den ledernen Schuhen nicht gerade gut, und die groben Nähte drückten und zwickten und hatten bestimmt schon deutlich sichtbare Spuren auf ihrer Haut hinterlassen. Zum Glück hatte sich Walburga, fürsorglich wie sie war, heute Morgen vor der Abfahrt darum gekümmert, dass in die verschließbare Kupferpfanne heißes Wasser eingefüllt wurde. Abgedeckt und geschickt in der Mitte der drei Fußpaare platziert, hatte sie wohltuende Dienste geleistet und zumindest die Reisenden hinten auf dem Karren eine gewisse Zeit warm gehalten. Dankbar lächelnd blickte sie unter der übergeworfenen Decke zur Magd hinüber, die an der Längsseite des Wagens auf einer kurzen Holzbank saß. Sie schlief schon länger tief und fest. Ihr stämmiger Körper war etwas zur Seite gekippt und lehnte jetzt an dem Sack mit ihren wenigen Habseligkeiten. Die einfache Haube saß ihr schräg auf dem Kopf, sodass die grauen Haare darunter hervorlugten. Ein wenig Speichel rann aus dem Mundwinkel, während sie mit einem schnarchenden Geräusch im Schlaf zusammenzuckte. Durch die Bewegung verrutschte die Kopfbedeckung noch mehr und ein Auge wurde nun gänzlich verdeckt. Auf Annas Gesicht erschien ein breites Grinsen und ihr wurde warm ums Herz. Sie kannte Burgl, wie sie Walburga neckisch nannte, schon ihr ganzes Leben. Liebevoll behütet und dennoch zuweilen streng erzogen, waren sie und ihr Bruder in ihrer Obhut aufgewachsen. Wenn Vater auf Reisen war oder Mutter wieder kränkelte und kraftlos am warmen Feuer saß. Wie eine Glucke hatte sie dann früher die Kinder, auch einige aus der Nachbarschaft, um sich geschart und mit Liedern unterhalten oder mit Geschichten gefesselt, während sie selbst, je nach Jahreszeit, ihre Arbeit verrichtete. Wie froh war Anna jetzt, sie hier in der Fremde an ihrer Seite zu haben. Beruhigt schniefte sie mit ihrer roten Nase und wischte den Rest an einen Zipfel der Decke. Ihr Blick fiel auf ihren Bruder Peter, der auf den Brettern zu ihren Füßen lag und durch die Bewegungen des Fuhrwerks leicht hin und her schaukelte. Beinahe beneidete sie ihn um seinen tiefen Schlaf. Er machte sich ganz bestimmt nicht solche Sorgen wie sie und wenn doch, dann zeigte er es nicht. Seit dem Tod des Vaters war er ruhiger und verschlossener geworden. Dann und wann zank­ten sie sich aber doch gehörig, denn Anna wollte sich von dem Jüngling keine Vorschriften machen oder sich herumscheuchen lassen. Bevor die Mutter wieder geheiratet hatte, führte er sich wahrlich wie der Mann im Hause auf, was Anna eigentlich lächerlich fand und ihm auch ganz unverblümt ins Gesicht sagte, denn der Bart wollte noch nicht recht sprießen und manchmal legte er ein reichlich kindisches und trotziges Verhalten an den Tag. Das alles hatte aber schnell ein Ende. Der neue Ehemann ihrer Mutter, den sie nur flüchtig von einigen vergangenen Besuchen während dessen Handelsreisen kannten, duldete kein aufmüpfiges Verhalten. Er hatte ihnen gegenüber zwar nie die Stimme erhoben und sorgsam darauf geachtet, sich im Beisein der Mutter freundlich zu zeigen. Dennoch hatte Anna von Anfang an ein ungutes Gefühl beschlichen. Sie konnte sich in seiner Gegenwart nicht frei und ungezwungen bewegen. Hatte sie ihn eigentlich schon jemals lächeln sehen? Dieser bisweilen düstere Blick und sein unfreundliches Wesen legten sich wie ein lähmender Dunst über alles in seiner unmittelbaren Umgebung. Fast schämte sich Anna für diese Gedanken, denn die anderen, allen voran ihre Mutter, schienen nicht so zu denken. Konnte sie sich denn so täuschen? Warum kam es nur ihr so vor, dass dieser Mann zwei Gesichter zu haben schien und beide nach Belieben einsetzte, um jegliches seiner Ziele zu erreichen? Nun ja – Anna schüttelte die Gedanken ab und bückte sich hinunter zu ihrem Bruder, um ihm die inzwischen spärliche Wärmequelle näher an die Beine zu schieben. Er lag zwischen dem geladenen Hausrat und hatte sich zum Schutz vor der Kälte auf der Seite zusammengerollt, den Umhang bis ganz über den Kopf gezogen. Nur seine braunen, verwuschelten Haarspitzen waren über den geschlossenen Augen sichtbar. Im Übrigen war er unter einem Berg von trockenen Decken verborgen. Glücklicherweise hatte es nicht auch noch angefangen zu schneien, denn abgesehen von den Decken hätten sie auf dem offenen Karren keinen Schutz vor Niederschlag und Wetter gehabt.

»Nun ist es nicht mehr allzu weit.« Die brummige, ungeduldige Stimme von Steffen Brel riss Anna aus ihren Gedanken und wirkte in der Stille irgendwie störend und fehl am Platz. Ihr war deutlich anzuhören, dass auch er genug hatte von den Strapazen der Reise. Anna warf einen Blick über ihre Schulter. Die Mutter saß gebeugt neben ihrem Mann und schwieg. Auch durch mehrere Lagen feinen und den groben Stoff darüber sah ihr Körper mit den schmalen Schultern zierlich und gebrechlich aus. Dagegen wirkte der Rücken ihres Gatten fast übergroß und war bestimmt doppelt so breit. Vor allem der dicke Mantel ließ den Umfang seiner Gestalt noch mächtiger erscheinen. Anna streckte sich etwas und schielte zwischen beiden hindurch nach vorne. Das ausladende Pferdehinterteil, auf dem locker die ledernen Zügel lagen, bewegte sich gemächlich bei jedem Schritt hin und her.

»Hooo!« Mit einem lauten Befehl zog der Mann die Zügel zu sich heran und brachte den Gaul oben auf dem Hügel zum Stehen. Anna sah sich den Verlauf des Weges skeptisch an, aber es war ihre Mutter, die ihre Zweifel mit leiser Stimme aussprach.

»Steffen, denkst du denn, dass wir da heil hinunterkommen? Immerhin haben wir schwer geladen und unter dem Schnee könnte sich Eis verbergen. Wenn dem so ist, dann kann der Wagen nicht gehalten werden«, gab sie unsicher zu bedenken. »Vielleicht sollten wir absteigen und zu Fuß bis ins Tal gehen …?«

»Ach was, Weib!«, unterbrach er seine Frau herrisch. »Denkst du denn, dass wir ewig Zeit haben? Es ist nicht mehr lange hell und wir müssen noch die ganze Flussaue durchqueren. Ganz zu schweigen von der Überfahrt mit der Fähre. Wenn wir noch mehr Zeit vergeuden, dann sind die Stadttore bei unserer Ankunft geschlossen«, grollte er. Entschlossen hob er seine Arme und knallte die Riemen auf den Pferderücken.

Schnell sah Anna zu ihrer Mutter. Ihre Haltung hatte sich versteift, und auch ohne dass sie das Gesicht ihrer Mutter sah, konnte sie sich deren ängstlichen Blick vorstellen. Beide Hände hatten sich in die Bank gekrallt und mit den Füßen stützte sie sich an einem Brett ab, um nicht durch die Schräglage nach vorne zu rutschen. Wenn sie das steile obere Stück des Weges gut hinter sich bringen würden, dann hätten sie es geschafft. Bei besserem Wetter oder trockenem Untergrund war es sicher kein Problem – aber so? Der Vierbeiner zog an und setzte sich in Bewegung. Zu Beginn schien auch tatsächlich alles gut zu gehen. Der Ratsherr regulierte die Geschwindigkeit zumindest ein wenig durch einen langen Holzkeil, den er mit aller Kraft mit der rechten Hand und einem Fuß gegen den Radlauf stemmte. Mit dem anderen Arm lenkte er weiter das Pferd. Dann aber wurde das Gewicht, das unaufhörlich von hinten zu schieben begann, übermächtig und der stämmige Wallach konnte nicht mehr viel dagegenhalten. Nervös warf er den Kopf nach oben und drehte die Augen nach hinten. Der Wagen mit seinen eisenbeschlagenen Rädern begann zu rutschen und wurde schneller. Tänzelnd versuchte das Tier, den Abstand zu seiner Last zu halten und blies hektisch und stoßweise die körperwarme Luft aus.

Der spitze Angstschrei der Mutter ließ Anna zusammenzucken und weckte auch ihren Bruder und die Magd auf, die orientierungslos mit den Augen blinzelten und überrascht nach Halt suchten. Inzwischen schlitterten sie schon schräg den Hügel hinunter, hinter dem strauchelnden Pferd her, das sich immer wieder panisch mit Tritten nach hinten vom Gefährt zu befreien suchte. Die derben Flüche und Verwünschungen von Steffen Brel halfen da auch nicht viel. Sie bewirkten allenfalls, dass sich die gottesfürchtige Magd hastig bekreuzigte und tonlos vor sich hin betete. Anna zog gerade noch rechtzeitig ihr Bein zur Seite, ehe sich eine weitere Kiste ihren Weg bahnen und mit Wucht vorne neben ihr gegen die Bretter am Kopfende schlagen konnte. Erschrocken fuhr sie herum, als sich eine Hand kräftig in ihren Unterarm krallte. Es war Walburga, die mit aufgerissenen Augen an ihrer Herrin vorbeistarrte und in Windeseile noch ein Kreuz schlug. Ein plötzlicher Ruck ließ die beiden älteren Frauen noch einmal kreischen und dann war alles ruhig. Nichts bewegte sich mehr. Der Karren war teilweise vom Weg abgekommen und steckte nun in einer Schneewehe fest. Peter löste sich als Erster aus seiner Starre. Er warf die Decken beiseite und probierte vorsichtig auf allen vieren durch Gewichtsverlagerung aus, ob sie kippen würden oder ob man gefahrlos absteigen konnte.

»Hmm … dürfte gehen«, brummte er mehr zu sich selbst und erhob sich. Mit steifen Bewegungen, da er gerade erst aufgewacht war, stützte er sich ab und schwang beide Beine gleichzeitig über den Rand. Er war in einem Alter, in dem seine hochgewachsene Gestalt noch schlaksig wirkte. Selbst bei den Mengen, die er jeden Tag vertilgte, bekam er einfach nichts auf die Knochen. Den schlanken Körperbau hatten sie beide von den Eltern geerbt. Ihr Bruder hingegen, mit seinen braunen Haaren, war das jüngere Ebenbild seines Vaters. Anna hatte die Schönheit aus den vergangenen, jungen Jahren ihrer Mutter mitbekommen. Zumindest hatte sie das schon öfter gehört.

Jetzt war Amalia Brel oftmals ein Schatten ihrer selbst und hatte durch die zermürbenden Schmerzen, über die sie oft klagte, ihre Lebensfreude, die ihr verstorbener Mann so sehr an ihr geliebt hatte, verloren. Anna konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal zusammen aus vollem Herzen gelacht hatten, bis ihnen die Tränen kamen.

Nun, die Tränen kamen – aber oft aus anderem Grund. Viele Aufgaben der Mutter hatte sie nach und nach übernommen. So ergriff sie auch jetzt die Initiative.

»Alles in Ordnung?« Anna vergewisserte sich, dass Walburga und auch ihrer Mutter nichts geschehen war, und stand auf, nachdem sie ihr atemlos ihre Unversehrtheit versichert hatten. Auch ihr war der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren, aber dennoch zitterte sie längst nicht so sehr wie die beiden. Die Magd zupfte sich wenigstens schon wieder die Haube zurecht, aber die Mutter rührte sich noch immer nicht und hockte schwer atmend auf ihrem Platz.

»Willst du da oben Wurzeln schlagen? Nun komm schon!«, neckte Peter sie ungeduldig und streckte Anna aufgeregt seine Hand entgegen, die sie bereitwillig ergriff. Allerdings wagte sie nicht den großen Sprung wie ihr Bruder, sondern stieg erst auf eines der Holzräder. Neugierig folgte sie ihm und stapfte durch den Schnee. Ihr Stiefvater stand schon mit in die Seiten gestemmten Armen weiter vorne und verschaffte sich stirnrunzelnd einen Überblick. Achse und Räder schienen zum Glück nicht beschädigt zu sein.

»Der Wagen steckt nicht sehr tief. Es sollte nicht schwer sein, wieder freizukommen.« Peter war auf die Schneewehe geklettert und tat besserwisserisch seine Meinung kund. Steffen würdigte ihn keines Blickes.

»Ja, mit einem starken Pferd schon … Aber dieser dämliche Gaul hat sich verletzt und büßt jetzt einen großen Teil seiner Kraft ein.« Zähneknirschend betrachtete er das hintere Bein, das nicht auf dem Boden abgestellt, sondern in Schonhaltung, zur Vermeidung von noch größeren Schmerzen, knapp über dem Schnee gehalten wurde.

Wut stieg in Anna auf. Er brauchte gar nicht ihrem Pferd die Schuld zu geben! Hätte er vorausschauender gelenkt, dann könnten sie jetzt vermutlich schon unten im Tal ihre Fahrt fortsetzen. Mitleidig betrachtete sie den Vierbeiner. Durch die Anstrengung und die Panik dampfte sein dichtes, braunes Fell. Schlotternd, weil ihre Füße in den dünnen Lederschuhen schon vor Kälte zu stechen begannen, biss Anna die klappernden Zähne zusammen, beugte sich vor und sah sich den Huf genauer an. Blut war auf dem Fell nicht zu erkennen. Wenigstens keine offene Wunde.

»Was werden wir jetzt also tun? Vielleicht in Wymphen ein anderes Pferd besorgen? Ich denke nicht, dass er es schafft.« Anna sah ihren Stiefvater fragend an.

»Daran habe ich auch schon gedacht.« Nachdenklich fuhr er sich dabei mit den wulstigen Fingern über sein Doppelkinn. »Aber die Zeit würde nicht ausreichen.«

»Oh, Peter ist jung und schnell! Er hätte Wymphen im Nu erreicht und sicher noch rechtzeitig Hilfe geholt. Du hast doch gesagt, dass es nicht mehr weit ist.« Flehend hoben sich die Augenbrauen von Amalia Brel, als sie eifrig oben vom Wagen herunter den Vorschlag machte. Sie war bleich, beinahe grau, und die Wangen durch die Anstrengung der letzten Tage eingefallen. Im Gegensatz dazu stand das wohlgenährte, runde Gesicht Walburgas. Die Magd hatte ihren massigen Körper erstaunlich geschickt und vorsichtig auf den Bock neben die Herrin befördert und betrachtete nun ruhig, aber trotzdem neugierig das Geschehen.

Anna drehte sich zu ihrer Mutter um. Unter dem weiten Mantel trug sie ihre feinen Kleider. Sie wollte bei ihrer Ankunft als künftige Wymphener Bürgerin einen guten Eindruck machen und hatte aus diesem Grunde auch ihrer Tochter nahegelegt, sich anständig zu kleiden und dem neuen Familienoberhaupt keine Schande zu bereiten. Brav hatte sich Anna darum am Morgen ein Kleid in einem schönen Blau ausgesucht und sich passende Bänder in ihre honigfarbenen Haare flechten lassen.

»Wir müssen doch wohl nicht die Nacht im Freien verbringen, oder?« Amalias Stimme klang beinahe weinerlich.

Anna konzentrierte sich wieder auf die Worte ihrer Mutter. Nun denn, sie selbst hatte auch kein Verlangen danach, von der Dunkelheit überrascht zu werden, bevor sie eine schützende Unterkunft erreicht hatten. Sei es nun in einem Gasthaus oder im eigenen Heim. Aber nachdem sie einen Blick zum Himmel geworfen hatte, ließ Anna insgeheim diese Hoffnung fahren.

»Ich kann es schaffen! Wenn ich dem Weg …«

»Ich sagte, nein!« Laut schnitt Steffen Brel dem Jungen das Wort ab und ließ keinen Zweifel daran, dass es auf jeden Fall besser für ihn wäre, nicht mehr zu widersprechen.

»Selbst wenn du dort ankommst – was willst du dann tun? An wen willst du dich wenden? Du kennst keine Menschenseele in der Stadt. Denkst du denn, dass du von irgendjemandem bereitwillig ein Pferd bekommst? Warum sollte man dir glauben? Man wird höchstens denken, dass du eine schnelle Möglichkeit suchst, um an ein wertvolles Tier zu kommen.« Wütend über die missliche Lage hatte er angefangen zu schreien und sich seines Umhangs zu entledigen, den er dann mit Schwung in hohem Bogen hinten auf den Wagen warf. Peter machte ein betretenes Gesicht und schwieg. Die Worte, die er gern erwidert hätte, schluckte er hinunter, als er den beschwörenden Blick seiner Schwester sah. Es war mit Sicherheit besser, den Stiefvater jetzt nicht noch mehr zu reizen.

»Unten an der Biegung werden wir schon die Stadt sehen. Wir bringen den Wagen wieder auf die Straße und sehen zu, dass wir vor der Dämmerung noch den Nekker überqueren.« Während er sprach, stapfte er nach hinten und zog zwei Holzbretter von der Ladefläche. »Hier, mach dich nützlich!« Er warf Peter eines davon zu und machte sich selbst mit dem anderen an die Arbeit. »Wenn die Räder wieder frei sind, können wir alle miteinander anschieben und, so Gott will, werden wir heute Nacht ruhig und friedlich in unseren Betten schlafen.« Er war bis zu den dicken Waden in der weißen Pracht versunken und machte sich schnaufend und mit rotem Kopf an die ungewohnte körperliche Arbeit. Sein umfangreicher Bauch war ihm im Wege und bisweilen ächzte er laut, während er mit dem Brett den Schnee wegschaufelte.

Peter beeilte sich, es ihm gleichzutun und lief zum hinteren Rad. Er versuchte, nicht an seine schmerzenden Finger zu denken und wickelte sie zum Schutz vor der Kälte in seinen Umhang. Anna schlenderte unterdessen zum Pferd und streichelte ihm tröstend über den Hals. Tatsächlich beruhigte sich der Vierbeiner und senkte ein wenig entspannter den mächtigen Kopf.

»Na, Brauner? Mit dem verletzten Bein wird das für dich noch ein ganz schön anstrengendes Stück Weg – aber wir schaffen das, und nach der ganzen Plackerei bekommst du extra viel Heu von mir. Versprochen!«

Das Tier stieß sie leicht mit den Nüstern an. Wie zum Zeichen, dass es verstanden hatte.

»So, das sollte genügen.« Keuchend stützte sich Steffen auf dem Brett ab und wischte sich über die Stirn. Weil er außer Atem war, deutete er nur mit ungeduldiger Miene und einer ausholenden Armbewegung an, dass sich seine Frau und die Magd vom Wagen herunterbegeben sollten, um ihn leichter zu machen.

»Anna, du bleibst vorne beim Pferd und führst es zurück auf den Weg – alle anderen helfen, den Karren anzuschieben.« Mit Befehlston gab er noch einige knappe Anweisungen, bis jeder an dem ihm zugedachten Platz stand. Anna hielt vorne das Zaumzeug fest in beiden Händen und wartete darauf, dass sich das Gespann in Bewegung setzte. Die anderen hatten sich rund um den Wagen verteilt und waren bereit zum Schieben. Steffen und Peter jeweils auf einer Seite unmittelbar hinter dem Pferd und Walburga neben ihrer Herrin hinter dem Fuhrwerk. Anna schielte nach hinten, um einen Blick auf ihre Mutter zu erhaschen. Selbst wenn sie durch das Zusammenwirken Erfolg hatten und es wieder auf die Straße schafften – der Anteil, den ihre Mutter dazu beitragen konnte, würde verschwindend gering sein. Anna machte sich ernsthaft Sorgen, dass sie sich überanstrengen könnte.

»Auf drei stemmt ihr euch also dann mit aller Kraft dagegen!« Steffen prüfte noch einmal, ob er einen sicheren Stand hatte, und begann: »Eins … zwei … drei!«

Anna lehnte sich auf ihren Fersen nach hinten, stemmte sich mit durchgedrückten Knien in den Schnee und zog mit beiden Armen kräftig an den Lederriemen, die sie zu beiden Seiten des Mauls gepackt hatte. Der gewichtige Mann und ihr Bruder bissen die Zähne zusammen und hatten bereits rote Gesichter von der Anstrengung bekommen.

Anna schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Bitte, Brauner, beweg dich. Hilf mit!«, flehte sie ihr Pferd leise an, das sich noch sträubte und nur den Hals streckte, um den Augenblick hinauszuzögern, da es sich doch bewegen musste.

»Wenn du stehen bleibst, wirst du die Peitsche spüren«, wisperte sie, damit ihr Stiefvater sie nur ja nicht hören konnte. Mit einem plötzlichen Satz nach vorne kam das mächtige Tier direkt auf Anna zu. Es hatte den Huf des verletzten Hinterlaufs nicht aufgesetzt, sondern hinkte auf drei Beinen. Der Widerstand verschwand so plötzlich, dass die junge Frau nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte und sich mit einem überraschten Gesichtsausdruck auf ihr Hinterteil in den Schnee setzte. Erschrocken ließ sie die Zügel los und rollte sich geistesgegenwärtig seitlich ab – weg von den riesigen, mit langem Fell überwachsenen Vorderhufen.

»Kommt schon, kommt schon … nur noch ein kleines Stück!« Mit einem Stöhnen nahm Peter seine Kräfte nochmals zusammen und stolperte an seiner Schwester vorbei, die immer noch keuchend auf dem Boden lag – nun nicht nur den Saum und die Schuhe, sondern ringsum auch das Kleid und den Umhang mit dem kalten Weiß bedeckt. Sogar bis in die Schuhe hinein hatten die Flocken ihren Weg gefunden.

»Ho!« Steffen brachte das Gespann auf dem Weg zum Stehen.

»Bist du verletzt? Kannst du aufstehen?« Besorgt beugte sich Peter über seine Schwester, die gerade im Begriff war, sich hochzurappeln und den Schnee abzuklopfen, damit möglichst wenig davon zu schmelzen begann und ihre Kleidung durchnässte.

»Ja, ja … mir geht es gut«, winkte sie ab. »Kümmere du dich mit um das Fuhrwerk und erledige deine Aufgabe. Ich werde nach Mutter sehen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und stapfte zurück zu den beiden Frauen, die abwartend stehen geblieben waren.

»Deine Mutter braucht Ruhe. Am besten ist es, wenn sie sich während der Weiterfahrt wieder auf den Karren setzt.« Fürsorglich hatte sich Walburga untergehakt und stützte die zierliche Frau.

»Redet nicht über mich, als ob ich nicht da wäre«, unterbrach diese die beiden gereizt. Sie fühlte sich ausgelaugt und müde, versuchte jedoch, so kurz vor dem Ziel keine Schwäche zu zeigen.»Mit so wenig Gewicht wie möglich sind wir schneller. Ich werde ebenso laufen wie ihr alle.«

Sie wollte bestimmend klingen, aber ihre Stimme zitterte etwas und Anna bemerkte den besorgten Blick, den sie ihrem Gatten schnell zuwarf. Seufzend gab sie sich geschlagen. Anna bezweifelte, dass ihre Mutter den ganzen Weg schaffen würde, aber bevor ein gehässiges Wort von ihm kam, gab sie nach. Steffen hatte inzwischen zusammen mit Peter die Räder überprüft und auch noch den Huf und das verletzte Bein begutachtet. Was allerdings nicht recht gelingen wollte, denn bei jeder Berührung zog das Pferd es fort.

»Dann eben nicht«, murrte Steffen. »Im Moment kann ich eh nichts tun.« Er ergriff die Zügel, zerrte das auf drei Beinen humpelnde und zitternde Tier hinter sich her, und die kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung.

»Wir sind da!«, rief Peter triumphierend aus. Anna hatte die ganze Zeit über den Blick auf den Boden gerichtet und sich ihren Umhang vor Mund und Nase gehalten, um sich, so gut es eben ging, vor dem eisigen Wind zu schützen, der durch das Tal pfiff. Neugierig hob sie den Kopf, um sich zu orientieren. Sie befanden sich auf freiem Feld und vom Lauf der Jaxt hatten sie sich ein gutes Stück entfernt. Weit hinten zu ihrer Linken war an den kahlen Bäumen und dem dichten Gestrüpp, das in Ufernähe wuchs, die Mündung zu erkennen, an der sie sich mit dem breiteren Nekker vereinte. Unweit davon konnte Anna auf der gegenüberliegenden Seite ein mächtiges Bauwerk ausmachen. Ihr Stiefvater hatte schon davon berichtet, als er der Familie durch Erzählungen die neue Heimat etwas näherbringen wollte. Die lange Seite des Chorherrenstifts verlief parallel zum Nekker und an dem Ende, das flussabwärts zeigte, ragten zwei hohe Türme empor. Weitere Einzelheiten konnte Anna auf diese Entfernung nicht erkennen, aber die Außenmauer musste wohl von aufwendiger Bauweise sein. Die anderen waren ebenfalls stehen geblieben und staunten ob des Bildes, das sich ihnen bot. Anna blinzelte die Tränen weg, die sich durch den kalten Wind in ihren empfindlichen Augen gebildet hatten, und ließ ihren Blick langsam weiter nach rechts schweifen. Der Nekker floss weit vor ihnen in seinem Bett, aber dahinter lag unübersehbar ihrer aller neue Heimat – Wymphen.

Hoch über dem Fluss thronte die Stadt, deren graue Mauern direkt am Hang standen, der zum Nekker hinunter steil abfiel. Zumindest von dieser Seite war ein möglicher Übergriff feindlicher Truppen oder eine Plünderung durch umherstreunende Gesetzlose unwahrscheinlich – und wenn doch, dann sicher nicht von Erfolg gekrönt. Dem Chorherrenstift am nächsten lag ein klobiger, viereckiger Turm, dem sich einige Häuser anschlossen, aus denen sich ein großes Steingebäude merklich hervortat. Die Dächer, über denen vereinzelt Rauch aufstieg, waren gut zu erkennen und bildeten eine weitgehend geschlossene Fläche, aus der unübersehbar ein weiterer Turm herausragte und sich dunkel gegen den Abendhimmel abhob. Steffens Beschreibung nach musste es sich um den ›Hohen Turm‹ Wymphens handeln. Hoch ragte das spitze Dach in den Himmel, und an jeder seiner vier Ecken war ein weiteres Türmchen aufgesetzt. Wenn man ihn von einer bestimmten Seite aus betrachtete, sodass die hinteren Aufbauten verdeckt waren, dann sah er beinahe aus wie ein Dreizack. Anna fragte sich, ob der Türmer vielleicht gerade in ihre Richtung sah und sie beobachtete, wie sie sich langsam durch den Schnee zur Furt kämpften.

Auf einer kleinen Anhöhe dahinter war die Kirche erbaut worden. Im Gegensatz zum Stift im Tal lag der Altarraum hier an der flussaufwärts gewandten Seite der imposanten Anlage – leicht erkennbar an den beiden Türmen. Direkt daneben noch ein großer Bau – der Wormser Hof. Steffen hatte alles beschrieben und oft ausführlich und prahlerisch davon erzählt.

»Wirklich, eine recht ansehnliche Stadt, in die du uns da bringst.« Annas Mutter war ebenfalls keuchend stehen geblieben. Beinahe ehrfürchtig betrachtete sie, was vor ihnen lag. Ein krächzender Schrei durchschnitt die Stille und ließ alle den Kopf wenden, auch die, die das erschrockene Zusammenzucken ihres Körpers gerade noch rechtzeitig unterdrücken konnten. Die schwarze Krähe flog nah an ihnen vorbei, hob sich mit einigen eleganten Flügelschlägen weiter nach oben in den abendlichen Winterhimmel und ließ die Menschen, von denen sie instinktiv wusste, dass sie ihr nicht gefährlich werden konnten, erst aus ihren dunkel glänzenden Knopfaugen, als sie einen Bogen flog, um sich der Stadt zu nähern, in der sie sich einen angenehmen Platz für die Nacht suchen würde.

»Machen wir, dass wir das letzte Stück endlich auch noch hinter uns bringen!«, trieb Steffen die Gruppe unfreundlich an. Annas Herzschlag hatte sich gerade wieder normalisiert und sie wollte sich eben in Bewegung setzen und in einen gleichmäßigen Trott verfallen, als Walburga zu ihr aufschloss und sich neben sie drängte.

»Das ist kein gutes Zeichen!«, wisperte sie heiser dicht an Annas Ohr durch den Stoff des Umhangs. »Hast du gesehen, wie sie uns angestarrt hat?«

Anna wandte ihr leicht irritiert das Gesicht zu. Nur zu gut kannte sie die Deutungen und alten Geschichten, die Walburga schon von ihrer Mutter und deren Mutter erzählt worden waren und die sie bei jeder Gelegenheit an die Jungen weitergab. Gerade deswegen – eine Gänsehaut breitete sich über ihren Rücken aus. Oder fröstelte sie nur wegen der Kälte, die jetzt unaufhaltsam und ungnädig immer weiter in die Falten der Kleider kroch? Die Magd hatte ihren Oberarm fest im Griff und zog sie weiter zu sich heran, die Augen weit aufgerissen und beschwörend auf die junge Frau gerichtet. Nebenbei nahm Anna ihren vertrauten Geruch wahr. Eine Mischung aus Kräutern, schalem Atem und dem Aroma von Rauch und dem Essen, das sie immer über dem Feuer für alle zubereitete. Die grauen Haare, die unter der Haube hervorlugten, streiften ihre Wange und kitzelten sie.

»Was meinst du?«, fragte Anna leise, wusste aber die Antwort schon, noch ehe die Magd weiter durch ihre Zahnlücke zischen konnte.

»Die Krähe natürlich!« Walburga schaute sich mit hochgezogenen Schultern nach allen Seiten um, als würde sie befürchten, dass der Vogel zurückkäme, um im Sturzflug mit seinem Schnabel nach ihr zu hacken. Schnell zeichnete sie ein kleines Kreuz auf die Mitte ihrer Stirn.

»Zu so später Stunde haben sich die Schwarzen normalerweise immer schon zurückgezogen«, erklärte sie ungeduldig. »… Aber diese einzelne Krähe nicht. Sie hat auf uns gewartet, um uns ein schlechtes Zeichen zu sein. Sie kreuzt unseren Weg – geleitet uns in die Stadt. Wer weiß, was uns dort erwartet? Wer weiß, was die Zukunft dort bringt?« Die Stimme der Magd hatte einen unheimlichen Ton angenommen, als sie zur Bekräftigung ihrer Worte heftig mit dem Kopf nickte.

Anna erwiderte nichts. Sie wusste, dass Walburga viel lieber in ihrer gewohnten Umgebung geblieben wäre und dem Gedanken an ein neues Leben weit weg in Wymphen zu keiner Zeit etwas hatte abgewinnen können. Sie versuchte ihre Miene harmlos aussehen zu lassen und wollte gerade beruhigend auf sie einreden.

»Was ist denn das für ein Waschweibergeschwätz?«, tat Steffen ihre Rede ab und auch Peter lachte verächtlich auf. Etwas zu laut und zu hoch, wie Anna fand. Tadelnd warf sie ihm einen Blick zu, den er schuldbewusst erwiderte, ehe er verlegen die Augen niederschlug. Auch Walburga konzentrierte sich auf den Boden und schwieg verletzt.

»Seht lieber zu, dass wir zum Ufer kommen!«, schnappte Steffen und beschleunigte seine Schritte.

Fast fühlte sich Anna wieder so wie als Kind, dem nachts die Schatten des Feuers an der Wand Angst einjagten. Kalte Hände griffen von hinten nach ihr. Schnell warf sie einen Blick über ihre Schulter, um dem Unheil und der Gefahr ins Gesicht zu sehen. Nichts. Nur der Weg, der hinter ihnen lag, und die Dunkelheit, die sich anschlich.

Der Braune tat Anna leid. Er hatte sich mit seiner Verletzung Schritt für Schritt tapfer weitergekämpft. Jetzt schienen ihn seine Kräfte zu verlassen. Schwer atmend stand er mit zitternden Muskeln da und blies den weißen Atem aus seinen Nüstern.

»Es ist nicht mehr weit. Du hast es gleich geschafft.« Aufmunternd kraulte sie dem Pferd das kurze Fell zwischen den Augen bis hinauf zu den Ohren und sah hinüber zum Stiefvater. Er stand etwas abseits und beugte sich vornüber. Leise vor sich hin murmelnd nestelte er an seinem Gürtel. Ein helles Klingen begleitete seine Bemühungen. Alle warteten darauf, dass das Familienoberhaupt die Münzen für die Überfahrt endlich aus dem Dunkel des Beutels herausgefischt hatte. Erschöpft lehnten Walburga und Amalia an einer Seite des Wagens. Sie hatte erstaunlicherweise tatsächlich den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt. Wahrscheinlich hatte sie die Angst, das Pferd zu überanstrengen und gänzlich irgendwo in der Landschaft mit dem Hausstand liegen zu bleiben, immer weitergetrieben. Peter hingegen schien immer noch Energie zu haben wie ein übermütiger, junger Bock. Er war neugierig schon Richtung Ufer gelaufen und sah sich die Fähre an. Müde ließ Anna ihren Blick hinauf zur Stadt wandern und die Worte der Magd kamen ihr wieder in den Sinn. Was würde sie hinter diesen Mauern erwarten? Nun, die Zeit würde es schon zeigen. Die Augenlider wurden ihr schwer und sie lehnte sich gegen den warmen Körper des Tieres. Ihre Gedanken drifteten ab und das Verlangen nach einem warmen Bett war beinahe übermächtig geworden. Fremde Stimmen drangen in ihr Bewusstsein und der unfreundliche Ton ließ sie wieder in die Gegenwart zurückkehren. Es herrschte Zwielicht. Bis sie ihr Haus erreichten, würde es schon finstere Nacht sein.

»Das ist die letzte Überfahrt für heute! Außerdem fehlt mir heute mein Bruder Martin. Das bedeutet für euch, dass mir hin und wieder einer zur Hand geht«, kündigte der Fährmann Kilian Vörg laut und deutlich an und stand abwartend auf seiner Fähre. Anna stieß sich von der Flanke des Pferdes ab und spähte nach unten zu den Gestalten am Wasser. Es waren noch einige Wagenlängen Abstand, aber an Haltung, Figur und Stimme konnte sie die ihr bekannten Personen unterscheiden. An beiden Ufern waren mächtige Baumstämme in den Boden eingegraben worden. Der überwiegende Teil dürfte sich wohl unter der Erde befinden, vermutete Anna. Dazwischen war ein dickes Tau gespannt, an dem die Fähre an einem weiteren Seil geführt wurde, damit die Strömung sie nicht abtreiben konnte. Zwei große Schwimmkörper, ähnlich langen Booten, waren fest miteinander verbunden. Ihre Enden zeigten jeweils zu einem Ufer und trugen die stabilen Holzbretter, die wiederum in Fließrichtung des Wassers mit langen Nägeln angeschlagen worden waren und als Transport- und Ladefläche dienten. Rund um die Fähre war das Wasser am Holz festgefroren und eisig glitzernde Stellen auf den Brettern ließen darauf schließen, dass der rutschige Untergrund mit Vorsicht zu begehen war, wenn man nicht Bekanntschaft mit den kalten Fluten des Nekkers machen wollte. Vor allem, da an einer Seite die Bretter fehlten, die eine kniehohe Holzwand bilden sollten. Neugierig schlenderte Anna zu den Männern hinüber. Ein Unbekannter stand etwas abseits. Zu seinen Füßen lag der Beutel, den er zuvor geschultert hatte. Er war vermutlich aus Hailbrun kommend am Ufer entlanggegangen und nun hier an der Fuhrt auf die Familie getroffen. Anna hatte ihn schon vor einiger Zeit von Weitem als einen kleinen dunklen Punkt in der weißen Landschaft wahrgenommen. Aber warum war er diesseits des Flusses unterwegs? Drüben war der Weg nach Hailbrun weitaus besser zu beschreiten. Bequem hätte er den schmalen Pfad direkt am Wasser benutzen können, auf dem die kräftigen Pferde ihre Lasten an langen Seilen den Fluss hinauf zogen. Fast hätte man meinen können, dass er selbst den wenigen Menschen, die zu dieser Zeit unterwegs waren, aus dem Weg gehen wollte und den anstrengenden Marsch durch fast knietiefen Schnee vorgezogen hatte.

»Die letzte Fahrt? Ich bin nicht darauf vorbereitet, hier mein Lager an einem kleinen Feuer aufzuschlagen, und der Rückweg ist zu weit. Ihr wollt mich doch sicher nicht bei Nacht und Kälte hier zurücklassen, oder?« Die tiefe Stimme klang angenehm. Fragend wandte er sich an den Fährmann und hob dabei leicht die Hände. Anna war zwischenzeitlich neben ihren Bruder getreten, der breitbeinig mit verkniffenem Gesicht dastand und die Arme abweisend vor der Brust verschränkt hatte. Er ließ die drei anderen Männer nicht einen Moment aus den Augen.

»Das müsst ihr mit dem Ratsherrn Brel schon selbst ausmachen.« Kilian Vörg spuckte aus und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Stiefvaters, der die gesuchten Geldstücke in seiner Hand klingen ließ.

»Wenn er nichts dagegen einzuwenden hat, dass Ihr mit ihm zusammen übersetzt, dann soll es mir recht sein.« Er hatte die Entscheidung abgewälzt. Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt und er nahm dankend die Münzen entgegen, die ihm der Wymphener Bürger als Lohn für seine Mühe in die Hand drückte.

Missmutig sah Steffen den Fremden an.

»Recht ist es mir nicht!«, schnaubte er. »Aber ein Unmensch bin ich auch nicht. Gott ist mein Zeuge. Niemand soll sagen können, dass ich einen habe erfrieren lassen. Ich werde jetzt erst einmal den Karren aufs Wasser bringen. So lange werdet Ihr Euch gedulden müssen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging zurück. Verstohlen linste Anna hinter dem Rücken ihres Bruders hervor und folgte dem unbekannten Mann mit den Augen. Ohne Widerworte hatte er die Entscheidung akzeptiert. Er war hochgewachsen und trug einen dicken, mit Sicherheit warmen Mantel, dessen Saum ihm gegen die Waden schlug, und die Kapuze hielt er mit einer Hand fest unter dem Kinn zusammen. Den Kleidern und seiner Ausstattung nach war er es offensichtlich gewohnt, auf Wanderschaft zu sein und längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Irgendetwas an ihm fesselte ihre Aufmerksamkeit. Die herablassende und unfreundliche Art seiner Gegenüber schien ihn nicht im Mindesten zu stören. Im Gegenteil. Selbst­sicher stand er aufrecht da, hatte nur kurz genickt, seinen Beutel aufgehoben und sich dann weiter zur wärmenden Fackel begeben, die als Lichtquelle an einer Ecke der Fähre in einer Halterung steckte. Erst als er sich das Kopfteil des Umhangs abstreifte und die kalten Hände aneinanderrieb, konnte ihn Anna im rötlichen Schein der Flammen besser erkennen. Die dunklen Haare waren zerzaust und sein Gesicht mit den dichten Bartstoppeln hatte wohl auch schon länger keine Klinge mehr gesehen. Immer noch starrte Anna ungehörig in seine Richtung und beobachtete ihn. Immer wieder wanderte ihr Blick über das wohlgeschnittene Profil. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Er konzentrierte sich auf das, was er unter seinem Mantel suchte, und beförderte endlich die Münzen für die Überfahrt zutage, während er es sich auf seinem Bündel bequem machte, um zu warten.

»Warum nur führt sich Steffen so auf? Als ob er allein zu bestimmen hätte, wer wann und mit wem die Fähre benutzen darf. Denkst du denn, dass er hier wirklich so viel Einfluss hat?«, flüsterte sie hinter ihrem Bruder. Ihr Gerechtigkeitssinn regte sich und sie hatte das Bedürfnis, den Fremden zu verteidigen. Langsam drehte sich Peter zu ihr um und sah seine Schwester an, als wäre sie nicht Herr ihrer Sinne.

»Was?«, zischte sie. Anna war verärgert, dass er sich gegen sie stellte. Sonst hielt er doch mit seiner Meinung auch nicht hinter dem Berg und ließ kein gutes Haar am Stiefvater. Nun aber schien er dessen Verhalten zu billigen.

»Hilf ihm lieber, damit wir endlich in ein warmes Bett kommen!«, patzte sie ihn an und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. Peter schüttelte nur verständnislos den Kopf und tat wie ihm geheißen. Er hatte keine Lust, sich auf einen Wortwechsel mit ihr einzulassen, und verließ den Lichtkegel, den die Fackeln der Fähre bildeten. Vielleicht hatte Anna ein wenig zu laut gesprochen und deshalb seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Jedenfalls saß der Fremde in einem lockeren Schneidersitz auf seinem Packen und sah zu ihr herüber. Er bewegte sich nicht. Seine Augen ruhten auf ihr, und es schien ihn nicht zu stören, dass sie es bemerkt hatte. Anna konnte dem Blick nicht länger standhalten und schlug die Augen nieder. Verlegen versuchte sie sich auf das Geschehen am Wagen zu konzentrieren. Peter und Steffen hatten den Braunen dazu bewegt, die letzte Strecke zum Wasser zu hinken. Allerdings scharrte er bereits nervös mit einem Vorderhuf und der Kopf zuckte beim Anblick des dunklen Wassers, auf dem vereinzelt kleine Eisplatten trieben, immer wieder zurück. Erneut schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich würde alles gut gehen! Während der Reise von Hall, die Jaxt zur Rechten, den Kocher zur Linken, hatten sie bereits ein gutes Stück den Fluss hinauf die Dienste eines Fährmannes in Anspruch nehmen müssen. Es war harte Arbeit, das Pferd auf das schwankende Floß zu bekommen. Gutes Zureden und auch Hiebe hatten nicht den erhofften Erfolg gebracht. Wie ein störrischer Esel hatte es unnachgiebig Widerstand geleistet. Bis Anna es schließlich nicht mehr hatte mit ansehen können und Steffen Einhalt gebot, ehe er wieder die Rute erheben konnte. Sie hatte aus einer Truhe ein Tuch herausgekramt und es dem Pferd langsam über den Kopf gelegt. Mit leiser Stimme hatte sie es beruhigt und tatsächlich dazu gebracht, ihr blind zu folgen.

»Wo ist denn jetzt wieder dieses Laken?« Steffen hoffte wohl auch, dass Bewährtes ein zweites Mal funktionierte. Hektisch begann er zu suchen und scheuchte dabei auch seine Frau Amalia und die Magd auf, die jetzt hinter dem Wagen hervortraten. Anna sah gerade noch, wie Walburga die Luft einsog und schon im nächsten Moment mit gerafftem Rock und so schnell sie ihre stämmigen Beine tragen konnten auf sie zueilte.

»Au! Du tust mir weh!« Schmerzhaft hatte Walburga Anna am Arm gepackt und sie hinter sich gezogen. Während sie sich gleich mehrmals bekreuzigte, schob sie sich zwischen Anna und den Fremden drüben am Wasser und baute sich schützend vor der jungen Frau auf.

»Bleib hinter mir! Er hat den bösen Blick!«, raunte sie Anna zu, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Die Magd versperrte ihr gänzlich die Sicht, und so musste sie ein wenig zur Seite ausweichen, um ihn sehen zu können. Ihr Herz pochte kräftiger und schneller. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Warum hatte sie nicht schon eher darauf geachtet? Es war ihr nicht aufgefallen! Keines der Anzeichen hatte sie gedeutet! Seine im Dunkeln schwer erkennbare Kleidung, die Verweigerung der Überfahrt, sein todbringendes Werkzeug … Anna starrte mit offenem Mund in seine Richtung, was ihn jetzt doch dazu brachte, dass er verschämt ihrem Blick auswich. Mit einem Ruck setzte er die Füße auf, stützte sich auf den Knien ab und erhob sich. Kurz war es unter dem Mantel zu sehen gewesen, als es sich überdeutlich darunter abgezeichnet hatte: das Schwert des Scharfrichters.

Noch nie in ihrem Leben war sie solch einem Unehrlichen bis auf wenige Schritte von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Ob er wohl schon viele Verbrecher und Sünder mit seinem Schwert …? Anna konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Unsanft wurde sie von Walburga hinter den Wagen geschoben. Nur ja weg von ihm.

»Hat er dich angesprochen, Kind?«

»Nein.«

»Hat er den Abstand gewahrt?«

»Ja.« Anna gab widerwillig Antwort und wäre seltsamerweise gerne wieder um den Wagen herumgelaufen, um noch einmal einen Blick auf ihn zu erhaschen. Hastig tastete die Magd Annas Arme ab und drehte sie von einer Seite auf die andere, als wollte sie feststellen, ob die junge Frau tatsächlich unversehrt war.

»Was hast du denn?« Annas Mutter wunderte sich über das sonderbare Verhalten der Magd und wollte den Grund dafür erfahren.

»Unten am Wasser … der Nachrichter … er hat die Anna angestiert, dass es schon nicht mehr fein war. Was haben wir nur verbrochen, dass wir auch noch mit einem Henker zusammen übersetzen? Oh, ich sage euch: Die Krähe war der Vorbote, aber jetzt der da …« Die Magd schüttelte heftig den Kopf und schlug die Hände zusammen. »Warum nur wollt ihr es nicht erkennen? Es werden schlimme Dinge geschehen!« Anna und Amalia hingen gebannt an den Lippen von Walburga, die sich mit aufgerissenen Augen verschwörerisch zu ihnen hinübergebeugt hatte.

»Stell dich nicht so an! Du tust ja gerade so, als ob uns der Sensenmann selbst über den Fluss geleitet.« Die laute, spöttische Stimme erklang direkt neben ihnen und weil sie Peter nicht hatten kommen hören, zuckten die drei Frauen ordentlich zusammen. Der Bursche lachte sie aus.

»Seinen roten Umhang verbirgt er unter dem dicken Wettermantel.« Abschätzig drehte er den Kopf und sah hinunter zum Fluss.

»Wenigstens hat er sich rechtzeitig schon aus der Ferne laut und deutlich zu erkennen gegeben. Hast du ihn denn nicht gehört?« Anna schüttelte den Kopf. Sie stand zu weit entfernt und außerdem war sie so müde, dass sie sowieso nicht mehr auf das Gerede der Männer geachtet hatte.

»Steffen hätte sonst schon dafür gesorgt, dass er einige Streiche übergezogen bekommt.« Um das Gesagte zu bekräftigen, nickte er großspurig und ließ die Frauen im Dunkeln stehen.

»Na ja«, dachte sich Anna, »wenigstens ist es nicht stockfinster.« Die Wolken zogen jetzt in großen Fetzen über sie hinweg und durch das Mondlicht leuchtete der Schnee unwirklich.

Steffen hatte seine Arbeit beendet und begann mit Peter zusammen, das Gespann zur Fähre zu führen. Mit unsicheren Schritten tastete sich das Pferd auf die Bretter über dem Wasser. Der Wagen folgte mit lautem Poltern. Steffen band den ledernen Riemen vorne an der Seite um einen Holzpflock, damit die Bewegungsfreiheit des Tieres eingeschränkt war, und drückte sich vorsichtig am Rand entlang nach hinten. Da es hier keine Begrenzung gab, hangelte er sich behutsam mit beiden Armen am Karren entlang, bis er, hinten angekommen, wieder etwas mehr Platz zur Verfügung hatte. Die kleine Gruppe hatte sich schon eingefunden und wartete nur noch auf den letzten Reisenden. Er hatte geduldig am Ufer ausgeharrt, bis ihm der Vörg ein Zeichen gegeben hatte. Jetzt machte er einen letzten großen Schritt. Anna spürte, wie sich die Fähre unter seinem Gewicht absenkte und dann mit wippender Bewegung einpendelte. Der Scharfrichter legte seine Münzen auf den Pfosten, der das Ruder hielt. Dort lagen sie und glänzten, sobald das Licht sie erfasste. Anna beobachtete die Szenerie, die sich im flackernden Schein des Feuers abspielte. Der Henker trat zurück und der Fährmann beugte sich über die Münzen. Kräftig blies er darüber und zeichnete ein Kreuz in die Luft. Erst danach ergriff er sie, steckte sie in den Beutel an seinem Gürtel und machte sich daran, die Taue zu lösen. Anna fragte sich, ob der drahtige Mann überhaupt die Kraft haben würde, das Gefährt die ganze Strecke über das Wasser zu bringen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Geduldete abermals in ihre Richtung starrte. Der eisige Wind blies seinen Umhang auf, sodass es aussah, als ob er Schwingen hätte, die er ausbreitete, um davonzufliegen. Die junge Frau schauderte und bot all ihre Willenskraft auf, um den Blick nicht zu erwidern, aber die Gänsehaut im Nacken blieb.

Kilian Vörg hatte die Seile gelöst und stemmte sich nun mit aller Kraft gegen den stabilen Stab, dessen Ende im Schnee am Ufer steckte. Mit ächzenden Lauten setzte er Schritt um Schritt, bis die Fähre frei schwamm. Mit geübten Handgriffen holte er den Stab wieder ein und platzierte ihn sicher an der Seite. Dann brachte er das Ruder in Position und begann damit, es im Wasser so hin und her zu bewegen, dass kleine Strudel entstanden und das Gefährt an Geschwindigkeit zunahm. Der sehnige Körper des Mannes war an die Anstrengung gewöhnt, und die immer gleichen Bewegungen hatten eine einschläfernde Wirkung.

»Was führt Euch nach Wymphen?« Betont beiläufig richtete ihr Stiefvater das Wort an den Fremden, ohne ihn direkt anzusehen. Dieser schien nicht damit gerechnet zu haben, denn er zuckte ein wenig zusammen, gab aber keine Antwort.

»Wenn Ihr auf eine Anstellung als Scharfrichter aus seid, so muss ich Euch enttäuschen. Ich bin ein Bürger Wymphens und weiß somit genau, dass hier bereits einer sein Werk verrichtet und vielleicht sogar schon seinen Nachfolger heranzieht – seinen Schwiegersohn. Seine Tochter ist nämlich bereits verheiratet – falls Ihr auf der Suche nach einem Weib seid.«

»Johannes Kremer, seine Tochter Margaretha und ihr Mann Wilhelm. Ich weiß«, kam die knappe Antwort.

»Ihr seid gut unterrichtet.« Ehrliche Überraschung schwang mit und Steffen zog die Augenbrauen hoch. Anna schaute auf den Boden und tat unbeteiligt, aber dennoch entging ihr kein einziges der Worte, die die beiden Männer wechselten.

»Aus dem einfachen Grund: Da ich nach Wymphen heimkehre. Johannes Kremer ist mein Vater.« Seine Stimme nahm bei diesen Worten einen warmen Klang an.

Verblüffung machte sich breit, und alle Blicke waren nun neugierig auf ihn gerichtet.

Steffen Brel kniff die Augen zusammen und legte den Kopf ein wenig zur Seite, als hoffte er, dadurch besser sehen und erkennen zu können.

»Ich bin Michael Kremer.« Während er sprach, machte er einen kleinen Schritt nach vorne und sah dem Ratsherrn geradewegs ins Gesicht.

»Tatsächlich … jetzt erkenne ich den Burschen in dem Mann, der vor mir steht!« Steffen musterte ihn dreist von oben bis unten und nickte dann bedächtig. »Ihr wart lange Jahre weg. Sicher habt Ihr viel von Land und Leuten gesehen … und, wie unschwer zu erkennen ist, habt Ihr Eure Lehrzeit erfolgreich mit einem Meisterstück abgeschlossen.« Damit spielte er auf das Schwert an, das der Scharfrichter bei sich trug und das er erst führen durfte, nachdem er erfolgreich eine Hinrichtung vorgenommen hatte. So viel zumindest wusste Anna.

Michael Kremer räusperte sich kurz und blickte nach vorne zum Pferd. »Auf jeden Fall habe ich mir so viel Wissen angeeignet, dass ich erkennen kann, dass Ihr mit diesem Pferd auf keinen Fall weiter kommen werdet als gerade noch bis nach oben in die Stadt. Lahmt es denn schon länger?« Er verschränkte die Arme vor der Brust und hob skeptisch eine Augenbraue. Steffen folgte seinem Blick und winkte ab.

»Ach das … Wir wurden unterwegs kurz aufgehalten … ist aber nicht der Rede wert … hat sich wohl verletzt, weil es etwas zu temperamentvoll reagiert hat.« Ein süffisantes Grinsen machte sich auf seinem runden Gesicht breit. »Das soll ja bei Pferden und Weibern nicht immer von Vorteil sein, nicht wahr?«

Da der Scharfrichter nicht auf seine spöttische Rede einstieg, überspielte er den peinlichen Moment und wechselte das Thema. Seine Gedanken kreisten oft genug um die Erlangung eines Vorteils und darum machte er einen Vorschlag, den der Heimkehrer nicht abschlagen konnte: »Ihr versteht also eine Menge von Pferden?«, begann er in säuselndem Ton und schritt auf der kleinen noch freien Fläche auf und ab. »Nun … die Überfahrt, auf die Ihr schließlich wegen meines Wohlwollens nicht zu verzichten brauchtet, wird noch eine Weile dauern. Ihr könntet diese Zeit nutzen und Euch die Verletzung oberhalb des Hufs ansehen. Ich bin auf Euer Urteil gespannt. Vielleicht wäre es ja besser, sich gleich einen neuen Gaul anzuschaffen und die Kosten für die Behandlung einzusparen.«

Erschrocken zog Anna die Luft ein. »Ich bin sicher, dass der Braune mit Geduld und Pflege wieder gesund wird!«, platzte sie in das Gespräch der Männer, die sich überrascht zu ihr umdrehten. Es war ihr egal, ob ihr Stiefvater sie jetzt für vorlaut und ungezogen hielt. Sie würde alles versuchen, um das Pferd, an dem sie so hing, zu retten.

»Soso. Wirst du denn auch alles mit deinem Geld bezahlen? Wenn ein Haufen Salben und Mixturen notwendig sind und er dann immer noch lahmt und nicht mehr zu gebrauchen ist.«

»Äh, wenn Ihr erlaubt, werde ich es mir gleich ansehen. Dann kann ich Euch mehr sagen.« Ehe der korpulente Mann sich drohend aufbauen und seiner Stieftochter, die sowieso schon zurückgewichen war, weiter über den Mund fahren konnte, richtete sein Gegenüber das Wort an ihn und erlangte so wieder dessen Aufmerksamkeit. Anna lehnte erleichtert mit dem Rücken am Wagen und blickte an Kilian Vörg vorbei zum Ufer zurück. Sie hatten bereits die Flussmitte erreicht und der Fährmann war inzwischen doch etwas außer Atem.

»Allerdings sollte mir jemand die Fackel halten. Nicht dass ich auch noch das Bauchfell versenge.« Abwartend blickte er in die Runde.

»Das kann ich übernehmen!«, beeilte sich Kilian deshalb zu sagen und schnaufte erst einmal aus. »Ich muss sowieso nach vorne und die Taue zurechtlegen.« Mit dem Ärmel wischte er sich über die erhitzte Stirn und nickte Peter zu.

»He, Bursche. Du bist jung und kräftig. Komm her und übernimm kurz das Ruder!« Auffordernd hielt er ihm das Holz hin. Steffen hatte nichts dagegen, dass der Junge eingespannt wurde. So entging er wenigstens selbst dieser Aufgabe und musste sich auch nicht mit seiner Körperfülle den schmalen Weg nach vorne bahnen, um die Fackel zu halten. Missmutig tat ihr Bruder, was ihm aufgetragen wurde, und sah den beiden Männern nach, die vorsichtig Halt suchten.

Anna umrundete ihren Stiefvater und stellte sich mit verschränkten Armen so auf, dass sie alles gut sehen konnte. Der Fährmann hatte vorne die Fackel aus dem Metallring genommen, der als Halterung diente, und stand jetzt neben den Schultern des Pferdes. Michael Kremer begann mit langsamen, beruhigenden Bewegungen, über den Rücken des Tieres zu streichen. Die flache Hand glitt gleichmäßig immer wieder zum Hinterteil hin, und nach und nach schließlich am verletzten Bein, das der Braune immer noch nicht belastete, weiter nach unten.

»Ist ja gut, … ich tu dir schon nichts.« Leise redete er mit tiefer Stimme und beobachtete dabei stets wachsam die Reaktionen, die seine Berührungen hervorriefen. Anna hielt den Atem an. Er war jetzt kurz davor, die schmerzende Stelle zu betasten, und das Pferd hob schon nervös den Kopf, um an Vörg vorbei erkennen zu können, was da hinten vor sich ging. Würde es wieder zucken und ein Abtasten unmöglich machen?

»Näher heran mit der Fackel!«, kam die knappe Anweisung an den Fährmann, der sich sogleich etwas vorbeugte und den Arm streckte, ohne jedoch dem Nachrichter zu nahe zu kommen. Die gelbroten Flammen tanzten im kalten Wind auf der mit getränkten Tüchern umwickelten Holzstange und tauchten alles in ihrem Kegel in einen schnellen Wechsel aus Licht und Schatten. Neugierig verfolgte Kilian die Prozedur und bemühte sich gleichzeitig, auf dem vereisten Untergrund den Halt nicht zu verlieren, indem er sich am Zaumzeug festhielt. Die Hand glitt tastend über das Fell und war gerade im Begriff, die geschwollene Stelle mit leichtem Druck zu prüfen, als der Kopf des Pferdes mit einem protestierenden Wiehern herumfuhr und gegen Vörgs Rücken prallte. Ein überraschter Laut entwich dem Fährmann, während er noch damit beschäftigt war, das verlorene Gleichgewicht wiederzuerlangen. Seine Sohlen waren durch die verschobene Belastung auf den glatten Brettern weggerutscht und die Beine schnellten in unnatürlicher Haltung zur Seite und nach oben weg. Mit einem Fauchen durchschnitt die Fackel die Nacht, als Kilian sie reflexartig mit seinen sehnigen Fingern umklammert hielt und nach oben Richtung Himmel stieß. Der Henker war in seinen Bewegungen erstarrt und betrachtete das grausige Schauspiel, das sich ihm bot, und das von der erhobenen Fackel beleuchtet wurde. Vörgs Gesicht hatte sich vor Schreck und Erstaunen in eine Fratze verwandelt. Der Mund war verzerrt und ließ in einem gespenstischen Lächeln die ungepflegten Zähne sichtbar werden. Die Augen lagen im Schatten und es sah aus, als ob ihn große, dunkle Löcher wie die eines Totenschädels anstarrten, und die Sehnen am Hals traten deutlich hervor. Er fiel mit einem Poltern rücklings auf die Bretter seiner Fähre. Das allein verursachte aber nicht die Gänsehaut, die seine Haare im Nacken zum Stehen brachte. Es war dieses dumpfe Geräusch, als der Hinterkopf des Fährmannes mit voller Wucht auf einen kniehohen Pfosten aufschlug – das Geräusch von brechendem Knochen. Michael Kremer konnte nur noch erkennen, wie sich das Gesicht entspannte und der erschlaffte Körper, dessen Arme nie mehr nach Halt suchen würden, zur Seite fiel, ehe die Fackel zischend als Erste im Nekker versank und Dunkelheit zurückließ. Der Fährmann, der sein Leben lang in Eintracht mit dem Fluss gelebt hatte, folgte und wurde mit einem Platschen von dem dunklen Wasser in Empfang genommen.

»Gütiger Gott! Steht doch nicht einfach nur da – so tut doch was!« Annas schrille Stimme ließ den Nachrichter aufblicken. Michael Kremer war aufgesprungen und hatte eine weitere Fackel geholt, mit der er jetzt die Stelle absuchte, an der Kilian Vörg untergegangen war. Er wusste, dass jegliches Bemühen umsonst war. Mit dieser Gewissheit richtete er sich langsam auf und sah in die fünf Gesichter, die ihn entsetzt vom anderen Ende der Fähre aus anstarrten. Peter setzte sich als Erster in Bewegung. Er drängelte und schob sich durch die anderen hindurch. Hastig hangelte er sich am Karren entlang, rutschte ebenfalls aus und konnte sich gerade noch an dem gespannten Tau festhalten, das die Fähre am Wegschwimmen hinderte. Überrascht stöhnte er kurz auf und zog laut hörbar die Luft ein, als die eisigen Fluten seine Kleidung bis zur Hüfte durchnässten und schwer werden ließen. Die unzähligen Stiche, die die Kälte auf seiner Haut verursachte, raubten ihm den Atem.