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Die Wymphener Ratsherrentochter Anna, ehemals unschuldig wegen Mordes zum Tode verurteilt, will gemeinsam mit ihrem Gemahl Michael die erdrückende Last aus der Vergangenheit endlich hinter sich lassen. Auch an ihm haftet immer noch ein schwerwiegender Makel – seine Vergangenheit als städtischer Henker. Voller Hoffnung machen sie sich auf den Weg nach Haydelberch, um ein neues Leben zu beginnen. Doch schon bald wandelt sich der Wunsch nach einer besseren Zukunft zu einem Kampf auf Leben und Tod …
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Seitenzahl: 521
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Petra Waldherr
Die Versuchung der Ratsherrentochter
Historischer Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Die Ratsherrentochter (2014)
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Cranach_the_Elder_-_Duchess_Katharina_von_Mecklenburg_-_Google_Art_Project.jpg
ISBN 978-3-8392-5558-2
Donnerstag, 31. März 1524
Anna tauchte nur sehr langsam aus einer unwirklichen, nicht greifbaren Welt auf. Für einige Augenblicke schwebte sie immer noch in diesem seltsamen Zwischenreich. Nicht mehr Traum, aber noch nicht Wirklichkeit. Sie konnte sich nicht genau an die Einzelheiten dieser Bilder voller Glück erinnern. Eigentlich waren es nur mehr Gefühle, die den tiefen Schlaf überdauert und sie in einem jetzt schnell schwindenden Nebel umhüllt hatten. Nur zu gerne wollte sie ihn festhalten, aber Anna besaß keine Macht über ihn. Sie hatte ein Kind in ihren Armen gehalten, aber jetzt war sie wach und die Sehnsucht und die Trauer trafen sie mit voller, ungnädiger Wucht. Leise stöhnte sie auf, während sie sich unter der wärmenden Decke drehte und jetzt der rauen Wand den Rücken zukehrte. Mit steifen Fingern wickelte Anna ihre vom Schlaf schweren Glieder in den groben Stoff ein. Sie hielt die Augen geschlossen und lauschte Michaels regelmäßigen Atemzügen in der Dunkelheit. Er schlief tief und fest. In wie vielen Nächten träumte er wohl von dem Kind, das sie verloren hatte? Wie oft dachte er an das vergangene Leben, ohne es ihr zu sagen, damit sie sich nicht grämte? Der Knoten in ihrer Kehle wurde größer und Anna schluckte. Die dunkle, kalte Jahreszeit war vorüber und sie hoffte, dass sich auch ihr Gemüt bald wieder aufhellte. Gerade einmal eine Handvoll Monate war es her, seit sie guter Hoffnung war, diese jedoch aufgeben musste. Mit immer stärker werdenden Leibschmerzen hatte sich der Blutschwall angekündigt, mit dem auch das aufkeimende Leben ihren Schoß verließ. Michaels Schwester Greta hatte rasch gehandelt und ihr einen starken Kräutertrank eingeflößt. Anna hatte Sorge und Unruhe in ihren Augen bedenklich auflodern sehen. Erst als das hellrote Blut versiegte und nach Tagen nur noch bräunlich aussah, entspannte sich die Frau des neuen städtischen Henkers. Michael hatte damals dafür gesorgt, dass Anna keinen Augenblick allein war. Entweder er oder Burgl, wie ihre Magd und Amme aus Kindertagen inzwischen auch von ihm liebevoll genannt wurde, wachten Tag und Nacht an ihrem Bett. Und auch seine Schwester Greta kam in der Zeit täglich vom Scharfrichter- zum Ratsherrenhaus am Marktplatz, um nach ihr zu sehen. In langen Gesprächen hatte die Henkersgattin ihr Trost gespendet. Wohl kaum eine andere ehrbare Bürgerin konnte eine Nachrichterfrau ihre Schwägerin nennen. Es war schon außergewöhnlich und seltsam, was sich da im vergangenen Jahr in Wymphen zugetragen hatte. Michael war derjenige, der die beiden Familien, die nicht von unterschiedlicherem Stand sein konnten, miteinander verband. Er hatte als Sohn des alten Henkers nach dessen Tod sein Erbe angetreten und sollte Anna eigentlich hinrichten, da sie beschuldigt wurde, ihren Stiefvater vergiftet zu haben. Michael hatte sie vom Rat der Stadt freigebeten und zur Frau genommen. Sie hatte seine Freibitte zu Anfang nur akzeptiert, da sie den wahren Mörder, Feit Morstatt, der sie zuvor geschändet hatte, seiner verdienten Strafe zuführen wollte. Gemeinsam hatten Anna und Michael es dann tatsächlich geschafft, Morstatt ans Schwert zu liefern. Entgegen allen Erwartungen jedoch hatte Anna, die auf Geheiß des Rats hin wieder als ehrbare Bürgerin Wymphens anzusehen und zu behandeln war, die Ehe jedoch nicht aufgelöst, sondern stattdessen die Ehrlichsprechung ihres Mannes erwirkt.1 Ab diesem Zeitpunkt war also jedermann durch Brief und Siegel dazu verpflichtet, Michael Kremer als seinesgleichen zu behandeln. Einerseits versuchte sie, die enorme Trägheit, mit der diese Veränderung ablief, zu akzeptieren. Andererseits schmerzten Anna die neugierigen Blicke, die Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand und die Zurückhaltung, mit der die Leute Michael immer noch gegenübertraten. Obwohl es die meisten Bürger auf direkte Anfrage hin wohl abstreiten würden, auch, um der Verfügung des Rates nicht zuwiderzuhandeln, sahen sie dennoch weiterhin den Henker, den Blutvogt, in ihm. Sie wichen ihm so unauffällig wie möglich aus oder vermieden allzu lange Gespräche. Anna hatte sogar einmal beobachtet, wie sich ein Mann nach einer zufälligen Berührung im Gedränge die Hand am Stoff seiner Schaube abgewischt hatte.
Anna seufzte erneut. Die vergangenen Monate hatten sie in ihrer Entscheidung bestärkt, die Osterzeit noch abzuwarten, um dann, in der Zeit der länger werdenden Tage, der Stadt den Rücken zu kehren. Die Menschen hier würden sich wohl kaum von Grund auf ändern. Einige wenige vielleicht – aber niemals alle. Und so stand für Anna insgeheim schon länger fest, dass sie Wymphen zusammen mit ihrem Mann verlassen und mit allem brechen würde, um ihm ein neues Leben zu ermöglichen. Schon jetzt schmerzte es Anna tief in ihrem Innern, dass sie ihre Mutter Amalia, Burgl, das Grab ihres Bruders Peter, Greta, deren Mann Wilhelm und auch die kleine Lisbet bald verlassen mussten, um nach Haydelberch zu gehen. Martin Severus, der Bruder ihrer Mutter, hatte in seinem letzten Brief das Versprechen erneuert, sie beide aufzunehmen. Er hatte keine Familie und konnte somit seinen Handel zu gegebener Zeit an Michael vererben. In Haydelberch kannte niemand ihre Geschichte. Dort würden Michael und hoffentlich auch sie selbst endlich Ruhe finden.
Ruhe vor dem Gerede, vor den Blicken und im Besonderen vor einem Gedanken, der sie unaufhörlich zu verfolgen schien.
Auch wenn es niemals eine klare Antwort auf die Frage geben konnte, wer denn nun wirklich der Vater ihres verlorenen Kindes war. Feit Morstatt, der sie geschändet hatte, als sie vor der Urteilsverkündung im Ratsgebäude festgehalten wurde – oder doch ihr eigener Gemahl? Niemand vermochte es zu sagen. Greta hatte zwar einen Trank zur Blutreinigung für sie zubereitet, aber wer konnte schon mit Bestimmtheit wissen, dass er tatsächlich gewirkt hatte? Anna musste sich eingestehen, dass es so doch am besten war. Für Michael sollte sich nie die Frage stellen, ob er vielleicht das Kind eines anderen, eines hingerichteten Mörders, großzog. Und Greta hatte Anna letztlich nach deren Genesung, beherzt wie immer, Mut zugesprochen und ihr eindringlich versichert, dass sie zusammen mit Michael noch viele Kinder haben konnte.
Langsam verließ Anna ihren warmen Platz und schob sich an Michael heran. Das kühle Leinentuch ließ ihren nackten Körper frösteln, aber seine Wärme entschädigte sie kurz darauf und sie schmiegte sich genüsslich an ihn. Michael atmete tief ein und zog seine Frau im Halbschlaf enger zu sich heran. Bequem lag ihr Kopf jetzt auf seiner Schulter. Sie spürte den warmen Atem in ihren Haaren, die zwischenzeitlich zum Glück bereits wieder bis auf ihre Schultern reichten. Michael hatte ihr die goldene Pracht damals nach der Verurteilung abschneiden müssen. Der geflochtene Zopf, den er aufbewahrt hatte, lag jetzt am anderen Ende des Raums in der stabilen Holztruhe, die er in das Ratsherrenhaus am Wymphener Marktplatz mitgebracht hatte.
Zunächst fühlten nur ihre Fingerspitzen seine Haut. Schließlich fuhr die ganze Hand sacht über die Wölbungen seines Bauchs. Nacheinander auch über den Nabel, die Rippen bis hinauf zu seiner Brust, wo ihre Finger neckisch mit den krausen Haaren spielten. Das dumpfe Pochen unter ihrer Handfläche wurde kräftiger und schneller und Michael gab ein wohliges Brummen von sich. Anna drehte sich ein bisschen weiter und lag nun halb auf ihm. Sie musste den Kopf nur ein wenig neigen, um sich mit ihren Lippen verführerisch von der Schulter bis zur kleinen Kuhle unterhalb seines Halses vorzuarbeiten. Michael hielt still und rührte sich nicht. Trotzdem war Anna sicher, dass er inzwischen hellwach war und sein Blut mehr und mehr in Wallung geriet. Langsam arbeitete sich ihr Mund auf der behaarten Haut mit winzigen Küssen den Hals hinauf bis zu seinem Ohrläppchen, wo ihre Zunge ihn mit verführerischen Bewegungen neckte und eine feuchte Spur hinterließ. Jetzt wandte er sich seiner Frau doch zu. Michaels warme Hand legte sich besitzergreifend auf ihre Hüfte, glitt weiter zu ihrer Kehrseite und knetete mit wachsendem Verlangen eine Seite ihres Hinterns, während er ihren süßlichen Duft einatmete. Er rollte sich mit einem wohligen Brummen vollständig auf sie, ließ sich aber viel Zeit damit, ihre Beine zu teilen und sich dazwischenzulegen. Anna spürte ihn genau. Seidenweich feine Haut, aber auch störrische Haare, die in ihre Schenkel piekten, wenn er sich bewegte. Einen Teil seines Gewichts mit den Armen abstützend, bedeckte Michael Annas Gesicht mit vielen kleinen Küssen, ehe ihr ein einziger langer Kuss leidenschaftlich den Atem nahm.
Anna hörte die schweren, schleppenden Schritte, die sich langsam von unten näherten, zuerst. Sie ließ ihre Hände aber trotzdem weiter über Michaels muskulösen Rücken gleiten, um sie dann auf seinem festen Hintern abzulegen. Burgl war jetzt im Stockwerk unter ihnen angelangt. Für einen Moment war alles still und in Anna keimte die Hoffnung, dass die Magd Walburga Öffinger dort etwas in der großen Stube zu erledigen hatte. Sie selbst mied diesen Raum des Hauses. War es doch der Ort, an dem ihr Stiefvater Steffen Brel im vergangenen Jahr vergiftet worden war und ihr eigenes Leben durch die Festsetzung im Rathaus eine zunächst grausame Wende genommen hatte.
»Es ist noch lange nicht Zeit zum Aufstehen. Vielleicht benötigt Burgl ja nur ein Gefäß aus der Stube«, murmelte Anna zuversichtlich und lauschte. Michael hörte auf, ihren Hals mit der Zunge zu kitzeln, und hielt inne. »Nun, anscheinend nicht …« Ihre Hoffnung hatte sich zerschlagen. Die stämmigen Beine setzten schwerfällig ihren Weg fort und die hölzerne Treppe antwortete auf jeden weiteren Schritt mit einem ächzenden Knarren. In wenigen Augenblicken würde die Nachtruhe endgültig vorbei sein.
»Ist das Burgl?« Die leise, heisere Frage ihres Mannes war aus Annas Sicht völlig überflüssig. Ihre gebrechliche Mutter Amalia verursachte mit ihrem zierlichen Körperbau mit Sicherheit nicht solche schwerfälligen Geräusche. Wenn sie sich denn zu dieser kühlen Jahreszeit überhaupt aus dem Bett erhob oder vom Feuer wegbewegte. Anna schmunzelte. Andererseits konnte sie aber auch stolz sein und sich glücklich schätzen, dass ihr Mann ihretwegen die Welt um sich herum vergaß und bei einer Störung erst einmal wieder alle seine Sinne sammeln musste.
Das anfänglich zaghafte Klopfen an der Holztür wurde unerbittlicher. Burgl hatte ein wenig Zeit zum Durchschnaufen benötigt und war vor dem Schlafgemach der Eheleute kurz stehen geblieben. »Anna?« Die dumpfe Stimme hörte sich jetzt ziemlich nah an und die Gerufene konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Magd in ihrem langen Schlafgewand, nur mit einem dicken Schultertuch vor der Kälte geschützt, den Kopf mit der züchtigen Haube an die Tür presste und auf eine Antwort wartete.
»Es ist Burgl!« Michael bemühte sich erst gar nicht, leise zu reden.
»Schhhhh! Sie wird schon einen Grund haben, warum sie in aller Herrgottsfrühe an unsere Tür klopft«, zischte Anna und piekte ihn neckisch mit einem Finger in die Rippen. Erneutes unnachgiebiges Klopfen. Laut stöhnend sackte Michael in sich zusammen, streckte die Arme weit von sich und ließ sich mit vollem Gewicht schwer auf Anna fallen. »Ich will nicht … ich kann nicht … ich schlafe noch!« Anna prustete los und auch Michaels Bauch wippte, während er tief brummend ins Kissen lachte.
»Das hört sich aber gar nicht nach Schlafen an!«, war nun Burgls empörte Stimme zu hören. Dann fuhr sie flehend fort: »Anna, bitte! Die Magd vom Ratsherrn Bender steht unten vor der Pforte und wartet auf Antwort. Sie sagt, dass eine Kuh vom Bender schon seit Stunden versucht abzukalben. Es geht aber nicht vorwärts. Da stimmt anscheinend etwas nicht. Der Bender Burkhart lässt fragen, ob der Michael mal nachschauen kann.« Abwartende Stille folgte.
»Burgl, sag der Magd, dass ich mich sofort auf den Weg mache!«, rief er resignierend in die Dunkelheit. Prompt entfernten sich die Schritte auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren. Hin und her gerissen zwischen dem verführerischen Körper seiner Frau, der erwartungsvoll unter ihm lag, und dem Versprechen, das ihm die Magd gerade abgerungen hatte, glitt Michael bäuchlings auf das kalte Laken und nahm die Abkühlung seiner Leidenschaft missmutig hin. Wenn, dann wollte er sich seinem Weib mit Leib und Seele hingeben. Seine Gedanken waren nun ohnehin abgelenkt und weilten bei dem ums Überleben kämpfenden Vieh. Widerwillig quälte er sich aus dem wohligen Bett, in dem sich Anna sofort auf dem frei gewordenen warmen Flecken mit einem bedauernden Seufzen einrollte. Die Gänsehaut verschwand nur langsam unter der Kleidung, die er sich eilig überstreifte, und sein Blut pochte immer noch verräterisch unter der Haut einiger besonders empfindlicher Körperstellen. Nach einem letzten zärtlichen Kuss schlich er aus dem Schlafgemach und ließ seine junge Frau äußerst ungern allein in der Dunkelheit zurück.
Burgl war vorausgeeilt und hatte unten in der Küche, früher als sonst, das Feuer wieder angefacht. Als Michael Burgls Reich betrat, stand bereits ein Teller mit mehreren dicken Scheiben Brot und eine Schüssel Rahm neben der Kerze auf dem spärlich beleuchteten Tisch. Sie hatte sich erst um sein leibliches Wohl gekümmert. Jetzt aber schickte sie sich an, im Schein der Feuerstelle in ihre kleine Kammer zu verschwinden, um sich für ihr Tagwerk anzuziehen. »Ich fürchte, dass mir das Vieh vom Bender nicht die Zeit lässt, in Ruhe zu essen. Mein Magen wird wohl ganz schön knurren, aber ich will nicht riskieren, dass mir die Kuh unter den Händen wegstirbt, weil ich zu lange gewartet habe.« Mit Bedauern ließ er den fetten Rahm stehen und schnappte sich nur eine Brotscheibe als Wegzehrung. »Hier, die Fackel hat die Magd vom Bender gleich hiergelassen.« Walburga wartete, bis er sich in seinen Mantel eingewickelt hatte, und reichte ihm die brennende Lichtquelle, ehe sie ihn mit gespielter Strenge und ernstem Blick antrieb und hurtig zur Tür hinausschob.
Michael kaute und würgte das trockene Brot hinunter. Mit der Fackel in der einen Hand leuchtete er den Weg aus. Mit der anderen schob er sich den letzten Bissen in den Mund, während er einer tiefen Pfütze auswich und mit einem großen Schritt über eine Runse stieg. Kalter Wind blies ihm ins Gesicht, als er den menschenleeren, dunklen Marktplatz überquerte, um weiter zum Haus des Ratsherrn Bender zu stapfen. Sein Weg führte ihn am Rathaus vorbei. Er war nun nicht mehr Nachrichter und Beisitzer und somit auch von den Sitzungen des Stadtrats ausgeschlossen. Es war schon Wochen, sogar Monate her, seit er das Gebäude von innen gesehen hatte. Bedauern hierüber empfand er nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Als Michael kurz danach den hohen Turm passierte, fragte er sich, ob Apollonia, zu deren Mann er gerade unterwegs war, ihrem Geliebten, dem Türmer Johann Peter Gerold, heute Nacht wohl wieder einen Besuch abgestattet hatte. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden ein Techtelmechtel unterhielten. Als er selbst vor nicht allzu langer Zeit noch städtischer Henker war, hatte er die Tochter des alten Bürgermeisters Conrat Korber einmal des Nachts dabei überrascht, wie sie die hölzerne Treppe des Turms heruntergestiegen war. Der Schrecken war ihr ordentlich in die Glieder gefahren und sie hatte ihn als Goldgräber beschimpft. Zu der Zeit war es durchaus noch seine Aufgabe gewesen, die Abtrittgruben zu leeren. Selbstverständlich bei Nacht, damit die Bürger dadurch nicht gestört wurden. Seit er mit ihrer Vertrauten Anna verheiratet war, hatte sich ihr Verhältnis jedoch gebessert und normalisiert. Soweit das überhaupt möglich war.
Etwa auf halber Strecke zwischen Hochwachtturm und Steinhaus bog Michael rechter Hand ab und hatte kurz darauf das Haus des Ratsherrn Burkhart Bender erreicht. Er kündigte sich nicht an der Pforte des Wohnhauses an, sondern umrundete das Gebäude, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Ein warmer Schein fiel auf die Gasse, als er die Stalltür öffnete. Beim Eintreten in den stickigen Dunst nickte er dem besorgten Hausherrn und dessen Magd kurz zu und grüßte.
»Sie ist schon ganz schwach. Es geht nicht vorwärts. Nach den Anstrengungen der vergangenen Stunden hat sie einfach keine Kraft mehr, das Kalb auszutreiben.« Der betagte Viehbesitzer verlor keine Zeit, Michael über die Lage zu informieren, während er sich fahrig mit Handrücken und Unterarm den Schweiß von der Stirn wischte. Burkhart Bender lehnte erschöpft an der schmutzigen Stallwand und stützte sich zusätzlich auf seinen Stock, den er immer wegen seines steifen Beins in Gebrauch hatte. Der ältere Mann trug ein faltiges Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, das ihm teilweise aus der verschmierten Hose hing. Offensichtlich hatte er bereits selbst vergebliche Versuche unternommen, die Geburt des Kalbs zum Ende zu bringen. Michael verschaffte sich schnell einen Überblick. Der Stall bot Platz für zwei Kühe, ein Schwein, die zugehörigen Ferkel und diverses Geflügel. Alle Tiere verhielten sich seltsam ruhig und beäugten den Neuankömmling aus sicherer Entfernung mit wachen Augen. »Hilf mir!«, gab er der Magd, die bislang ebenfalls erschöpft und verschlafen in einer Ecke gestanden hatte, eine knappe Anweisung. Unterdessen fing er selbst schon an, mit dem Fuß den Stalldreck und die frischen Fladen von der Kuh wegzuschieben. Die Frau tat es ihm gleich und Michael füllte den freien Platz sofort mit einer dicken Schicht frischen Strohs auf. Er drängte sich an dem Rind vorbei nach vorne bis zum Kopf. Dort band er das Seil, an dem es normalerweise geführt wurde, an einem Metallring fest. Jetzt waren die Bewegungen des Tieres eingeschränkt und er konnte gefahrloser ans Werk gehen. Wieder am Hinterteil angekommen, entledigte er sich flink seines Mantels und des Hemds. Solche Arbeiten verrichtete man am besten immer mit nacktem Oberkörper. Haut ließ sich leichter abschrubben und reinigen. Burgl, die unter anderem auch das Wäschewaschen erledigte, würde es ihm danken. Die Kleidungsstücke landeten an einem Haken an der Wand. Den kurzen bewundernden Blick der Magd nahm er nur beiläufig wahr. Er musste sich konzentrieren und richtig entscheiden. »Ihr kennt Euch doch gut mit Tieren und deren Körperinnerem aus. Denkt Ihr, dass das Kalb noch lebt?« Burkhart Bender klang wenig hoffnungsvoll und deutete mit seinem Stock auf den aufgedunsenen Leib der Kuh.
»Wir werden sehen.« Michael war immer äußerst vorsichtig mit irgendwelchen Voraussagen. »Nun denn …«, murmelte er vor sich hin und näherte sich entschlossen dem Hinterteil der Kuh. Sie lehnte mittlerweile zitternd an den Brettern, die einen Teil des Verschlags abtrennten. Das ließ nichts Gutes erahnen. »Ho, komm schon! Bleib stehen!« Noch ehe die Beine ihren Dienst versagten und kraftlos einknickten, hatte Michael dem Tier einen festen Klaps gegeben. Es half nichts. Mit einem jämmerlichen Muhen landete die schwarz-weiß Gefleckte halb auf dem Bauch und halb auf der Seite. Um ihr Maul hatte sich milchiger Schaum gebildet, der in langen, schleimigen Fäden in das Stroh tropfte. An den panisch aufgerissenen Augen konnte man überdeutlich erkennen, dass das Tier große Qualen litt. »Im Stehen hätte sie wenigstens noch ein wenig mithelfen können. So aber wird das eine einzige Schinderei.« Kopfschüttelnd hatte sich Michael kurz zu dem Ratsherrn umgedreht. Burkhart Bender steckte eine weitere Fackel in eine Halterung. »Wie kann ich Euch zur Hand gehen?« Offenes Feuer gab es sonst nie in seinem Stall, aber jetzt war gutes Sehen nun einmal wichtig und ein großer Bottich mit Wasser stand ja bereit.
»Ich brauche ein dünneres Seil.« Während die Magd sogleich mit dem Stock aufgescheucht wurde, humpelte der ältere Mann herüber, um wenigstens den Schwanz der Kuh so zu halten, dass er Michael nicht ins Gesicht schlagen konnte. Dieser ließ sich auf die Knie sinken und stützte sich mit dem linken Arm an dem massigen Tierkörper ab. Mit Wasser wurde der angetrocknete Kot ein wenig abgewaschen. Er streckte alle Finger seiner rechten Hand und drückte sie vorne an der Spitze zusammen. So als wollte er eine große Prise Mehl nehmen. Das Gewebe war durch das stundenlange Pressen stark durchblutet und geschwollen. Vorsichtig führte Michael zuerst seine Hand und schließlich den gesamten Unterarm in den warmen und stinkenden Leib der Kuh ein. Die ganze Prozedur rief ein erneutes Protestgeschrei des Tieres hervor. »Ist ja schon gut. Aber glaub mir, das war noch gar nichts. Du wirst dir gleich wünschen, dass es nur mein dünner Arm wäre, den du da herauspressen musst.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, verschwand er bis zur Schulter in der glitschigen Höhle. Michaels Kopf lag jetzt mit geschlossenen Augen auf dem Hinterteil. Er konzentrierte sich auf das, was er dort drinnen spürte und ertastete. Bei jeder Muskelkontraktion und bei jedem Pressen versuchte Michael, seinen Arm zu entspannen. Er arbeitete immer erst dann weiter, wenn der enorme Druck der starken Muskeln wieder nachließ. Der Gestank störte ihn nicht weiter. Er atmete durch den Mund. »Das Kalb kann ich jetzt fühlen«, fing er an, dem ungeduldigen Ratsherrn Bericht zu erstatten. »Ich habe ihm gerade einen Finger in den Mund gesteckt. Es saugt daran!«, rief Michael triumphierend aus und auch Burkhart Bender lachte erleichtert auf.
Die Augen immer noch geschlossen, zog Michael schwer atmend nachdenklich die Stirn in Falten. »Es liegt richtig herum … allerdings streckt es ein Beinchen nach hinten. Dadurch steckt es im Mutterleib fest.« Langsam tauchte sein kompletter Arm wieder auf. Ein Schwall aus Flüssigkeit und Gewebefetzen folgte und ergoss sich in das ausgelegte Stroh. Aber nicht nur der Arm glänzte im Schein der Fackeln. Sein ganzer Oberkörper war inzwischen mit Schweiß bedeckt und hatte sogar am Hosenbund bereits einen dunklen Rand gebildet. Zum Dunst im Stall mischte sich nun auch noch, wie beim Schlachten, ein metallischer Blutgeruch. Zeit zum Durchatmen blieb nicht. »Es muss raus – und zwar schnell! Gebt mir das Seil!« Michael winkte eilig die Magd heran. Mit einem besorgten Blick stellte der kundige Mann fest, dass das kraftlose Muttertier den Kopf nicht mehr anhob. Nur noch Geräusche wie kurze schrille Schreie drangen aus der gestreckten Kehle. Flink hatten seine Hände eine passende Schlinge gefertigt und er robbte auf Knien wieder näher an das Tier heran. »Gib nicht auf. Es ist ja gleich geschafft«, redete er beruhigend auf die Kuh ein. Auch wenn sie wohl keines seiner Worte verstand. Sein Arm fand auch mit dem Seil in der Hand den Weg von vorhin ohne Probleme. Michael ächzte und stöhnte inzwischen. Mit so einem großen Tier zu arbeiten, war anstrengend. Ratsherr Bender sah von außen nur, wie sich der junge Mann abmühte. Er schob, tastete und drückte, um immer öfter kurz zu verschnaufen. Schließlich schien er es geschafft zu haben, das Seil um die Vorderbeine des Kalbes zu legen, denn er stand auf und betrachtete das Hinterteil der Kuh, während er sich hastig den salzigen Schweiß aus den Augen wischte. Vorsichtig nahm er das Seil auf, das aus ihr heraushing. »Zuerst ganz sachte, damit sich die Schlinge enger zuziehen kann. Wenn wir zu sehr reißen, verletzen wir vielleicht das Kalb. Dann verlieren wir beide Tiere.« Michael wartete, bis sich die Magd neben ihn auf den Boden gesetzt hatte und ebenfalls das Seil fest in ihren Händen hielt. Begeistert sah sie nicht aus. Es war eine schmutzige Arbeit und sämtliche Kleider mussten von ihr vor dem nächsten Tragen erst gründlich gewaschen werden. Mit den Füßen stemmte sich Michael an der Kuh ab. Dann wickelte er sich das Seil ein weiteres Mal um die Hand, spannte seine Muskeln an und lehnte sich langsam mit gestreckten Beinen zurück. Zunächst geschah gar nichts. Nach und nach erhöhten die beiden Geburtshelfer ihre Zugkraft auf das gespannte Seil. Wieder gequältes Muhen. »Gleich presst die Kuh wieder … dann kräftig ziehen … jetzt!«, zischte Michael angestrengt mit gefletschten Zähnen und kurz darauf war es schließlich so weit. Das gedehnte Gewebe umspannte die kleinen, noch weichen Vorderhufe des Kalbes, denen alsbald das Maul und der ganze Kopf folgten. Der größte Teil war geschafft. Nun steckte nur noch die schmalere zweite Hälfte im Muttertier. Mit letzter Anstrengung glitt schließlich der schleimige Körper mit einem schmatzenden Geräusch heraus und landete im raschelnden Stroh. »Es rührt sich nicht!«, rief Burkhart Bender alarmiert aus. Er ließ den Schwanz los und kam näher, um einen Blick auf das Neugeborene zu werfen. Michael steckte seinen Daumen in das kleine Maul. Er entfernte den Schleim und fing danach an, mit einem Büschel Stroh kräftig über das nasse Fell zu rubbeln. »Fang schon an zu atmen.« Der erfahrene Mann ließ sich von den beiden Zuschauern nicht aus der Ruhe bringen. Er war noch nicht bereit aufzugeben. Mit schmerzenden Knien richtete er sich auf und schöpfte Wasser aus dem bereitstehenden Bottich. Das kalte Nass platschte auf den bis dahin reglosen Körper.
»Na also, warum nicht gleich so?« Durch die unsanfte Behandlung schoss Leben in das kleine Kälbchen, das jetzt benommen versuchte, den Kopf zu halten und sich zu orientieren. Sogar das Muttertier riskierte einen halblebigen Blick, schnaufte aber bereits deutlich entspannter. »Schafft es dort hinüber und trocknet es gründlich ab. Ich kann die Kuh jetzt noch nicht losbinden. Sie muss sich noch gedulden, ehe sie zu dem Kleinen darf.« Michael schob das Tier ein wenig zur Seite und überließ es dann der stolzerfüllten Magd, die weitere Versorgung zu übernehmen. »Hoffentlich hat sie nur ein Kalb getragen. Dann komme ich schneller in den Genuss einer Mahlzeit.« Michael grinste zufrieden, kniete sich wieder in das Stroh und wiederholte das ganze Prozedere. Bis zur Schulter in der Kuh steckend, tastete er erneut nach kleinen Hufen, einem Kopf oder nassem Fell. »Wenn Ihr bis jetzt nichts gefunden habt, dann wird das wohl alles gewesen sein«, unterbrach Burkhart Bender augenzwinkernd Michaels Anstrengungen. Er war dem jungen Mann wirklich dankbar für die Hilfe. Das Kälbchen würde ihm nach gewisser Zeit so einige Münzen einbringen. Der Ratsherr wartete, bis das Rind losgebunden war, aufstand und erste wackelige Schritte hinüber zu seinem Kalb unternahm, um den Geruch aufzunehmen und den kleinen Körper abzulecken. Dann füllte er eine Schüssel nach der anderen mit Wasser, um sie Michael über den verdreckten Arm zu schütten, während dieser kräftig über seine Haut rubbelte. Dankbar nahm der danach ein Tuch entgegen, mit dem er sich gründlich abtrocknete. »Wahrhaft vortreffliche Arbeit, Meister Kr…« Trotz des lobenden Inhalts seiner Worte verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht. Verlegen brach der ältere Mann ab, senkte den Blick und auch die Magd weiter hinten im Stall war merklich zusammengezuckt. Ganz in Gedanken hatte der Ratsherr die Anrede verwendet, die verpönt war und deren Gebrauch, spätestens seit der schriftlich festgehaltenen Ehrlichsprechung, unter Strafe stand. Er war nicht mehr Meister Kremer. Das Gesagte verursachte einen deutlich spürbaren Stich in Michaels Magengrube, aber bereits nach einem kurzen Augenblick hatte er sich wieder gefangen. »Ich denke, dass uns allen einige Stunden Schlaf fehlen. Ein gutes Mahl am Morgen wird die Welt wieder geraderücken.« Versöhnlich sah er zu Burkhart Bender, der erleichtert das freundliche Lächeln erwiderte. »Das denke ich auch!« Apollonia, die junge Frau des Ratsherrn, stand in der Tür und begutachtete grinsend das Ergebnis der überstandenen Schinderei. »Das Kalb wird gut von der Mutter und unserer Magd versorgt. Kommt! Ich stelle euch oben etwas zu essen bereit.« Sie lächelte immer noch, ließ ihren Gatten derweil passieren und hielt Michael danach ebenfalls die Stalltür auf. Zum wohlwollenden Lächeln kam nun allerdings noch ein anzügliches Funkeln in ihren Augen hinzu, während sie den Mann ihrer Vertrauten Anna völlig ungeniert musterte. Was sie da sah, schien ihr zu gefallen. Waren es doch definierte Muskeln an Bauch und Armen, die den jungen, starken Körper formten. So ganz anders als der welke Körperbau ihres eigenen Mannes, der in seinem doch schon höheren Alter so manches Gebrechen zu erdulden hatte. Michael beeilte sich mit dem Überziehen seines Hemds. Er mochte die lebenslustige Apollonia – so lange sie die Grenze nicht überschritt. »Ihr werdet Wymphen verlassen, oder? Es wird viel geredet. Eure Magd Walburga hat am Waschtag ihr Herz zu sehr auf der Zunge getragen und von Annas heimlichen Plänen erzählt. Nicht einmal mich hat sie eingeweiht.« Die direkte Frage und das Ansprechen einer Angelegenheit, die seiner Meinung nach Apollonia eigentlich nicht im Geringsten etwas anging, riss ihn aus seinen Gedanken und er blieb mit Zurückhaltung in der Tür stehen. »Die endgültige Entscheidung, zu ihrem Oheim nach Haydelberch zu gehen, liegt bei Anna. Sobald sie sich entschieden hat, wird sie es dir schon sagen«, erwiderte Michael nur knapp und wandte sich zum Gehen. Dennoch konnte er durchaus verstehen, dass sie die Neugierde plagte. Apollonia würde ihre Vertraute schmerzlich vermissen. Bedauernd verzog sie auf seine Antwort hin den Mund und winkte ihn durch die Kälte des Morgengrauens hinüber zum Haus.
Die beiden Männer hatten unten in der kleinen Küche Platz genommen und genossen die Wärme, die von den züngelnden Flammen in der Feuerstelle herüberstrahlten. Normalerweise wurden Gäste oben in der schön eingerichteten Stube empfangen, aber angesichts des Geruchs, den sie jetzt nach getaner Arbeit verströmten, hatte Apollonia ihnen das Betreten des Aufgangs mit strengem Blick untersagt. Da die Magd immer noch im Stall beschäftigt war, übernahm die Herrin des Hauses nun selbst die Bewirtung. Flinke Hände stellten Teller, Becher und Holzbretter mit geschnittenem Räucherschinken auf den Tisch. »Stärke dich. Du warst heute schon früh auf den Beinen.« Mit fürsorglicher Stimme forderte sie ihren Mann lächelnd auf, sich reichlich zu bedienen. Trotz des großen Altersunterschieds konnte Michael etwas Angenehmes im Umgang der beiden miteinander feststellen. Der Ratsherr warf seiner Frau immer wieder einen liebevollen und stolzen Blick zu, während sie weiter in der Küche hantierte, und auch Apollonia bedachte ihn beim Vorbeigehen immer wieder vertraut mit scheinbar zufälligen Berührungen an Arm oder Schulter. Von Anna wusste er, dass es eine arrangierte Heirat gewesen war und dass Apollonia zuvor mit Sicherheit so einigen guten Zuspruch von ihrem Vater erhalten hatte. Bis dahin eigentlich nicht allzu ungewöhnlich in den Kreisen der wohlhabenden Bürger. Die wenigsten jungen Frauen im heiratsfähigen Alter würden sich wohl um diesen älteren Mann mit seinen Gebrechen schlagen. Obgleich er einen beträchtlichen Besitz sein Eigen nennen konnte. Ihm schien das durchaus bewusst zu sein. Außerdem war es sicherlich auch seiner Gutmütigkeit und Großzügigkeit zu verdanken, dass seine schöne Gattin beinahe Narrenfreiheit genoss und nur zu oft mit Geschmeide und schönen Stoffen verwöhnt wurde. Hinzu kam allerdings, dass sich Apollonia die Dinge, die sie nicht in ihrem Ehebett bekam, von Zeit zu Zeit vom Wymphener Türmer Johann Peter Gerold holte. Ein Spiel mit dem Feuer, denn sie durfte auf keinen Fall schwanger werden. Selbst wenn ihr Mann vermutete, dass sie ihn hinterging, oder er es gar wusste und billigte, weil er vernarrt in sie war, so war es doch eine gänzlich andere Sache, ihren Leib anschwellen zu sehen, obwohl ihm die Manneskraft fehlte! So würde er vollends zum Gespött werden. Michael schüttelte leicht den Kopf. Darüber wollte er sich eigentlich keine Gedanken machen. Er hatte wahrlich genügend eigene Probleme. Schweigend saß er seinem Gastgeber gegenüber und kaute mit vollen Backen. Vor gar nicht allzu langer Zeit wäre es undenkbar gewesen, dass er aus denselben Krügen trank wie ein Ratsherr. Seinen eigenen, an dem zur eindeutigen Erkennung seines Besitzers kein Deckel angebracht werden durfte, hatte er an Wilhelm, den Mann seiner Schwester, weitergegeben. Auch musste er nicht mehr auf einem dreibeinigen Hocker Platz nehmen. Nein, er saß auf einer gezimmerten Bank. Nur das dünne Kissen hatte Apollonia mit einem mahnenden Blick weggezogen, ehe sich Michael mit seiner verschmutzten Hose daraufsetzen konnte. Er genoss die Stille. Es war kein peinliches Schweigen. Jeder hing einfach nur seinen Gedanken nach.
Diese Stille wurde mit einem Mal unterbrochen und nahm ein jähes Ende. Eilige Schritte waren zu hören, ehe die Tür zur Küche mit Schwung aufgestoßen wurde und drei Augenpaare deswegen fragend in ihre Richtung starrten. »Kommt schnell! Beeilt Euch!« Eine um Luft ringende Magd stand mit aufgerissenen Augen im Rahmen. Mit wedelnden Armen versuchte sie, ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
»Ist etwas mit dem Kalb?« Die Miene des Ratsherrn hatte sich augenblicklich verfinstert. Michael hingegen hielt sich nicht lange mit Fragen auf. Er war schon auf den Beinen und umrundete den Tisch.
»Ich kann nichts dafür. Ich war beschäftigt. Ich habe mich um das Kalb gekümmert. Ich hätte doch eh nichts tun können. Ich …« Ihre Stimme hatte inzwischen einen weinerlichen Ton angenommen. Ängstlich flogen ihre Blicke zwischen ihrem Herrn, der Herrin und dem Gast hin und her. »Ich, ich, ich …! Rück endlich mit der Sprache raus!« Michael schob ungeduldig die Hand der Magd vom Türrahmen weg, wo sie einen schmierigen Blutfleck hinterließ. Er eilte an dem Häufchen Elend vorbei und war draußen in der Dunkelheit verschwunden, noch ehe sie ihm eine Erklärung geben konnte.
Kaum hatte er den Stall betreten, sah er das ganze Ausmaß und blieb erst einmal stehen. Es waren nicht die Fackeln, die nachlässigerweise immer noch brannten. Es war auch nicht das Kalb, das nach einem schwachen Versuch aufzustehen hinten in der Ecke wieder in das Stroh plumpste. Die Magd war zu schnell gerannt und hatte ihn zu spät gesehen. Schmerzhaft trat sie Michael in die Ferse und prallte unsanft gegen seinen Rücken. »Barmherziger!«, stieß sie atemlos hervor. »So viel war es vorhin noch nicht! Wird mein Herr jetzt die Kuh verlieren? Ihr werdet doch etwas tun können, oder?« Die Magd bekreuzigte sich, verzog angewidert ihre Mundwinkel und sah dann beinahe flehend zu Michael hoch. Dieser bewegte sich langsam und ruhig auf die stehende Kuh zu, um sie nicht noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn sie jetzt eine unglückliche Bewegung tat, konnte sie das ihr Leben kosten. »Ihr hättet uns früher rufen sollen!«, flüsterte er vorwurfsvoll. Hinter sich hörte er einen würgenden Laut. Offensichtlich waren nun auch Apollonia und Burkhart Bender eingetroffen und konnten nun selbst das ganze Ausmaß der Misere in Augenschein nehmen. »Oh Mädchen, was machst du denn? Es war doch alles gut.« Niedergeschlagen betrachtete Michael kurz das gequälte Tier und überlegte. »Wie kann denn so etwas geschehen?« Voll Abscheu, aber doch fasziniert war Apollonia ein paar Schritte nähergekommen. »Es passiert zum Glück nicht allzu oft, aber hin und wieder geschieht es, dass die Kuh nach dem Kalben einfach nicht aufhört zu pressen.«
Eifrig nickte die Magd mit dem Kopf. »Ja! Genauso war es!«, stimmte sie Michael zu und bestätigte das Gesagte mit Nachdruck, indem sie mit gestrecktem Zeigefinger in die Luft stocherte, um dem Tier eindringlich die alleinige Schuld zuzuweisen.
»Sie presst immer weiter und ihre Muskeln schieben dadurch die Innereien nach außen.« Auch ohne seine Erklärung war für alle der dunkelrot glänzende, riesige Gewebesack sichtbar, in dem noch vor Kurzem das Kälbchen sicher herangewachsen war und der jetzt schlaff und ausgedehnt bis zu den Gelenken der Hinterläufe herabhing. »Die Schwierigkeit besteht darin, das Gewebe wieder in ihren Körper zurückzuschieben und an den ursprünglichen Platz zu verbringen, ohne eine der großen, dicken Adern zu verletzen. Andernfalls verblutet sie innerlich. Mal ganz abgesehen von den Schmerzen, die wohl nur derjenige nachempfinden kann, dessen Gedärme ebenfalls schon einmal aus dem Bauch hingen.« Seufzend machte sich Michael unter den Blicken der anderen erneut an die Arbeit. Mit beiden Händen griff er beherzt in die warme Masse, um sie in die schmale Öffnung zu stopfen, durch die das Kalb kurz vorher den umgekehrten Weg nach draußen genommen hatte. Michael versuchte, das lautstarke Brüllen zu ignorieren. Die Kuh musste die Prozedur über sich ergehen lassen und die Magd und der Ratsherr unterbanden ein Ausweichen, indem beide aus Leibeskräften am Schwanz zogen. So wurde das Tier an die Holzbretter gezwungen und konnte nicht flüchten. Nach und nach verschwand die dunkle, wabernde Masse wieder im Körperinnern. Michaels Arme zitterten nach der Anstrengung. Schwer atmend schaute er erschöpft an sich hinab. Nun war sein bis dahin sauberes Hemd doch hinüber. Er sah aus, als hätte er ein Schlachtfest veranstaltet. Er war mit allem Möglichen beschmiert und er stank erbärmlich. Die Kuh starrte mit abwesendem Blick vor sich hin und röchelte. Insgeheim hatte er wenig Zuversicht. Normalerweise starb ein Tier nach solch einem Martyrium innerhalb der nächsten Tage. »Mehr können wir nicht tun. Alles andere liegt jetzt nicht mehr in unseren Händen. Wollen wir das Beste hoffen«, beantwortete er die stumme Frage des Hausherrn wie immer vorsichtig und lächelte schwach. »Sucht trotzdem schon einmal nach einem anderen Muttertier, das das Kalb vielleicht als ihr eigenes annimmt.«
Was für eine Nacht. Michael befand sich auf dem Rückweg zum Brelschen Haus am Marktplatz, das seit wenigen Monaten sein neues und immer noch ungewohntes Zuhause war. Seinen Mantel hatte er nicht übergezogen, um ihn nicht zu verschmutzen. Auf Höhe des Rathauses verlangsamte er seine Schritte. Die Umrisse der Häuser verschwammen in unzähligen Graustufen im Zwielicht des beginnenden Tages. Er fröstelte und geriet kurz in Versuchung, direkt über den Marktplatz zum Haus zu gehen, um sich im Bett an seiner Frau zu wärmen. Dann jedoch überlegte er es sich anders und bog linker Hand ab. Sie würde ihn ohnehin sofort wieder vor die Tür setzen, sobald ihr sein strenger Duft in die Nase stieg. Michael schlenderte den steilen, menschenleeren Marktrain hinunter und erreichte kurz darauf sein Ziel, den Löwenbrunnen. Das plätschernde Nass füllte den untergestellten hölzernen Trog unaufhörlich bis zum Rand. Wenn kein Wasser entnommen wurde, floss alles Überschüssige in einem handbreiten Gerinne die Gasse entlang zum Stadttor hinunter. Michael legte Hemd und Mantel erschöpft beiseite. Ein kräftiger Schluck von dem kalten Wasser betäubte Mund und Hals. Dann verschwanden Hände und Arme unter der welligen Oberfläche. Die unzähligen Nadelstiche, die die Kälte verursachte, ignorierte er. Durch schnelles Rubbeln säuberte Michael seine Haut so gut es eben ging, zögerte, holte tief Luft und tunkte schließlich auch noch den ganzen Kopf und die Schultern unter Wasser. Der Trog schwappte über und durchnässte die Hosenbeine. Prustend tauchte er wieder auf und warf seine nassen Haare mit Schwung in den Nacken. Winzige Tropfen flogen in alle Richtungen. »He, ich habe mich heute schon gewaschen!«, vernahm er plötzlich lautstarken Protest hinter sich. Erschrocken fuhr Michael herum, denn er hatte nicht bemerkt, dass sich ihm jemand genähert hatte. Vor ihm stand Bertha Setzler und bemühte sich, ein empörtes Gesicht zu machen. Die hübsche Frau war ungefähr so alt wie er selbst. Fröstelnd zog sie ihr Schultertuch enger um sich und lächelte ihn schüchtern an. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, entschuldigte sie sich jetzt mit leiser Stimme. Unsicher strich sie sich eine dicke Strähne ihrer lockigen roten Haare aus dem Gesicht, wodurch kurz ihr Diebeswappen auf der Wange zum Vorschein kam. Sie trug sie immer offen. Nicht züchtig geflochten, gebunden und unter einer Haube versteckt wie die Wymphener Bürgerinnen. Und Michael wusste nur zu gut, dass die Haarpracht wie ein loderndes Feuer leuchtete, sobald die Sonne günstig stand und die Strahlen zwischen den widerspenstigen Locken tanzten. Michael hatte sich wieder gefangen und lächelte sie an. Ihr Herz hüpfte, als sich sein Grübchen vertiefte, und es fühlte sich beinahe so an, als hätte es einen Moment ausgesetzt, nur um danach umso schneller zu schlagen. Wie er so dastand. Beinahe keinen trockenen Faden mehr am Leib. Seine dunklen Augen ruhten auf ihr. Aus den schwarzen Haaren tropfte das Wasser und suchte sich seinen Weg den halbwegs entblößten Körper hinab. Vertraut ging sie weiter auf ihn zu und blieb erst dicht vor ihm stehen, um seine ebenmäßigen Konturen zu betrachten. Sie konnte nicht anders. Schon immer suchte sie seine Nähe, wurde magisch von ihm angezogen. Auch wenn er sie noch nie dazu ermutigt hatte – zumindest nicht bewusst. Er war eben einfach freundlich zu ihr. So wurde sie sonst von keinem anderen Mann behandelt. Berthas Wangen pochten, verfärbten sich und zeigten nun ein gesundes, frisches Rot. Sie wusste genau, dass ihr die Gefühle für ihn nur allzu deutlich zu Gesicht standen. Und wenn schon. Es änderte nichts daran, dass er inzwischen mit einer Bürgerin verheiratet war und sein Herz ihr gehörte. Bertha hätte ihn sogar genommen, als er noch Wymphens Scharfrichter gewesen war. Ihr Lächeln verschwand. Ungeniert betrachtete Bertha die Gänsehaut, die sich in der kühlen Morgenbrise um seine Brustwarzen gebildet hatte und sie zusammenzog. Mit ihrem Finger vereinte sie dort zwei Wassertropfen. Michael zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück, ohne ihrem enttäuschten Gesichtsausdruck Beachtung zu schenken. Sie verschränkte die Arme distanziert vor ihren ausladenden Brüsten, die noch an Umfang zugelegt hatten, seit sich auch ihr Bauch von Monat zu Monat mehr wölbte. Das Tragen eines Leibchens würde schon bald überhaupt nicht mehr möglich sein. Der Bund saß unter den Brüsten und die Falten ihres Rocks standen überdeutlich auseinander. Michael betrachtete sie. Die Rundungen standen ihr gut und machten ihren Körper weicher. Sie war wirklich schön – aber eben eine stadtbekannte Hübschlerin. Wie ungerecht es doch manchmal zuging. Anna, seine eigene Frau, hatte leider ein Leben verloren. Bertha hingegen erwartete ein Kind und konnte doch nichts weniger gebrauchen als ein schreiendes Balg, das sie durchbringen musste und dem sie nicht einmal den Namen des Vaters nennen konnte. Michael spürte einen Stich in der Magengegend. Hätte er denn diesem verlorenen Kind, Annas Kind, den Namen nennen können? Nein. Nicht mit Sicherheit. Aber es wäre immerhin in der Obhut einer Familie aufgewachsen. Anders als der Spross einer Hure. Er blinzelte und hoffte, dass sie seine Gedanken nicht erraten hatte. Michael räusperte sich. »Äh, was machst du hier – um diese Zeit?« Bertha wich seinem Blick aus.
»Ich hatte zu tun – und du?«, konterte sie sogleich mit einer Gegenfrage. »Solltest du nicht in diesem großen Haus dort oben am Marktplatz in deinem warmen, weichen Bett liegen und deine Frau beglücken?«, funkelte sie ihn an und am liebsten hätte sie sich sogleich auf die Zunge gebissen. Sie beneidete ihn um sein neues Leben. Jetzt gehörte er noch weniger zu ihrer Welt. »Und?«, fragte sie nochmals nach. Diesmal mit weicherer Stimme. »Was machst du also um diese Zeit hier draußen?« Michael kam näher und zupfte Bertha vorsichtig Stroh aus den Haaren. Offensichtlich hatte vergangene Nacht ein Bursche ihre Dienste in einer Scheune in Anspruch genommen. Vielleicht lag derjenige ja immer noch dort, nachdem sich die Hübschlerin in den frühen Morgenstunden einfach weggestohlen hatte. Sie sollte in ihrem Zustand nicht mehr ihren Körper anbieten. Es waren offensichtlich nur noch wenige Wochen bis zu ihrer Niederkunft. Michael schüttelte unbewusst den Kopf. Natürlich war das nicht möglich. Sie brauchte die Münzen. Es gab niemanden, der für sie sorgte. »Ich hatte zu tun … hab dem Bender beim Kalben geholfen.« Bertha fing an zu kichern und auch Michael grinste. »Natürlich hat nicht der Bender gekalbt, sondern seine Kuh.« Dann wurde er wieder ernst. »Es gab Probleme bei der Geburt. Die Kuh wird wohl nicht überleben.« Während er sprach, ruhte sein Blick auf ihrem runden Leib. Bertha sah ebenfalls nach unten und strich grübelnd über die üppige Wölbung. Die beängstigenden Gedanken hingen beinahe greifbar zwischen ihnen. »Es wird schon gut gehen«, nickte Bertha zuversichtlich. »Du kannst mir ja beistehen … wenn es so weit ist, meine ich.« Zaghaft lächelte sie ihn an. Eilig winkte Michael ab. »Oh, das ist etwas für Frauen. Also ich denke, dass du da bei einer Hebamme wesentlich besser aufgehoben bist. Oder du lässt einfach nach meiner Schwester schicken. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun. Da bin ich sicher. Das muss aber bestimmt nicht heute entschieden werden.« Michael drückte ihr dabei leicht den Arm und wollte sich schon abwenden, um sich auf den Heimweg zu machen.
»Versuchst du, mich abzuweisen, weil schon feststeht, dass du sowieso weggehen wirst? Gib doch einfach zu, dass du weißt, dass du zur Zeit meiner Niederkunft Wymphen bereits verlassen haben wirst! Hättest du dich denn noch verabschiedet, oder wärst du einfach klammheimlich bei Nacht und Nebel verschwunden?«, ereiferte sich Bertha vorwurfsvoll. Verletzt zog sie einen Schmollmund. »Ich bin nicht dumm. Man erzählt sich so einiges auf den Straßen und Gassen.«
Michael blieb stehen. »Anscheinend nicht nur auf den Straßen und Gassen, sondern auch in sämtlichen Betten der Stadt.« Seine Stimme hatte einen schärferen Klang angenommen. Er besann sich jedoch und fügte etwas versöhnlicher hinzu: »Bertha, sieh mal, ich bin nicht für dein Leben verantwortlich. Und du solltest dein Herz nicht so sehr an mich hängen«, fand er ungewöhnlich deutliche Worte. »Anna ist meine Frau und so Gott will, werden wir Kinder haben. Eben für diese Kinder werde ich, werden wir hier vermutlich alles zurücklassen. Denkst du denn, dass ich sie dem Gerede der Menge aussetzen will? Sie, die Nachkommen des ehemaligen städtischen Henkers von Wymphen? Nein! Dann lieber eine ungewisse Zukunft in Haydelberch. Auch Anna denkt so, und wenn sie dafür bereit ist, dann bin ich es ebenso.«
Bertha schwieg betroffen und sie hielt ihn nicht auf, als er sie in der Morgendämmerung am Brunnen zurückließ.
Anna verzog das Gesicht, zerrte verschlafen die Decke über die gerümpfte Nase und drehte den Kopf in ihr Kissen. Dort drückte sie an dem groben Stoff so lange schmerzhaft die Nase platt, bis sie nach einem dumpfen Stöhnen doch wieder auftauchen musste, um Luft zu holen. Sofort stieg ihr neuerlich dieser penetrante Stallgeruch in die Nase. Michael lachte leise und schmiegte sich nur noch enger an ihren nackten Körper. Er hatte sich ins Schlafgemach geschlichen und unten am Fußende des Bettes leise seine stinkenden Kleider abgelegt. Danach war er über Annas reglosen Körper gestiegen und hatte es sich unter den Decken bequem gemacht. Das Zimmer lag im Zwielicht und unten verursachte Burgls geschäftiges Treiben dumpfe Geräusche. Schon bald mussten sie das wohlige Lager verlassen, aber bis dahin wollte er noch jeden Moment mit seiner Frau genießen. Schließlich gab es auch noch Einiges nachzuholen. »Puh! Hat sich dafür die Anstrengung heute Nacht denn wenigstens gelohnt? Warum hast du dich nicht gewaschen?« Anna schnüffelte übertrieben an ihm herum, schmiegte sich aber dann doch schnurrend wie eine Katze an ihn. »Ich habe mich gewaschen!«, protestierte Michael. Er legte seine vom Brunnenwasser immer noch kühlen Arme um sie und drückte sie fest an seinen nackten Körper. »Ein wenig zumindest«, fügte er murmelnd hinzu und erntete einen Knuff in die Seite.
»Was ist passiert?«, fragte Anna schließlich nach. »Du warst lange weg.« Michael war merkwürdig still. Er suchte nach den richtigen Worten. »Ich habe dem Kälbchen das Leben gerettet«, begann er schließlich. »Aber die Kuh wird höchstwahrscheinlich sterben.« In seiner Kehle hatte sich ein Knoten gebildet. »Na ja, so ist das Leben, nicht wahr?« Es gelang ihm nicht, seiner Stimme einen unbeschwerten Klang zu geben. »Es ist immer schwer, vorherzusagen, wie eine Geburt verläuft. Du hast ja schon am eigenen Leib erfahren, welche Gefahren es bergen kann, neues Leben zu schenken. Das habe ich vorhin auch schon der Bertha gesagt.«
Anna horchte auf, legte ihm ihre Finger auf die Lippen und versuchte, ihn mitten in der Rede zum Schweigen zu bringen. »Bertha? Du hast dich mit Bertha getroffen?«
Michael versuchte, sie zu beschwichtigen. Die hübsche Rothaarige war immer ein etwas heikles Thema. Hin und wieder flammte Annas Eifersucht grundlos auf.
»Ich habe mich nicht mit ihr getroffen – sie ist mir eher zufällig am Brunnen über den Weg gelaufen«, winkte er mit knappen, banalen Worten ab. »Wie auch immer … ich weiß, dass man das nicht ganz vergleichen kann, aber … ich hätte lieber gesehen, wie dein Bauch wächst, und heute hätte ich lieber dein, unser Kind geholt, als bis zu den Schultern in einem Rindvieh zu stecken.« Nachdenklich fuhr Annas Hand kreisend über seinen Rücken. »Irgendwann wirst du unserem Kind auf die Welt helfen. Davon bin ich überzeugt. Es wird alles gut gehen. Ich werde leben und das Kind wird leben. Du wirst schon sehen.« Sie hatte ohne jeden Zweifel gesprochen und es dauerte eine ganze Weile, ehe Michael vorsichtig wieder das Wort ergriff. »Du sagst, dass ich unser Kind holen werde. Eigentlich wäre das eher Gretas Aufgabe. Bedeutet das, dass wir Wymphen verlassen und sie dir deswegen nicht beistehen kann? Hast du dich also entschieden?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Die Leute reden schon, weißt du?« Natürlich wusste Anna sofort, was er meinte. Seine Anspannung blieb ihr nicht verborgen. Michael hatte ihr schon vor Monaten versichert, dass er jegliche Entscheidung, die sie treffen würde, ohne Einwände akzeptieren würde. Für ihn war es nur von Bedeutung, dass sie die Zeit, die ihnen geschenkt war, miteinander verbrachten. An welchem Ort, war egal. Gemeinsam würden sie schon alle Hürden meistern.
»Ich denke ständig darüber nach. Es fällt mir wirklich schwer. Die Entscheidung ist nicht einfach. Wir würden hier unsere Familien zurücklassen. Wenn wir einmal ihre Hilfe benötigen sollten oder sie die unsere, dann sind wir zu weit weg. Wir wären auf uns gestellt. Aber in Haydelberch kennt uns dafür niemand. Wir könnten völlig unbehelligt ein neues Leben beginnen – gemeinsam. Ohne dass jemand von unserer Vergangenheit weiß.«
Michael hatte ihr schweigend zugehört und massierte ihr dabei sanft den Rücken.
»Ein schöner Gedanke«, murmelte Anna und fuhr ihm durch seine feuchten, kalten Haare. »Und er ist es wert, verwirklicht zu werden. Auch wenn wir ihn nicht bis zum Ende überblicken können – unser Weg liegt uns bereits zu Füßen. Wir müssen ihn nur noch beschreiten.«
1 Die Ehrlichsprechung von Scharfrichtern ist erst seit Ende des 18. Jahrhunderts möglich.
Mittwoch, 13. April 1524
Anna hatte sich für die Vorbereitung der Reise nun beinahe zwei Wochen Zeit gelassen. Röcke, Leibchen und Decken wurden fein säuberlich zusammengelegt, Kisten mit Bändern, Hauben und Alltagsgegenständen wurden gepackt und in der kleinen Kammer gelagert, die Annas verstorbenem Bruder während seiner kurzen Zeit in Wymphen als Unterkunft gedient hatte. Für ihre eigenen Sachen würde der meiste Platz auf dem Karren benötigt werden. Michael besaß nicht wirklich viele Kleidungsstücke, die er aus seinem alten Leben als Scharfrichter mit in sein neues genommen hatte. Mit der Zeit würde er sich aber schon noch weitere Hosen, Hemden und Schauben schneidern lassen – in guter Qualität und keinesfalls in der Farbe Rot. Diese hatte er wohl schon so oft getragen, dass es für zwei Leben reichte. Zufrieden stützte Anna ihre Hände auf ihren Hüften ab und betrachtete schnaufend ihr bisheriges Werk. Staub tanzte im hellen Licht, das durch das schmale Fenster in die stickige Kammer fiel. Langsam umrundete sie mit verschwitzten roten Backen den Berg an lieb gewonnenen und gewohnten Dingen, den sie angehäuft hatte und der ihnen den Neubeginn im unbekannten Haydelberch etwas heimeliger machen sollte. Sie hielt inne, blies sich eine blonde Strähne aus der Stirn und legte diese dann nachdenklich in Falten. Hatte sie an alles gedacht? Nichts vergessen? War alles sicher verstaut? Wieder und wieder ging sie es durch. Abgelenkt wurde sie jetzt jedoch durch die Schritte auf der Treppe. Sie wandte den Kopf und lehnte sich leicht nach hinten, um nun durch den Türrahmen freie Sicht auf den lang gestreckten Holzboden zu haben, dessen knarzende Dielen vorne am Aufgang an einem dunklen Loch endeten. Eben in diesem erschienen nun Michales Kopf, seine Schultern und nach und nach sein ganzer Körper. Auf der letzten Stufe drehte er sich um und lächelte seine Frau an, während er sich auf dem knarzenden Holzgeländer abstützte. Langsam kam er ihr entgegen, schielte beim Vorbeigehen kurz zur Tür ihres Schlafgemachs, widerstand der Versuchung, sie dort hineinzulocken, und setzte seinen Weg fort. Anna verharrte ganz still und betrachtete ihn verträumt, bis er schließlich ganz dicht vor ihr stand. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Lag es an seiner wohlgewachsenen Gestalt? Seinen ebenmäßigen Gesichtszügen mit den vollen, schön geschwungenen Lippen? Diesen langen Wimpern, die die dunklen Augen wie dichte Kämme umrahmten? Oder war es gar nicht so sehr das Aussehen? Denn schon bei ihrem Peiniger Feit Morstatt war es so gewesen, dass sich hinter einem ansehnlichen Antlitz ein dunkles Denken und Handeln verborgen hatte. War es also eher seine Gutmütigkeit, sein gerechtes Wesen? Diese Ruhe, die er ausstrahlte und ihr das Gefühl gab, dass sie ihm blind vertrauen konnte und in ihm ein Heim gefunden hatte, wenn er sie genau so wie jetzt ansah? Wahrscheinlich von allem etwas. Anna sah Michael in die Augen und erwiderte sein Lächeln. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Seine Arme umfingen sie bereitwillig, obwohl sie in dem abgenutzten Kleid, das sie absichtlich für diese Arbeit angezogen hatte, und mit ihren strähnigen Haaren wohl nicht gerade verführerisch aussah. Anna sank gegen ihn, atmete seinen wohlbekannten Geruch ein und genoss die warme Hand, die auf ihrem verspannten Rücken auf und ab fuhr und schließlich sanft ihren Nacken massierte. »Der Karren kann beladen werden. Ich habe ihn mir gründlich angesehen und ausgebessert. Jetzt wird er den Weg bis nach Haydelberch wohl überstehen«, brummte seine tiefe Stimme leise an ihrem Ohr. »Dann ist er also gekommen … unser letzter Tag in Wymphen. Morgen brechen wir wirklich auf.« Anna antwortete nicht, sondern hing ihren Gedanken nach. Sie selbst konnte es auch noch nicht so recht glauben. Die letzte Nacht. Im Morgengrauen würden sie ihre Lieben und das bisherige Leben hinter sich lassen, um sich auf die lange Reise nach Haydelberch zu begeben. Während der Arbeit hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Aber in ruhigen Momenten wie diesen machte sich immer wieder dieses flaue Gefühl in ihrer Magengrube breit. Wie würden sie die lange Strecke meistern? Wer würde ihnen unterwegs begegnen? Hoffentlich niemand, der ihnen Böses wollte. Die wertvolle Ladung, die sie mit sich führten, konnte für zwielichtige Gestalten schon eine Versuchung sein. Der wilde Haufen um Jäcklein Rohrbach hätte unter Umständen die Dinge auf dem Karren als kleine Wiedergutmachung angesehen, wenn Anna und Michael ihnen im letzten Jahr begegnet wären, als die wütenden Bauern das Chorherrenstift belagert hatten. Und Michael war nunmehr ein gewöhnlicher Reisender. Kein auffällig gekleideter Scharfrichter mehr, dem man tunlichst aus dem Weg ging, um eine unheilvolle Berührung zu vermeiden. Diese unsichtbare Grenze, die gängiges Recht um ihn gezogen hatte und vor der jedermann zurückgeschreckt war, bestand einfach nicht mehr. Gerade jetzt jedoch wäre ein solcher Schutzschild von Nutzen. »Was?« Anna blinzelte. Sie war ganz in Gedanken versunken gewesen, bis Michael sie leicht angestupst hatte.
»Soll ich schon ein paar Kisten und Säcke mit nach unten schleppen und aufladen?«, wiederholte er das Gesagte noch einmal schmunzelnd.
»Oh, äh, natürlich. Ich sehe ein letztes Mal in die Schränke und Truhen und helfe dann Burgl mit den Vorräten.« Sie stahl sich liebevoll einen Kuss und verschwand geschäftig in der Schlafkammer.
Durch das ständige Einnicken und Hochschrecken hatte Anna in der Schwärze gänzlich das Zeitgefühl verloren. War sie eben erst zu Bett gegangen oder würde es bald schon wieder an der Zeit sein, aufzustehen? Bereits unzählige Male hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Sogar Michael hatte schon seinen Arm hinter sich gestreckt und schwer auf ihrem wippenden Schenkel abgelegt, um sie wortlos und sanft zu ermahnen, endlich die nervösen, kreisenden Bewegungen ihres Fußes sein zu lassen. Angespannt wartete sie ungeduldig auf die vertrauten Geräusche aus der Küche, die den anbrechenden Tag ankündigten und oft schon kurz nach dem Hahnenkrähen begannen. Ungezählte Augenblicke später vernahm sie die ersehnten Laute. Mit pochendem Herzen tastete sie in der Dunkelheit nach Michaels warmem Körper. »Ich gehe Burgl zur Hand. Du kannst ja noch ein wenig liegen bleiben … aber nicht zu lange. Wir sollten nicht allzu spät aufbrechen.« Neckisch knabberte sie an seinem Ohr und ohne auf eine Antwort zu warten, krabbelte sie recht unsanft über ihn hinweg, raffte im Dunkeln Hemd, Leibchen und Rock zusammen und war durch die Tür verschwunden, um sich unten vor dem wärmenden Feuer anzukleiden.
»Grüß dich, Kind«, wurde sie warmherzig von Burgl empfangen. Die alte Frau stand gebückt an der Feuerstelle und stocherte das immer noch glimmende Holz in die richtige Lage, um trockene Scheite nachzulegen. Ächzend stemmte Walburga Öffinger sich danach an der Wand ab und legte die andere Hand rücklings auf ihrer schmerzenden und steifen Kehrseite ab, während sie den eisernen Schürhaken wieder in der Ecke ans Gemäuer lehnte. Es dauerte einige Schritte, bis sie wieder aufrecht gehen konnte, ohne die Luft anzuhalten. Anna widerstand dem Drang, ihrer Amme aus Kindertagen einen stützenden Arm anzubieten. Stattdessen zupfte sie schweigend die Falten des Rocks zurecht und ließ sich bereitwillig beim Schnüren des Leibchens helfen. Das letzte Kleidungsstück blieb auf dem Tisch liegen. Auf das Aufziehen der Haube verzichtete Anna vorerst noch. Hier im Haus brauchte sie sich wegen ihrer kurzen Haare nicht zu schämen. »Das war dann wohl auch das letzte Mal, dass ich dir beim Ankleiden geholfen habe.« Die alte Frau übte leichten Druck auf Annas Schultern aus, um sie zu sich umzudrehen. Der wehmütige Klang der Stimme ließ Anna schwer schlucken. Tapfer lächelnd drückte Burgl sie fest an ihren ausladenden Busen. Anna schaffte es nicht ganz, den massigen, weichen Körper vollständig zu umfassen. »Ach! Du musst erst einmal etwas in den Bauch bekommen!« Energisch übernahm die alte Frau wieder das Kommando, schob sie von sich weg und hantierte mit Tellern und Bechern. Aber Anna wurde es nur noch schwerer ums Herz. Ihr entging nicht, dass die resolute, stämmige Frau trotzdem hin und wieder in ihre Schürze schnäuzte und sich verstohlen über die Augen wischte, ehe sie verschwand, um auch der Hausherrin beim Aufstehen und Ankleiden zur Hand zu gehen. Und sie sollte heute gewiss nicht die Einzige sein, von der sich die junge Frau verabschieden musste, ohne zu wissen, ob sie ihre Lieben je wiedersehen würde. Burgl war nicht mehr die Jüngste und ihre Mutter Amalia, die sich eben zusammen mit der Magd zu ihr in die Stube schleppte, um sich dann schwach auf die Bank fallen zu lassen … nun ja, wer konnte schon wissen, wie lange sie noch lebte? Anna seufzte traurig und machte sich schweigend daran, für alle eine frühe Mahlzeit zuzubereiten.
»Brrr … draußen ist es ganz schön kalt.« Michael rieb sich die Hände, während er, von einem kühlen Luftzug begleitet, in die Küche polterte. Er hatte sich kurz nach ihr aus dem Bett gequält und sich sofort auf den Weg zum Stall gemacht. So angespannt wie Anna heute war, hätte sie ihn zuvor eh nicht in Ruhe essen lassen. »Der Braune ist angespannt und du solltest noch ein paar zusätzliche Decken hinter den Bock legen.« Annas zaghaftes Lächeln und kurzes Nicken war die einzige Antwort, die er erhielt. Beim Essen herrschte bedrücktes Schweigen. Die Stunde des Abschieds nahte unaufhaltsam. »Das Leben hast du ihr gelassen … und doch nimmst du sie mir auf andere Art fort.« Amalias leise, dünne Stimme zitterte und doch war dieser Vorwurf, diese Beschuldigung, so übermächtig und wog schwer. Sie wickelte sich Wärme suchend in ihr Schultertuch ein und streifte Michael mit einem anklagenden Blick, ehe sie wieder stumm ins Feuer starrte. Er antwortete nicht, sondern kniff nur angestrengt die Lippen aufeinander. »Mutter, das haben wir doch alles schon besprochen«, ergriff Anna erschöpft Partei für ihren Mann. »Wir werden in Haydelberch ein besseres Leben haben. Ist es nicht das, was sich jede Mutter sehnlichst für ihr Kind wünscht?« Versöhnlich schmiegte sie sich an die ältere Frau, der jetzt Tränen über die eingefallenen Wangen liefen, und wiegte sie tröstend hin und her.
Anna hatte sich vorgenommen, sich nicht umzudrehen. Der Abschied in der Küche war auch so schon tränenreich genug gewesen. Ihre Mutter Amalia hatte sich schluchzend an sie geklammert und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Erst als Burgl langsam, aber bestimmt Finger um Finger aus den Falten des Umhangs gelöst und ihre Herrin auf den Hocker neben dem warmen Feuer bugsiert hatte, konnte Anna ihrem Mann nach draußen folgen. Erneut brannten Tränen in ihren Augen und der Knoten in ihrem Hals schmerzte, als die ältere Frau sie liebevoll auf die Stirn küsste. Die nassen Wangen straften Burgls aufmunterndes Lächeln Lügen. »Gib gut auf sie acht!« Mehr mahnende Worte konnte sie Michael nicht mit auf den Weg geben. Ihre Stimme brach ab und ihr Kinn zitterte schon wieder verdächtig. Er nickte ihr ernst zu und half dann seiner jungen Frau, auf den Bock zu klettern. Kaum hatte sich der Karren in Bewegung gesetzt, war Annas Vorsatz auch schon vergessen. Sie drehte sich um und schaute zurück zu dem Haus am Marktplatz, in dem sie nicht einmal ein ganzes Jahr gelebt hatte. Burgl stand immer noch mitten auf der Gasse und knetete ihre Schürze. Heftig winkend erwiderte Anna den letzten Abschiedsgruß der Magd, ehe sie sich, blind vor Tränen, wieder in Fahrtrichtung drehte und ein Schluchzen unterdrückte. Langsam holperte der Karren, dessen Ladefläche mit grobem Tuch vollständig abgedeckt war, um die geladenen Waren vor neugierigen Blicken zu schützen, die Salzgasse hinunter in Richtung Adlerbrunnen und Haupttor. Geschickt lenkte Michael das große, braune Zugpferd, mit dem Anna im letzten Winter hier in Wymphen angekommen war. Von Zeit zu Zeit bremste er an arg abschüssigen Stellen der langen Gasse oder schnalzte mit der Zunge, um dann wieder mehr Bewegung in den Gaul zu bringen. Anna hing still ihren Gedanken nach. Die Sonne war zwar schon aufgegangen, aber die hohen Häuser und die dunklen, regenschweren Wolkenberge schluckten das gar so spärliche Tageslicht beinahe komplett. Sie ließ sich durch die zwielichtigen Schatten der Gasse schaukeln. Ihr Brauner, dessen Zerrung seit der Ankunft in Wymphen gut verheilt war, bewegte sich mit gemächlicher Gangart. Michael gab die Zügel frei und so trottete das schwere Tier mit hängendem Kopf vorwärts. Außer ihnen war noch niemand so früh unterwegs und die, die schon wach waren, erledigten erst alle Aufgaben, die in der Wärme der Küchen und Stuben anfielen, ehe sie sich nach draußen in die Kälte wagten.