Die Rettung - Joseph Conrad - E-Book

Die Rettung E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Mit hinreißender Kraft und farbenreichen Bildern erzählt Joseph Conrad eine Geschichte um Treue und Verrat. Bei den »glitzernden Untiefen« der Südsee erfahren seltsame Menschen ebenso seltsame Prüfungen. Das wahre Abenteuer ist nicht das der Rettung einer gestrandeten Jacht und ihrer in Bedrängnis geratenen Besitzer, nicht der Kampf um die Herrschart in jener unzugänglichen Region – es ist das Abenteuer eines festen Herzens, das jäh verwundet wird. Die Abenteurergeschichte ist eine Liebesgeschichte. Kapitän Tom Lingard findet sich unversehens im Bann der schönen, kühnen und verheirateten Edith Travers. Zwei starke Charaktere, deren Leidenschaft nach Erfüllung schreit. Lingard aber, Mann der Tat und des Traums, vergißt in der Stunde der Bezauberung das Versprechen, das er Hassim und Immada, dem prinzlichen malaiischen Geschwisterpaar, gegeben hat: ihm sein Reich wiederzugewinnen. Aus diesem Verrat und aus Ediths Versäumnis, eine entscheidende Botschaft zu übermitteln, erwächst die Katastrophe: das Gesetz der eigenen, unvermittelt in Frage gestellten Existenz behauptet sich. Hinreißend sind die Kraft und die Bildhaftigkeit seines Erzählens, das eine Welt in der Vielfalt ihrer Erscheinungen beschwört.

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Seitenzahl: 683

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Joseph Conrad

Die Rettung

Eine romantische Geschichte von den Untiefen

Aus dem Englischen von Hermann Stresau

FISCHER E-Books

Inhalt

[Hinweis][Widmung]Vorbemerkung des AutorsErster TeilDer Mann und die BriggIIIIIIIVZweiter TeilDas Gestade der ZufluchtIIIIIIIVVVIVIIDritter TeilDie GefangennahmeIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXVierter TeilDas Geschenk der UntiefenIIIIIIIVVFünfter TeilZwischen Ehre und LeidenschaftIIIIIIIVVVISechster TeilDie Forderung des Lebens und der Zoll des TodesIIIIIIIVVVIVIIVIIIIX

Die englische Originalausgabe erschien 1920 unter dem Titel ›The Rescue – A Romance of the Shallows‹

 

FREDERIC

COURTLAND PENFIELD

dem letzten Botschafter

der Vereinigten Staaten von Amerika

am inzwischen dahingegangenen

Österreichischen Kaiserhof,

ist diese Geschichte aus alten Zeiten

zugeeignet in dankbarer Erinnerung

an die Rettung, die er

gewissen bedrängten Reisenden

hat zuteil werden lassen

im großen Weltsturm

des Jahres 1914

Vorbemerkung des Autors

Drei meiner Romane mußten eine Unterbrechung erleiden; von ihnen war es ›Die Rettung‹, die am längsten auf einen Gunstbeweis des Schicksals zu warten hatte. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich hier ausspreche, daß ›Die Rettung‹ genau zwanzig Jahre lang darauf zu warten hatte. Ende des Sommers 1898 legte ich das Manuskript beiseite, und etwa Ende des Sommers 1918 nahm ich es wieder zur Hand, diesmal mit dem festen Willen, es abzuschließen, und getragen von dem unvermittelten Gefühl, der Aufgabe nunmehr gewachsen zu sein.

Das soll nicht heißen, ich hätte mich dem Buche mit Begeisterung zugewandt. Ich war mir der Gefahren eines solchen Abenteuers sehr wohl, ja, vielleicht allzusehr bewußt. Die erstaunliche Sympathie, die meinen Arbeiten von Menschen der unterschiedlichsten Temperamente, Ansichten und literarischen Geschmacksrichtungen seit Jahren entgegengebracht wird, hat mir viel, ja alles bedeutet – nur hat sie mir nicht jenes anmaßliche Selbstvertrauen eingeflößt, das dem Abenteurer zwar gelegentlich sehr zustatten kommt, ihn am Ende jedoch dem Galgen zuführt.

Da ich in diesen für die Gesamtausgabe meiner Bücher niedergeschriebenen Vorbemerkungen des Autors vor allem anderen nach rückhaltloser Offenheit strebe, beeile ich mich zu versichern, daß meine Hoffnung sich nicht auf meine angeblichen Verdienste stützte, sondern auf die Erwartung, meine Leser würden mir auch weiterhin geneigt sein. Ich möchte gleich sagen, daß meine Hoffnung in einem Umfang gerechtfertigt wurde, der in keinem Verhältnis zu meinem Verdienst steht. Mir wurde eine denkbar rücksichtsvolle, behutsam ausgedrückte, von aller Gegnerschaft freie Kritik zuteil, die sich im Kern als so einsichtsvoll erwies, daß ich selber zutiefst davon bewegt wurde. Zugleich überstieg die Summe des Lobes die kühnsten Träume der Habsucht – ich meine damit die Habsucht eines Künstlers, die ihre Schätze in den Herzen von Männern und Frauen sucht.

Nein! Die anfänglichen Ängste mögen wie immer beschaffen gewesen sein, dies Abenteuer jedenfalls sollte nicht traurig enden. Wieder einmal war das Glück dem Kühnen günstig; und doch habe ich nie die scherzhafte Übersetzung von audaces fortuna juvat vergessen, die mir mein Erzieher einmal bot, als ich noch ein Knabe war: »Die Kühnen werden gebissen.« Immerhin legte er Wert darauf zu erwähnen, daß es mehrere Arten der Kühnheit gebe. Und die gibt es! Die gibt es! … So gibt es zum Beispiel jene Art der Kühnheit, die von Unverschämtheit kaum zu unterscheiden ist … ich muß glauben, daß ich in diesem Falle nicht unverschämt war, denn meines Wissens bin ich nicht gebissen worden.

Wahr ist, daß ›Die Rettung‹, als sie beiseite gelegt wurde, nicht in Verzweiflung beiseite gelegt wurde. Es kam zu diesem Beiseitelegen aus mehreren Gründen, deren erster ganz sicherlich der war, daß ich mir mehr und mehr der Schwierigkeiten der Handhabung des Gegenstandes bewußt wurde. Inhalt und Ablauf der Handlung waren mir deutlich genug. Doch was die Darstellung der Tatsachen anging, und bis zu einem gewissen Grade wohl auch die Art der Tatsachen selber, so nährte ich viele Zweifel. Ich meine mit Tatsachen die inhaltsvollen, die bestimmenden Tatsachen, die der Idee weiterhelfen und zugleich so geartet sind, daß sie keine umständliche Erschaffung von Atmosphäre zum Nachteil der Handlung verlangen. Ich wußte nicht mehr, wie ich es vermeiden sollte, bei der Darstellung von Einzelheiten und um der Klarheit willen meine Leser zu langweilen. Der Inhalt, der Verlauf der Handlung war mir durchaus deutlich. Verlorengegangen aber war mir im Moment der Sinn für die angemessene Formel des Ausdruckes, die einzig passende Formel. Das stärkte selbstverständlich meine Zweifel am innersten Wert der Geschichte und daran, daß sie Interesse erregen würde – mit anderen Worten, mein Vertrauen in meine Erfindungsgabe wurde geschwächt. Ich hege aber den Verdacht, daß ich in Wahrheit an meiner Prosa zweifelte, an ihrer Zulänglichkeit, an ihrer Macht über die Farben ebenso wie über die Schattierungen.

Es fällt schwer, den verworrenen Zustand meiner Empfindungen so genau zu beschreiben, wie ich mich seiner erinnere. Diejenigen meiner Leser aber, die an den Verwirrungen teilnehmen, welche den Künstler befallen, werden mich gleich verstehen, wenn ich sage, daß ich ›Die Rettung‹ nicht beiseite legte, um mich dem Müßiggang, dem Bedauern oder der Schwärmerei zu ergeben, sondern um den ›Nigger von der »Narzissus« ‹ zu beginnen und diese Arbeit ohne Verzug und ohne Pause zu Ende zu führen. Der Vergleich einer beliebigen Seite von ›Die Rettung‹ mit einer beliebigen Seite von ›Der Nigger von der »Narzissus« ‹ erweist die Art und die innere Bedeutung dieser meiner ersten Krise als Schriftsteller. Denn es war unzweifelhaft eine Krise. Es bedurfte eines schrecklichen Entschlusses, eine so weit gediehene Arbeit beiseite zu legen. Dieser Entschluß wurde mir abgezwungen durch die jäh auftretende Gewißheit, nur dies sei der Weg zum Heil, nur dieser Weg sei gangbar für ein geplagtes Gewissen. Der Abschluß des ›Nigger von der »Narzissus« ‹ erfüllte mein aufgestörtes Gemüt mit dem Frieden der vollendeten Arbeit samt der ersten Ahnung vom Besitz einer gewissen Meisterschaft, die im Verein mit glückverheißenden Sternen etwas zustandezubringen vermochte. Wenn ich danach nicht sogleich wieder an ›Die Rettung‹ ging, so lag es nicht daran, daß ich inzwischen Angst vor ihr bekommen hätte. Da ich nun eine feste Haltung einzunehmen fähig geworden war, sagte ich entschieden: »Das Ding kann warten.« Zugleich stand ebenso fest für mich, daß ›Jugend‹, eine Erzählung, die mir sozusagen auf der Federspitze brannte, nicht warten konnte. Und auch ›Das Herz der Finsternis‹ durfte nicht verschoben werden; und dies einfach darum nicht, weil Mr. William Blackwood mich gebeten hatte, für die Nummer M. seiner Zeitschrift etwas zu schreiben, was mich zwang, sogleich den Gegenstand jener Erzählung zu beleben, die schon lange still in mir geruht hatte; denn ich durfte die ehrwürdige Maga an ihrem tausendsten Erscheinungstage nicht warten lassen. Dann meldete ›Lord Jim‹, von dem siebzehn Seiten bereits bei Gelegenheit niedergeschrieben worden waren, seine Forderungen an, und die konnte ich nicht abschlagen. So führte mich denn jeder Federstrich weiter von der ›Rettung‹ fort – nicht, daß ich dabei kein Bedauern gespürt hätte, doch nahm mein Widerstand immer mehr ab, bis ich zuletzt ganz aufgab, wie vor einem überlegenen Einfluß, gegen den sich zu sträuben sinnlos war.

Die Jahre gingen dahin, die Zahl der Seiten nahm zu, und die langen Versenkungen, deren Ergebnis diese Seiten waren, breiteten sich zwischen mir und der verlassenen ›Rettung‹ aus, gleich den glatten, dunstigen Weiten eines geträumten Meeres. Und doch habe ich das dunkle Pünktchen in der nebeligen Ferne nie ganz aus den Augen verloren. Es war sehr klein geworden, doch machte es sich mit der Dringlichkeit alter Assoziationen fühlbar. Es kam mir vor, als wäre es schändlich, aus der Welt wegzuschleichen und es dort ganz allein zu lassen, auf ein Los wartend, das sich nie erfüllen würde!

Sentimentalität also, die reine Sentimentalität, wie man sieht, hat mich zu guter Letzt veranlaßt, mich den Schmerzen und Fährnissen jener Rückkehr auszusetzen. Als ich mich sacht dem im Stich gelassenen Rumpf der Erzählung näherte, ragte er drohend zwischen den glitzernden Untiefen der Küste auf, einsam, doch nicht abweisend. Er wirkte nicht düster wie ein treibendes Wrack, sondern wie etwas, das erwartet, zum Leben erweckt zu werden. Ich erkannte, eines ums andere, die vertrauten Gesichter, die meiner Annäherung mit dem matten Lächeln amüsierten Erkennens zusahen. Sie hatten sehr wohl gewußt, daß mir nichts anderes übrigblieb, als zu ihnen zurückzukehren. Doch blickten ihre Augen sehr ernst in die meinen, was ja nur zu erwarten war, denn auch mir war sehr feierlich zumute, als ich nach Jahren der Abwesenheit wieder zwischen ihnen stand. Sogleich, ohne Worte zu verschwenden, begannen wir die Arbeit an unserem erneuerten Leben; und mit jedem Moment wurde mir gewisser, daß sie, Die gewartet hatten, dem Manne nichts nachtrugen, der zwar gelegentlich in die Irre gegangen sein mag, doch in seinem Leben nur ein einziges Mal die Schule geschwänzt hat.

 

1920

J. C.

Erster Teil

Der Mann und die Brigg

Das flache Meer, das an den Küsten der tausend großen und kleinen Inseln schäumt und murmelt, aus dem der Malaiische Archipel besteht, ist jahrhundertelang der Schauplatz abenteuerlicher Unternehmungen gewesen. Die Laster und die Tugenden von vier Nationen sind bei der Eroberung jenes Gebiets zu Tage getreten, das bis heute etwas von dem Geheimnis und der Romantik seiner Vergangenheit bewahrt hat – und der Menschenschlag, der gegen die Portugiesen, die Spanier, die Holländer und Engländer gekämpft hatte, ist durch die unvermeidliche Niederlage nicht verändert worden. Bis zum heutigen Tage hat er sich seine Liebe zur Freiheit erhalten, seine fanatische Hingabe an seine Führer, seine blinde Treue in Freundschaft und Haß, kurz, alle seine Instinkte, die erlaubten wie die unerlaubten. Seine Heimat, die Land und Wasser umfaßte – denn auf der See war er ebenso zuhause wie auf dem Erdboden seiner Inseln –, ist zur Beute der westlichen Völker geworden: als Lohn überlegener Kraft, wenn auch nicht überlegenen sittlichen Wertes. Morgen schon wird die vordringende Zivilisation mit ihrem unvermeidlichen Sieg die Spuren eines langen Kampfes verwischen.

Die Abenteurer, die diesen Kampf begannen, haben keine Nachkommen hinterlassen. Dazu wandelten sich die Ideen der Welt zu rasch. Und doch haben sie ihre Nachfolger gehabt, sogar noch in diesem Jahrhundert. Fast noch in unseren Tagen haben wir einen von ihnen gesehen – einen wahrhaften Abenteurer, hingegeben seinen Impulsen, einen Mann von hoher Gesinnung und reinem Herzen, der ein blühendes Staatswesen auf den Ideen der Nächstenliebe und Gerechtigkeit errichtete. Ritterlich erkannte er die Ansprüche der Besiegten an: er war ein Abenteurer ohne Eigennützigkeit, und der Lohn für seine Lauterkeit liegt in der Verehrung, mit der ein fremdes und gesinnungsfestes Volk sein Andenken hütet.

Bei Lebzeiten wurde er verkannt und verleumdet: doch der Ruhm seiner Erfolge hat die Reinheit seiner Beweggründe erwiesen. Er gehört der Geschichte an. Aber es gab andere – Abenteurer, die nicht wie er über die Vorteile der Geburt, der gesellschaftlichen Stellung und der Intelligenz verfügten, die nur seine Sympathie mit dem Volk der Wälder und der See besaßen, das er so sehr verstanden und geliebt hatte. Daß sie vergessen seien, kann man von ihnen nicht sagen, denn man hat sie gar nicht gekannt. Sie verloren sich in der grauen Menge seefahrender Händler des Archipels, und wenn sie einmal aus dem Dunkel ihres Daseins auftauchten, dann nur als Rechtsbrecher in einem gerichtlichen Urteilsspruch. Gedankenlos setzten sie ihr Leben ein, ihr von einfältigen Empfindungen geleitetes Leben – für eine Sache, die vor dem unaufhaltsamen und ordnungsgemäßen Fortschritt keine Existenzberechtigung mehr hatte. Aber in den Augen der wenigen, die Bescheid wissen, hat solch vergeudetes Leben jenem Gebiet einen Schimmer von Romantik verliehen, jener Region flacher Gewässer und waldbedeckter Inseln, die da fern im Osten und immer noch voller Geheimnisse zwischen den Tiefen zweier Weltmeere liegt.

I

Aus dem spiegelnden Blau der flachen See lassen die Karimata-Inseln die schroffen Züge ihrer grau und gelb getönten, kahlen und unfruchtbaren Höhen emporsteigen. Jenseits eines schmalen Wasserstreifens zeigt Suroeton, im Westen gelegen, seinen gerundeten Kamm, nicht unähnlich dem Rückgrat eines sich bückenden Riesen. Und nach Osten zu gewahrt man undeutlich eine Gruppe kleinerer Inseln, deren verwischte Umrisse sich in den dunkler werdenden Schatten aufzulösen scheinen. Langsam drang die Nacht vor, von Osten her dem Rückzug der untergehenden Sonne folgend, Land und Meer bedeckend: das zerklüftete, rissige und steile Land, und die See, deren unbegrenzter, stiller und glattgeschliffener Spiegel zu leichtbeschwingten Fahrten ohne Ende verlockte.

Aber es gab keinen Wind, und eine kleine Brigg, die schon den ganzen Nachmittag ein paar Meilen nordwestlich von Karimata gelegen hatte, hatte in all diesen Stunden ihre Position um kaum eine halbe Meile verändert. Eine völlige Windstille herrschte, eine tote, flache Stille, die Luft schien erstorben über einer leblosen See, und ringsum, so weit das Auge reichte, stand alles in fast drohender Unbeweglichkeit. Nichts regte sich auf dem Land, nichts auf den Wassern, nichts droben im klaren Glanz des Himmels. Auf der unbewegten Wasserfläche schwebte die Brigg still und aufrecht, als sei sie Kiel an Kiel mit ihrem eigenen Spiegelbild auf der grenzenlosen See verklammert. Im Süden und Osten blickten die Doppel-Inseln schweigend nach dem Doppel-Schiff, das zwischen ihnen für immer festgekeilt schien, hoffnungslos gefangen in der Windstille, hilflos gefesselt über den Untiefen der See.

Seit am Mittag die leichten und launischen Lüfte dieser Meeresgegend die kleine Brigg ihrem trägen Schicksal überlassen, hatte sich ihr Bug allmählich nach Westen gedreht, und die Spitze ihres schlanken und blankpolierten Klüverbaums, der in kühnem Schwung über die anmutige Kurve des Buges hinausragte, deutete, wie ein Speer hoch erhoben in der Hand eines Kriegers, auf die untergehende Sonne. Ganz achtern am Ruder stand der malaiische Steuerer, die nackten braunen Füße fest auf die Rudergräting gestemmt; er hielt die Spaken im rechten Winkel mit eisernem Griff, als lenzte das Schiff vor einem Sturm. Er stand da völlig regungslos, wie versteinert, aber bereit, das Ruder zu bedienen, sobald das Schicksal es der Brigg erlauben würde, ihre Fahrt durch die ölglatte See wieder aufzunehmen.

Außer ihm war nur noch ein einziges menschliches Wesen an Deck zu sehen, der Wachhabende: ein Weißer von kleiner, untersetzter Statur, mit glattrasierten Backen, einem angegrauten Schnurrbart und einem Gesicht, das von der glühenden Sonne und der scharfen Salzluft der See scharlachrot gebrannt war. Er hatte seine leichte Jacke abgestreift; nur mit weißen Hosen und einem dünnen Baumwoll-Unterhemd bekleidet, die dicken Arme auf der Brust gekreuzt – auf der sie wie zwei schwere rohe Fleischklumpen wirkten –, strich er auf dem Halbdeck von einer Seite zur anderen. An den bloßen Füßen trug er ein Paar Strohsandalen, und sein Kopf war mit einem riesigen, ehemals weißen, nun aber sehr schmutzigen Basthut bedeckt, der dem Manne das Aussehen eines gewaltigen wandelnden Pilzes verlieh. Von Zeit zu Zeit unterbrach er sein unbehagliches Hinundherschleichen an der Reling und starrte, ohne sich zu rühren, leeren Blickes auf das stille Spiegelbild der Brigg im Wasser. Auch seinen eigenen Kopf und die Schultern konnte er da unten sehen, wie sie sich über die Reling lehnten, und so stand er lange, wie von seinem eigenen Spiegelbild gefesselt, und knurrte halblaute Verwünschungen über die Flaute, die wie eine reglose, ungeheure, glühende Last auf dem Schiff lag.

Endlich seufzte er tief auf, ermannte sich zu einer großen Anstrengung, stieß sich von der Reling ab, und so brachte er es fertig, auf seinen Strohpantoffeln zum Kompaßhaus zu schlurfen. Da blieb er, erschöpft und mißmutig, wieder stehen. Unter dem nahen, geöffneten Oberlicht der Kajüte drang das gedämpfte Zwitschern eines Kanarienvogels hervor, und das schien ihm einige Befriedigung zu gewähren. Er lauschte, lächelte schwach und murmelte: »Hänschen, armes Hänschen …« und verfiel dann wieder der ungeheuren Stille der Welt. Seine Augen schlossen sich, sein Kopf hing tief über der heißen Messinghaube des Kompasses. Plötzlich aber fuhr er mit einem Ruck auf und sagte mit scharfer, heiserer Stimme: »Du hast ja geschlafen – du. Leg das Ruder andern Weg. Das Schiff hat Fahrt achteraus.«

Der Malaie, ohne eine Miene zu verziehen und die Haltung im geringsten zu verändern, als sei er ein eben noch lebloser, aber nun plötzlich durch irgendeine geheime Zauberformel zum Leben erweckter Gegenstand, ließ die Spaken des Ruders schnell durch die Hände laufen, und als die Bewegung mit einem knirschenden Laut zum Stillstand kam, griff er wieder zu und hielt eisern fest. Nach einer Weile indessen wandte er langsam den Kopf über die Schulter und sagte auf die See blickend in eigensinnigem Ton: »Kein Wind kriegen – kommen nicht weg.«

»Nicht kriegen – nicht kriegen – das ist alles, was du weißt«, grollte der rotgesichtige Seemann. »So nach und nach kriegen wir, Ali – « fuhr er mit plötzlicher Herablassung fort. Nach und nach kriegen wir, und dann liegt das Ruder richtig. Verstanden?« Der schwerfällige Mann am Ruder schien nicht zu verstehen, er schien nicht einmal zu hören. Der Weiße sah den unempfindlichen Malaien voller Widerwillen an, dann blickte er ringsumher nach dem Horizont. Dann sah er wieder den Rudersmann an und befahl kurz: »Leg das Ruder wieder andern Weg. Merkst du denn nicht, daß die Brise von achtern kommt? Steh nicht so da wie eine Holzpuppe!«

Der Malaie gehorchte, wenn auch mit einer Miene voll Verachtung, und ließ das Rad zurücklaufen, während der mit dem roten Gesicht sich brummend zum Gehen wandte. Da scholl durch das offene Oberlicht der Ruf: »Hallo da oben an Deck!« und hielt ihn fest. Er blieb mit aufmerksamer und plötzlich liebenswürdiger Miene stehen.

»Ja, Kap’tän«, sagte er und neigte sein Ohr zu der Öffnung.

»Was ist denn los da oben?« fragte eine tiefe Stimme von unten.

Der Mann mit dem roten Gesicht erwiderte im Ton der Überraschung: »Bitte, Kap’tän?«

»Ich höre doch das Ruder dauernd hart überlegen. Was haben Sie vor, Shaw? Haben wir Wind?«

»Jaa«, erwiderte Shaw schleppend; er steckte den Kopf in das offene Oberlicht und sprach in die Düsternis der Kajüte hinab. »Ich dachte, es käme etwas Brise auf – aber ’s ist schon wieder vorbei. Nirgendwo auch nur ’n Hauch zu spüren.«

Er zog den Kopf zurück und wartete ein Weilchen am Deckslicht, aber er vernahm nichts als das unermüdliche Zwitschern des Kanarienvogels, ein schwaches Trillern, das durch die hängenden Geranienblüten, die in Blumentöpfen unter den Glasscheiben wuchsen, zu perlen schien. Er zog sich einen oder zwei Schritte zurück, als die Stimme von unten hastig rief: »He, Shaw, sind Sie da?«

»Jawohl, Kapitän Lingard«, antwortete er, wieder näher tretend. »Haben wir heute nachmittag überhaupt Fahrt gemacht?«

»Keinen Zoll, Kap’tän. Nicht einen Zoll. Wir hätten ebenso gut vor Anker liegen können.«

»Das ist immer so«, sagte der unsichtbare Lingard. Seine Stimme veränderte den Ton, während er in der Kajüte auf und ab schritt, und wurde gleich darauf klar vernehmlich, als sein Kopf über der Schwelle des Kajüten-Niedergangs erschien. »Immer so! Die Strömungen setzen erst bei Dunkelwerden ein, wenn kein Mensch mehr sieht, auf was für ein verwünschtes Ding er getrieben wird, und dann kommt endlich die Brise. Und die bestimmt auch noch genau von vorne.«

Shaw zuckte leicht die Achseln. Der Malaie am Ruder bückte sich, um durch das Oberlicht die Zeit auf der Kajütenuhr festzustellen, und schlug dann zwei Glasen an der kleinen Glocke, die achtern hing. Vorn auf dem Hauptdeck erhob sich ein schriller, langgezogener Pfiff, der sich tiefer senkte und allmählich erstarb. Der Kapitän der Brigg trat von der Kajütentreppe herauf an Deck seines Fahrzeugs, warf einen Blick nach den vierkant gebraßten Rahen und ließ seinen Blick lang über das Rund des Horizonts schweifen.

Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, von hoher und geschmeidiger Gestalt. Er bewegte sich frei, mehr wie einer, der gewöhnt ist, über Ebenen und Berge zu wandern, als wie ein Mann, der von frühester Jugend an gelernt hat, die schlingernden und rollenden Schwankungen auf dem eingeengten Deck eines den zornigen oder spielerischen Launen der See preisgegebenen kleinen Schiffes durch ein plötzliches Biegen des Körpers auszugleichen.

Er trug ein graues Flanellhemd, und seine weißen Hosen wurden von einer blauen, eng um die Hüften geschlungenen seidenen Schärpe festgehalten. Er war nur für einen Augenblick an Deck gekommen, ohne Kopfbedeckung, aber da er sah, daß das Achterdeck vom Großmarssegel beschattet war, blieb er oben, barhaupt, wie er war. Das helle kastanienbraune Haar lag in dichten Wellen um seinen wohlgeformten Kopf und wenn er einen schmalen Streifen Sonnenlicht durchschritt, glänzte der kurzgeschnittene Bart jedesmal lebhaft auf, als bestände er aus lauter dünnen, welligen Golddrähten. Sein Mund verbarg sich unter dem starken Schnurrbart; die Nase war gerade, kurz und an der Spitze ein wenig abgestumpft; unter den Augen zog sich ein breiter Streifen tieferen Rots von einem Jochbein zum anderen. Die Brauen, dunkler als das Haar, zeichneten unter der breiten, klaren Stirn, die sehr weiß gegen das sonnenverbrannte Gesicht abstach, einen geraden Strich. Die Augen schienen von verstecktem Feuer zu glühen; in ihrer grauen Iris funkelte ein rötliches Blitzen, das dem offenen Blick eine durchdringende Schärfe verlieh.

Dieser Mann, einst wohlbekannt an den bezaubernden und grausamen Küsten dieses Meers und heute so vollständig vergessen, hatte von seinen Berufsgenossen den Spitznamen ›Tom mit den roten Augen‹ erhalten. Er war stolz auf sein Glück, aber nicht auf seinen gesunden Verstand. Er war stolz auf seine Brigg, auf ihre Schnelligkeit: sie galt für das schnellste Fahrzeug in jenen Gewässern. Und er war stolz auf das, was sie ihm bedeutete und woran sie ihn erinnerte.

Sie erinnerte ihn an eine Glücksträhne auf den Goldfeldern von Victoria; an sein bedachtsames Maßhalten; an viele Tage des Entwerfens und liebevollen Bauens. Sie war die große Freude seiner jungen Jahre, als sie ihm die unvergleichliche Freiheit der Meere erschloß. Sie war ihm eine vollkommene Heimstatt, weil sie mit ihm wanderte; sie schenkte ihm Unabhängigkeit, und er schenkte ihr seine Liebe – und seine Sorge. Er hatte oft gehört, wie Männer sagten, Tom Lingard sei auf Erden an nichts gelegen als an seiner Brigg – und im stillen lächelnd, ergänzte er die Behauptung dahin, daß außer der Brigg nichts Lebendes ihm ans Herz gewachsen war.

Sie war für ihn voller Lebendigkeit, sie war für ihn die weite Welt. Er spürte ihr Leben in jeder Regung, in jedem Rollen, in jedem Schwanken ihrer schlanken Masten, dieser Masten, deren bemalte Flaggenknöpfe für das Auge des Seemanns ständig an die Wolken oder die Sterne zu streifen schienen. Für ihn war und blieb sie so kostbar – wie eine alte Liebe: immer blieb sie begehrenswert wie eine wunderbare Frau; immer zärtlich wie eine Mutter; immer treu wie eines Mannes Lieblingstochter.

Stundenlang konnte er an der Reling stehen, den Kopf in die Hand gestützt, und lauschen – dem in träumerischer Stille vernehmlichen, schmeichelnden und lockenden Flüstern der See zuhören, die mit blasigen Strudeln an der glatten, schwarz gestrichenen Flanke seines Schiffs entlangglitt. Was in solchen Augenblicken nachdenklicher Einsamkeit dem Manne durch den Kopf ging, der von Generationen von Fischern der Devon-Küste abstammte, diesem Mann, der wie die meisten seines Standes den subtileren Stimmen unzugänglich blieb und blind für die Hintergründigkeiten der Welt – der aber zu jeder Tat bereit war gegenüber allem, was greifbar erschien, ganz gleich, wie erschreckend, wie furchtbar oder bedrohlich es sein mochte, und doch wieder wehrlos wie ein Kind gegen die dunklen Regungen des eigenen Herzens: was die Gedanken eines solchen Mannes sein mochten, wenn er einmal in träumerische Stimmung versank –, es ist schwer zu sagen.

Ohne Zweifel war er, wie die meisten von uns, imstande, sich von den poetischen Empfindungen seines Herzens in zauberhaft leere und gefährliche Regionen tragen zu lassen. Aber ebenso, wie die meisten von uns, merkte er nicht, wie unfruchtbar diese Ausflüge hinaus über den Bereich der Interessen und Sorgen dieser Erde waren. Und doch verblieb von diesen Augenblicken, so sinnlos und vergeudet sie zweifellos waren, in dem Alltagsleben dieses Menschen ein Schimmer wie von einem dämmrig leuchtenden und stillen Licht, das die harten Konturen seiner rauhen Natur milderte – und in solchen Augenblicken fühlte er sich seiner Brigg am engsten verbunden.

Er wußte sehr wohl, daß sein kleines Schiff ihm etwas schenken konnte, was von niemandem und von keinem Ding der Welt zu erlangen war, etwas, das ausschließlich ihm zukam. Dieser kräftige Mann mit seinen festen Knochen und Muskeln war von dem gehorsamen Ding aus Holz und Eisen so abhängig, daß sein Gefühl die mysteriöse Würde der Liebe annahm. Das Fahrzeug hatte alle Eigenschaften eines lebenden Wesens: Schnelligkeit, Gehorsam, Zuverlässigkeit, Ausdauer, Schönheit, es besaß die Fähigkeit zu handeln und zu leiden – alles besaß dieses Schiff, nur das Leben selbst fehlte ihm. Er – der Mann – gab dem Schiff das Leben, er war die Seele der Brigg, die ihm die vollkommenste ihrer Art schien. Sein Wille war ihr Wille, sein Gedanke ihr Antrieb, sein Atem war der Geist ihres Daseins. Alles das fühlte er unklar und verworren, ohne seinem Gefühl die lautlose Form des Gedankens geben zu können. Ihm war diese dreihundertundvierzehn Registertonnen große Brigg etwas Einzigartiges und Kostbares – ein Königreich!

Und nun wanderte er, barhaupt und stämmig, mit regelmäßigen Schritten auf dem Deck seines Königreichs hin und her. Er schritt aus dem Hüftgelenk, er schwang die Arme wie einer, der sich auf einen Marsch von fünfzehn Meilen über Land begibt, aber nach jedem zwölften Schritt machte er kehrt und mußte dieselbe Strecke bis zur Heckreling wieder abschreiten.

Shaw, die Hände im Hosenbund, die Ellbogen auf die Reling gestützt, blickte scheinbar gedankenlos auf das Deck zu seinen Füßen nieder. In Wirklichkeit sah er ein kleines Haus mit winzigem Vorgarten vor sich, das im Dunst der Uferstraßen im Ostende Londons fast verschwand. Der Umstand, daß er bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt hatte, die Bekanntschaft seines nunmehr achtzehn Monate alten Sohnes zu machen, bereitete ihm leises Unbehagen, und das war auch der Grund, warum seine Phantasie in die stickige Luft seines heimatlichen Haushalts floh. Es war eine angenehme Flucht, von der er indessen rasch zurückkehrte. »Immer auf dem Posten«, wie er zu sagen pflegte. Er war stolz darauf, ›immer auf dem Posten‹ zu sein.

Mit der Mannschaft verkehrte er in kurzangebundenem und barschem Tone. Seinen verschiedenen Kapitänen gegenüber benahm er sich so unterwürfig wie möglich, insgeheim aber in meistens feindseliger Gesinnung – gar zu wenige schienen ihm zu dem Typus des ›Immer auf dem Posten‹ zu gehören. Mit Lingard war er im allgemeinen zufrieden; er war erst kurze Zeit bei ihm. Lingard hatte ihn auf der Reede von Madras von einem heimkehrenden Schiff geholt, das Shaw nach einem schweren Krach mit seinem Kapitän hatte verlassen müssen. Allerdings hatte er bald mit Bedauern erkannt, daß dieser Mensch, wie die meisten anderen, ein paar absurden Schrullen nachging, die Shaw als »auf den Kopf gestellte Ideen« bezeichnete.

Er war ein Mensch, wie es viele gab, für niemanden von besonderem Wert als für sich selbst; seine einzige Bedeutung war die, daß er der Erste Offizier der Brigg und außer dem Kapitän kein Weißer an Bord war. Den malaiischen Matrosen gegenüber, die er zu befehligen hatte, kam er sich unermeßlich erhaben vor und behandelte sie mit hochmütiger Duldung, obgleich er der Überzeugung war, daß sich diese Burschen, in irgendeiner Zwickmühle als ausgesprochen ›nicht auf dem Posten‹ erweisen würden.

Sobald seine Gedanken von seinem Heimaturlaub zurückkehrten, löste er sich von der Reling und trat ein paar Schritte vor, blieb dann aber am Rande des Halbdecks stehen und blickte längs der Backbordseite des Oberdecks. Lingard, auf der anderen Seite, hielt in seinem Hinundherwandern inne und sah ebenfalls geistesabwesend vor sich hin. In der Kuhl der Brigg zwischen den dünnen, an jeder Seite der Luke festgezurrten Spieren, konnte Shaw eine Gruppe von Männern sehen, die im Kreis um eine hölzerne, mit Reis behäufte Schüssel auf dem sauber gefegten Deck saßen. Die dunkelgesichtigen Männer mit den sanften Augen aßen schweigend im Hocksitz; sie aßen anständig, mit einem Eifer, der eine gewisse Zurückhaltung nicht ausschloß.

Nur einer oder zwei aus der ganzen Schar trugen den Sarong, während die anderen – auf See wenigstens – sich der entwürdigenden europäischen Sitte anbequemt hatten, Hosen zu tragen. Zwei von ihnen saßen auf den Spieren. Der eine, mit einem hellgelben Kindergesicht, das unter dem strähnig-rauhen, mahagonifarben schimmernden Haarschopf blöde hervorgrinste, war der Tindal der Mannschaft, eine Art Bootsmanns- oder Serangs-Maat. Der andere, der neben ihm auf den Spieren saß, ein beinahe schwarzer Mensch, nicht viel größer als ein ausgewachsener Affe, trug auf seinem runzligen Gesicht den Ausdruck lustiger Grausamkeit, der oft charakteristisch ist für die Männer von der Südwestküste Sumatras.

Dies war der Kassab oder Proviantmeister, Inhaber eines angesehenen und bequemen Amtes. Der Kassab war der einzige aus der ihr Abendessen verzehrenden Mannschaft, der bemerkte, daß der Schiffsführer an Deck war. Er knurrte dem Tindal etwas zu, der sogleich seinen alten Hut auf eine Seite schob, eine sinnlose Handlung, die ihm einen gänzlich verblödeten Ausdruck verlieh. Die anderen hatten den Kassab wohl verstanden, fuhren aber fort, mit spinnenhaften Bewegungen ihrer mageren Arme lässig zu essen.

Die Sonne befand sich nun nicht mehr als etwa einen Grad über dem Horizont, und über der erhitzten Wasserfläche begann ein leichter Dunst aufzusteigen, dünn und dem menschlichen Auge unsichtbar, aber stark genug, um die Sonne in eine rot glühende Scheibe zu verwandeln, eine vertikal stehende und heiße Scheibe, die zu dem horizontalen, kalten Rand der schlummernden See hinabrollte. Dann berührten sich die Ränder, und die kreisförmige Wasserfläche nahm sogleich ein düsteres, finsteres, gleichsam drohendes Aussehen an, als brüte die Tiefe über irgendwelchem Unheil.

Einen Augenblick lang schien die sinkende Sonne noch einmal anzuhalten, ehe sie in dem schläfrigen Wasser unterging, und zu der regungslosen Brigg schoß über die blank und dunkel polierte Fläche eine Lichtspur, gradlinig und leuchtend, ein strahlender Pfad aus Gold und Rot und Purpur, der in blendendem und kaum erträglichem Schimmer von der Erde durch die Tore eines ruhmvollen Todes unmittelbar in den Himmel zu führen schien. Langsam verblaßte er. Die See überwand das Licht. Schließlich blieb noch eine Spur der Sonne, ein Funke von ihr, der fern auf dem Wasser schwamm, noch etwas zögerte und plötzlich – ohne irgendein Vorzeichen – erlosch, wie von einer heimtückischen Hand ausgedrückt.

»Aus!« rief Lingard, der dem Vorgang gespannt zugesehen, aber den letzten Augenblick verpaßt hatte. »Aus! Sehen Sie mal nach der Kajütuhr, Shaw!«

»Ich glaube, Sir, sie geht fast genau. Drei Minuten nach sechs.«

Der Mann am Ruder schlug vier Glasen. Ein zweiter barfüßiger Matrose glitt von der entfernteren Seite des Achterdecks heran, um den Rudermann abzulösen, und die Treppe herauf kam der Serang der Brigg, um die Wache von Shaw zu übernehmen. Er begab sich zum Kompaß und blieb dort schweigend und erwartungsvoll stehen.

»Der Kurs ist Süd zu Ost, wenn Wind aufkommt, Serang«, sprach Shaw klar und deutlich.

»Sü zu Os«, wiederholte der ältliche Malaie tiefernst.

»Sage mir Bescheid, sobald sie sich steuern läßt«, setzte Lingard hinzu.

»Ya, Tuan«, erwiderte der Mann und warf einen raschen Blick zum Himmel. »Wind kommt«, knurrte er.

»Das glaub’ ich auch«, flüsterte Lingard, wie zu sich selbst.

Um die Brigg sammelten sich rasch die Schatten. Ein Mulatte steckte seinen Kopf aus dem Niedergang zur Kajüte und rief: »Fertig, Sir.«

»Kommen Sie, Shaw, wir wollen etwas essen«, sagte Lingard. »Übrigens, ehe Sie runterkommen, sehen Sie sich doch noch einmal um. Bis wir wieder raufkommen, ist es dunkel.« »Gewiß, Sir«, sagte Shaw, nahm ein langes Fernrohr auf und hielt es sich ans Auge. »Verdammtes Zeug«, fuhr er stoßweise fort, während er das Teleskop auf- und zuschob. »Ich kann doch nie – damit zurecht – Aha! Endlich hab’ ich’s richtig!«

Er drehte sich langsam auf dem Absatz um und richtete das Ende des Fernrohrs auf den Horizont. Dann schob er das Instrument mit einem hörbaren Einschnappen wieder zusammen und sagte entschieden: »Nichts in Sicht, Kap’tän.«

Und er folgte seinem Kapitän hinunter und rieb sich vergnügt die Hände.

Eine gute Weile war auf dem Halbdeck kein Laut zu hören. Dann sprach der Mann am Ruder wie im Traum vor sich hin: »Hat der Malim gesagt, es sei nichts in Sicht?«

»Ja«, brummte der Serang, ohne sich nach dem Mann hinter ihm umzusehen.

»Zwischen den Inseln war ein Boot«, hauchte der Mann sehr leise.

Der Serang stand, die Hände auf dem Rücken, die Füße ein wenig gespreizt, kerzengerade neben dem Kompaßgehäuse. Seine jetzt kaum sichtbare Miene war so ausdruckslos wie die Tür eines Geldschranks.

»Aber hör mich doch an«, sagte der hartnäckige Rudersmann sanft flüsternd.

Sein Vorgesetzter rührte sich nicht um Haaresbreite. Der Matrose neigte sich ein wenig von der Höhe der Rudergräting herab.

»Ich sah ein Boot«, murmelte er, gleichsam mit der zärtlichen Beharrlichkeit eines Liebenden, der um eine Gunst bittet. »Ich sah ein Boot, oh Haji Wasub! Ya! Haji Wasub!«

Der Serang war zweimal im Leben nach Mekka gepilgert und nicht unempfindlich dafür, wenn man ihn mit dem ihm zukommenden Titel anredete. Ein düsteres Lächeln erschien in seinem Gesicht.

»Du sahst einen treibenden Baumstamm, o Sali«, sagte er ironisch.

»Ich bin Sali, und meine Augen sind besser als das verhexte Ding aus Messing, das man sehr lang ausziehen kann«, sagte der halsstarrige Rudersmann. »Da war ein Boot, gerade vor der östlichsten Insel. Da war ein Boot, und die darin saßen, konnten unser Schiff im Licht des Westens sehen – außer es waren blinde Männer, die sich auf der See verirrt haben. Ich habe das Boot gesehen. Hast du es auch gesehen, o Haji Wasub?«

»Bin ich ein fetter Weißer?« fuhr der Serang ihn an. »Ich war Seemann, als du noch nicht geboren warst, o Sali! Uns ist befohlen, zu schweigen und auf das Ruder zu achten, damit dem Schiff kein Unheil zustößt.«

Nach diesen Worten nahm er seine starre Haltung wieder an. Er stand, die Beine leicht gespreizt, sehr steif und gerade aufgerichtet dicht neben dem Kompaßstand. Unaufhörlich wanderten seine Augen umher, von der beleuchteten Karte zu den schattenhaften Segeln der Brigg und zurück, während sein Körper so regungslos blieb, als wäre er aus Holz geschnitzt und in das Schiff eingebaut: so hielt Haji Wasub, der Serang der Brigg Lightning, mit unablässig gespannter Aufmerksamkeit die Kapitänswache, unermüdlich und wachsam, ein Sklave seiner Pflicht.

Eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang hatte die Dunkelheit von Erde und Himmel völlig Besitz ergriffen. Die Inseln waren in die Nacht getaucht, und auf dem glatten Wasser zwischen ihnen schien die kleine Brigg ganz still und reglos in tiefem Schlummer zu liegen, eingehüllt in einen duftenden Mantel von Sternenlicht und Schweigen.

II

Es war halb neun geworden, ehe Lingard wieder an Deck kam. Shaw – der jetzt einen Rock anhatte – trottete das Halbdeck auf und ab und hinterließ einen Geruch nach Tabaksrauch. Ein unregelmäßig aufglühender Lichtpunkt schien in der Dunkelheit wie von selbst vor dem runden Kopf hin und her zu schweben. Über den Masten der Brigg wölbte sich der Dom des klaren Himmels, voll von unruhigen Lichtern, als brächten droben irgendwelche mächtigen Atemzüge die Flammen der Sterne zum Flackern. Auf den Decks der Brigg war kein Laut zu hören, und die dunklen Schatten, die auf ihnen lagen, sahen in dieser Stille aus, als hockten da, an geheimen Stellen versteckt, kauernde Gestalten, die vollkommen regungslos auf irgendein entscheidendes Ereignis warteten. Lingard strich ein Zündholz an, um seine Zigarre in Brand zu setzen, und einen Augenblick erschien in der Nacht sein kräftiges Gesicht mit den zusammengekniffenen Augen und verschwand sogleich wieder. Dann bewegten sich zwei Schatten und zwei rotglühende Funken auf dem Halbdeck hin und her. Ein größerer, aber blasserer und ovaler Lichtschimmer, von den Kompaßlampen herrührend, lag auf den Messingbeschlägen des Steuerrads und auf der Brust des am Ruder stehenden Malaien. Lingards Stimme, wie unter einer Decke, klang ruhig und gedämpft, ohne den sonst vernehmlichen tiefen Ton, als sei sie außerstande, sich gegen die gewaltige Stille der See durchzusetzen: »Geändert hat sich nicht viel, Shaw«, sagte er.

»Nein, Sir, viel nicht. Ich kann gerade noch die Insel erkennen, die große mein’ ich – sie liegt immer noch an derselben Stelle. Kommt mir doch so vor, Sir, daß diese See hier, was Flauten betrifft, eine ganz verteufelte Lokalität ist.«

Er schnitt das Wort ›Lokalität‹ in zwei Teile und hob die Pause ganz besonders hervor. Es war ein gutes Wort, dachte er selbstgefällig und belobte sich innerlich selbst für seinen Einfall. Er fuhr fort: »Also – seit Mittag liegt diese große Insel –«

»Karimata, Shaw«, unterbrach ihn Lingard.

»Richtig, Sir, Karimata, – meint’ ich auch. Ich muß sagen – ich bin ja fremd in dieser Gegend, daher hab’ ich diese – « er wollte ›Namen‹ sagen, hielt aber inne und sagte statt dessen ›Benennungen‹, jede Silbe genüßlich auskostend. »Ich bin nämlich«, fuhr er fort, »in den letzten fünfzehn Jahren auf Ostindien-Schiffen gefahren, und so bin ich da drüben viel mehr zuhause – in der Bucht.« Er deutete in nordwestlicher Richtung in die Nacht und starrte dorthin, als könnte er von dort, wo er stand, die Bucht von Bengalen sehen, wo er, wie er versicherte, soviel mehr zuhause sei.

»Daran gewöhnen Sie sich schnell«, murmelte Lingard, seinen Ersten Offizier mit seinen raschen Schritten überholend. Dann aber wandte er sich plötzlich um, kam zurück und fragte scharf: »Sie sagten doch vor dem Dunkelwerden, Sie hätten nichts auf dem Wasser bemerkt, wie?«

»Nein, nichts, soviel ich sehen konnte, Sir. Als ich um acht wieder an Deck kam, fragte ich den Serang, ob sich inzwischen was gezeigt hat, und so viel ich ihn verstanden habe, war da nicht mehr zu sehen gewesen als um sechs, als ich runter ging. Das muß hier zeitweilig eine gottverlassene Gegend sein – was meinen Sie, Kapitän? Aber man müßte eigentlich denken, jetzt um diese Jahreszeit würde es hier von Schiffen wimmeln, die von China heimkehren.«

»Ja«, sagte Lingard, »wir sind sehr wenigen Schiffen begegnet, seit wir aus Pedra Branca ausgelaufen sind. Ja – es ist ein einsames Gewässer. Aber, Shaw, diese Gegend ist zwar einsam, aber nicht blind. Jede Insel hier ist ein Auge. Und gerade jetzt, wo unser Geschwader nach der China-See aufgebrochen ist …«

Er beendete den Satz nicht. Shaw steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich mit dem Rücken behaglich an das Oberlicht.

»Es heißt ja, es wird Krieg mit China geben«, schwatzte er darauf los, »und die Franzosen gehen mit uns wie im Krim-Krieg vor fünf Jahren. Mir scheint, wir werden mächtig gut Freund mit den Franzosen. Ich persönlich halte allerdings nicht viel davon. Was meinen Sie dazu, Kapitän Lingard?«

»Ich bin ihren Kriegsschiffen im Pazifik begegnet«, sagte Lingard zögernd. »Die Schiffe waren gut, und die Burschen darauf waren zu mir sehr höflich – hätten gar zu gerne gewußt, was ich da trieb«, setzte er mit einem Auflachen hinzu. »Jedenfalls hatte ich nicht die Absicht, Krieg mit ihnen anzufangen. Ich hatte damals einen alten morschen Kutter für den Küstenhandel«, fuhr er lebhaft fort.

»So? Hatten Sie, Sir?« sagte Shaw ohne jede Begeisterung. »Na, ich ziehe ein großes Schiff vor – ein Schiff, sag’ ich, das man –«

»Und später, vor ein paar Jahren«, unterbrach ihn Lingard, »freundete ich mich mit einem französischen Skipper an, in Ampanam – wir waren nämlich die beiden einzigen Weißen am Ort. Er war ein guter Kerl und freigebig mit seinem Rotwein. Sein Englisch war schwer zu verstehen, aber in seiner eigenen Sprache konnte er Lieder singen, über ah-muhr – ah-muhr bedeutet Liebe im Französischen, Shaw.«

»Das stimmt, Sir – das stimmt. Als ich im Jahr einundvierzig auf einer Sunderland-Bark Zweiter war, im Mittelmeer, da konnt’ ich ihr Zeug daherreden, so leicht, wie man ’ne fünfzöllige Verholleine aussteckt.«

»Ja, er war ein anständiger Mensch«, fuhr Lingard fort, nachdenklich, als spräche er mit sich selbst. »An Land hätte man keinen besseren Kameraden finden können. Er hatte eine Geschichte mit einer Balinesin, die ihm eines Abends, als wir zusammen zum Neffen des Rajah gingen, aus einem Hauseingang eine rote Blume zuwarf. Wir wollten dem Neffen des Rajah unsere Aufwartung machen. Der Franzose sah gut aus, sehr gut sogar – aber das Mädchen gehörte dem Neffen des Rajah, und es wurde eine schlimme Sache daraus. Der alte Rajah geriet in Wut und sagte, das Mädchen müsse sterben. Ich glaube nicht, daß der Neffe so großen Wert darauf legte, sie erdolcht zu wissen, aber der Alte machte viel Aufhebens davon und schickte einen aus seinem eigenen Gefolge, damit die Sache auch wirklich erledigt wurde – und das Mädchen hatte Feinde – ihre eigenen Verwandten waren einverstanden! Wir konnten gar nichts machen. Stellen Sie sich vor, Shaw, zwischen den beiden hatte es absolut nichts gegeben als diese unglückselige Blume, die der Franzose sich an den Rock steckte. Und nachher, als das Mädchen tot war, trug er sie unterm Hemd, in einer kleinen Schachtel um den Hals. Wahrscheinlich hatte er nichts anderes, sie hineinzutun.«

»Haben denn diese Wilden wirklich eine Frau wegen so einer Kleinigkeit umgebracht?« fragte Shaw, der das nicht glauben wollte.

»Aber ja! Sie halten sehr auf Moral. Das war das erste Mal in meinem Leben, Shaw, daß ich beinahe einen Krieg auf eigene Faust angefangen hätte. Wir konnten die Kerle nicht überreden, wir konnten sie nicht bestechen, obgleich der Franzose ihnen alles anbot, was er hatte, und ich bereit war, ihm mit meinem letzten Dollar und meinem letzten Fetzen Baumwolltuch beizuspringen. Es war zwecklos – so verdammt ehrbar waren sie. Also sagt der Franzose zu mir: ›Lieber Freund, wenn sie unser Schießpulver nicht geschenkt haben wollen, wollen wir’s anzünden und ihnen mit Blei zuschicken.‹ Ich war damals schon bewaffnet wie jetzt: sechs Achtpfünder auf dem Hauptdeck und das lange Achtzehnergeschütz auf der Back – und die hätte ich gern ausprobiert, das können Sie mir glauben! Aber der Franzose hatte nichts als ein paar alte Musketen, und die Burschen wickelten uns ein mit schönen Reden, bis eines Morgens eine Bootsmannschaft von dem Schiff des Franzosen das Mädchen tot am Strand liegen fand. Damit war’s aus mit unseren Plänen. Sie hatte es ja nun hinter sich, und kein vernünftiger Mann wird wegen einer toten Frau kämpfen. Rachsüchtig bin ich nie gewesen, Shaw, und – schließlich – sie hatte ja die Blume nicht mir zugeworfen. Aber den Franzosen hat die Geschichte einfach erledigt. Er fing an, allen Mut zu verlieren, machte keine Geschäfte mehr, und kurz danach fuhr er weg. Ich habe von dieser Reise ein ganz schönes Stück Geld mitgebracht, das weiß ich noch.«

Damit schien er seine Erinnerungen an jene Reise beendet zu haben. Shaw unterdrückte ein Gähnen.

»Frauen sind oft die Ursache von Ungelegenheiten«, meinte er wegwerfend. »Auf der Morayshire, entsinne ich mich, hatten wir mal einen Passagier, einen alten Herrn, der erzählte uns eine Geschichte von den alten Griechen, wie sie zehn Jahre wegen irgendeiner Frau Krieg geführt haben. Die Türken hatten sie geschnappt, oder so ähnlich. Jedenfalls kämpften sie in der Türkei, und das will ich wohl glauben, denn diese Griechen und Türken haben immer miteinander gekämpft. Mein Vater war Erster Offizier auf einem der Dreidecker in der Schlacht bei Navarino – damals kamen wir den Griechen zu Hilfe. Aber die Geschichte mit dem Frauenzimmer war lange vorher.«

»Das glaub ich auch«, murmelte Lingard, der über die Reling gebeugt stand und den tief unten im Wasser um den Schiffsrumpf spielenden Lichtreflexen zusah.

»Ja, die Zeiten haben sich geändert. Damals, in den alten Zeiten, waren sie doch recht unaufgeklärt. Mein Großvater war Prediger, und ich halte nichts vom Krieg, wenn auch mein Vater in der Kriegsmarine gedient hat. Der alte Herr nannte Krieg eine Sünde – und ich bin derselben Meinung. Außer mit Chinesen oder Niggern oder solchen Leuten, die in Zucht genommen werden müssen und nicht auf Vernunft hören wollen, weil sie keinen Verstand haben, einzusehen, was gut für sie ist, wenn ihre Vorgesetzten es ihnen erklären – Missionare und andere Au-to-ri-täten. Aber zehn Jahre lang Krieg machen. Und auch noch wegen ’nem Frauenzimmer!«

»Ich habe die Geschichte in einem Buch gelesen«, sagte Lingard; er sprach über die Bordseite hinunter, als ob er die Worte behutsam aufs Wasser setzte, um sie auf See hinaus treiben zu lassen. »Ich habe die Geschichte gelesen. Die Frau war sehr schön.«

»Das macht die Sache nur noch schlimmer, Sir. Sie können sicher sein, sie hat bestimmt nichts getaugt. Diese heidnischen Zeiten kommen nicht mehr wieder, Gott sei Dank. Zehn Jahre lang Mord und Unrecht! Und das alles um ’n Frauenzimmer! Würde sich heute einer darauf einlassen? Würden Sie so was machen, Sir? Würden Sie …«

Der scharfe Ton einer Glocke unterbrach Shaws Redefluß. Hoch oben war das Knirschen eines trockenen Blocks zu hören, ein kurzer und kläglicher Aufschrei wie ein Schmerzensruf. Er durchdrang die nächtliche Stille bis in ihre Tiefe derart, daß die beiden Männer ihre bisherige Zurückhaltung aufgaben und nun lauter sprachen.

»Decken Sie den Bezug über den Kompaß«, befahl Lingard in dienstlichem Ton. »Das Ding leuchtet ja wie der Vollmond. Wir dürfen nicht mehr Licht zeigen, als unbedingt nötig ist, wenn wir nachts ohne Wind und so dicht unter Land liegen. Es ist nicht nötig, gesehen zu werden, wenn man selbst nichts sehen kann, nicht wahr? Denken Sie immer daran, Mr. Shaw. Es könnten sich hier irgendwelche Vagabunden herumtreiben …«

»Ich dachte, damit wär’ es ein für allemal vorbei«, sagte Shaw, mit dem Bezug beschäftigt, »seit Sir Thomas Cochrane vor ein paar Jahren mit seinem Geschwader die Küste von Borneo gesäubert hat. Da hatte er eine ganze Menge Kämpfe, nicht wahr? Wir hörten davon erzählen, von den Leuten vom Kanonenboot Diana, das in Kalkutta zur Überholung im Dock lag; ich war damals auf der Warwick Castle. Sie stürmten die Stadt irgendeines Königs an einem Fluß da herum. Die Burschen waren noch ganz voll davon.«

»Sir Thomas hat gute Arbeit geleistet«, erwiderte Lingard, »aber es wird noch lange dauern, bis das Meer hier so sicher ist wie der Englische Kanal in Friedenszeiten. Ich sagte das mit dem Licht eigentlich nur, um Sie daran zu gewöhnen, daß man in diesen Gewässern hier vorsichtig sein muß. Haben Sie bemerkt, wie wenig Eingeborenen-Fahrzeuge wir in all den Tagen gesichtet haben, die wir hier – so kann man ja wohl sagen – umhergetrieben sind?«

»Ich kann nicht sagen, Kap’tän, daß ich dem irgendeine Bedeutung zugemessen habe.«

»Es ist ein Zeichen, daß irgendwas im Gange ist. Setzen Sie mal irgendein Gerücht auf diesen Gewässern in Umlauf, und es wird sich von Insel zu Insel verbreiten, auch ohne Wind.«

»Ich bin fast mein ganzes Leben lang in der regulären großen Fahrt von England aus gefahren«, bemerkte Shaw sehr bedachtsam, »und so kann ich nicht behaupten, daß ich die Absonderlichkeiten so entlegener Gegenden durchschaue. Aber ich kann wie jeder andere Ausguck halten, und da habe ich doch bemerkt, daß wir in den letzten Tagen keinerlei Fahrzeuge zu sehen bekommen haben, und das scheint merkwürdig, da wir immer – auf der einen oder anderen Seite – fast jeden Tag Land in Sicht hatten.«

»Die Absonderlichkeiten, wie Sie sie nennen, werden Sie schon kennenlernen, wenn Sie eine Zeitlang bei mir bleiben«, bemerkte Lingard nachlässig.

»Ich hoffe, Sie werden mit mir zufrieden sein, ob für lange oder kurze Zeit!« sagte Shaw, die Bedeutung der Worte unterstreichend, indem er sie besonders deutlich aussprach. »Mehr kann ein Mann nicht sagen, der zweiunddreißig Jahre seines Lebens auf See verbracht hat. In den letzten fünfzehn Jahren bin ich Offizier auf englischen Schiffen gewesen, und so verstehe ich nichts von den heidnischen Gewohnheiten dieser Wilden hier. Aber was seemännisches Pflichtgefühl im Dienst anlangt, da werden Sie mich immer auf dem Posten finden, Kapitän Lingard.«

»Außer, wenn’s ums Kämpfen geht, nach dem, was Sie vorhin noch gesagt haben«, bemerkte Lingard mit einem kurzen Auflachen.

»Kämpfen! Ich wüßte nicht, daß irgendwer mit mir kämpfen möchte. Ich bin ein friedlicher Mensch, Kapitän Lingard, aber wenn es darauf ankommt, kann ich ebenso gut kämpfen wie irgendeiner dieser plattnasigen Burschen, mit denen wir uns hier behelfen müssen statt, wie es sich gehört, mit einer anständigen Mannschaft von Christenmenschen. Kämpfen!« fuhr er in unerwartet streitlustigem Tone fort, »kämpfen! Wenn irgendeiner mit mir anbinden will, wird er mich schon auf alles vorbereitet finden, das schwör’ ich Ihnen!«

»Na ja, ist ja schon gut«, sagte Lingard, streckte die Arme über den Kopf und räkelte die Schultern. »Weiß Gott, ich wünschte, es käme endlich Wind auf, damit wir hier wegkommen. Ich hab’s ziemlich eilig, Shaw.«

»Was Sie nicht sagen, Sir! Ich hab doch noch nie einen richtiggehenden Seemann gekannt der’s nicht eilig hatte, wenn er in so einer verfluchten Flaute steckt. Wenn Wind aufkommt … aber hören Sie sich das mal an, Sir!«

»Ich hör’s«, sagte Lingard. »Stromkabbelung.«

»Das hab’ ich mir schon gedacht, Sir, aber was für einen Lärm sie macht. So was hab’ selten gehört …«

Auf der See erschien, so weit die Sicht reichte, ein Streifen schäumender Gischt, der wie ein weißes Band aussah und stetig näher kam, rasch über die glatte Wasserfläche streichend, als ob er an beiden im Dunkeln verschwindenden Enden gezogen würde. Er erreichte die Brigg und erstreckte sich, sie unterlaufend, nach beiden Seiten; und auf beiden Seiten wurde das Wasser kabbelig in zahllosen und winzigen Wellchen, als ob es Wunder wie erregt wäre. Aber inmitten dieses plötzlichen und lauten Aufruhrs blieb das Schiff so regungslos und still liegen, als wäre es fest und sicher zwischen den steinernen Mauern eines Docks vertäut. In wenigen Augenblicken war der Schaumstreifen mit den kleinen Wellen rasch nach Norden gelaufen und außer Hör- und Sichtweite, ohne in der unüberwindlichen Flaute eine Spur zu hinterlassen.

»Das ist aber doch sehr merkwürdig …« fing Shaw an.

Lingard gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. Er schien noch zu lauschen, als ob er ein Echo der rauschenden Flut zu hören erwartete. Und die Stimme eines Mannes, die man von vorne her vernahm, hatte etwas von dem unpersönlichen Klang von Stimmen, die von harten und hochragenden Felsen in die leere Unermeßlichkeit der See zurückgeworfen werden. Die Stimme sagte etwas auf Malaiisch – sie sprach sehr leise.

»Was?« rief Shaw. »Was ist los?«

Lingard legte seinem Ersten Offizier einen Augenblick die Hand auf die Schulter, damit er schweige, und ging dann rasch nach vorne. Shaw folgte ihm, ratlos verwundert. Auf dem Hauptdeck drang durch die Schatten ein schneller und unverständlicher Wortwechsel zwischen dem Kapitän und dem Mann auf Ausguck, und Shaw empfand ein ungewisses und deprimierendes Gefühl, ausgeschlossen zu sein.

Lingard hatte in scharfem Tone gerufen: »Was siehst du?«

Darauf hatte er unmittelbar die Antwort erhalten: »Ich höre, Tuan. Ich höre Riemen.«

»Woher hörst du sie?«

»Ringsum ist Nacht. Ich höre sie in der Nähe.«

»Backbord oder Steuerbord?«

Dieses Mal zögerte die Stimme etwas mit der Antwort. An Deck achtern hörte man das Schlurfen nackter Füße. Jemand hustete. Endlich sagte die Stimme vorne zweifelnd: »Kanan«. »Rufen Sie den Serang, Mr. Shaw«, befahl Lingard ruhig, »und lassen Sie alle Mann wecken. Sie liegen hier alle an Deck herum. Und passen Sie jetzt scharf auf. Irgend etwas ist in der Nähe. Es ist nicht gerade angenehm, so erwischt zu werden«, setzte er in ärgerlichem Ton hinzu.

Er ging hinüber zur Steuerbordseite und stand lauschend, die eine Hand am Royal-Backstag; er kehrte das Ohr der See zu, aber er konnte nichts aus der Richtung hören. Das Achterdeck füllte sich mit unterdrückten Lauten. Plötzlich erhob sich ein langer, schriller Pfiff, laut widerhallend zwischen den Flächen der reglosen Segel, und verstummte langsam, als sei der Laut entkommen und auf dem Wasser davongelaufen. Haji Wasub war an Deck und bereit, die Befehle des weißen Mannes auszuführen. Dann senkte sich die Stille wieder auf die Brigg, und Shaw sprach ruhig: »Ich gehe jetzt mit dem Tindal nach vorne, Sir. Wir sind alle auf dem Posten.«

»Gut, Mr. Shaw. Sehr gut. Passen Sie auf, daß keiner an Bord kommt – aber ich kann doch nichts hören. Keinen Laut. Was Aufregendes kann es nicht sein.«

»Der Kerl hat ohne Zweifel geträumt. Ich habe doch auch gute Ohren, und –«

Shaw ging nach vorne, und das Ende des Satzes verlor sich in einem undeutlichen Murren. Lingard stand und horchte voll Spannung. Auf dem Achterdeck erschienen, einer nach dem andern, die drei zur Zeit wachfreien Matrosen und beschäftigten sich mit einer großen Kiste, die an der Seite des Kajüteneingangs stand. Man vernahm ein Rasseln und Klirren stählerner Waffen, die an Deck gelegt wurden, aber die Männer gaben nicht einmal ein Flüstern von sich. Lingard starrte in die Nacht, dann schüttelte er den Kopf.

»Serang!« rief er halblaut.

Der schmächtige alte Mann lief die Treppe so schnell herauf, daß es aussah, als berührten seine Füße die Stufen nicht. Er stand neben seinem Kapitän, die Hände auf dem Rücken, eine undeutliche Gestalt, aber so straff wie ein Pfeil.

»Wer war auf Ausguck?« fragte Lingard.

»Badroon, der Bugis-Mann«, erwiderte Wasub, heiser und abgehackt, wie er zu sprechen pflegte.

»Ich kann aber nichts hören. Badroon hat sich das Geräusch eingebildet.«

»Die Nacht verbirgt das Boot.«

»Hast du’s gesehen?«

»Ja, Tuan. Kleines Boot. Vor Sonnenuntergang. Beim Land. Jetzt kommt es her – ist schon nahe. Badroon hat es gehört.«

»Warum hast du das nicht gemeldet?« fragte Lingard scharf.

»Der Malim hat ja gesprochen. Er sagte: ›Nichts da.‹ Ich aber konnte sehen. Wie konnte ich wissen, was er im Sinne hatte, oder du, Tuan?«

»Hörst du jetzt etwas?«

»Nein. Sie halten jetzt. Vielleicht haben sie ihr Schiff verloren – wer weiß? Vielleicht haben sie Angst …«

»Na!« knurrte Lingard und bewegte unruhig die Füße. »Ich glaube, du lügst. Was war es für ein Boot?«

»Weißen Mannes Boot. Boot für vier Mann, glaube ich. Klein. Tuan, jetzt hör ich’s! Da!«

Er streckte den Arm aus und deutete eine Zeitlang seitwärts, dann sank ihm der Arm langsam herab.

»Kommt hierher«, setzte er mit Entschiedenheit hinzu.

Von vorne rief Shaw im Ton des Erschreckens: »Da ist etwas auf dem Wasser, Sir! Gerade vor unserm Bug!«

»Schon gut!« rief Lingard zurück.

Eine Masse voll dichterer Dunkelheit glitt jetzt in sein Blickfeld. Von ihr kamen englische Worte – sie erreichten ihn, eins nach dem andern deutlich artikuliert, als hätte jedes einzelne Wort sich einen schwierigen Weg durch die tiefe Stille der Nacht bahnen müssen.

»Was für ein – Schiff – ist – das – bitte?«

Lingard zögerte einen Augenblick. »Englische Brigg«, antwortete er.

»Eine Brigg! Ich dachte, Sie wären was Größeres«, fuhr die Stimme von der See her mit einem Unterton von Enttäuschung fort, wenn auch ebenso langsam. »Ich komme längsseits – wenn – Sie – gestatten.«

»Nein! Auf keinen Fall!« rief Lingard in scharfem Ton zurück. Die gemächlich schleppende Sprechweise des Unsichtbaren war ihm unangenehm und erweckte ein feindseliges Gefühl in ihm. »Nein! Sie kommen nicht näher, wenn Ihnen an Ihrem Boot gelegen ist. Woher kommen Sie eigentlich? Wer sind Sie überhaupt? Wie viele sind Sie da in Ihrem Boot?«

Nach diesen emphatischen Fragen gab es eine Schweigepause, und in dieser Zeit wurde der Umriß des Bootes ein wenig deutlicher. Es mußte noch gute Fahrt gehabt haben, denn es ragte plötzlich höher auf und befand sich fast querab von Lingards Standort, ehe die beherrschte Stimme sich wieder vernehmen ließ: »Ich werde es Ihnen gleich zeigen.«

Dann, nach einer weiteren kurzen Pause sagte die Stimme weniger laut, aber sehr deutlich: »Fest am Dollbord! Fest, John!« Und plötzlich flammte ein blaues Licht auf, das mit fahlem Leuchten ein rundes Bild aus der Nacht hervortreten ließ. Im Rauch und Sprühen dieser geisterhaften Flamme erschien eine weiße Gig mit vier Riemen, in der fünf Mann hintereinander saßen. Ihre Köpfe waren der Brigg zugewandt, in den Mienen war ein Ausdruck starker Neugier zu erkennen, die in diesem grellen und zugleich umheimlichen Licht, einen totenähnlichen Anblick boten und den Mienen interessierter Leichen glichen. Dann tauchte der Mann am Bug das Licht, das er über den Kopf gehalten, ins Wasser, und die Dunkelheit stürzte sich von allen Seiten auf das Boot und verschlang es mit einem lauten und zornigen Zischen.

»Wir sind zu fünft«, sprach die ruhige Stimme aus der Nacht, die jetzt noch dunkler als zuvor erschien. »Vier Mann und ich. Wir gehören zu einer Jacht – einer britischen Jacht …«

»Kommen Sie an Bord!« schrie Lingard. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich dachte, Sie wären am Ende irgendwelche getarnte Holländer von einem Kanonenboot, das sich hier herumdrückt.«

»Spreche ich vielleicht wie so’n verdammter Holländer? Noch einen Schlag, Jungens! Riemen ein! Paß auf vorn, John.« Mit einem sanften Anprall kam das Boot längsseit, und sogleich begann mit einer Art gewichtiger Beweglichkeit die Gestalt eines Mannes die Bordwand der Brigg hinaufzuklettern. Auf der Reling verhielt er einen Augenblick, um ins Boot hinunter zu sprechen: »Etwas abhalten, Jungens«, dann sprang er mit einem dumpfen Aufschlag an Deck und sagte zu Shaw, der nach achtern kam: »Guten Abend, Sir … sind Sie der Kapitän?« »Nein. Auf dem Halbdeck!« brummte Shaw.

»Kommen Sie herauf, hierher, rauf!« rief Lingard ungeduldig. Die Malaien hatten ihre Plätze verlassen und standen in schweigender Gruppe am Großmast. Kein Wort wurde an Deck der Brigg gesprochen, während der Fremde sich zu dem wartenden Kapitän begab. Lingard sah einen untersetzten, adrett aussehenden Mann auf sich zukommen, der an die Mütze griff und seinen Gruß mit kühlem Tonfall wiederholte: »Guten Abend … Kapitän, Sir?«

»Ja, ich bin der Kapitän … was ist los mit Ihnen? Von Ihrem Schiff abgetrieben? Oder was?«

»Abgetrieben? Nein! Wir haben es vor vier Tagen verlassen, und seitdem haben wir das Boot in der Flaute fast ständig pullen müssen. Meine Leute sind fertig. Das Wasser ist auch alle. Ein Glück, daß ich Sie in Sicht bekam.«

»Sie haben mich gesichtet?« rief Lingard erregt. »Wann? Um welche Zeit?«

»Im Dunkeln nicht, wie Sie sich denken können. Wir sind zwischen irgendwelchen Inseln herumgetrieben, nach Süden zu, im Schweiße unseres Angesichts an den Riemen hängend, mal in dieser Durchfahrt, mal in jener – wir versuchten aus dem Wirrwarr herauszukommen. Wir fuhren um eine kleine Insel – völlig kahl, sah aus wie ein Zuckerhut – da fiel mir aus weiter Entfernung ein Schiff ins Auge. In aller Eile stellte ich seine Position fest, und dann legten wir uns noch einmal in die Riemen. Aber eine von diesen Strömungen muß uns aufgehalten haben, denn es dauerte lange, bis wir von der kleinen Insel klarkamen. Ich steuerte nach den Sternen, und Herrgott nochmal, ich fing schon an zu denken, ich hätte Sie irgendwie verfehlt – denn es muß ja Ihr Schiff gewesen sein, das ich sichtete.«

»Ja, das muß es gewesen sein. Wir hatten den ganzen Tag nichts in Sicht«, sagte Lingard zustimmend. »Wo ist Ihr Fahrzeug?« fragte er gespannt.

»Das sitzt hoch und trocken im weichem Schlick – ich glaube etwa sechzig Meilen von hier. Wir sind das zweite Boot, das losgeschickt worden ist, um Hilfe zu holen. Am Dienstag haben wir uns von dem anderen Boot getrennt. Es muß heute nördlich von Ihnen vorbeigefahren sein. Der Erste sitzt drin, hat den Befehl, Singapore anzulaufen. Ich bin der Zweite und sollte hier nach den Straits laufen, auf die Möglichkeit hin, einem Schiff zu begegnen. Der Eigentümer hat mir einen Brief mitgegeben. Unsere Herrschaften haben es satt, in dem Schlick festzusitzen, und warten dringend auf Hilfe.«

»Welche Hilfe haben Sie denn hier unten erwartet?«

»Das können Sie in dem Brief lesen. Kapitän, darf ich um ein bißchen Wasser für meine Leute in dem Boot bitten? Und ich selber wäre Ihnen dankbar, wenn ich was zu trinken bekommen könnte. Wir haben seit Nachmittag nichts mehr in die Kehle gekriegt. Unser Wasserfaß muß geleckt haben.«

»Sorgen Sie dafür, Mr. Shaw«, sagte Lingard. »Kommen Sie mit runter in die Kajüte, Mr …?«

»Carter ist mein Name.«

»Aha! Mr. Carter. Kommen Sie mit. Kommen Sie mit«, fuhr Lingard fort, während er die Kajütentreppe voran ging.

Der Steward hatte die Hängelampe angezündet und eine Karaffe und Flaschen auf den Tisch gestellt. Der Salon, weiß gestrichen mit goldenen Streifen um die Täfelungen, sah einladend freundlich aus. Gegenüber der mit Gardinen vor den Heckfenstern verhängten Ausbuchtung stand eine Anrichte mit einer Marmorplatte, und darüber hing ein Spiegel in goldenem Rahmen. Die halbkreisförmig um das Heck laufende Sitzbank war mit Kissen aus karminrotem Plüsch belegt. Auf dem Tisch lag eine schwarze, in lebhaften Farben bestickte indische Tischdecke. Zwischen den Decksbalken waren Gestelle für Gewehre angebracht, deren Läufe im Lichte blinkten. Zwischen den vier Balken standen vierundzwanzig Gewehre. Ebenso viele Seitengewehre von altmodischer Form umgaben das polierte Teakholz der Ruderverkleidung mit einem doppelten Gürtel von Messing und Stahl. Alle Türen des Salons waren aus den Angeln gehoben und durch Vorhänge ersetzt worden, die aus gelber chinesischer Seide verfertigt schienen und alle vier beim Eintritt der beiden Männer ins Wehen gerieten.

Carter übersah das alles mit einem Blick, aber seine Augen blieben an einem runden Schild haften, der schräg über den messingnen Griffen der Bajonette hing. Auf seinem roten Feld war ein Bündel Blitze, reliefartig und glänzend vergoldet, zu sehen, die sich zwischen den beiden Buchstaben T. L. in der üblichen heraldischen Weise herabstürzten. Lingard betrachtete seinen Gast neugierig. Er sah einen jungen Mann, der aber, mit seinem jungenhaft glatten, sehr sonnenverbrannten Gesicht, den strahlenden blauen Augen, dem Blondhaar und dem dünnen Schnurrbart noch jugendlicher aussah, als er war. Lingard bemerkte seinen erstaunten Blick.