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Die phantastische und tragische Erzählung um einen einsamen Pfandleiher, der eine junge Frau, genannt die Sanfte, heiratet und unterwirft, mit unerbittlicher Strenge und Gefühlskälte quält und infolgedessen schon bald von ihr betrogen wird und an deren Ende seine Frau den Freitod wählt. Der Pfandleiher erkennt zu spät, dass er sie liebt. Während er neben seiner aufgebahrten Frau Totenwache hält, blickt er zurück auf seine kurzen Ehe.
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Seitenzahl: 91
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Die Sanfte
Eine phantastische Erzählung
© 1868 Fjodor M. Dostojewski
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg
erstmals veröffentlicht 1914
Umschlagbild: Fjodor M. Dostojewski
© Lunata Berlin 2019
Vorrede des Autors
Wer ich war und wer sie war
Der Heiratsantrag
Bin der edelste Mensch, glaube aber selbst nicht daran
Lauter Pläne und Pläne
Die Sanfte revoltiert
Eine schreckliche Erinnerung
Ein stolzer Traum
Die Binde fiel
Begreife es nur zu gut
Nur fünf Minuten zu spät
Über den Autor
Ich nenne diese Erzählung eine »phantastische«, obwohl ich sie für durchaus real halte. In gewisser Hinsicht ist sie aber auch wirklich phantastisch: das Phantastische liegt hier in der Form, über die ich mich verpflichtet sehe einiges vorauszuschicken.
Es ist nämlich weder eine Erzählung noch ein Bruchstück aus einem Tagebuch. Denken Sie sich einen Mann, der vor der Leiche seiner Frau steht, einer Selbstmörderin, die sich erst vor wenigen Stunden aus dem Fenster gestürzt hat. Er ist noch ganz bestürzt und hat noch nicht Zeit gehabt, seine Gedanken zu sammeln. Er geht in seinem Zimmer auf und ab und bemüht sich, das Geschehene zu fassen, »seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren«. Er gehört obendrein zu jenen Hypochondern, die mit sich selbst sprechen. So spricht er mit sich selbst, erzählt sich den Sachverhalt, und sucht ihn sich zu klären. Trotz der scheinbaren Folgerichtigkeit seiner Rede widerspricht er sich einige Male wie in der Logik so auch in den Gefühlen. Er rechtfertigt sich und beschuldigt sich zur gleichen Zeit und gerät zuweilen in durchaus nebensächliche Erklärungen; neben einer gewissen Roheit der Gedanken und des Herzens verrät er auch hier und da tiefes Gefühl. Allmählich gelingt es ihm auch wirklich, sich den Sachverhalt zu klären und seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren. Eine Reihe von Erinnerungen, die er in sich weckt, zwingt ihn schließlich, die Wahrheit zu sehen; und diese Wahrheit wirkt erhebend auf seinen Verstand und sein Herz. Gegen das Ende verändert sich sogar der Ton der Erzählung im Vergleich zu dem so verworrenen Anfang. Die Wahrheit zeigt sich dem Unglücklichen recht klar und eindeutig; jedenfalls glaubt er sie so zu sehen.
Das ist das Thema. Der Prozeß der Erzählung dauert, selbstverständlich mit Unterbrechungen, einige Stunden, und ihre Form ist höchst verworren: bald spricht er zu sich selbst, bald wendet er sich an einen unsichtbaren Zuhörer, gleichsam an seinen Richter. So spielt es sich auch immer in Wirklichkeit ab. Wenn ein Stenograph ihn belauscht und alle seine Worte rein mechanisch aufgezeichnet hätte, so wäre die Erzählung etwas unordentlicher und holpriger geworden, als sie bei mir ausgefallen ist; ich glaube aber, daß die psychologische Entwicklung in der gleichen Folge vor sich gegangen wäre wie bei mir. Diese Fiktion eines Stenographen, der alles aufgezeichnet hat (und dessen Aufzeichnungen ich überarbeitet habe), ist eben das, was ich an dieser Erzählung phantastisch nenne. Dieser Kunstgriff ist übrigens nicht neu: so hat ihn schon Viktor Hugo in seinem Meisterwerk »Der letzte Tag eines zum Tode Verurteilten« angewandt. Hugo sagt zwar nichts von einem Stenographen, läßt aber eine noch viel größere Unwahrscheinlichkeit zu, indem er annimmt, daß der zum Tode Verurteilte die Kraft (und auch die Zeit) hat, nicht nur an seinem letzten Tage, sondern auch in seiner letzten Stunde, ja sogar in der letzten Minute Aufzeichnungen zu machen. Hätte er aber auf diese phantastische Voraussetzung verzichtet, so wäre auch das ganze Werk, das realste und wahrste von allen seinen Werken, nie zustandegekommen.
Solange sie hier liegt, ist noch alles gut: ich trete jeden Augenblick hinzu und sehe sie an; morgen wird man sie forttragen – wie werde ich dann allein bleiben können? Sie liegt jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat zwei Kartentische zusammengeschoben; den Sarg wird man erst morgen bringen, einen weißen, mit weißem Gros de Naples ausgeschlagenen Sarg; eigentlich wollte ich gar nicht davon sprechen ... Ich gehe immer auf und ab und will mir über alles klar werden. Seit sechs Stunden gebe ich mir die größte Mühe, kann aber noch unmöglich meine Gedanken sammeln. Die Sache ist nämlich die, daß ich immer auf und ab gehe, immer auf und ab ... Die Sache war so ... Ich werde alles ordentlich der Reihe nach erzählen. (Ja, die Ordnung!) Meine Herren, ich bin ja gar kein Literat, Sie sehen es ja selbst. Das ist ja auch ganz gleich; ich will einfach so erzählen, wie ich es eben verstehe. Das ist ja gerade so entsetzlich, daß ich alles verstehe!
Das war, wenn Sie es durchaus wissen wollen, d. h. wenn ich von Anfang an erzählen soll, das war nämlich so: sie kam ganz einfach zu mir, um ihre Sachen zu versetzen. Mit dem Gelde wollte sie in der Zeitung annoncieren: eine Gouvernante sucht eine Stelle, ginge auch nach auswärts, wäre unter Umständen bereit, auch einfach Stunden zu geben usw., usw. So war es ganz zu Anfang, und sie war für mich nur eine von den vielen, die zu mir kamen. Später begann ich sie aber von den anderen zu unterscheiden. Sie war so schmächtig, blond, von mittlerem Wuchs, im Verkehr mit mir etwas ungelenk und verlegen (ich glaube, daß sie zu jedem Fremden so gewesen ist; ich war für sie natürlich auch ein Fremder wie jeder andere; d. h. wenn man mich als Mensch und nicht als Pfandleiher nimmt). Kaum hatte sie das Geld in der Hand, als sie mir sofort den Rücken kehrte und ging. Und machte alles schweigend. Die anderen feilschen mit mir, zanken, wollen mehr haben; sie sprach aber nie ein Wort und nahm, was ich ihr gab ... Mir scheint, ich werfe alles durcheinander ... Ja: zuerst fielen mir die Sachen auf, die sie mir brachte: silbervergoldete Ohrringe, ein kleines billiges Medaillon – lauter Gegenstände zu zwanzig Kopeken. Sie wußte auch selbst, daß ihre Sachen nicht mehr wert waren, ihrem Gesicht aber konnte ich es ablesen, daß das Zeug für sie einen viel größeren Wert hatte; das war nämlich alles, was sie noch von ihren Eltern besaß; später habe ichs erfahren. Nur einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. D. h. ich muß Ihnen sagen, daß ich mir sonst so etwas nie erlaube: ich benehme mich der Kundschaft gegenüber immer wie ein Gentleman: wenig Worte, höflich und streng. »Ja, streng, streng, streng ...« Einmal erlaubte sie sich aber, mir die Überreste (es waren tatsächlich nur Überreste) einer alten Jacke aus Hasenfell zu bringen, und ich konnte mich nicht enthalten, eine Bemerkung fallen zu lassen, die vielleicht wie ein Scherz klang. Du lieber Himmel, wie sie da rot wurde! Sie hatte so große, blaue, verträumte Augen – wie die plötzlich aufblitzten! Sie sagte aber kein Wort, packte ihre »Überreste« ein und ging. An diesem Tage erst hatte ich auf sie mein Augenmerk gerichtet und mir so ganz gewisse Gedanken, ja ganz besondere Gedanken über sie gemacht. Ich kann mich noch auf einen anderen Eindruck besinnen; wenn Sie wollen, war es sogar der Haupteindruck, die Synthese des Ganzen: nämlich, daß sie furchtbar jung war, so jung, daß man ihr vierzehn Jahre geben konnte. In der Tat war sie damals noch nicht volle sechzehn Jahre alt, es fehlten noch drei Monate. Übrigens wollte ich gar nicht das sagen, und nicht darin lag die Synthese, von der ich eben sprach. Am nächsten Tage kam sie wieder. Sie war inzwischen, wie ich später erfuhr, mit ihrer Pelzjacke bei den anderen Pfandleihern Dobronrawow und Moser gewesen; diese nehmen aber nur Goldsachen, wollten mit ihr gar nicht reden. Ich hatte aber von ihr schon früher einmal eine Gemme (ein ganz wertloses Ding) genommen; wunderte mich später selbst darüber, daß ich es getan hatte: denn ich nehme ja sonst auch nichts als Gold- und Silbersachen an; hatte also bei ihr mit der Gemme eine Ausnahme gemacht. Das war eben der zweite Gedanke, den ich mir über sie machte, ich weiß es noch genau.
Diesmal, nachdem sie also bei Moser gewesen war, brachte sie mir eine Zigarrenspitze aus Bernstein; der Gegenstand war gar nicht so übel, hatte vielleicht einen Liebhaberwert, für mich aber war er ganz wertlos, denn ich nehme ja nur Goldsachen. Sie kam also nach der gestrigen Revolte wieder; daher empfing ich sie streng. Meine Strenge ist Trockenheit. Ich gab ihr für die Zigarrenspitze zwei Rubel, konnte mich aber nicht enthalten, ihr mit etwas gereizter Stimme zu sagen: »Ich tue es nur für Sie; Moser würde einen solchen Gegenstand gar nicht annehmen.« Die Worte » für Sie« betonte ich ganz besonders und gerade in einem gewissen Sinne. Denn ich war wütend. Als sie dieses »für Sie« hörte, wurde sie wieder rot, sagte aber kein Wort, warf mir das Geld nicht vor die Füße, sondern steckte es ein – diese Armut! Wie rot sie aber wurde! Ich sah, wie sehr ich sie verletzt hatte ... Und als sie schon fort war, fragte ich mich plötzlich: war denn dieser Triumph über sie zwei Rubel wert? Ha, ha, ha! Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich mir diese Frage sogar zwei Mal vorlegte: »Ob es sich lohnte?« Und ich entschied sie lachend im bejahenden Sinne. Denn das Ganze erschien mir gar zu amüsant. Es war aber kein schlechtes Gefühl: ich tat es mit Absicht, ja, mit einer ganz bestimmten Absicht; ich wollte sie prüfen, denn es waren mir plötzlich gewisse Gedanken in bezug auf sie gekommen. Das war eben das dritte Mal, daß ich über sie in einem ganz bestimmten Sinne nachdachte.