Die schlafende Agentin - Franc Prosenjak - E-Book

Die schlafende Agentin E-Book

Franc Prosenjak

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Beschreibung

Als junger Priester macht Franc Prosenjak ein Aufbaustudium. In der vorlesungsfreien Zeit bot sich ihm die Gelegenheit, in einem Frauenkloster in der Schweiz als Geistlicher auszuhelfen. Dort lernte er Schwester Dorothea kennen, die ihm ihre Lebensgeschichte erzählte. Sie berührte ihn so sehr, dass er im Nachhinein das Bedürfnis verspürte, sie in literarischer Form festzuhalten. Es ist die Geschichte einer Frau, deren Schicksal sie unverhofft ins Kloster führte. Franc Prosenjak schreibt auf anrührende und spannende Art und Weise von einer Liebe, die nicht sein sollte und einer Frau, die zuletzt doch noch einen Sinn an dem Ort fand, an dem sie eigentlich nicht sein wollte. Nur so viel sei gesagt: Die Aufgabe der jungen Schwester Dorothea sollte sich nicht auf das beschauliche Leben des Klosters beschränken, sondern brachte sie in Berührung mit der aufregenden Welt der Justiz und einem Menschen aus einem fernen Land, den sie vor einem furchtbaren Schicksal bewahren sollte.

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Seitenzahl: 241

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Franc Prosenjak

Die schlafende Agentin

Aus dem Leben einer Ordensfrau

eISBN 978-3-948987-97-8

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: Brigitte van Loh-Wenzel

Covergestaltung: Olaf Tischer

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Ich danke allen, die zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt: Brigitte van Loh-Wenzel für das Cover Bild, dem Verleger Gerd Fischer und meiner Familie, insbesondere meiner Ehefrau Gabriele und meiner Tochter Katarina für hilfreiche Anregungen.

Inhalt

Prolog

Begegnung in einem Frauenkloster

1. Kapitel

Es ist Krieg und Friederike erwartet ihr zweites Kind

2. Kapitel

Charly in Gefahr und die Geburt im Schutzbunker

3. Kapitel

Kloster als Zufluchtsort für Hanni

4. Kapitel

Karl begegnet zum ersten Mal Christine

5. Kapitel

Hannis Mutter wird zu Grabe getragen

6. Kapitel

Hanni braucht eine Mutter und Vater Karl eine Frau

7. Kapitel

Karl und seine Kinder

8. Kapitel

Eine Familie im Umbruch

9. Kapitel

Karl hält um Christines Hand an

10. Kapitel

Die Hochzeit

11. Kapitel

Hanni und Anton

12. Kapitel

Der erste Kuss

13. Kapitel

Hanni als Brötchenverkäuferin

14. Kapitel

Hannis Suche und ihre Zweifel

15. Kapitel

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder

16. Kapitel

Hannis überraschende Entscheidung

17. Kapitel

Charlys Wege

18. Kapitel

Charlys Sehnsucht nach Familienwärme

19. Kapitel

Hannis Zweifel

20. Kapitel

Ein Brief

21. Kapitel

Glück und Unglück wohnen nahe beieinander

22. Kapitel

Hanni vor der Entscheidung

23. Kapitel

Alea iacta est oder Die Würfel sind gefallen

24. Kapitel

Eine traurige Nachricht

25. Kapitel

„Lasst die Toten ihre Toten begraben“

26. Kapitel

Dorothea braucht eine Auszeit

27. Kapitel

Unterwegs durch Innsbruck

28. Kapitel

Ingrid und Anton

2. Teil

1. Kapitel

Begegnung am Brunnen

2. Kapitel

Die Sorgen des Polizisten Oberleitner

3. Kapitel

Zia zwischen Angst und Hoffnung

4. Kapitel

Zias erster Einsatz als Pfleger

5. Kapitel

Zia und Albert

6. Kapitel

Der Rabbi in der Schule

7. Kapitel

Zias Aufzeichnungen

8. Kapitel

Zias Traum

9. Kapitel

Die schlafende Agentin

10. Kapitel

Neuer Wind in der Kleinstadt

11. Kapitel

Amerika

12. Kapitel

Nur ein Jahr später

13. Kapitel

Dorotheas „Magic Drops“

Prolog

Begegnung in einem Frauenkloster

Ich nahm den Zug nach Sankt Gallen und von dort fuhr ich mit dem Bähnli zum Klösterli, wo ich mit skeptischen Blicken empfangen wurde, denn ich entsprach wohl nicht dem Bild eines Geistlichen, das sich in den Köpfen der frommen Schwestern festgesetzt haben mochte: schwarzgekleidet, gut genährt, frömmlerischer Blick, schmalzige Stimme. Von all dem konnte man an mir rein gar nichts finden.

Um das Vertrauen der Schwestern zu gewinnen, erzählte ich ihnen vom Canisianum, wo ich als Priester lebte, um ein Aufbaustudium zu absolvieren, beschrieb die Innsbrucker Professoren, die ich zum Teil persönlich kannte und erwähnte nebenbei, dass ich kürzlich in Rom an einer Privataudienz beim Papst teilgenommen hätte. Die Pförtnerin fragte daraufhin, ob ich auch aus Polen stammte, denn der Klang meiner melodischen Sprache würde sie stark an den Heiligen Vater erinnern, der bekanntlich von dort käme. Ich bejahte es. Damit war das Misstrauen der Nonnen endgültig überwunden und mein jugendliches Aussehen sowie meine legere Bekleidung spielten keine Rolle mehr.

Wegen der strengen Klausur wurde ich in einem Haus neben dem Kloster untergebracht, in der Wohnung des Hausgeistlichen, dessen Urlaubsvertretung ich übernommen hatte.

Vor dem Wohnungseingang hing ein Schälchen mit Weihwasser, jeder Raum wurde mit einem Kreuz und mit Bildern der Heiligen dekoriert; das vom Hl. Antonius, dem Schutzpatron der männlichen Jungfräulichkeit, war gleich zweimal vertreten. Mir wurde klar, worauf man hier als Mann besonders zu achten hatte.

Mahlzeiten nahm ich in einem Zimmer neben der Pforte ein. Daneben gab es ein zweites Zimmer, in dem Stühle und Bänke standen; beide Räume waren durch eine meterhohe Absperrung getrennt, ähnlich wie man sie in manchen Kirchen zwischen Kirchenschiff und Altarraum vorfindet. Die Zweckbestimmung des bestuhlten Raumes, der sich also innerhalb der Klausur befand, wurde mir nach dem ersten Abendessen klar. Kaum hatte ich meine Mahlzeit beendet, kamen Schwestern schweigend in den abgetrennten Nebenraum und ließen sich geräuschlos nieder.

Ich stand auf, um sie besser sehen zu können. Ihre Anzahl schätzte ich auf gut zwei Dutzend. Ihre Körper waren mit Ausnahme der Gesichter komplett verhüllt, so dass sich meiner Wahrnehmung weder ihr Alter noch ihre eventuellen weiblichen Reize erschließen konnte.

Begleitet von einer Gitarristin sang dann die Gruppe mehrere Lieder, die teilweise alpenländisch und einige sogar ein wenig modern klangen.

Mitten in diesem Hauskonzert, das ich als Willkommensgruß für mich deutete, trat eine Schwester herein und ließ sich neben mir nieder. Sie grüßte mich schweigend mit einem dezenten Lächeln. Ich schätzte sie als jung ein, jedenfalls viel jünger als jene, die im anderen Raum immer noch sangen.

Zwischen zwei Lied Vorträgen wurde nach mir auch sie begrüßt, als „ehrwürdige Schwester Dorothea, die gastweise ihre Auszeit unter uns verbringt“.

Mir fiel ein, dass die kommenden Tage ziemlich einsam werden könnten und ich fragte mich, ob ich sie ansprechen sollte.

Unsere Blicke begegneten sich einige Male, aber dabei blieb es auch.

Meine Mahlzeiten nahm ich alleine ein. Zu festgesetzten Zeiten stand das Essen auf dem Tisch, die Schwestern, die mich versorgten, bekam ich nie zu Gesicht. Auch Dorothea lief mir nicht mehr über den Weg.

Die Tage im Kloster vergingen in angenehmer Eintönigkeit. Ich hatte außer der Messfeier in der Früh überhaupt nichts zu tun, dafür ging ich aber täglich in die Umgebung wandern. Anfangs pflegte ich unterwegs die Leute anzusprechen, aber der komplizierte Schweizer Dialekt, mit dem ich konfrontiert wurde, bewegte mich bald dazu, meine Wege schweigend zurück zu legen.

Während einer Wanderung auf den Berg Säntis kam ich zu einer Wasserquelle, an der sich gerade eine Frau erfrischte. Als ich näher kam, erkannte ich meine Bekannte aus dem Klösterli, diesmal in Zivil, nur ihre Kopfbedeckung war ein dezenter Hinweis auf ihren Status als Ordensschwester.

Für eine Ordensschwester bist du ganz schön mutig, so mutterseelenallein unterwegs zu sein, sprach ich sie an.

Über ihr Gesicht huschte ein spitzbübisches Lächeln.

Jetzt bin ich ja nicht mehr allein. Vielleicht können wir den Weg gemeinsam fortsetzen.

Nichts lieber als das, sagte ich erfreut über ihre Aufgeschlossenheit.

Ich trank einen Schluck aus meiner Feldflasche und fragte die Schwester, ob sie auch Durst hätte.

O ja, sehr gerne, sagte sie, nahm die Flasche entgegen und trank daraus.

Sie scheint keine Berührungsängste zu haben, dachte ich.

Bei der Kommunion würden wir auch aus demselben Kelch trinken, sagte sie, als ob sie meine Gedanken erraten hätte.

Wir setzten den Aufstieg gemeinsam fort. Während kurzer Atempausen versuchte ich, sie mit Smalltalk aus der Reserve zu locken, aber sie blieb eine seltsam schweigsame Weggefährtin.

Erst gegen Abend taute sie auf und begann aus ihrem Leben zu erzählen.

Ihre Erlebnisse kamen aus einer Welt, die mir bis dahin unbekannt waren.

Später, als wir uns angefreundet hatten, vertraute sie mir auch ihre Aufzeichnungen an.

Schließlich fügte ich alles zusammen, entstanden ist die vorliegende romanhafte Erzählung. Das Wort „romanhaft“ bedeutet in diesem Fall, dass die wirkliche Person, die hinter Schwester Dorothea steckt, für die Mehrheit der Leser unerkannt bleiben wird.

Und weil ich ein altmodischer Schreiber bin, beginne ich mit dem Anfang.

1. Kapitel

Es ist Krieg und Friederike erwartet ihr zweites Kind

Während es im Zimmer dunkler wurde, blickte Friederike angstvoll durch das Fenster.

Zünde am Abend kein Licht an!, ermahnte ihr Mann sie am Morgen, als er das Haus verließ.

Für die kommenden Nächte muss mit Bombenangriffen gerechnet werden. Beleuchtete Häuser boten sich als günstige Zielscheiben für feindliche Flieger an.

Wenn Frederike in Panik geriet, setzte ihre Atmung aus. Das Medikament gegen Asthma half nur mäßig. Meistens dauerte es ewig, bis sie normal atmen konnte. So auch an diesem Abend, als sie plötzlich einen ohrenbetäubenden Lärm von Flugzeugmotoren vernahm. Sie stieß Stoßgebete aus, die sie seit ihrer Kindheit kannte.

Oh Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen!

Zugleich umfasste sie mit den Armen ihren dicken Bauch, denn sie war hochschwanger.

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre meine Stimme…

Sie erinnerte sich an ihre erste Schwangerschaft. Damals herrschte bittere Armut, aber Krieg gab es noch keinen. Sie war noch gesund und brachte einen Knaben zur Welt, der inzwischen elf war. Wo war er eigentlich, ihr Charly, wie er liebevoll gerufen wurde, obwohl er traditionsgemäß nach seinem Vater Karl getauft worden war? Nach der Schule spielte er gewöhnlich mit den Nachbarskindern, kam nicht selten erst spät am Abend heim. Wenn der Vater schon da war, wurde er von ihm ausgeschimpft, aber niemals verprügelt.

Vater Karl bedauerte, dass er sich so wenig seinem Sohn widmen konnte. Seine gut bezahlte Stellung in der Firma erforderte seinen vollen Einsatz. Fast täglich blieb er bis tief in die Nacht in der Panzerfabrik. Der neue deutsche Reichskanzler rüstete auf. Von ihm kamen immer neue Aufträge. Uns soll es recht sein, aber wozu braucht der ehemalige Maler und Lackierer aus Braunau so viele Panzer, rätselten die Mitarbeiter? Was hat er vor?

Ihre Fragen wurden beantwortet, als Hitlers Kriegspläne bekannt und von vielen Menschen befürwortet wurden. Die Panzer der Nibelungenwerke rollten zuerst gen Osten und schon bald in alle Himmelsrichtungen. Eine große Begeisterung erfasste auch das kleine Alpenland, das sich als Teil des neuen Weltimperiums unter deutscher Führung wähnen durfte.

Während Karl in seiner Arbeit aufging, sorgte Friederike liebevoll für ihren Charly. Der Krieg hatte Karl, der im Grunde ein herzensguter Mensch war, voll in seinen Sog gezogen.

Nach Charly wünschten sie sich weitere Kinder, aber etliche Jahre blieb es beim Wunsch. Als der Krieg ausbrach, schienen beide nicht mehr an Familienzuwachs zu denken. Sie widmete sich dem Bub, der Mann aber ging voll in seiner Firma und in seiner Partei auf.

Im Frühling konnte sie ihn aber unerwartet mit der frohen Nachricht überraschen, schwanger zu sein. Einen Augenblick lang zeigte er überschwängliche Freude. Doch die Euphorie verflog rasch. Der Alltag hatte ihn fest im Griff. Er verließ frühmorgens das Haus, um spätabends heimzukommen und müde ins Bett zu fallen. Als ihr Bauch sichtlich anschwoll, legte er manchmal geistesabwesend seine Hand darauf und sagte verschmitzt: Nun wird Charly bald nicht mehr einsam sein.

Der Krieg dauerte bereits ein halbes Jahrzehnt, als die Stimmung im Lande sich spürbar verschlechterte. Am Himmel tauchten immer häufiger Flieger auf, die Bomben abwarfen und ganze Stadtteile verwüsteten. Karls Miene wurde von Tag zu Tag düsterer. Auch die baldige Ankunft des Kindes, das Friederike unter ihrem Herzen trug, schien ihn kaum noch zu interessieren. Er verkroch sich eher noch mehr in seine Arbeit.

Friederike verbrachte die langen Herbstabende während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft in völliger Dunkelheit. Angst vor der Zukunft und die Sorge um das unbekannte Wesen in ihrem Bauch schnürten ihr zeitweise die Kehle zu. Manchmal konnte sie nur noch am offenen Fenster atmen.

Eines Abends kam Karl wieder spät heim.

Seine Frau saß am Fenster und atmete schwer. Offensichtlich war sie gerade dabei, einen Asthmaanfall zu bekämpfen.

Mit einem verzweifelten Seufzer ließ Karl sich neben ihr auf der Bank nieder und nahm sie in die Arme. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Seine Anwesenheit beruhige sie und der Anfall flaute ab.

Es sieht schlecht für uns aus, sagte er leise. Von Osten die Russen, von Westen die Amerikaner, der Glaube an den Endsieg bröckelt.

Sie ahnte es schon länger. Eine endgültige Niederlage schien kurz bevorzustehen.

Er legte seine Hand auf ihren Bauch und ertastete etwas Rundes, das sich bewegte.

Was für ein Wunder!, rief er und küsste sie.

Im Raum war es dunkel und still geworden. Friederike atmete jetzt langsam und gleichmäßig. Dass sich inzwischen ihre Anspannung gelöst hatte, merkte Karl auch an ihren Tränen, die auf seinen entblößten Unterarm tropften.

Charly kam heim. Er brachte Brot, Speck und Wurst mit.

Seit seine Mutter krank war und der Vater die ganzen Tage auf der Arbeit, fühlte er sich daheim unwohl.

Er hielt sich die meiste Zeit auf dem benachbarten Bauernhof auf, wo er mitarbeitete. Er tat es nicht nur wegen der Lebensmittel, mit denen er regelmäßig belohnt wurde. Ihm war der Familienanschluss wichtig. Er spürte, dass die Bauersleute ihn mochten.

Plötzlich heulten die Sirenen auf. Das geschah in letzter Zeit immer häufiger. Karl löschte die Kerzen. Die Behörden hatten eine totale Verdunkelung angeordnet.

Zum Glück blieb es meistens beim entfernten Donnern. Vor Mitternacht trat völlige Stille ein.

Die Stimmung im Wohnzimmer entspannte sich. Charly schmiegte sich an seine Mutter und schlief ein. Karl trug ihn in die Schlafkammer. Als er zurückkam, fiel er todmüde neben Friederike ins Bett. Früher konnte er die Augen schließen und sofort einschlafen. Jetzt quälten ihn zermürbende Sorgen und er versank erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf voller Albträume.

2. Kapitel

Charly in Gefahr und die Geburt im Schutzbunker

Die beiden Besucher kamen unerwartet.

Den Mann mit der braunen Lederjacke kannte Friederike nicht. Der andere, der eine Strickweste trug, war ein Mitarbeiter von Karl aus der Panzerfabrik.

Wir sind Freunde Ihres Gemahls, sagte die Lederjacke. Sie sind in guter Hoffnung, was nicht zu übersehen ist. Hoffentlich ist Ihr Befinden noch erträglich?

Friederike lächelte verlegen und schaute den anderen, den sie kannte, fragend an.

Der Bekannte räusperte sich, wie einer, dem es ziemlich peinlich ist.

Wir sind mit Ihrem Gatten in derselben Partei. Wir lassen niemanden allein, besonders in dieser schwierigen Lage nicht. Wenn Probleme auftreten, sind wir zur Stelle. Wo wir helfen können, tun wir es gerne.

Wo ist eigentlich ihr Charly?, fragte der andere.

Sie kennen unseren Sohn? Was ist mit ihm?, erschrak sie.

Ihr Mann erzählt gelegentlich von ihm. Und gesehen haben wir ihn auch schon auf dem Schulhof.

Das hörte sich für Friederike an, als ob ihr Bub von diesen Typen bereits beobachtet worden war.

Warum fragen Sie nach unserem Kind? Friederikes Atem geriet ins Stocken, ein erstes Anzeichen für einen baldigen Asthmaanfall. Sie öffnete das Fenster und ließ sich auf der Bank nieder.

Nun ja, sagte der mit der Lederjacke, der Bub scheint nicht ganz gesund zu sein. Er brach neulich beim Sportunterricht zusammen. Ein epileptischer Anfall wäre es gewesen, meinte die Lehrerin.

Friederike spürte, wie ihre Luftwege sich verengten. Jetzt griff sie nach der Spraydose, hielt sie an den offenen Mund und drückte die Medizin in ihren Rachen.

Während sich die Linderung langsam einstellte, fielen ihr die Gerüchte ein, wonach Kranke zu einer Sonderbehandlung verschickt wurden und nicht mehr zurückgekehrt waren. Ihr lief es kalt über den Rücken und sie fühlte sich schrecklich hilflos.

Sie müssen sich keine Sorgen machen, sprach der mit der Lederjacke. Wir wollen ja nur helfen. Unser Volk soll an Leib und Seele gesünder werden. Auch für Epileptiker wird es eine Lösung geben.

Beim Wort „Lösung“ verspürte Friederike in der linken Brust einen stechenden Schmerz. Darüber kreisten schreckliche Gerüchte. Die Lösung wären heimliche Tötungen. In Mauthausen geschehe es am laufenden Band, dass Behinderte und Angehörige der minderwertigen Rassen vergast und verbrannt würden.

Plötzlich hörte man im Flur trippelnde Schritte. Die Tür ging auf und Charly trat herein.

Beim Anblick der fremden Männer erstarrte er.

Wie geht es dir, junger Freund?, wurde er empfangen. Einer der beiden trat zu ihm und berührte mit seinem Zeigefinger die Narbe an seiner Schläfe, die an einen Autounfall vor Jahren erinnerte.

Wie oft erleidet er einen Anfall? Nimmt er Medikamente ein? Wie fühlt er sich zurzeit?

Die Fragen der fremden Männer erfüllten Friederike mit Angst. Charly suchte die Nähe seiner Mutter. Sie stellte sich schützend vor ihn.

Sie bemühte sich nach außen ruhig zu bleiben, während sie die Fragen beantwortete. Charly erinnerte sich an Vaters Gebot, niemals mit Fremden über seine Krankheit zu reden, deshalb sagte er nur:

Danke für die Nachfrage, mir geht es gut!

So, so, dir geht es also gut!

An der Stimme des Fremden ahnte Charly, dass er ihm nicht glaubte.

Dem Jungen scheint nichts zu fehlen, stellte der Bekannte wohlwollend fest. Ein Schwächeanfall beim Sport muss ja nichts Schlimmes bedeuten.

Der Blick des anderen aber blieb düster.

Wir müssen ihn aber beobachten, sagte er an seinen Kollegen gewandt.

Und zu Friederike: Sollte sich seine Gesundheit verschlechtern, so bitten wir Sie, uns Bescheid zu geben. Wie gesagt, wir helfen gerne.

Mit steifer Höflichkeit und mit einem angedeuteten Handkuss verabschiedete er sich von Friederike. Der andere folgte ihm wie ein gehorsames Hündchen.

Als die Haustür hinter ihnen zufiel, erinnerte sich Friederike.

Charly war noch ein Kleinkind, als es passierte. Bei einem Autounfall erlitt er gefährliche Kopfverletzungen. Mit viel Glück sprang er damals dem Tod von der Schippe, meinten die Ärzte. Nach einem langen Aufenthalt konnte er die Klinik verlassen. Kurze Zeit später bekam er seinen ersten Epilepsie Anfall. Dann kamen die Anfälle in unregelmäßigen Abständen, mal stärker, mal schwächer. Erst als man begann, ihn mit einem neuen Medikament zu behandeln, gingen die Beschwerden deutlich zurück. Eine hundertprozentige Entwarnung bekam er aber von den Ärzten nicht.

Im Spätherbst war Friederike eines Abends wieder allein zu Hause. Karl arbeitete noch, die Panzerproduktion in seiner Firma musste verdoppelt werden, deshalb leistete er viele Überstunden. Vor allem an der Ostfront mussten viele zerstörte Panzer mit neuen ersetzt werden.

Auch an jenem Abend hielt sich Charly vermutlich noch beim Bauern auf. Seit sein Vater durch Abwesenheit glänzte und seine Mutter mit Asthma zu kämpfen hatte, kam er nur noch heim, um die verdienten Lebensmittel abzuliefern und zu schlafen.

Du sollst nicht hungern und deine Mutti muss jetzt für zwei essen, pflegte die Bäuerin zu sagen, während sie seinen Rucksack mit Milch, Butter, Wurst und Käse befüllte.

Friederikes Gedanken wurden plötzlich durch donnernden Lärm unterbrochen. Die Sirenen heulten auf, ganz in der Nähe ertönten gewaltige Explosionen.

Die Wohnungstür wurde aufgerissen.

Zwei Männer in braunen Uniformen stürzten herein. Auf in den Schutzkeller!, schrie einer.

Als sie merkten, dass Friederike hochschwanger war, halfen sie ihr beim Treppenabgang und im Keller besorgten sie ihr sogar einen Liegeplatz direkt neben dem Erste Hilfe-Kasten.

Der nach Schimmel und Schweiß stinkende Raum war bereits gefüllt mit Menschen, die mit gedämpften Stimmen miteinander redeten.

Jetzt haben wir den Schlamassel, sinnierte ein alter Mann. Der braune Führer konnte den Hals nicht voll genug kriegen. Er dachte, er könnte den russischen Bären mit links zur Strecke bringen. Stattdessen flüchtet er jetzt mit eingezogenem Schwanz heimwärts.

Hoffentlich kriegt der Dreckskerl die gerechte Strafe, meinte ein anderer.

Er hat sich gründlich verrechnet, unser großer Führer! Vermutlich hat er im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst, sonst hätte er sich den verpatzen Russlandfeldzug Napoleons zu Herzen genommen und seine Soldaten nicht so blauäugig in solch einen sinnlosen Krieg gestürzt, führte ein Gymnasiallehrer aus.

Hunderttausende hat er sinnlos in die Falle laufen lassen, sagte wieder der Alte, wobei seine Stimme plötzlich leise wurde und schließlich ganz verebbte, als er merkte, dass „Braunhemden“ hereinkamen.

Nun schlugen die Bomben schon in nächster Nähe ein. Die Frauen beugten sich schützend über ihre Kinder. Friederike umfasste mit beiden Armen ihren Bauch. Schon vor dem Alarm spürte sie leichte Wehen, jetzt wurden sie stärker und kamen in kürzeren Abständen. Kein Wunder, dachte sie, ihr errechneter Entbindungstermin war bereits überschritten.

Eine ältere Frau, Friederikes flüchtige Bekannte, sprach der Hochschwangeren Mut zu. Sie hätte schon oft bei Entbindungen geholfen und sie wüsste genau, was in solch einem Fall zu tun sei. Auf ihre Worte hin konnte sich Friederike etwas entspannen.

Geschlagene zwei Stunden dauerte der Fliegerangriff. Die Menschen um Friederike zogen jedes Mal ihre Köpfe ein und bedeckten sie schützend mit ihren Händen.

Ich glaube, es ist soweit!, rief sie plötzlich.

Die alte Frau trat sofort in Aktion. Mit geübten Handgriffen half sie bei der Geburt. Nach einer halben Stunde war es soweit. Just in jenem Moment, als das Dröhnen der Flieger aufhörte, erschallte im Luftschutzkeller der erste Schrei eines neugeborenen Kindes.

Das Baby lag bereits an der Mutterbrust und saugte gierig, als Karl im Schutzkeller auftauchte. Auf seinem Gesicht vermischten sich Angst und Freude. Er ließ sich auf den steinernen Boden neben seine Frau nieder. Er betrachtete abwechselnd ihr verschwitztes Gesicht und das Kind, das man ihm schließlich in die Arme legte, wo es aus Leibeskräften zu schreien begann.

Er musste sich sehr zusammenreißen, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

Was ist es eigentlich?, fragte er.

Ein Mädchen, sagte Friederike mit müder Stimme. Und wenn dir der Name Hannelore immer noch gefällt, dann soll sie auch so heißen.

Karl nickte geistesabwesend.

Ein seltsames Feuerwerk zu deiner Begrüßung!, sagte er zum Baby und legte es in die Arme seiner Frau.

Das Neugeborene saugte sich an Mutters Brust müde und schlief bald ein. Es folgte eine beklemmende Stille, die in unregelmäßigen Abständen von entfernten Bombeneinschlägen unterbrochen wurde.

Inzwischen verließen die letzten Bewohner den Luftschutzkeller.

Schließlich stieg auch das Ehepaar mit dem Baby die Treppe hinauf. Vor der Eingangstür ihrer Wohnung fanden sie Charly, der am ganzen Körper zitterte. Friederike nahm ihn in die Arme und tröstete ihn.

Du bekamst gerade ein Schwesterchen, sagte Karl.

Der Junge blickte verwundert auf das Bündel in Vaters Armen, aus dem schrille Laute kamen. Schon jetzt befürchtete er, dass seine Geduld schon bald auf eine harte Probe gestellt werden würde.

Freu dich doch, Charly, sagte Vater Karl.

Ich freue mich ja, sagte der Bub in einem Ton, aus dem blanke Enttäuschung herauszuhören war.

Karl konnte seinen Sohn verstehen. Mit elf Jahren wünscht man sich keine Babys, sondern gleichaltrige Buben zum Fußballspielen.

3. Kapitel

Kloster als Zufluchtsort für Hanni

Der große Führer, dem auch viele Österreicher auf den Leim gegangen waren, hatte sich in Berlin das Leben genommen. Das Weltimperium der Herrenrasse, das in Millionen kranker Hirne spuckte, löste sich wie eine Seifenblase in nichts auf. Wie alle KZs im Reich musste auch jenes in Mauthausen seine mörderischen Aktivitäten einstellen. Die sogenannte Sonderbehandlung des minderwertigen Lebens entpuppte sich als Massenmord. Die Henker flüchteten in alle Himmelsrichtungen, duckten und versteckten sich. Die Überlebenden kamen frei.

Charly brauchte keine Sonderbehandlung mehr zu befürchten. Befreit vom psychischen Druck, sich verstecken zu müssen, wurde er nun seltener von epileptischen Anfällen heimgesucht.

Sein Vater, dessen Nibelungenwerke in Schutt und Asche lagen, musste sich nach einem neuen Broterwerb umschauen.

Heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge, die vom Krieg gezeichneten Einheimischen brauchten Hilfe an Leib und Seele. In seiner eigenen Familie hatte er zwei Sorgenkinder, die auf medizinische Hilfe angewiesen waren. Das Asthmaleiden seiner Frau verschlimmerte sich von Jahr zu Jahr und Charlys Epilepsie war noch nicht unter Kontrolle.

Vermutlich war es gerade seine persönliche Betroffenheit, die Karl zu diesem Neuanfang motivierte.

Von einem Mittäter einer mörderischen Maschinerie, die den Tod säte, wurde er zu einem Helfer der Menschen: von Flüchtlingen und Vertriebenen, von Kranken und Verletzten, von in Not Geratenen.

Er wurde Sanitäter.

Eines Abends kam er spät von seiner Arbeit heim. Im Haus brannte noch Licht. Es herrschte bedrückende Stille. Als er eintrat, bot sich ihm ein Bild, das ihm Angst einjagte.

Charly saß auf einer Bank, neben ihm die kleine Hanni. Beide starrten erschrocken auf die Mutter, die neben dem geöffneten Fenster stand, nach Luft schnappte und die Augen verdrehte.

Karl setzte sich zu ihr, ergriff ihre Hände und sprach ihr Mut zu.

Die heutige Medizin macht Fortschritte. Wir werden einen Spezialisten aufsuchen, der schon vielen geholfen hat. Ich habe seine Adresse, wir wollen uns gleich morgen bei ihm anmelden.

Ich habe Angst um die Kinder, sagte Friederike leise. Charly wird bald auf eigenen Füßen stehen, aber Hanni … Sie ist noch so klein. Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalten kann.

Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir. Wir wollen die Flinte nicht zu schnell ins Korn werfen.

Friederike blickte ihn liebevoll an und nickte.

Und auf Gott vertrauen wollen wir auch!

Da du gerade Gott erwähnst, ich sprach neulich mit Schwester Ludovica. Sie bot uns ihre Hilfe an. Um dich zu entlasten, würde sie ab und zu unsere Hanni unter ihre Fittiche nehmen.

In Friederikes Augen war das ein Zeichen, dass Gott sie nicht vergessen hatte. Wenn eine Ordensschwester sich um Hanni kümmern würde, wäre sie eine große Sorge los. Ihr Töchterchen wäre in guten Händen. Ein Kloster war für sie ein heiliger Ort. Würde Hanni dort ein und ausgehen, könnte sie in Frieden sterben.

Geh hin und nimm das Angebot dankend an, sagte sie.

So fand Hanni im Kloster eine erste Zuflucht und bald schon ein zweites Zuhause.

Am Anfang war sie immer ein wenig traurig, wenn sie ihre kranke Mutter allein lassen musste. Aber mit der Zeit überwog die Freude über eine unbeschwerte Zeit mit Schwester Ludovica.

Je schwächer ihre Mutter wurde, desto häufiger wurde sie von ihrem Vater im Kloster abgeliefert. Schwester Ludovica war nach ihrer Mutter der liebevollste Mensch, dem sie bis dahin begegnet war.

4. Kapitel

Karl begegnet zum ersten Mal Christine

Das Spiel war aus, der Vorhang fiel.

Der Saal wurde erleuchtet, das Publikum applaudierte, die Darsteller kamen nach vorne und verbeugten sich mehrmals.

Der Kaplan, der das Stück einstudiert hatte, hielt eine Dankesrede. Er hob noch einmal die Botschaft von Ein unheiliges Haus hervor, die besagte, dass der Versucher, der manchmal auch in einem Kloster sein Unwesen treibt, niemals das letzte Wort haben darf. Dann dankte er „unserem geschätzten Werkmeister von der Pappenfabrik Fürstmühle“ Karl, der mit seiner lieben Gemahlin Friederike heute Nachmittag zu „unseren Ehrengästen“ zählt. Er hätte aus einfachem Material ein eindrucksvolles Bühnenbild aufgebaut, was „unsere Phantasie enorm angeregt“ hätte.

Christine, rief der Kaplan, die Blumen bitte!

Und schon trat eine junge Frau mit einem Sträußchen zu den Ehrengästen und blieb unsicher vor dem Ehepaar stehen.

Wer soll sie bekommen, der Herr oder seine Gemahlin?

Karl merkte ihre Verlegenheit, nahm behutsam das Sträußchen aus ihren Händen, und reichte es an seine Frau weiter.

Für dich, weil ich so wenig zu Hause war, sagte er.

Bei der Blumenüberbringerin aber bedankte er sich mit einem angedeuteten Handkuss, denn er war ein Kavalier alter Schule.

Als ihre Augen sich begegneten, geschah etwas, was bei einer jungen Frau wie Christine nicht ungewöhnlich war, bei Karl aber, der als Endvierziger innerlich gereift und abgehärtet hätte sein müssen, kaum zu erwarten war: beide erröteten.

So waren sich die junge Christine und Hannis Vater zum ersten Mal bewusst begegnet. Was an jenem Nachmittag niemand ahnen konnte: Der unscheinbare Funke, der bei der Blumenüberreichung zwischen den beiden übergesprungen war, sollte schon bald ein wärmendes Feuer entfachen und das Leben einiger Menschen verändern.

5. Kapitel

Hannis Mutter wird zu Grabe getragen

Hanni stand am Fenster in Ludovicas Zimmer.

Der Trauerzug näherte sich dem Friedhof. Ganz an der Spitze ging ein alter Mann mit einem großen Kreuz. Den Leichenwagen mit dem Sarg zogen zwei Schimmel, die geschmückt waren mit goldumrandeten schwarzen Bändern. Dahinter schritt langsam und würdevoll der Kaplan mit zwei Ministranten, gefolgt von vielen schwarz gekleideten Menschen. Unter ihnen erkannte Hanni nur ihren Vater und ihren großen Bruder.

Schwester Ludovica ärgerte sich über sich selber, als sie bemerkte, wie Hanni ihr Näschen an die Fensterscheibe drückte und den Trauerzug beobachtete. Sie wollte ihr eigentlich den Anblick ersparen. Doch irgendwie ahnte das Kind, dass unten im Dorf in diesem Augenblick etwas geschehen würde, was sie unbedingt sehen müsste.

Wird meine Mama gerade zum Friedhof gebracht?, fragte sie. Ist sie traurig, weil ich nicht dabei bin?

Nein, mein Kind, sie ist nicht traurig, denn sie ist gerade unterwegs zu dem Ort, wo ewige Freude herrscht, erklärte die Schwester und zog Hanni weg vom Fenster.

Komm, wir wollen etwas malen, sagte sie und holte aus dem Regal einen Papierbogen und Farbstifte.

Hanni setzte sich und starrte gedankenverloren das leere Papier an.

Kannst du das Grab malen, in das meine Mama gelegt wird?, wandte sie sich an Ludovica.

Ich versuch es mal, sagte die Nonne.

In einigen Zügen war die Skizze fertig.

Meine Mama muss im Grab nicht mehr leiden, nicht wahr? Papa sagte, ab jetzt freut sie sich nur noch. Sie hat keine Schmerzen mehr und braucht auch keine Medizin. Sie hört im Himmel schöne Musik und wird von Engeln auf Händen getragen.

Das stimmt, bestätigte die Schwester. Im Himmel hat deine Mama alles, was ihr Herz begehrt.

Und mich vermisst sie gar nicht? Und meinen Bruder Charly? Und den Papi?

Ein wenig schon. Aber sie weiß, dass es euch gut geht und ihr einmal im Himmel wieder beisammen sein werdet. Darauf freut sie sich jetzt schon.

Hanni griff nach einem Buntstift und begann über dem Grab geflügelte Wesen zu malen. Die Engelsbilder glichen denen, die sie in einem Bilderbuch gesehen hatte.

Solche Engel werden Mama in den Himmel tragen, sprach das Mädchen. Wann wird das geschehen?

Wahrscheinlich noch heute Nacht, vermutete Schwester Ludovica.

Nach der Beerdigung holte der Vater sie vom Kloster ab. Daheim fanden sie die leere Wohnung vor.

Wo ist Charly?, fragte Hanni.

Er wohnt nicht mehr bei uns. Er ist groß und will für sich selber sorgen. Aber er wird uns schon bald besuchen.

Hanni begann zu weinen.

Charly soll hier bleiben!, schluchzte sie.

Vater Karl nahm sie in die Arme. In Gedanken suchte er nach Worten des Trostes, fand aber keine. Er begann das Lied zu singen, das ihm seine Mutter manchmal gesungen hatte. Und er konnte den Text immer noch auswendig:

Weiß du, wie viel Sternlein stehen …

Mitten im Lied schlief Hanni ein.

Nachdem er sie ins Bett gelegt hatte, trat er zum Fenster, durch das ein seltsames Licht schien. Am Himmel funkelten unzählige Sterne.