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Mein Leben hätte so einfach verlaufen können, wäre ich nicht Pfarrer, sondern zum Beispiel Tellerwäscher geworden! Ich hätte acht Stunden täglich Teller gewaschen, getrocknet und in Schränke eingeräumt. Nach getaner Arbeit wäre ich auf mein Zimmer gegangen, hätte eine Zigarette geraucht, mich mit Wein oder Bier abgefüllt, wäre etwas später ins Bett gefallen und friedlich eingeschlummert. Ich hätte mir keine Gedanken gemacht über Gott und die Welt und hätte ziemlich sicher keine Albträume. Franc Prosenjak erzählt auf seine unnachahmliche Art von seiner Zeit als Pfarrer in der Wetterau. Geschichten, die sein Beruf mitbrachte und die doch viel mehr bedeuten: Sie zeigen das Leben selbst in all seinen Facetten. Zudem schildert der Autor ein Familienereignis, das sein Leben erschütterte und in eine neue Bahn lenkte ... daraus entstanden die "Geschichten für Marlene".
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Seitenzahl: 323
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Franc Prosenjak
Erinnerungen eines Pfarrers
eISBN 978-3-947612-27-7
Copyright © 2019 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Covermotiv: Bruni Schneider
Covergestaltung: Olaf Tischer
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Ich danke:
Gerd Fischer, der dieses Buch in seiner Entstehung begleitete und verlegte.
Bruni Schneider, die für mein 25-jähriges Dienstjubiläum das Bild gemalt hatte, das jetzt den Buchumschlag ziert.
Meiner Frau Gabriele und unseren Kindern Dominik, Katarina und Jonatan, die in unterschiedlicher Weise zur Fertigstellung des Buches beigetragen haben.
Dem Ehepaar Gertrud Collin Trützler und August Trützler für ihren Lektorendienst.
Sowie vielen Menschen von Höchst a.d.N. und Oberau, die mich zum Schreiben inspiriert haben.
Franc Prosenjak,
am 3. Advent, im Jahre des Herrn 2018
Prolog
Erstes Kapitel Pfarrer in der Wetterau
Zweites Kapitel Mein Einstieg in das neue Pfarramt
Drittes Kapitel Meine Gemeindegruppen
Viertes Kapitel Mein Vorbild
Fünftes Kapitel Die Kirche als Grundbesitzerin
Sechstes Kapitel John Andrew
Siebtes Kapitel Der Blick über den Tellerrand
Achtes Kapitel Spätaussiedler
Neuntes Kapitel Ein erfülltes Leben
Zehntes Kapitel Maschwah
Elftes Kapitel Gott und ich
Zwölftes Kapitel Ich bin gerne Landpfarrer
Dreizehntes Kapitel Ich verkünde die frohe Nachricht und keiner merkt’s
Vierzehntes Kapitel Vergessene Kinder
Fünfzehntes Kapitel Der Tod kam unerwartet
Sechzehntes Kapitel Arbeit war ihr Leben
Siebzehntes Kapitel Evangelisch, katholisch, islamisch…
Achtzehntes Kapitel Gott für Kinder
Neunzehntes Kapitel Eine Illusion
Zwanzigstes Kapitel Marlene
Epilog
Anhang Unser Weg mit Marlene
Kurz nach 18 Uhr betritt eine Schwester lächelnd das Zimmer.
Dem Baby geht es gut, sie können es nun besuchen, sagt sie zu John.
Während Kati gerade aus der Narkose erwacht und kaum etwas wahrnimmt, stürzt John zu der Freudenbotin und umarmt sie.
„O God, o Lord, thank you so much!“
Dann stürmt er zur Tür hinaus und ich eile ihm nach bis zum Eingang der Neonatologie, der Neugeborenen-Station. Von einer Pflegerin werden wir in die Abteilung geführt, in der versucht wird, Babies, die zu früh oder mit diversen Defekten zur Welt kommen, mit Mitteln der modernen Medizin lebenstauglich zu machen.
Frauen und Männer in Weiß gehen eiligen Schrittes umher, reden mit gedämpften Stimmen und versorgen ihre kleinen Schützlinge. Wir kommen zu einer Nische mit einem Brutkasten, in dem ein winziges krebsrotes Wesen eingebettet liegt, das mittels Drähten und Schläuchen mit Geräten außerhalb verbunden ist. Beim näheren Betrachten stelle ich fest: Das Baby scheint zu atmen, denn sein Oberkörper pulsiert gleichmäßig.
So habe ich Marlene, meine Enkelin, zum ersten Mal gesehen.
Sie sah so winzig und zerbrechlich aus, dass ich es nicht gewagt hätte, sie anzufassen. Kaum eine Handbreit lang, wog sie weniger als ein Pfund. So stellte ich mir den Däumling aus dem gleichnamigen Märchen vor.
Die Stationsschwester kommt und merkt, wie John und ich ungläubig in den Brutkasten starren.
„Sie können ihre Tochter jeden Tag besuchen, sich zu ihr setzen, ihr etwas erzählen, vorlesen oder singen. Sie können ihr auch ein Spielzeug oder einen Teddybären mitbringen“, sagt sie zu John.
John nickt, aber sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er geistig gar nicht da ist. So hilflos wie in jenem Augenblick hatte ich meinen Schwiegersohn noch nie gesehen.
Einige Tage später verspüre ich auf der rechten Seite meines Oberkörpers ein unangenehmes Stechen. Gegen Abend schmerzt und juckt es unerträglich. Ich betrachte mich im Spiegel und entdecke einen sichelförmigen roten Streifen, der sich über einige Rippen erstreckt. Ich erinnere mich, dass mich so eine Plage vor Jahren schon einmal, damals als Folge von psychischem Stress, befallen hatte. Es war eine Krankheit, die mir bis dahin unbekannt war: die Gürtelrose.
Die Ärztin, die unsere Situation kennt, schärft mir ein, mich ab sofort von der Neugeborenen-Station fernzuhalten. Meine Gürtelrose sei ansteckend, ich darf mich Marlene auf keinen Fall nähern. Der Virus, der in mir steckt, könnte für sie zum tödlichen Gift werden.
John und Kati sind jeden Tag bei Marlene und beherzigen den Rat der Kinderschwester. Unermüdlich erzählen sie ihr Geschichten und singen an ihrem Bettchen. Zwischendurch gehen sie hinaus, um irgendwo Kaffee zu trinken und sich auszuheulen.
Niemand weiß, was ein neugeborenes Kind wahrnimmt, wenn ihm etwas vorgesungen oder erzählt wird. Trotzdem werden die Eltern immer wieder ermutigt, ihr Baby wie ein aufnahmefähiges, interessiertes Wesen zu behandeln. Es soll spüren, geliebt und willkommen zu sein.
Im Geiste versetze ich mich in Marlene, wenn sie den Liedern und Geschichten aus dem Munde ihrer Eltern lauscht.
In meiner Phantasie lese ich Marlenes Gedanken:
Die Lieder, die Mama und Papa mir vorsingen, klingen wunderbar. Und die Geschichten, die sie mir erzählen, hören sich sehr geheimnisvoll an. Die Welt, in der sie sich ereignen, muss ja toll, interessant und voller Wunder sein. Ich will diese Welt kennenlernen, ihre Geheimnisse erleben, selber ein Teil einer wunderbaren Geschichte werden.
Ich will überleben.
Auch ich würde gerne meiner Enkelin Geschichten erzählen, sie auf unsere Welt neugierig machen, sie zum Leben ermutigen. Doch meiner Gürtelrose wegen darf ich nicht zu ihr. Während ich dies zutiefst bedauere, wird in mir die Idee geboren, aufzuschreiben, was ich ihr sonst erzählen könnte.
Entstanden sind meine Geschichten für Marlene.
Es fiel uns nicht leicht, der Gemeinde am Taunus den Rücken zu kehren. Wir wohnten dort in einem Haus, in dem es im Sommer angenehm kühl und im Winter kuschelig warm war. Wir kannten eine Oma, die unsere Kinder hütete, wenn wir abends ausgingen, hatten nette Nachbarn und lernten immer neue Menschen kennen, die uns wohl gesonnen waren.
Aber ich teilte die Pfarrstelle mit einem Kollegen, der schon seit langem dort diente. Er war Deutscher und im Gegensatz zu mir von Kindesbeinen an evangelisch. Wir konnten uns von Anfang an nicht leiden und schon bald hegten wir füreinander ähnliche Gefühle wie zwei Hunde, die sich gegenseitig an die Gurgel wollten. Nach einem heftigen Streit packte ich ihn einmal an seinen Füßen und wirbelte ihn einige Male wie ein Lasso um meinen Kopf, bis er bewusstlos wurde, worauf ich ihm auf den Stufen des Altars mit einer Axt den Kopf abgehackt habe. Auf diese Weise pflegte ich schon als Kind Hühner zu schlachten.
Am nächsten Morgen, in der Früh, war ich heilfroh, dass sich das Drama nur in meinem Traum abgespielt hatte.
Damit es irgendwann nicht wirklich so weit käme, achtete ich fortan darauf, dass ich meinem Amtsbruder nur tagsüber begegnete. Auch gab ich das Rasiermesser, ein Erbstück meines Vaters, mit dem ich mich gelegentlich nass rasierte, meiner Frau in Verwahrung, mit der Auflage, mir das Werkzeug nicht auszuhändigen, falls ich einmal nach einer Besprechung mit dem Kollegen im erregten Zustand heim kommen und danach verlangen sollte.
Als ich meinem Chef, dem Dekan, unser Problem schilderte, meinte er: „Selig die Beine, die am Altar stehen alleine“.
Also begab ich mich sofort auf die Suche nach einer Pfarrstelle, wo mir am Altar kein anderer Pfarrer in die Quere kommen konnte.
Meine Frau und ich schauten uns in der näheren Umgebung die Pfarrstellen an, die von älteren Kollegen betreut wurden. Zu unserer Enttäuschung sahen sie alle recht rüstig aus, keiner klagte über geschwollene Beine oder Atemnot, keiner gab zu erkennen, dass er freiwillig die Stelle räumen oder wegen irgendwelcher Vergehen fortgejagt werden müsste.
Wir mussten unsere Fühler aufs flache Land, nach draußen in die „Prärie“, wie sich meine Gattin ausdrückte, ausstrecken.
„Bleib lieber hier“, rieten mir einige Kollegen. „Wer weiß, ob dich überhaupt eine andere Gemeinde nimmt. Jetzt bist du in einer weltoffenen Stadt, wenn du aber zum Beispiel in den Westerwald oder in die Wetterau kommen solltest, wo sonst niemand hin will, könnte es für dich als Ausländer, der zu allem Unglück noch katholisch war, unangenehm werden“.
Ich wunderte mich über ihre Bedenken, denn ich war ein vorzüglich ausgebildeter Pfarrer, beherrschte alles, was man in diesem Beruf benötigt, und war laut unserer vierjährigen Tochter der hübscheste Mann weit und breit.
Zu meinem Glück sah ich auch ziemlich deutsch aus. Nicht nur, dass ich eindeutig der weißen Rasse angehörte, ich aß auch gerne gegrillte Haxen mit Sauerkraut, was ich, ganz nach deutscher Manier, mit einer beachtlichen Menge Gerstensaft zu begießen imstande war. Rein äußerlich konnte man mich also nicht unbedingt für einen Ausländer halten. Dass ich Sohn eines Partisanen war, sozusagen aus dem „feindlichen“ Lager stammte, konnte auch niemand ahnen. Sobald ich aber meinen Mund aufmachte, erkannte jedes Kind, dass ich kein Deutscher war. Ich beherrschte die Sprache der Dichter und Denker zwar gut, aber mein Akzent und meine Aussprache haben mich eindeutig als einen Fremden mit slawischen Wurzeln stigmatisiert.
In der bisherigen Pfarrei hatte sich kaum jemand über meinen Akzent mokiert. Eher fand man meine Sprache unterhaltsam. Meine Konfirmanden zum Beispiel nützten das geschickt aus. Sie fanden schnell heraus, dass die Findung des richtigen Artikels vor Substantiven für mich die reinste Lotterie war. Während unserer Konfirmationsstunden entwickelten sie ein Spiel, das sich gut eignete, von den allzu ernsten Inhalten des Katechismus abzulenken.
Im sogenannten „Artikel-Quiz“ sagten sie mir Substantive vor, denen ich den jeweils richtigen Artikel zuordnen musste. Heißt es die, der oder das Bach? Vor Nidder müsste eigentlich der stehen, aber richtig ist die Nidder. Auch „Bach“ ist in manchen Gegenden merkwürdigerweise nicht der sondern die Bach, zumindest umgangssprachlich. Vor „Rhein“ steht ein „der“, wogegen „Donau“ sich mit „die“ zufrieden gibt. Wer bitte schön soll aus diesem Durcheinander schlau werden?
Die Konfirmanden johlten vor Vergnügen, wenn ich wieder einmal in eine Artikelfalle tappte. Sobald nämlich das geschah, durften sie die Regie übernehmen und den Rest des Nachmittags nach ihrem Gusto gestalten. Im Sommer entschieden sie sich für Eis essen, im Winter war Schlittschuhlaufen die beliebteste Alternative zu meinem klassischen Konfirmandenunterricht, der sich hauptsächlich in Singen, Beten und Bibel lesen erschöpfte.
Die Erwachsenen fanden meine sprachlichen Defizite nicht übermäßig schlimm. Manche meinten sogar, ich solle um Gottes willen nicht versuchen, sprachlich perfekt zu werden, denn die Ausländer, die einen solchen Ehrgeiz an den Tag legten, wären lächerliche Angeber, die sich anmaßten, so zu sein wie die echten Deutschen. Ich dagegen solle mich klug verhalten, ruhig zu meinem Status als Ausländer stehen, meinen typisch slawischen Tonfall beibehalten und weiterhin für die Erheiterung der Gemüter zuständig bleiben.
So nett waren die Menschen am Fuße des Taunus zu mir, während ich jahrelang als Seelenhirte unter ihnen weilte.
Sollte es in der Wetterau, wo ich mich nach langer Suche in einer Landgemeinde vorstellen wollte, anders werden? Lebten dort wirklich Menschen von einem anderen Schlag? Werden sie so hartherzig sein und mich als Fremdling ablehnen?
Hinter der Friedberger Warte endete die Stadt Frankfurt. Die ländliche Idylle, die sich in Gestalt von kleinen Dörfern, bunten Obstwiesen und goldgelben Rapsfeldern vor meinen Augen auftat, bezauberte im Nu meine Sinne.
Seit ich Pfarrer wurde, zog es mich aufs Land. „Meine“ Kirche sollte in einem Dorf stehen und von einem Friedhof umgeben sein. Das hatte mich schon als Kind an unserer Dorfkirche am meisten beeindruckt: Während wir im Gotteshaus die heilige Messe feierten, dachte ich an die Toten, die außerhalb der Kirche begraben lagen und auf den Jüngsten Tag warteten. Meistens dachte ich an meinen verstorbenen Opa und stellte mir vor, wie er im Jenseits seinen Ledergürtel schwingt und sich maßlos ärgert, weil ich seit seinem Tod seinem Zugriff entzogen war.
Zwei beschauliche Dörfer, die auf einen neuen Pfarrer warteten, lagen an einem Flüsschen und waren nur durch einen Wiesenstreifen voneinander getrennt.
Es war Sommer, als wir uns die Pfarrstelle zum ersten Mal angeschaut haben.
„Hähnewettkrähen“ war auf einem Transparent zu lesen, das über der Hauptstraße des ersten Dorfes gespannt war und im Wind flatterte. Wenn um die Wette getrunken, gegessen oder gesungen würde, das könnte ich mir noch vorstellen. Aber dass Hähne um die Wette krähen? Es muss ein ganz besonderes Dorf sein, in das uns das Schicksal, oder meinetwegen göttliche Fügung, verschlagen will, ging es mir durch den Kopf.
Wir parkten vor der Pfarrhauseinfahrt.
Eine Frau kam aus dem angrenzenden Fachwerkhaus, beschenkte unsere Kinder mit Bonbons und Schokolade.
Ein Mann tauchte auf, zeigte uns das geräumige Pfarrhaus, das nach dem Weggang des letzten Pfarrers gerade renoviert wurde.
Ein großer Garten war vorhanden.
„Hier könnten wir Gemüse anbauen“, sagte ich zu meiner ehemaligen Verlobten Gabi, und zeigte auf die große Fläche, die sich um das Pfarrhaus erstreckte und die größtenteils mit hohem Gras und Dornengestrüpp überwuchert war.
Unweit vom Pfarrhaus lag neben einem Schloss die Kirche mit großen bunten Fenstern. An der Kirchmauer lagen uralte Grabsteine angelehnt, deren Inschriften der Zahn der Zeit unleserlich gemacht hatte. Hier wurde seit mehr als hundert Jahren niemand mehr beerdigt. Skelette lagen aber noch unter der Erde, erzählte Karl, einer der Kirchenvorsteher. Das genügte mir.
Hier wollte ich als Pfarrer bleiben.
Während meine Familie auf dem nahe gelegenen Spielplatz Zerstreuung suchte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg ins „Filialdorf“, das auf der anderen Flussseite lag und ebenfalls zur Pfarrstelle gehörte. Eine schmale Straße war beidseitig von einem See umgeben, auf dem ein Surfer, einige Paddelboote und zahlreiche Wasservögel das idyllische Bild einer ländlichen Romanze abrundeten.
Es sei kein See, belehrte uns ein Einheimischer, sondern eine von mehreren Überschwemmungen, die schon mal im Laufe eines Jahres wiederholt herrliche Seenlandschaften hervorzaubern und deren Wassermassen früher oder später in den Main abfließen würden.
Im Winter gefriere das Wasser zu einer geräumigen Eisfläche, was zahlreiche Schlittschuhläufer auf den Plan rufen würde.
Später erzählte ich meiner Familie davon.
O ja, hier wird Eishockey gespielt, wie cool ist das denn!, schwärmte Dominik.
Cool! rief Kati.
Cool! hätte auch Joni gerufen, wenn er sich in seinem Babyalter schon hätte äußern können, denn auch seine Begeisterung für alle Wintersportarten war später kaum zu bremsen.
Ganz interessant, sagte die Mutter der drei zuvor Genannten und signalisierte damit ihre Bereitschaft, den Umzug in die Wetterau mitzutragen.
Werden sie mich nehmen? Die Frage, die ich zwischendurch verdrängt hatte, beunruhigte mich plötzlich. Zweifel wurden in mir wach, ob es richtig war, das gemachte Nest in der Stadt am Taunus zu verlassen und sich nun in dieser ländlichen Gegend ein neues bauen zu wollen.
Wäre ich noch katholisch, könnte ich mit der Zustimmung des zuständigen Bischofs sofort in ein x-beliebiges Pfarrhaus einziehen und das Pfarramt an mich reißen. In der evangelischen Kirche hat der Kirchenvorstand, dem Aufsichtsrat einer Firma vergleichbar, bei der Pfarrstellenbesetzung Mitspracherecht.
Das Treffen mit dem Kirchenvorstand, das schon bald zustande kam, wurde vom Dekan, meinem Chef in spe, moderiert.
Er war nicht mehr der Jüngste, seine Stimme war weich, er nannte mich Bruder und siezte mich dabei. Die durch Bruderbezeichnung hergestellte Intimität im gleichen Atemzug durch die Sie-Form zu entschärfen, fand ich raffiniert. Vielleicht war es als Witz gedacht, dachte ich. Eine vergleichbare Umgangsform war mir bis dahin noch nicht begegnet.
Die versammelten Kirchenvorsteher betrachteten mich neugierig. Es waren fast nur alte Leute, Menschen, die wohl schon viel erlebt haben und vermutlich mit Überraschungen umgehen konnten. Sie räusperten sich, putzten ihre Brillengläser, schnäuzten sich und nippten an ihren Wassergläsern. Mein direkter Nachbar trug die Namen der Anwesenden in das Protokollbuch ein, dann begann er am Seitenrand kleine Figuren zu zeichnen.
Ich betrachtete die Gesichter meiner Gesprächspartner und entdeckte an ihnen keine Züge, die mir auf Anhieb unsympathisch gewesen wären. Gangster und Mörder stellte ich mir anders vor. Die Tatsache, dass sie überwiegend schwiegen, verlieh ihnen eine gewisse philosophische Note.
Nun wurde ich vom Dekan aufgefordert, mein bisheriges Leben offen zu legen. Ich schilderte meine Kindheit in Slowenien, verschwieg nicht, dass ich phasenweise mit Tito sympathisierte und Jugoslawien für das beste Land der Welt hielt. Ich erwähnte, wie ich auf verschlungenen Wegen meinen mühsam erlernten Beruf eines Bergmanns an den Nagel hängte, plötzlich fromm und nach einem unterhaltsamen Studium der Theologie sogar katholischer Priester wurde. Die Bürde des Zölibats, die mit dem Priesterberuf gekoppelt war, und die man rund um die Uhr zu tragen hat, erwies sich aber für mich als zu schwer, sodass ich eines Tages in die Niederungen des profanen Lebens zurück gestolpert war. Ich heiratete und wurde evangelischer Pfarrer. Ein wenig katholisch blieb ich aber dennoch, bekannte ich, und gab offen zu, zum Beispiel nach wie vor Weihrauch gerne zu riechen und keine Scheu vor Weihwasser zu empfinden. Alles in allem hätte ich mich also rein zufällig in die evangelische Kirche verirrt und bäte um Nachsicht, wenn es mir zur Zeit noch schwer fiele, als lupenreiner protestantischer Pastor aufzutreten. Ich wäre aber ernsthaft bemüht, nicht nur pro forma, sondern auch innerlich, ein Protestant zu werden.
Das erzählte ich dem kirchlichen Gremium, obwohl ich mir selber nicht sicher war, weder ob ich je richtig katholisch war, noch ob ich ernsthaft protestantisch werden wollte. Sicher war ich mir nur darüber, dass ich gerne den Rest meines Lebens als Landpfarrer fristen würde. Ob katholisch oder evangelisch, das war mir egal.
Ich holte kurz Luft und ließ meinen Blick in der Runde schweifen, um die Wirkung meiner Äußerungen von den Gesichtern abzulesen. Niemand schien sich übermäßig zu entsetzen.
Ermutigt durch wohlwollende Blicke der Anwesenden setzte ich meine Vorstellung fort, indem ich etwas näher auf meine dramatischen Lebensumbrüche einging.
Recht ausführlich schilderte ich, wie ich auf einer Ski-Piste in Tirol einer Frau begegnete, die mich seelisch und körperlich derart beeindruckte, dass ich erstens das Gelübde des Zölibats vergaß und zweitens bereit war, ihr nach Deutschland zu folgen und dort mit ihr ein risikoreiches Leben zu beginnen. Sie begleite mich nun als meine Ehefrau durchs Leben.
Einige der Anwesenden äußerten den Wunsch, ich möge die Umstände, wie ich das Zölibatsgelübde zum ersten Mal brach, etwas ausführlicher schildern, was allerdings Bruder Dekan, mein zukünftiger Chef, geschickt zu verhindern wusste.
Ja, ja, die Wege Gottes sind verschlungen, warf er mit andächtiger Stimme ein.
Und dann haben Sie sich, Bruder Franc, zum evangelischen Glauben bekehrt, lenkte er vom angeschnittenen Thema ab und blickte mich erwartungsvoll an.
Ich zuckte zusammen und überlegte, was er von mir hören wollte. Völlig unklar war mir, wie er auf den verwegenen Gedanken gekommen war, ich hätte mich bekehrt.
Was macht einen Menschen zum Bekehrten?, ging mir blitzartig durch den Kopf. Vor meinem geistigen Auge ließ ich einige der großen Bekehrten der Kirchengeschichte Revue passieren.
Saulus zum Beispiel, der, fest verwurzelt im jüdischen Glauben, die ersten Christen verfolgt hatte, wurde eines Tages von seinem hohen Ross gestoßen und bekehrte sich Hals über Kopf zum Christentum. Vom grimmigsten Verfolger der Christen wurde er ihr eifrigster Anhänger. Seine innere Verwandlung war so radikal, dass er seinen alten Namen, Saulus, aufgab und sich in Paulus umbenennen ließ. Nach seinem Bekehrungserlebnis war er so in Christus vernarrt, dass er alles andere für Dreck erachtete.
Hatte ich mit Paulus etwas gemeinsam? Eher nicht, denn ich bin noch nie von einem Pferderücken gestoßen worden, hatte noch nie jemand seines Glaubens wegen verfolgt und hielt es niemals für nötig meinen Namen zu ändern. Außerdem schrieb ich nie so langatmige Briefe wie Paulus.
Dann kam mir Kaiser Konstantin in den Sinn. Er wurde christlich, nachdem er am Himmel ein Zeichen des Kreuzes erblickt haben soll und die göttliche Stimme ihm angeblich befahl, fortan als christlicher Kaiser über die Welt zu herrschen. Wenn einer Zeichen am Himmel sieht und plötzlich Stimmen hört, um damit seine Macht zu begründen, dann sind gewisse Vorbehalte in Bezug auf seine Glaubwürdigkeit erlaubt. Jedenfalls hatte Konstantin als Konvertit der jungen Kirche einen Bärendienst erwiesen. Mit ihm erlag die ehemals arme und schutzlose Christenschar der Versuchung, reich und mächtig zu werden, was sie manchmal meilenweit von der Botschaft Jesu entfernte und immer wieder an den Rand des Abgrundes trieb.
Auch mit Konstantin hatte ich absolut nichts gemein. Ich sah niemals Zeichen Gottes am Himmel, noch hörte ich je eine Stimme von oben, von Stimmen allerdings, die mir seit eh und je in meinen Träumen zuteilwerden, einmal abgesehen.
Auch der heilige Augustinus war ein Bekehrter des klassischen Altertums. Als junger Mann war er ein Herzensbrecher und Frauenversteher, lebte in Saus und Braus auf Kosten seiner reichen Eltern, während seine Mutter Monika, eine gläubige Christin, sich ob seines sündigen Lebenswandels die Haare raufte und unablässig für die Errettung seiner Seele betete. Dreißig Jahre lang soll sich der himmlische Herrscher die Gebete der zutiefst besorgten Mutter angehört haben, bevor er sie erhörte, endlich die Notbremse zog und aus dem jungen Lebemann einen Asketen und frommen Nachfolger Jesu Christi machte.
Auch mit Augustinus hatte ich auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Aber nur auf den ersten. Denn wie seine Mutter für Augustinus so hatte auch meine Mutter laut ihren eigenen Aussagen für mich stetig gebetet. Aber was hatte sie am Ende erreicht? Statt zu einem marienfrommen katholischen Priester mutierte ich zum protestantischen Pfarrer. Was für eine Enttäuschung für sie! Ob sich bei der Datenübertragung auf der Linie zwischen Gott und meiner Mutter Fehler eingeschlichen haben? Das Ergebnis ihres Betens wich jedenfalls stark von ihren Wünschen ab.
Ich stöberte in meinem Gedächtnis nach weiteren Bekehrten, aber es fiel mir nur noch mein Onkel väterlicherseits ein, der sich sein Lebtag über die Kirche lustig gemacht hatte, als er aber alt und schwach wurde, bekam er kalte Füße, welche er letztendlich nicht vom Höllenfeuer wärmen lassen wollte, weshalb er noch kurz vor seinem Ableben fromm wurde.
Auch beim intensiven Nachdenken fand ich mich in keinem von diesen Bekehrten wieder.
Auf die Gefahr hin, dass mir die Anwesenden ihre Zuneigung entziehen, fasste ich mir ein Herz und sagte:
Nein, ich halte mich nicht wirklich für einen Bekehrten. Mein Glaube hat sich nicht verändert, die Bibel, aus der ich als katholischer Priester las, blieb dieselbe, lediglich das katholische Gotteslob tauschte ich für ein evangelisches Gesangbuch ein.
Dass ich in beiden knapp die Hälfte der Lieder als äußerst gewöhnungsbedürftig fand, verschwieg ich aus rein opportunistischen Gründen.
Über das gütige Gesicht des Dekans huschte ein Schatten der Missbilligung. Er schüttelte sein Haupt und machte eine Handbewegung vor seinem Gesicht, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben. Er befürchtete vielleicht, dass mit mir sich jemand in sein Dekanat einschleichen wollte, der möglicherweise noch nicht bekehrt und im schlimmsten Falle noch ziemlich katholisch war.
Sie waren zuerst katholisch und sind dann evangelisch geworden. Da muss doch in Ihrem Herzen etwas passiert sein, Bruder Franc, oder?, hakte er nach.
Ich hasste es, immer in Schubläden gesteckt zu werden, in die ich nicht oder nur teilweise passte.
Aber um des lieben Friedens willen und um die Stimmung der Anwesenden nicht ganz zu ruinieren, sagte ich: Gewiss, gewiss, ja, sicher doch, ich war mehrere Jahre als katholischer Priester tätig und nun bin ich seit fünf Jahren evangelischer Pfarrer.
Dann fragte der Herr Dekan nach meinem Verhältnis zu Maria.
Für einen Moment dachte ich, er meinte jene Maria aus Tirol, die uns im Priesterseminar bekocht hatte. Da er aber die fesche Köchin nicht kennen konnte, war ich mir ziemlich sicher, dass er mit Maria die selige Jungfrau im Sinne hatte.
Da holte mich also das leidige Thema wieder ein. Wie hältst du es mit Maria? Seit ich Priesteranwärter wurde, versuchte man mich für die himmlische Jungfrau zu begeistern. Zuerst in Form von Marienandachten, die wir über uns ergehen lassen mussten. Der Spiritual, unser väterlicher Guru, erzählte uns an jedem lausigen Maiabend eine süßliche Geschichte über Maria, die sich irgendwelchen schlichten Gemütern, meistens ahnungslosen Kindern, gezeigt haben soll. Solche Mirakel sollen sich in Frankreich, Spanien, Portugal und zu guter Letzt sogar in Bosnien ereignet haben, in Ländern also, wo Menschen wegen Armut und hoher Sommertemperaturen für Visionen besonders empfänglich sind.
Diese Andachten zogen sich wie Schneckenschleim durch die lauen Maiabende, die ich viel lieber mit einer echten Maria aus Fleisch und Blut verbracht hätte.
Dabei kam ich durchaus aus einem erzkatholischen Haus, in dem Maria hoch im Kurs stand.
Meine Mutter und alle meine Schwestern zum Beispiel glaubten fest an Maria. Mein Vater, mein älterer Bruder und ich, wir waren die schwarzen Schafe der Familie, die sich dazu nicht durchringen konnten, sagte ich schließlich vor dem Gremium, um anzudeuten, dass mich schon von Kindesbeinen an gewisse protestantische Merkmale auszeichneten.
Ich mag die Mutter Jesu, finde sie mehr als sympathisch, bewundere ihr Gottvertrauen, hätte gerne einen solchen Glauben wie sie, aber ich distanziere mich von jenen Gläubigen, die Maria vergöttern und anbeten, ergänzte ich und merkte, wie meine Gesprächspartner aufatmeten, allmählich auftauten und zunehmend bereit wurden, mich in ihr Herz zu schließen.
Drei Wochen später wurde mein Vorstellungsgottesdienst gefeiert. Ich sollte der Gemeinde ein authentisches Bild von mir vermitteln. Denn inzwischen kursierten in beiden Dörfern Gerüchte, die einer bunten Fantasie entsprungen waren. In einem wurde ich als ein katholischer Missionar gehandelt, der mittelfristig die beiden Dörfer in den Schoß der katholischen Kirche zurückführen wollte. In einem anderen spielte ich die Rolle eines Spions, der vom jugoslawischen Geheimdienst nach Deutschland eingeschleust worden war.
Am Tag meiner Selbstvorstellung waren die Kirchenbänke nur spärlich besetzt. Das war ungewöhnlich.
Nahmen die Menschen meine Kandidatur nicht ernst? War es ihnen egal, wer die nächsten Jahre ihre Kinder tauft und unterrichtet, ihre Kranken begleitet und ihre Toten beerdigt?
Ich sollte mich vorstellen, der Gemeinde einen Vorgeschmack meiner Predigtkunst liefern. Wie soll das gehen? Vor einer Handvoll Leuten, von denen die Hälfte vermutlich schwerhörig war und die andere Hälfte, die Konfirmanden, an meinem Auftritt kaum interessiert sein dürfte.
Ich fühlte mich wie ein Clown, der vor leeren Rängen auftreten musste.
„Ei, Herr Parre, das weiße Ding sitzt aber e bissche schepp“, sprach die Küsterin, eine mit beachtlicher Körperfülle ausgestattete Großmutter, die mich beim Kircheneingang begrüßte.
Sie trat dicht an mich heran und begann mit ihren Wurstfingern an meinem Beffchen zu hantieren, während sie gleichzeitig in einem mütterlich fürsorglichen Ton auf mich beruhigend einzuwirken versuchte.
Ich rätselte, ob die Duftmarke, die gerade meinen Geruchsinn in Beschlag nahm, ihrem oder meinem Knoblauchkonsum zugeordnet werden musste.
„Ei, Herr Parre, gell, Sie ham aach Knobloch gesse, net worr?“, sagte meine zukünftige Mitarbeiterin, versetzte mir einen kumpelhaften Fausthieb in die Rippen und kicherte gedämpft.
Sind Sie auch ein Knoblauchfan?, fragte ich.
Aber hallo! Was tut man nicht alles für die Gesundheit, bestätigte sie meinen Verdacht.
Gesund bleibt man zwar, aber mit der Zeit ziemlich einsam, gab ich den running Gag unserer Knoblauch konsumierenden Familie zum Besten.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass der große Zeiger viel zu träge seine Runden drehte.
Ich erinnerte mich an die Augenblicke, die ich als katholischer Geistlicher vor der heiligen Messe in der Sakristei verbracht hatte. Andächtige Stille wurde nur durch gelegentliches Rülpsen und Pupsen meines alten Mitbruders unterbrochen. Da ihm selber die biologischen Signale aus den Tiefen seines fülligen Köpers seiner Schwerhörigkeit wegen verborgen blieben, murmelte er seelenruhig seine „Aufwärm“-Gebete vor der Messe zu Ende. Da Gott in mein Innerstes blicken konnte und alle meine Gedanken schon im Voraus kannte, wie es im Psalm 139 glaubwürdig überliefert ist, fand ich es überflüssig, ihn mit meinen Anliegen zu belästigen. Stattdessen betrachtete ich mich im Spiegel, bügelte mit der Hand die Falten aus meinem Messgewand, ordnete meine Stola und führte die letzten Korrekturen an meiner Frisur aus. Schließlich konnte ich auch mit Anwesenheit junger Frauen in der Kirche rechnen! Dabei schweifte oft mein Blick zur Wand, wo die Bilder des Ortsbischofs und des amtierenden Papstes angebracht waren und nicht selten fragte ich mich, was ich anstellen müsste, um einmal auch so würdevoll aufgehängt zu werden.
In katholischen Gotteshäusern erlebte ich vor der Messe eine erhabene, gottesfürchtige Stille wie vor einem Gewitter. Das vermisste ich bei den Protestanten. Hier herrschten andere Sitten. Die Leute grüßten sich vor dem Gottesdienst wie zu Beginn einer Party, die Konfirmanden scherzten miteinander, der Organist probte noch die schwierigsten Tonübergänge und die Küsterin schwirrte unentwegt im Kirchenraum herum, wischte vom Altartuch einen Fremdkörper weg, entfernte aus dem Fenstereck eine Spinnwebe, reinigte den Kerzenständer vom heruntergeflossenen Wachs, um schließlich dem Pfarrer noch vor dem Beginn des Gottesdienstes die neuesten Nachrichten aus dem Dorf im Telegramstil anzuvertrauen.
Diesmal war es in der Kirche relativ ruhig, als der Dekan über die Schwele trat. Er lächelte etwas gequält, während sein Blick über die fast leeren Bänke schweifte.
In einem wohlklingenden Dialekt, in den ich mich in den darauffolgenden Jahren noch mühevoll hineinfinden sollte, versuchte die gutmütige Frau dem Dekan zuerst das Phänomen der fast leeren Kirche zu erklären. Mir persönlich blieben viele Details ihrer Rede verhüllt, den Kern ihrer Botschaft aber erfasste ich, nachdem mein zukünftiger Chef mir zwischendurch als Übersetzer ausgeholfen hatte.
Im Dorf fand offenbar gerade eine Art Volksfest statt, das als Hähnewettkrähen bezeichnet wurde. Die Riesengaudi bestand darin, das unzählige Hähne, von Geflügelzüchtern aus der ganzen Wetterau in Käfigen zusammen gekarrt, einen halben Tag lang um die Wette krähten, um gegen Abend den Hahn, der am häufigsten gekräht hatte, unter tosendem Applaus der Menge zu ermitteln und seinen Besitzer mit dem Hauptpreis, meistens einem Mastschwein, zu beglücken. Diese urige Veranstaltung würde alle anderen Ereignisse in der Wetterau in den Schatten stellen, weshalb auch der Kirchenbesuch so spärlich ausgefallen wäre.
Ich sollte es also nicht persönlich nehmen, wandte sie sich an mich, streichelte mich tröstend am Oberarm und versetzte mir heimlich einen weiteren Stoß in die Seite.
Der Dekan zog sich in die Sakristei zurück, um sich liturgisch anzukleiden. Währenddessen sah ich im Geiste die zahlreichen Hähne, die dort draußen offenbar die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zögen, während ich als ein einsamer, missachteter „Hahn“ vor einer bescheidenen Kulisse mein „Kikeriki“ zum Besten geben musste.
Inzwischen trat der Herr Dekan aus der Sakristei, ergriff meine Hände und lächelte mich süß an.
Lasst uns beginnen, Bruder Franc!
Am Altar angekommen, drehten wir uns zur Gemeinde, sahen einige alte Mütterchen vor uns sitzen, zwei alte Männer blickten von der Empore auf uns herab, ein paar Konfirmanden beäugten uns mit unsicheren Blicken.
Der Herr Dekan hielt die Begrüßung, in der er unter anderem behauptete, Gott hätte mich als Boten in diese Gemeinde geschickt. So hatte ich den Sachverhalt noch gar nicht betrachtet, ging mir durch den Kopf. Wie sollte der Herr mich hierher geschickt haben, da zwischen uns totale Funkstille herrschte? Wie konnte der Herr Dekan eine solch kühne Behauptung aufstellen? Wusste er etwa mehr als ich? Hatte der Herr ihm etwas anvertraut, was er vor mir verheimlichte?
Wie auch immer, heute stand ich vor der Herausforderung, mich mit einer Predigt angemessen vorzustellen.
Ich hatte mich sorgfältig vorbereitet, hatte mehrere DINA4 Seiten theologisch unanfechtbarer Gedanken aufgeschrieben, vergaß allerdings dabei, zu bedenken, vor welchem Publikum ich vermutlich predigen würde.
Dass von der anwesenden Gemeinde kaum jemand meinen Gedanken würde folgen können, fiel mir frühestens während meines Aufstiegs auf die Kanzel ein.
Ich dürfte mir ziemlich sicher sein, dass ich genommen werde, so die Meinung des Dekans nach unserem letzten Gespräch. Ich wäre genau der richtige „Typ“ für die Wetterau, bäuerlich geprägt, ein Pfarrer vom alten Schlag. Vor allem spräche für mich der Umstand, dass keine weiteren Bewerber sich um die Pfarrstelle bemühten.
Die eigentliche Ermutigung schöpfte ich aber aus der Bibel.
„Macht euch keine Sorge, was ihr predigen werdet, der Herr wird euch schon rechtzeitig die passenden Worte eingeben.“ So oder so ähnlich sprach nämlich einmal Jesus zu seinen Jüngern. Der Zuspruch dürfte nun auch mir gelten, denn Jesus höchstpersönlich hätte mich ja als seinen Boten hierher gesandt, wie der Herr Dekan vorhin bekannt gegeben hatte.
Da es um die Vorstellung meiner Person ging, begann ich dann über mich zu reden. Wenn etwas, dann liegt es mir, über mich selber zu reden.
Mit etwas Fantasie finde ich auch meistens etwas an meiner Person, womit ich glaube, meine Mitmenschen beeindrucken zu können. In dieser Hinsicht bin ich mit einer beachtlichen Erfindungsgabe ausgestattet.
Diesmal stellte ich in den Mittelpunkt meiner Selbstbetrachtung mein Streben nach Reichtum. Als junger Mann wäre ich von daheim ausgezogen, um reich zu werden, gab ich offen zu. Binnen weniger Jahre hätte ich es zu beachtlichem Wohlstand gebracht, als mir einmal über Nacht eine verblüffende Einsicht geschenkt wurde:
Reich ist nicht der Mensch, der viel besitzt, sondern jener, der mit möglichst wenig auskommt.
Ich verwies auf meinen Namenspatron Franziskus von Assisi und legte dar, wie frei und glücklich dieser Jüngling geworden war, als er die Armut zu seinem Lebensstil wählte und sich von jeglichem Besitz lossagte.
Ich erntete anerkennendes Nicken der Alten und verlegenes Kichern der Konfirmanden. Niemand widersprach meinen Ausführungen.
Der Herr Dekan, der nach dem Ende meiner Predigt durch die plötzliche Stille hellwach wurde, nickte wohlwollend, sprach den Schlusssegen und schritt mit mir im Schlepptau zum Ausgang.
Während er sofort das Weite suchte, verabschiedete ich per Handschlag die wenigen Gottesdienstbesucher, bekam für meinen Auftritt überwiegend Lob, insbesondere dafür, dass man mich ob meines langsamen und lauten Sprechens gut verstanden hatte. Einer erkundigte sich nach meiner Herkunft.
Slowene, sagte ich.
Ob in Slowenien auch Hähne um die Wette krähen, wollte ein alter Mann wissen.
Wenn er die Gickel und Hennen im Parlament meinte, könnte ich die Frage bejahen, antwortete ich.
Auf zu Hähnewettkrähen, gab ich mich volksnahe und eilte dann mit der kleinen Schar der Gläubigen zu der krähenden Konkurenzveranstaltung.
Einige Tage später saßen wir wieder zusammen, der Kirchenvorstand, unser Dekan und ich.
Nun, haben Sie Fragen an unseren Kandidaten?, kam der Dekan gleich zur Sache.
Es folgte eine peinliche Stille.
Ihr Akzent erinnerte mich an meine Oma, die aus Böhmen kam. Sie kommen doch aus Böhmen, oder?, fragte eine Frau, vermutlich, um die Stimmung aufzulockern.
Aus Böhmen kommt die Musik, spielte einer auf den bekannten Volksschlager an, wobei einige loskicherten.
Nein, er kommt doch aus dem Land der Oberkrainer, nicht wahr?
Die sich zu Wort meldeten, erwarteten von mir weder eine Antwort noch zeigten sie Interesse, zu neuen Einsichten zu gelangen.
Im Grunde ist es egal, woher der Mann stammt, mischte sich der Herr Dekan ein. In der Kirche sollte die Herkunft zweitrangig sein. Paulus zum Beispiel war ein Grieche, der jetzige Papst ist ein Pole.
Ja, ja, die Griechen, ob die je auf einen grünen Zweig kommen!, bemerkte mein Nachbar und lachte als einziger über seine Worte.
Und Jesus war sogar ein Jude, sagte eine Frauenstimme. Es klang wie ein Vorwurf.
Er konnte ja nichts dafür. Keiner kann was für seine Herkunft, sagte jemand.
Bruder Franc kann wirklich nichts dafür, dass er ein Slowene ist, ergriff ein alter Mann Partei für mich.
Aus der Tatsache, dass man mittlerweile von mir in dritter Person redete, konnte man schließen, dass die Diskussion endgültig in eine Sackgasse geraten war.
Eine längere Stille folgte.
Eine Frage hätte ich noch, meldete sich plötzlich Karl zu Wort. Ihn kannte ich seit meinem ersten Besuch in der Gemeinde. Obwohl wir uns sonst duzten, siezte er mich, wenn andere zugegen waren.
Ihr Vorgänger war mit einer Französin verheiratet, was dazu führte, dass unsere Gemeindegruppen öfters nach Frankreich reisen konnten. Würden Sie uns auch gelegentlich in Ihre Heimat begleiten?, fragte er.
Aller Augen richteten sich auf mich, als ob sie mir mit ihren Blicken suggerieren wollten, ich solle ja nichts Falsches antworten.
Das wäre für mich eine Ehrensache, sagte ich ohne zu zögern.
Meine Frau und ich reisen gerne, dachte ich. Für eine Reise, als Gemeindefahrt deklariert, müsste ich keinen Erholungsurlaub opfern.
Als ich noch erwähnte, dass ich eine solche Reise mit einer Weinprobe und einer Schnapsverkostung verbinden würde, war das Eis gebrochen.
Für den Fall, dass meine Anwesenheit jemanden hemmte, sich zu meiner Person zu äußern, schickte mich schließlich Bruder Dekan kurz an die frische Luft.
Wie ich später aus vertraulichen Quellen erfuhr, fielen dann noch einige aufschlussreiche Äußerungen:
Endlich ein Pfarrer, der nicht dauernd vom süßen Jesulein redet.
Er spricht wohltuend langsam. Ich habe jedes Wort verstanden.
Wer langsam redet, ist auch langsam vom Begriff. Er ist halt kein Deutscher.
Bevor wir gar nichts kriegen, sollten wir zugreifen und ihn nehmen.
So geschah es auch.
Ich wurde gewählt und war von nun an alleiniger Pfarrer von zwei Gemeinden.
Damit erreichte ich den Zustand, von dem das Sprichwort behauptet: Selig die Beine, die am Altar stehen alleine.
Während Ihre Eltern Marlene jeden Tag mehrere Stunden lang Gesellschaft leisten, schlendere ich nun in den Straßen rund um die Klinik, kehre in eine der Kneipen ein oder sitze, wenn es nicht gerade regnet, einfach auf einer Bank am Rande eines Kinderspielplatzes.
Ich schaue den Kindern beim Spielen zu und denke immerzu an Marlene. Ich male mir aus, wie sie in unsere Familie hineinwächst, sehe ihre ersten Tage im Kindergarten, bin stolz auf sie bei ihrer Einschulung, begleite sie als Konfirmandin ab und zu zum Gottesdienst.
Doch meine Phantasiereise in die Zukunft wird von Zweifeln begleitet. Wird sie es überhaupt schaffen? Wann kommt der Tag, an dem die Ärzte Entwarnung geben und feierlich verkünden, sie sei über den Berg? Wann brauchen wir um sie nicht mehr zu bangen?
Was immer in den nächsten Tagen geschehen mag, ich will die langen Stunden des Wartens nicht vergeuden, sondern weiter schreiben. Dabei befallen mich immer wieder Zweifel, ob ich mit meinem Schreiben bei Marlene etwas bewirke. Spürt sie, dass ich im Geiste ganz oft bei ihr bin? Dass es zu ihr eine Gedankenübertragung gibt, hoffe ich zwar, glaube aber nicht ernsthaft daran.
Doch wer weiß das schon? Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir nicht einmal träumen.
Die Kirche meines slowenischen Heimatdorfes hat noch heute bunte Glasfenster und ist von einem Friedhof umgeben. Wenn ich dort als Kind der heiligen Messe beiwohnte, achtete ich nicht auf die Worte des Pfarrers, sondern dachte an die Toten unserer Großfamilie, die rund um das Gotteshaus begraben waren. Einige hatte ich gekannt, die meisten aber nicht. Denen, die ich nicht mochte, gönnte ich, dass sie tot waren. Zum Beispiel meinem Opa, der meine Schwestern bevorzugte, mich aber oft mit seinem Ledergürtel züchtigte. Es gab auch welche, die ich vermisste. Zum Beispiel meine Schwester Stefica, die ich gar nicht gekannt hatte, weil sie vor meiner Geburt starb. Sie ist von meiner Mutter so liebevoll geschildert worden, dass ich mich hinterher in der Einsamkeit des Schweinestalls ausheulen musste, aus lauter Trauer und Gramm, weil sie nicht mehr lebte.
Unsere Heimatkirche wurde niemals geheizt, trotzdem wurde es mir auch im Winter warm ums Herz, wenn ich darin als Kind verweilte. Da mich der Pfarrer meines atheistischen Vaters wegen nicht als Ministranten in Dienst nehmen wollte, kniete ich immer irgendwo zwischen den hinteren Bänken. Von dort aus hatte ich eine gute Aussicht auf den Altar, wo die heilige Maria mit ihren verträumten Augen und mit leicht nach vorne ausgestreckten Armen bei mir den Eindruck erweckte, dass sie mich mag.
Von Maria schweifte mein Blick zu Jesus, der auf mich fremd und abweisend wirkte. Er hing am Kreuz, seine Augen waren halb geschlossen, sein ganzer Körper war von Schürfwunden übersät, sein Kopf blutete unter der Dornenkrone.