Die Schmiedin - Eva-Maria Haynes - E-Book

Die Schmiedin E-Book

Eva-Maria Haynes

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Beschreibung

Durch einen grausamen Racheakt an ihrem Vater Graf Hardrich, einem treuen Verbündeten des Stauferkaisers Heinrich VI., verliert die behütet aufgewachsene Agnes von Enigor in wenigen Augenblicken ihr Heim und ihre ganze Existenz. Mutig beschließt sie, ein neues Leben anzufangen. Ihr Wissen um heilende Kräuter soll ihr dabei helfen. Auf ihrer Reise lauern überall neue Gefahren. Martin von Landrion kann sie in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod bewahren – für ihn eine Fügung des Schicksals. Er verliebt sich in Agnes und sie soll die Frau an seiner Seite sein. Doch die Auserwählte will ihr Leben selbst gestalten und verdingt sich lieber als Kinderfrau eines verwitweten Schmieds, während Martin nichts unversucht lässt, seine große Liebe zu finden …

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Inhalt

Durch einen grausamen Racheakt an ihrem Vater Graf Hardrich, einem treuen Verbündeten des Stauferkaisers Heinrich VI., verliert die behütet aufgewachsene Agnes von Enigor in wenigen Augenblicken ihr Heim und ihre ganze Existenz. Mutig beschließt sie, ein neues Leben anzufangen. Ihr Wissen um heilende Kräuter soll ihr dabei helfen.

Auf ihrer Reise lauern überall neue Gefahren. Martin von Landrion kann sie in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod bewahren – für ihn eine Fügung des Schicksals. Er verliebt sich in Agnes und sie soll die Frau an seiner Seite sein. Doch die Auserwählte will ihr Leben selbst gestalten und verdingt sich lieber als Kinderfrau eines verwitweten Schmieds, während Martin nichts unversucht lässt, seine große Liebe zu finden …

Über die Autorin

Eva–Maria Haynes ist das Pseudonym einer Historikerin, die ihre besondere Liebe zum Mittelalter in ihren Geschichten zum Ausdruck bringt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Wien.

Die Schmiedin

Eva–Maria Haynes

IMPRESSUM

Besuchen Sie uns im Internet: www.editiohistoriae.at

4. Auflage – Copyright © 2018 editio historiae, Verlag MMag. Dr. Marianne Acquarelli

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Lektorat: Andrea Jank-Hofbauer

Satz: Adobe InDesign

E-Book-Erstellung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

ISBN für Format ePub: 978-3-9503824-0-2

VORWORT

Die meisten Orte und ebenso die handelnden Personen sind der Fantasie entsprungen, doch in einem realen historischen Kontext eingebettet. Das betrifft neben dem mittelalterlichen Alltag auch die Existenz und den Lebensverlauf von Kaiser Heinrich.

Heinrich VI. war der Sohn von Kaiser Friedrich I., auch Barbarossa genannt, und Beatrix von Burgund. Er wurde 1165 in Nimwegen geboren und schon im zarten Alter von vier Jahren zum Römischen König gekrönt. Friedrich band seinen Sohn bereits ab 1178 in die Regierungsgeschäfte ein.

Ab 1190, nach dem Tod des Vaters, war Heinrich Alleinherrscher und wurde 1191 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt. Heinrich erbte viele Konfliktherde. Vor allem auf dem Gebiet der heutigen Länder Deutschland und Österreich gab es bis 1194 ständige Auseinandersetzungen unter den Reichsfürsten und etliche Gegner der Stauferkaiser. Neben einigen Italienreisen ist der Aufenthalt von König Heinrich in den Jahren 1185 und 1192 bis 1194 in diesen Gebieten dokumentiert und durch zahlreiche von ihm unterzeichnete Urkunden belegt.

Heinrichs Lebensziel war die Eroberung Siziliens. Den Anspruch auf den Thron erhob er zum ersten Mal 1191, doch das Unternehmen scheiterte. Erst im November 1194 gelang ihm der feierliche Einzug in Palermo.

Besser bekannt ist Heinrich VI. als der König, der Richard Löwenherz festgesetzt und erst gegen ein hohes Lösegeld wieder freigelassen hatte. Im September 1197 starb Heinrich in Messina und hinterließ seinen Sohn, den späteren Friedrich II.

PROLOG

Sacrum Imperium, 1185

Es war still im Raum. So still, dass jeder Tropfen des heißen Siegelwachses, der auf das Pergament fiel, laut zu hören war. Nicht einmal das leiseste Rascheln von Damast oder ein menschlicher Laut war zu vernehmen. Selbst das hell lodernde Feuer im riesigen Kamin am Ende des Rittersaales schien für einen Moment den Atem anzuhalten. Die Flammen züngelten verhalten um die Holzscheite und verschonten für einen Augenaufschlag die eingeschlossenen Wasserbläschen, die gewöhnlich die lauten Knackgeräusche verursachten.

Die Szene war beeindruckend, denn es fehlte nicht an Menschen im Saal. Edelmänner, Gutsherren, Grafen und deren Gefolgsleute, bekleidet mit wertvollen Tuniken in den jeweiligen Tinkturen ihrer Wappen, geistliche Würdenträger in prächtigen Roben, die jedes Armutsgelübde verhöhnten, standen Schulter an Schulter um die Tafel versammelt, auf dem das Dokument lag. Dicht beschrieben in kunstvoll verschlungenen Lettern enthielt es, was im vergangenen Jahr die beherrschenden Themen gewesen waren.

Viele Monate waren mit zähen Verhandlungen, stundenlangen Gesprächen unter vier Augen, Abmachungen, die wieder verworfen wurden, und Grenzabgehungen vergangen. Doch schlussendlich hatten die Anstrengungen das gewünschte Ergebnis gebracht – den heiß ersehnten Friedensvertrag. Damit sollte unter jahrzehntelange Fehden, Landfriedensbrüche und Belagerungen ein Schlussstrich gezogen werden. Ein Schlussstrich, der allen Bewohnern der aneinandergrenzenden Fürstentümer, Grafschaften und Markgrafschaften in diesem abgelegenen Winkel des mittelalterlichen Sacrum Imperium Sicherheit und Zukunft geben sollte.

Gebannt starrte Agnes auf ihren Vater, den Graf von Enigor. Er hatte sich seit Jahren besonders um diese Einigung bemüht. Aus ihrem Versteck hinter der Geheimtür konnte sie sehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten. So gelöst hatte sie ihn noch nie gesehen. In den acht Jahren, seit sie auf der Welt war, kannte sie fast nichts anderes an ihrem Vater als die ständig leicht abwesende Miene, die Sorgenfalten auf seiner Stirn oder das Murmeln seiner Stimme bei Geheimverhandlungen hinter verschlossenen Türen.

Nie würde Agnes den Moment vergessen, als sie das erste Mal eine Landkarte ihrer Heimat gesehen hatte. Zurückgelassen auf dem Arbeitstisch des Grafen, der einen Gast zu verabschieden hatte, lag das fein gegerbte Leder einladend da. Es war übersät mit niedlichen Zeichnungen von Bergen, Seen und vielen fein geschwungenen Linien. Das Mädchen fasste allen Mut und näherte sich der Aufzeichnung, die förmlich darauf wartete, eingehend besichtigt zu werden.

Unter vielen anderen Tinkturen fand Agnes in der Mitte das ihr vertraute Dunkelblau kombiniert mit einem hellen Silber. Wasser und Fels, die beiden Landschaftsmerkmale, die Enigor am meisten prägten. Der Graf fand seine Tochter vertieft in ihre Betrachtungen. Mit seiner sonoren Stimme, die Agnes so gerne hörte, erklärte er seinem einzigen Kind geduldig die aktuelle politische Situation.

Nach wenigen Sätzen war ihr klar, warum ihrem Vater sein Anliegen so wichtig war. Die kleine Grafschaft hatte fünf Nachbarländer, von denen drei gierig ihre Hände danach ausstreckten. Die Gründe lagen auf der Hand – die kürzesten und besten Straßenverbindungen führten durch Enigor. Damit flossen auch die wichtigsten Zölle in die Truhen des Grafen. Silber, Gewürze und edle Stoffe verteuerten sich mit der Passage durch die kleine Grafschaft enorm.

Von buchstäblicher Blindheit geschlagen übersahen dabei viele Neider, dass der größte Teil dieser Einnahmen den direkten Weg zu Kaiser Friedrich fand. Schon dessen Vorgänger hatte diese lukrativen Möglichkeiten erschlossen und zu einem Fixpunkt im hochherrschaftlichen Budget gemacht. Die Begründung war schlicht: Wer sich diese Kostbarkeiten leisten konnte, hatte auch das Geld für die Steuern.

Abgesehen von den Abgaben für die Ein- und Ausfuhr der Preziosen missgönnten vor allem der Ritter von Morgwald und der Graf von Ald dem Grafen Hardrich von Enigor die Erzvorkommen im Süden seiner Ländereien. Durch ein kaiserliches Privileg waren die Schürfrechte an diesem Gebirge, das auch die Grenze zu Morgwald und Ald bildete, schon vor zwei Generationen Enigor zugesprochen worden. Edwin von Morgwald war bei seiner Belehnung der Zugriff auf den Erzberg erneut und unter Androhung des sofortigen Verlustes seiner ganzen Ländereien bei Nichtgehorsam ausdrücklich und unmissverständlich untersagt worden. Dasselbe galt für das Lehen von Ald. Auch Albrecht hatte den Erzberg direkt vor der Nase und musste das Material dennoch für gutes Geld von den Händlern aus Enigor kaufen.

Doch Hardrich hatte für den Friedensvertrag auch seinen Preis bezahlt. Um den Unsinn der doppelten Zölle an der Westgrenze zur Markgrafschaft Brannburg zu stoppen, hatten er und König Heinrich einer Aufteilung der Einnahmen zugestimmt. Ottokar von Brannburg hatte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine private Steuer erfunden, um seine leeren Kassen zu füllen. Damit wollte er sich seinen Teil vom Kuchen sichern, aber Friedrich war über diese Maßnahme maßlos verärgert, weil der Markgraf nicht daran dachte, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers war.

In zähen Auseinandersetzungen und im Beisein König Heinrichs, des Sohnes des erlauchten Herrschers, war nun endlich eine allgemein anerkannte Grenze zwischen der Grafschaft Enigor und der Markgrafschaft Brannburg festgelegt worden. Bis zu diesem Moment hatte es über einen sehr langen Zeitraum zwei Grenzlinien gegeben. An beiden musste für die Passage von Menschen und Waren bezahlt werden und von beiden wurde behauptet, die „richtige“ Grenze zu sein.

Das Niemandsland dazwischen wurde so gerecht wie möglich aufgeteilt, doch es war praktisch wertlos. Durch die Dauerpräsenz von berittenen Soldaten und Söldnern, die sich meist aus Langeweile in sinnlosen Scharmützeln aufgerieben hatten, war der Boden so festgetreten, dass es Jahrzehnte brauchen würde, bis sich dort wieder ein Grashalm ans Tageslicht trauen werde.

In den Augen des Grafen stand der ganze Aufwand in keiner Relation zum Einsatz. Im Gegenteil, es hatte für seinen Geschmack zu viele Menschenleben gekostet. Der größte Feind waren aber nicht die Soldaten der Gegenseite und die daraus resultierenden Kämpfe gewesen, sondern die mangelnde Hygiene auf dem viel zu engen Raum.

Frisches Wasser gab es in rauen Mengen aus den Bergquellen, die sich ihren Weg ins Tal bahnten. Das Problem waren die Abwässer, die sich durch die Ausscheidungen von Mensch und Tier in der Senke ansammelten. In regelmäßigen Abständen hatten die Ruhr und andere Infektionen fast die ganze Stellung dahingerafft. Bitterer Trost fand sich nur in der Tatsache, dass den Krankheiten die Grenzen völlig gleichgültig waren. Auch Ottokars Männer starben.

Über die Lösung dieses Problems war Hardrich besonders erleichtert, denn aufgerechnet auf den Zeitraum waren die Verluste enorm gewesen. Nur seine Verpflichtungen gegenüber dem Kaiser hatten ihn davon abgehalten, sich aus diesem Gebiet zurückzuziehen und Ottokar klein beizugeben. Dann hätte sich Friedrich mit ihm ärgern dürfen.

Die Erträge waren immer dünner geflossen. Die einst so beliebte Route für Kaufleute und Wandergesellen, die durch das stetig wachsende Verbund- und Austauschsystem der Zünfte und Gilden einen fortlaufenden Strom bildeten, oder auch für Pilger und Wallfahrer, die auf der Suche nach Erlösung und Reliquien das entfernte Jerusalem anstrebten, fiel mehr und mehr der Bedeutungslosigkeit anheim. Um den Auseinandersetzungen und den absurden Abgaben für die Passage zu entgehen, etablierte sich im Laufe der Jahre ein neuer Reiseweg südlich der Lehen von Morgwald und Ald. Nur mehr ganz Eilige hatten sich mit der Situation an der Westgrenze Enigors abgefunden.

Zur Befriedung mit dem südlichen Nachbarn, dem Lehen von Ritter Edwin von Morgwald, waren Zusagen zur Absenkung des Erzpreises und die Abgabe von fixen Kontingenten notwendig gewesen. Eisen war wichtig, wichtig für alle, die Soldaten auszurüsten und Land zu bestellen hatten. In den letzten Jahren war aber auf die Frage, ob Krieg oder Essen wichtiger war, keine klare Antwort zu bekommen. Insgeheim hoffte der Graf, dass sich eines Tages der Bedarf auf die bäuerlichen Gerätschaften reduzieren könnte, wenn die Gründe für die Fehden nun beseitigt waren. Doch war auch er realistisch genug, um zu wissen, dass ein solcher Wunsch ins Land der Träume verwiesen werden musste.

Ein leises Zischen, als der Siegelstempel des Grafen von Enigor in das zähe Wachs gedrückt wurde, brachte Bewegung in die Männer. Einige nickten zustimmend und andere lächelten. Doch es gab auch den Graf Albrecht von Ald, der mit seiner säuerlichen Miene erkennen ließ, dass ihm dieses Dokument keine Vorteile brachte. Im Gegenteil, er hatte am meisten von allen Federn lassen müssen. Bis vor Kurzem hatte das Lehen von Ald, gelegen im Südosten von Enigor, zwei Dörfer mehr umfasst, deren Äcker besonders fruchtbar waren. Diese Gebiete gehörten nun zu Enigor. Mit diesem Passus war im Friedensvertrag festgehalten worden, was König Heinrich schon vor etlichen Monaten öffentlich verfügt hatte.

Abgesehen von anderen unerfreulichen Ereignissen, mit denen sich der Graf von Ald beim König unbeliebt gemacht hatte, wollte der Herrscher die Dorfbewohner der grausamen Hand des Grafen entziehen. Albrecht hatte sich in den Augen Heinrichs als des Lehens unwürdig erwiesen. Doch dieser hatte die Teilung nie anerkannt, die Dorfbewohner weiter geschröpft und sich offen gegen den Beschluss aufgelehnt.

Hardrich hatte unzählige seiner Männer immer wieder in das Krisengebiet abkommandiert, doch fehlten ihm Zeit und Mittel, um seine Rechte mit Gewalt zu erkämpfen. Der Friedensvertrag war nun ein willkommener Anlass, um in dieser Angelegenheit noch einmal Klarheit zu schaffen und den Grafen von Ald in die Schranken zu weisen, ohne zu einer Gegenleistung verpflichtet zu sein.

Mit entsprechend geringer Begeisterung überließ Albrecht sein Siegel dem königlichen Schreiber. Mit dem Abdruck auf der Urkunde gab der Graf ein geheimes Versprechen – Rache. Rache am König, Rache an Enigor. Für ihn konnte Enigor getrost von der Landkarte verschwinden. Mit gequältem Lächeln nahm er seinen Ring zurück.

„Nun könnt Ihr ruhig schlafen, Graf von Enigor“, ätzte Albrecht mit schneidender Stimme. Der junge König Heinrich, der am Podium in der Mitte saß und die Szene aufmerksam verfolgte, hob die linke Augenbraue. Hardrich von Enigor sog kaum hörbar die Luft ein und fasste sich kurz.

„Macht Euch um meine Nachtruhe keine Sorgen, mein lieber Graf, aber seid herzlich bedankt“, konterte er diplomatisch. Der geplagte Graf von Enigor hoffte sehr, dass sich der Klumpen in seinem Magen bald wieder lösen würde, doch fürchtete er, dass sich das erst mit der Abreise seines Gastes bewerkstelligen ließe.

Als Nächstes trat der Fürst von Landrion vor. Die Grafschaft teilte die Ostgrenze mit seinem Reich. Der Fürst war einer der mächtigsten Männer von allen. Loyalität zum Königshaus und politisches Gespür hatten seine Position gestärkt. Sein Lehen war nicht nur das größte im Umkreis, auch seine imposante Gestalt und seine Siege im Feld sowie auf Turnieren waren Legende. Langsam zog er den Siegelstempel aus einem kleinen Lederbeutel. Eifrig nahm ihn der Schreiber des Königs entgegen und fettete ihn ehrfürchtig mit Öl ein, um das feine Metall gegen das heiße Wachs zu schützen.

Die Verhandlungen mit Landrion waren kurz und schmerzlos gewesen, da die beiden Länder durch einen Pass getrennt wurden, dessen Anerkennung als Grenze nie infrage gestellt worden war. Auch machte niemand die Ansprüche des anderen streitig. Im Gegenteil, Enigor und Landrion waren in langer Freundschaft verbunden. Im erhofften Frieden sollte der Pass, der von einer Bande von Wegelagerern und Vogelfreien beherrscht wurde, nun sicher gemacht werden. In einer gemeinsamen Anstrengung wollten die beiden Häuser versuchen, dieser Plage Herr zu werden. Die Truppen, die vorher dringend zur Verteidigung der Grenzen und zum Schutz von Bauern und Ernten benötigt wurden, sollten ihre Kräfte nun auf dem riesigen Plateau einsetzen.

Agnes zog unbewusst den Kopf ein, als Fürst Harold von Landrion vortrat. Vor ihm ängstigte sie sich. Nicht, dass er ihr je etwas getan hätte, im Gegenteil, er war ein sehr freundlicher und offener Mensch. Doch das kleine Mädchen empfand ihn als Furcht einflößend, denn er war um einen Kopf größer als ihr Vater und seine Schultern waren fast doppelt so breit. Neugierig richtete sie ihren Blick auf den Jungen neben ihm. Er war vielleicht nur vier oder fünf Jahre älter als Agnes, doch schon in seiner Pagenkleidung war zu erkennen, dass auch er ein imposanter Ritter sein würde wie sein Vater. Martin, erinnerte sich Agnes, so hieß Harolds Sohn. Die mächtige blonde Mähne des Vaters war schon von grauen Strähnen durchzogen, Martins Haare glänzten im Kerzenlicht golden und fielen ihm leicht ins Gesicht. Das Mädchen betrachtete sein Profil und das des Vaters. Das Gesicht des Sohnes zeigten Ernst und Stolz. Es war ihm anzusehen, dass seine Anwesenheit bei diesem wichtigen Anlass viel für ihn bedeutete. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung seines Vaters.

Agnes hatte das Gefühl, dass der Junge sich Mühe gab, alles einzustudieren, um später als Erwachsener auch so beeindruckend zu sein. Insgeheim fragte sie sich, ob sie sich vor Martin ebenso eines Tages fürchten müsste. Mit dem Abdruck des letzten Siegels stand der König zufrieden auf. Wohlmeinend nickte er Hardrich von Enigor zu. „Nun, meine verehrten Herren und Lehnsmänner, wird dieses Dokument von Unserem Schreiber an Uns genommen in der Überzeugung, dass es als Zeichen für die Erhaltung des Friedens für die Ewigkeit gelten möge“, hallte die Stimme von Heinrich durch den Raum. Agnes schauderte. Die Worte klangen sehr verlockend, doch sie drangen nicht bis in ihr Herz. Eine Eiseskälte griff nach ihr und sie zitterte so, als hätte sie eine böse Vorahnung. Es war selbstverständlich, dass niemand von den Männern ein Kind, noch dazu ein Mädchen, angehört hätte. Geblendet und überzeugt von der eigenen Unfehlbarkeit verdienten die unschuldigen, aber treffenden Beobachtungen einer Achtjährigen keine Beachtung. Doch Agnes spürte es instinktiv.

Alle Beteiligten hatten sich der Illusion hingegeben, der Strömung der Zeit entgegenwirken zu können. Doch das Feudalsystem war bereits so in den Köpfen der Menschen verankert, dass es gar keine andere Aussicht gab, als ständig gierig nach neuem Land zu greifen, um die eigene Machtposition auszubauen.

Doch wurden die Möglichkeiten auf dem engen Raum bald knapp und seit Jahren war es üblich, die bäuerlichen Untertanen der Nachbarländer auszuplündern, das Vieh zu vertreiben und die Ernte abzubrennen. Unterm Strich ein Nullsummenspiel, das sich wegen der Rache an der Rache nie ausgehen konnte.

1

Das Lehen Enigor, 1192

Die Gewitterwolken über den Bergspitzen bauten sich zu immer größeren Türmen auf. Der Sturm fuhr mit aller Gewalt durch die Wipfel der Tannen und riss an den Fensterläden der riesigen Burg, die sich eng an den mächtigen Fels schmiegte. Das Wasser des Burggrabens spritzte, aufgeschäumt vom Wind, gegen die meterdicken Mauern, an denen die Spuren der Jahre nagten.

Viele Belagerungen hatten ihre Wunden hinterlassen und das Bauwerk hatte, wie um sich vor den Gräueln zu schützen, Moos angesetzt, das in dichten Polstern nahe der Wasserlinie wucherte. Der weiche grüne Saum konnte der Burg, die zum Teil aus dem bloßen Fels herausgeschlagen worden war, nichts von ihrer Gewaltigkeit nehmen. Auf diese Weise war das Gebäude von Norden her uneinnehmbar und im Süden wurden Angreifer von einem riesigen Wassergraben daran gehindert, in das Herz von Enigor einzudringen.

Schon ein Jahrhundert hatte der Wehrturm des Gemäuers über die Grafschaft Enigor gewacht. Im Angesicht der ständigen Bedrohungen hatte Hardrich die Burg immer weiter ausbauen und Teile, die noch nach alter Baumethode aus Eichenholz gezimmert waren, durch Steinkonstruktionen ersetzen lassen. Zur Verstärkung der Verteidigung wurde eifrig an einem zweiten Befestigungsring gebaut, der nach allen Regeln der aktuellen Baukunst mit unzähligen Schießscharten und Pechnasen ausgestattet war. Die zweite Zugbrücke im inneren Verteidigungsring war durch die Eisenbewährung so schwer geworden, dass sie nur mehr mit dem Einsatz von stämmigen Arbeitspferden gehoben und gesenkt werden konnte. Das heranziehende Gewitter konnte dem Bollwerk nicht den geringsten Schaden zufügen.

Hardrich hatte die besten Handwerker rufen lassen, um nicht Gefahr zu laufen, dass irgendein Rädchen des Kriegswerks im ungünstigsten Augenblick versagte. Die Arbeiten gingen stetig, aber langsam voran, denn immer wieder musste der Landesherr Teile der Bevölkerung auch für mehrere Wochen aufnehmen und gegen Unbill beschützen. Doch dank eines genialen Versorgungssystems hatten die Burgbewohner auch während der hartnäckigsten Belagerung immer den längeren Atem.

Zwei Quellen waren direkt aus dem Fels durch mehrere Aquädukte geführt worden, die in den Wirtschaftsräumen und in den Ställen ständig für frisches Wasser sorgten. Das Ende der Wasserläufe wurde über die östliche Seite des Bergfußes abgeleitet und diente als regelmäßige Spülung für die ebenfalls östlich angelegten Aborte. Seitlich gegeneinander versetzt zierten mehrere Erker, die mit Donnerbalken ausgestattet waren, wie Schwalbennester die Burgmauer.

Neben den menschlichen Fäkalien ließen die Männer des Grafen während einer Belagerung auch den Mist, der durch das zusätzlich beherbergte Vieh reichlich vorhanden war, und Kadaverreste von verzehrten Schweinen hinunterfallen. Das für die Aggressoren einzig verfügbare Wasser war bald so verpestet, dass mehr dieses Problem als ein militärischer Misserfolg den Abzug nötig machte.

Im Inneren des nach außen hin sehr abweisend wirkenden Gemäuers ging es stets geschäftig zu. Mägde, Knechte, Schmiede, Soldaten gingen ihrem Tagewerk nach. Der Haupthof war voller Leben und an Markttagen barst er fast aus den Mauern. Neben Küche, Gesindekammern und anderen Wirtschaftsräumen waren im Hof noch Pferdeställe, Schmiede, Waffenkammer und Vorratskeller untergebracht. Eine weit auslaufende Steintreppe führte zu den Herrschaftszimmern, wo Graf Hardrich und seine Tochter Agnes wohnten. Meistens hielten auch sie sich in den Burghöfen auf, Hardrich kümmerte sich mit seinem Verwalter um das Wohlergehen seines Lehens und Agnes stand dem Haushalt der Burg vor. Doch an diesem Morgen hatten alle Burgbewohner vor dem heranziehenden Wetter Schutz gesucht und auch die Innenhöfe der Burg wirkten gespenstisch verlassen.

Unruhig ging der Graf in seinen Gemächern auf und ab. Immer wieder hielt er am Fenster an und starrte hinaus in den Burghof. Durch das hauchdünne Pergament, mit dem die Fenster teilweise überzogen waren, nahm er die Außenwelt undeutlich wie durch einen Schleier wahr. Das änderte aber nichts an der Bedrohung, an seiner Angst, dass die Burg – das Herz von Enigor – bald für immer so verlassen sein könnte.

Ein neuer, noch schrecklicherer Krieg hatte sich seit fast fünf Jahren wie eine verheerende Seuche über Enigor und einige seiner Nachbarländer ausgebreitet. Aus kleinen Unstimmigkeiten waren wie in früheren Zeiten blutige Schlachten, Plünderungen und Belagerungen geworden. Der viel besungene Friedensvertrag war weder Pergament noch Wachs wert.

Das Rittertum Morgwald, die Markgrafschaft Brannburg und die Grafschaft Ald lieferten einander grausame Kämpfe, schlossen Verträge, um sie wieder zu brechen, und drangsalierten seit Kurzem in unbekannter Einstimmigkeit die Grafschaft Enigor. Die Länder Enigor und Landrion hatten sich bisher aus sämtlichen Bündnissen herausgehalten und Kämpfe nur in verteidigender Absicht ausgetragen. Hardrich hatte alle Hände voll zu tun, seine Grenzen gegen die Einfälle von Edwin oder Albrecht zu schützen und die Belagerungen von Ottokar auszusitzen. Im Geiste verfluchte der alte Graf seine südlichen und westlichen Nachbarn, die ihm seinen Seelenfrieden raubten.

Traurig wanderten Hardrichs Gedanken in den Norden, zum sagenumwobenen Sabenland, dem Herkunftsort seiner viel zu früh verstorbenen Ehefrau. Selbst nach vielen gemeinsamen Jahren konnte Hardrich kaum etwas über dieses riesige Land sagen. Er selbst war nie dort gewesen. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, wenn er sich an diesen Tag im Sommer zurückerinnerte, als ein exotisch gekleideter Gesandter mit der völlig verschreckten Linda im Schlepptau um Vorsprache gebeten hatte, um sie gegen eine unvorstellbare Menge von Eisenerz einzutauschen. Abgesehen von dem ungewissen Schicksal, das der jungen Frau – vermutlich ohne deren Einverständnis – beschieden worden war, musste jeder Moment der Reise nach Enigor ein Albtraum gewesen sein. Eine fast unüberwindbare Bergkette trennte das Sabenland von all seinen südlichen Nachbarn.

Nur ganz wenige Pässe waren in den Sommermonaten frei von Schnee und dann aber auch nur zu Fuß passierbar. Dieses Detail war während der beschwerlichen Passage auch dem Gesandten klar geworden und die Frage nach dem Transport der Steine stellte sich gar nicht mehr. Von kurzer Ratlosigkeit geplagt erfüllte der Sabe seine Aufgabe, indem er Linda kurzer Hand als Geschenk zur Pflege der nachbarschaftlichen Beziehungen übergab. Als kleine Entschädigung für die vergebliche Reise hatte er in gebrochenem Latein um eine Burgbesichtigung gebeten, denn das Wasserversorgungssystem hatte ihn seit dem Betreten des Gemäuers fasziniert.

Dem jungen Grafen hatte die schüchterne junge Frau auf Anhieb gefallen, doch empfand er in erster Linie Mitleid. Völlig falsch ausgerüstet für die vergangenen Strapazen waren die ernst gemeinten Versuche, so präsentabel wie möglich zu sein, zur Farce verkommen. Die einst in allen Farben schillernden seidenen Schals, die Lindas schlanken Körper umwickelten, waren schmutzverkrustet und zerrissen. Das unzureichende Schuhwerk verdiente höchstens die Bezeichnung Pantoffel, die ihren Füßen keinen Schutz gegen das felsige Gestein geboten hatten.

Auf keinen Fall wollte Hardrich sie in diese Hölle zurückschicken, sei es eine neuerliche Überquerung der Bergkette oder die Rückkehr in ihre alte Heimat, wo sie, wenn er alles richtig verstanden hatte, bestenfalls eine hübsche Sklavin gewesen war. Bevor Hardrich den barschen Gesandten herumführte, überließ er Linda den pflegenden Händen einer seiner Mägde und gab Anweisung, das schönste Zimmer für sie zu richten. Linda sollte sein Gast sein und alle Bequemlichkeiten genießen, die er zu bieten hatte, und vielleicht bald noch mehr, wie er insgeheim hoffte.

Mit einer Abschrift der Baupläne der Burg zog der Sabe schon am nächsten Tag hochzufrieden von dannen und stellte klar, dass dies wohl die einzige Begegnung seines Volkes mit Enigor bleiben würde. Linda ließ er ohne einen letzten Gruß zurück. Gewohnt an harsche Befehle, Schläge und Demütigungen zuckte die junge Frau jedes Mal zusammen, wenn der junge Graf sie ansprach. In der ersten Zeit saß sie zusammengekauert am Boden im Arbeitszimmer des Grafen und war jederzeit bereit, ihm seine Wünsche von den Augen abzulesen. Mit aller Geduld, zu der sich Hardrich imstande sah, konnte er die Frau, die nur mehr ein Schatten ihrer eigenen Persönlichkeit war, zu einem Spaziergang in die Gärten der Burg einladen.

Die ehemalige Sklavin blieb stets einige Schritte hinter ihm, sorgsam darauf bedacht, nicht in seine Fußstapfen zu treten oder den Blick mehr als unbedingt notwendig zu heben. Jedes Mal, wenn der junge Graf stehen blieb, um sie nach seiner Auffassung von guten Manieren an seine rechte Seite zu bitten, erstarrte Linda zur Salzsäule. Langsam befielen Hardrich große Zweifel, als das ungleiche Paar den Obstgarten hinter sich ließ. Fieberhaft hatte er überlegt, wie er zu dieser verschlossenen Frau durchdringen konnte, als er eine Bewegung im rechten Augenwinkel wahrnahm.

Plötzlich veränderte sich etwas im Verhalten von Linda. Wie gebannt blickte sie auf einen abgelegenen Bereich hinter einer Reihe von Apfelbäumen. Mit einer auffordernden Geste lotste Hardrich die junge Frau weiter. Beim Anblick des Kräutergartens hellte sich die Miene seiner Begleitung das erste Mal auf. Mit einem schüchternen Blick holte sie sich die Erlaubnis, ein paar Schritte weiterzugehen. Liebevoll lächelnd gab ihr der junge Graf zu verstehen, dass sie hier alle Freiheiten der Welt hätte.

Linda bückte sich zögerlich, doch einen kurzen Moment später strich sie völlig gefangen minutenlang mit den Händen über die dichten Rabatte der Heil- und Küchenkräuter. Fast unverständlich murmelte sie dabei die lateinischen Bezeichnungen. Hardrich betrachtete Linda fasziniert. Von einer kurzen Ahnung ihres wahren Könnens befallen, führte sie der junge Graf in der Burg zur Kräuterkammer, wo die wertvollen Pflanzen getrocknet, konserviert und aufbewahrt wurden. Das erste Lächeln der jungen Frau sollte Hardrich nie mehr vergessen.

Nach kurzer Zeit hatte sie die unscheinbare Kammer in eine professionelle Apotheke verwandelt und der junge Graf stellte ihr jedes erdenkliche Utensil von Herzen gerne zur Verfügung. Mit jeder erfolgreichen Behandlung taute Linda mehr und mehr auf. Ihre Patienten gaben ihr den Anreiz, rasch das ihr völlig unbekannte Deutsch zu lernen und bald sprudelte sie über, wenn sie Hardrich von ihren Fortschritten und dem Ausbau der Kräuterkammer vorschwärmte.

Über ihre Vergangenheit hatte Linda nie ein Wort verloren. Über das wahre Ausmaß ihres Leidens konnte er sich nur eine vage Vorstellung machen. In besonders schlimmer Erinnerung war ihm die erste Nacht nach ihrer Hochzeit geblieben. Aus Dankbarkeit und echter Zuneigung hatte Linda nach zwei Jahren eingewilligt, die Seine zu werden. Lange hatte sie gezögert, weil die junge Frau nicht wusste, ob sie in der Lage sein würde, ihren daraus folgenden ehelichen Pflichten auf dem gemeinsamen Lager gewachsen zu sein.

Schon als Mädchen missbraucht, hatte Linda schwerste körperliche und seelische Wunden davongetragen, die es ihr fast unmöglich machten, in der Vereinigung von Mann und Frau etwas Schönes zu sehen, geschweige denn zu empfinden. Mit unendlicher Geduld, Feingefühl und Liebe war es Hardrich schließlich gelungen, seiner geliebten Frau die andere Seite zu zeigen, die nicht im Entferntesten mit einer brutalen Vergewaltigung in Verbindung zu bringen war.

Einige Zeit später blickten die Eheleute mit großer Freude der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Linda bekam die Schwangerschaft gut. Sie strahlte vor Glück und verwandelte sich zusehends in eine lebensfrohe und glückliche Frau. Zur Stunde ihrer Niederkunft aber wurde sie brutal in die Vergangenheit zurückgeworfen, denn die schlecht verheilten Narben machten ihr das Gebären fast unmöglich. Es grenzte an ein Wunder, dass Mutter und Tochter überlebten.

Hardrich war außer sich vor Sorge und zog es vor, jede Hoffnung auf einen Erben aufzugeben, als Linda noch einmal solchen Gefahren auszusetzen. Er bat seine Frau inständig, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine weitere Gravidität zu verhindern. Für sein kleines Mädchen Agnes erwirkte der Graf einen Erbfolgedispens beim Kaiser, sodass sie eines Tages die Herrin über Enigor werden konnte.

Mit sanfter Überredung ermunterte er seine Frau, der gemeinsamen Tochter auch einen gebührenden Teil ihres eigenen Erbes mitzugeben. Nach einigem Zögern fand Linda zurück in ihre Muttersprache und sprach ausschließlich Sabisch mit ihrem einzigen Kind. Mit zunehmendem Alter wuchs Agnes mehr und mehr mit den Kenntnissen um Kräuter und Heilpflanzen auf, bis auch sie die Leidenschaft dieser Wissenschaft eingehüllt hatte.

Besonders in diesen schwierigen Zeiten flüchtete sich Hardrich gerne in das Andenken an diese glücklichen Jahre. Selbst wenn er ständig in irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt worden war, blieben ihm sein Heim und seine kleine Familie als ein gerechter Ausgleich und hochwillkommener Lohn. Mit dem plötzlichen Tod seiner geliebten Frau verließen Hardrich auch Glück und Lebensfreude. Die kurze Zeit des Friedens war vorbei und die neuerlichen Sorgen um die kleine Grafschaft belasteten ihn bis zum körperlichen Verfall.

Einzigen Halt gab ihm die Präsenz seiner quirligen halbwüchsigen Tochter, die zu einem Ebenbild ihrer Mutter erblühte. In ihr verbanden sich deren exotische Schönheit mit seinen hellen Augen und Haaren. Sicher geborgen in einer glücklichen Kindheit fehlte ihrer Tochter jene Verwundbarkeit, die Linda bis zum Ende ihrer Tage nie ganz abgelegt hatte. Immer wieder gelang es Agnes, ihren Vater mit ihrem fröhlichen Wesen aus der Reserve zu locken und von den drückenden Problemen abzulenken. Wild entschlossen, ihr diese ungetrübte Art zu bewahren, hielt der Graf jede unerwünschte Einwirkung von außen von Agnes fern – fast bis zum Exzess, was ihm in den anderen Ländern den Ruf, ein komischer Kauz zu sein, einbrachte. Selbst zu Landrion, dem einzigen Nachbar, mit dem Enigor immer freundschaftlich verbunden war, schränkte Hardrich die Kontakte auf ein politisches Minimum ein. Ereignisse gesellschaftlicher Natur mied der Landesherr von Enigor grundsätzlich. Die Einladungen zu solchen Anlässen wurden immer weniger, aber nicht, weil Harold und Mechthild aufgegeben hätten, Hardrich und Agnes willkommen zu heißen. Der Landesherr von Landrion war von eigenen Sorgen geplagt. Geschlagen mit dem Los einer besonders langen Grenze zur Grafschaft Ald hatte er seine südlichen Ländereien mit einem dichten Wall von Mauern und Soldaten abgeschirmt und sich damit jede feindliche Annäherung verbeten.

„Landrion …“, dachte Hardrich bitter und kehrte unwillig in die Gegenwart zurück, „… die nächste große Ungewissheit.“

Das riesige Lehen stand vor einem Umbruch. Der alte Fürst, der sein Land mit eiserner Faust zusammengehalten und wie ein Bollwerk gegen alle Einflüsse von außen verteidigt hatte, war gestorben und sein junger Sohn Martin musste sich erst behaupten. Niemand wusste so recht, welchen Weg er einschlagen würde.

Im Kampf und in den selten gewordenen Turnieren hatte sich Martin stets als aufrichtig und loyal gezeigt. Schon jetzt kursierten Legenden über seine übermenschliche Kraft und seinen eisernen Willen, der nicht nur einmal die entscheidende Wende bei einem Scharmützel gebracht hatte. Hardrich hatte den Fürsten von Landrion oft zur Unterstützung angerufen. Solange es ihm möglich war, hatte Martin seinen durch Krankheit geschwächten Vater ersetzt, um an der Seite von Hardrich gegen Morgwald oder Ald zu kämpfen. „Das ist die eine Seite des jungen Fürsten …“, überlegte Hardrich und zupfte an einem Pergament, das sich etwas vom Fenster gelöst hatte, „… wie er ist, wenn er die Macht …“

„Vater“, Agnes unterbrach ihren Vater in seinen Überlegungen. Abrupt drehte sich der Graf um. Die junge Frau zuckte erstaunt zusammen.

„Ihr habt nach mir schicken lassen?“, ergänzte sie unsicher. Als sie die Miene ihres Vaters sah, waren alle Gedanken, die sie sich an diesem Morgen über das Gespräch mit ihm gemacht hatte, wie eine Seifenblase zerplatzt. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte. Endlich, hatte Agnes sich ausgemalt, endlich würde er ihr den Ehemann zu erkennen geben, den er für sie ausgesucht hatte. Sie war schon fast sechzehn, ein Alter, in dem jede junge Frau aus gutem Hause unter der Haube war und ihrem Ehemann den erhofften Erben geschenkt hatte.

Steif ging sie durch den Raum und nahm auf dem Sessel beim Kamin Platz, wo ihr Vater stumm hingezeigt hatte. Sie zitterte, doch nicht vor der Kälte, die schon seit Wochen in der ungeheizten Burg festsaß. Ihr ganzes Inneres schrie auf. Sie spürte instinktiv, dass sie das, was ihr Vater jetzt zu ihr sagen würde, nicht hören wollte. Doch ihre gute Erziehung zwang sie, sittsam mit kerzengeradem Rücken an der vorderen Stuhlkante sitzen zu bleiben.

Mit einem Seufzen ließ sich der Graf in den Lehnstuhl gegenüber sinken. Lange, viel zu lange für Agnes starrte er in die nicht vorhandenen Flammen im Kamin.

„Mein liebes Kind“, die Stimme ihres Vaters war kaum zu hören, „du musst von hier fort …“

Agnes holte hörbar Luft. Sie konnte die Spannung nicht ertragen. Noch konnte sie an sich halten, um nicht aufzuspringen und den alten Mann zu schütteln, damit sie endlich Gewissheit über ihre Zukunft bekäme. Im Geiste schrie sie ihn an. All die Stunden, Wochen, Monate, Jahre, die sie mit Stickerei, höflicher Konversation, Lautespiel, der Pflege des Kräutergartens für die Hausapotheke und dekorativem Herumsitzen bei Besuchen verbracht hatte, schleuderte sie ihm in ihren Gedanken ins Gesicht. All das wofür?

Wie in einem Fieber rasten ihr die Vorwürfe durch den Kopf. Sie krallte die Finger so fest in die hölzerne Lehne des Sessels, dass es schmerzte. Wie in einem Echo hallten ihr die Worte der Erzieherin durch den Kopf: „Haltung bewahren, Kind, Haltung bewahren.“

Plötzlich musste sie husten. Ihr Körper rebellierte gegen den Kloß in ihrem Hals und wollte den Druck der letzten Jahre ausspeien. Der Graf schreckte hoch. „Alles in Ordnung?“

Agnes gelang ein leichtes Nicken. Ihr Vater gab sich einen Ruck und setzte zu seiner Rede an. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Enigor am Ende ist. Wir haben jeden verfügbaren Mann in den Kampf geschickt. Auf den Feldern verkommen die Ernten, in den Dörfern herrscht Hunger und Elend, in den Wäldern wüten Wölfe und Wildschweine, weil keiner mehr da ist, um sie zu jagen …“

Der alte Graf rückte sich im Sessel zurecht, als würde der Albtraum auf der anderen Lehne vielleicht geringer sein. Agnes starrte ihn an. Müde fuhr ihr Vater fort. „... in ein paar Tagen wird der Graf von Ald die Grenzen stürmen und in noch kürzerer Zeit die Burg erobern.“

Mit Tränen in den Augen sah er seine Tochter an. „Du musst fort von hier …“, wiederholte er die Worte, mit denen er begonnen hatte.

Agnes verlor die Fassung. Sie warf sich auf die Knie und grub den Kopf in den Schoß ihres Vaters. „Was wird aus mir?“, stammelte sie. „Und was wird aus Euch?“

Zögernd strich der Graf über den Schleier seiner Tochter. Kurz überlegte er, ob er ihr einen Hoffnungsschimmer schenken könnte, aber es fand sich nichts.

Mit leiser Stimme schilderte er Agnes, was auf sie zukommen sollte. Noch in dieser Nacht würde ein kleines Grüppchen von nun heimatlosen alten Männern, Frauen und Kindern nach Landrion aufbrechen, um dort in einem der Dörfer Aufnahme, Schutz und Nahrung zu finden. Agnes sollte als Bauersfrau getarnt eine von ihnen sein und bis zum Fürstensitz von Landrion weiterreisen, wo sie sich unter den Schutz des Fürsten Martin begeben sollte. Das sei noch das beste Schicksal, das der Graf seiner Tochter anbieten könne. Einen Brief solle sie mitbekommen mit der höflichen Bitte, Agnes als Mündel zu akzeptieren, bis ein Ehemann gefunden werden konnte, der die Pflicht, für sie zu sorgen, gerne übernehmen wollte.

Agnes spürte die Hand ihres Vaters unter ihrem Kinn. Sanft hob er ihren Kopf und suchte Blickkontakt. Eindringlich sprach er weiter.

„Heute Nacht wirst du diese Burg verlassen – als eine Frau aus dem Volk. Enigor wird aufhören zu existieren und damit alle Titel und Ländereien. Ich will Fürst Martin eindringlich bitten, jemanden für dich zu finden, der zumindest bei Hofe dient, einen Ritter vielleicht, wenn Fortuna ihren Segen dazu spendet, aber versprechen kann ich dir nichts. Du wirst seinem Gutdünken ausgeliefert sein.“

In diesem Augenblick hasste Agnes ihren Vater, ihr bisheriges unnützes Leben ohne Eigenbestimmung – immer dem Willen von jemand anderem ausgeliefert – und sie hasste sich. Was konnte sie? Welche Fähigkeit hatte sie, um allein zu überleben?

Wie in Trance sah sie durch ihren Vater hindurch. Auf ihren Lippen formten sich Worte, die nicht dem entsprachen, was sie dachte.

„Ja, Vater, wie Ihr wünscht.“ Agnes stand langsam auf und wandte sich zur Tür. „Kann ich etwas von meiner Habe mitnehmen?“

„Nichts, was dich zur Tochter eines Grafen macht“, kam die knappe Antwort.

In ihrem Zimmer angekommen sah sich Agnes um. Selbst das kleinste Taschentuch war aufwendig mit Spitze und Monogrammen bestickt. Ihre Bürsten und Kämme funkelten in Silber und glänzten in Elfenbein. Sogar ihr schlichtestes Kleid war eine engelsgleiche Robe im Vergleich mit der üblichen Tracht einer Bäuerin.

An ihren Schmuck brauchte sie erst gar nicht zu denken. Auch die Familienchronik und die Juwelen der Grafschaft würden für immer verloren sein. Noch waren die Reichskette, deren Glieder die einzelnen Dorfverbände symbolisierten, und der dazugehörende Hauptschmuck gut in ihrem Versteck in einem geheimen Gang der Burg untergebracht.

„Aber wie lange noch?“, fragte sich Agnes. „Doch, wenn ich nicht mehr da bin und Vater nichts verrät, dann könnte es auch sein, dass die Juwelen nie gefunden werden.“

Immer verzweifelter durchwühlte sie ihre Kleidertruhen und den Tisch mit ihren Putzsachen. Tränen und Wut stiegen in Agnes hoch. Nur mühsam unterdrückte sie den Zorn auf ihre eigene Hilflosigkeit. Doch ebenso, wie man versuchen konnte, einen Vulkan am Ausbruch zu hindern, gelang es auch Agnes nicht, die Glut, die in ihr aufstieg, zu beherrschen. Mit einem Aufschrei wischte sie über den kleinen Tisch. Die Kämme und Bürsten krachten gegen das Bett. Ein kleiner Flakon mit einer Duftessenz zersprang in tausend Scherben.

Mit einem Schluchzen warf sich Agnes aufs Bett und grub den Kopf in eines der Kissen. Selbst diese waren zu edel, um auf eine Flucht mitgenommen zu werden. Die Verzweiflung von Agnes entfesselte sich in einem Weinkrampf, der ihren zarten Körper durch und durch schüttelte. Als sie vor Erschöpfung zur Ruhe kam, starrte sie mehr als eine Stunde an den Bettpfosten. In Gedanken ging sie ihre Möglichkeiten durch. Sich dem Vater zu widersetzen und hier zu bleiben, würde ihren sicheren Tod bedeuten oder noch Übleres. Denn in der Hand von Eroberern würde sie eine mehr als begehrenswerte Trophäe darstellen. Den Verbleib ihres Vaters an diesem Ort, der sich bald in eine brennende Hölle verwandeln würde, schob sie weg. Agnes musste jetzt an sich denken.

Plötzlich fühlte sie sich im Stich gelassen. Schon vor vielen Jahren hätte sich der Graf um ihre Zukunft bemühen müssen, aber er war zu sehr mit den Konflikten um sich herum beschäftigt gewesen. Selbst eine politisch motivierte Heirat erschien ihr in der derzeitigen Situation erstrebenswerter als jede Alternative. Dann wäre Enigor wenigstens in friedlicher Form in die Hände eines Fremden gefallen und es hätten weniger Menschen sterben müssen, als das bisher der Fall war. Doch sie wusste auch, dass ihr Vater diese Wahl nicht hatte. In Dritteln konnte er seine Tochter nur schwerlich verteilen, denn hätte er dem Ritter von Morgwald, dem Grafen von Ald oder dem Markgrafen von Brannburg die Hand seiner Tochter gewährt, dann wären die beiden anderen über dessen Reich und Enigor hergefallen. Die Gedanken von Agnes wandten sich sogar in die Richtung, wie es wohl sein könnte, mit allen drei verheiratet zu sein. Das war so absurd, dass sie fast lachen musste.

„Nein!“, dachte sie entschlossen. „Es ist genug über mich bestimmt worden. Ich werde jetzt meinen eigenen Weg finden.“

Ihr Blick schweifte durch den Raum. So, als wollte sie die Lösung hier und jetzt finden. Kurz blieb sie mit den Augen an einem unscheinbaren Cremetöpfchen hängen. Das war es!

Entschlossen sprang sie auf und stürmte zur Tür hinaus. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie genug organisieren, um ein erstes Auslangen zu haben. Begeistert stieß sie die Tür zur Kräuterkammer auf. Einen kurzen Moment ließ sie den Duft der getrockneten Heilpflanzen auf sich wirken. Ach, wie würde ihr das fehlen, meldete sich ein Stich ins Herz.

Agnes schüttelte den traurigen Gedanken ab. Mit eigener Kraft würde sie sich all das wieder aufbauen. Heilpasten und Mischungen für lindernde Getränke wurden immer gebraucht. Was sich nicht in Wäldern fand, konnte sie auch auf dem winzigsten Stück Erde anbauen. Und sie würde im Tausch gegen ihr Wissen und ihre Materialien Geld oder Essen bekommen.

Ihr Drang, zu überleben und vor allem zu leben, endlich ein Leben zu haben, schärfte ihren Verstand. Sie sortierte ihre Kräuter nach Gebrauch und Wichtigkeit. Die eigens gebrannten Tontöpfchen mit den passenden Holzdeckeln ließ sie schweren Herzens zurück. Sie waren eine zu große Last. Stattdessen füllte sie die bereits zerstampften Kräuter in kleine Lederbeutel, die sie gut verschließen konnte, und die staudenartigen getrockneten Heilpflanzen wickelte sie in Leinentücher. Eine Last wollte sie gerne tragen – einen Tiegel mit Schweinefett. Das vorsichtig erwärmte und langsam ausgelassene Fett war zusätzlich durch grobe Leinentücher gesiebt worden und gab so die perfekte Basis für Heilpasten oder, mit etwas Duftessenzen dazu, eine zarte Creme, die gerne von feinen Damen zur Körperpflege benutzt wurde.

„Auch wenn es einem keinen Ehemann einbringt“, dachte Agnes bitter und ließ sich einen Augenblick von ihrer Arbeit ablenken.

In der Kräuterkammer wurde sie auch bei der Such nach einem Kleidungsstück fündig. Ihr Arbeitskittel für den Kräutergarten ging als Hülle einer Bäuerin oder Kräuterfrau, die sie nun sein wollte, durch. Systematisch durchkämmte Agnes den Raum nach brauchbaren Gegenständen, wobei sie das erste Mal in ihrem Leben gezwungen war, praktisch zu denken. Die kleine Holzschale zum Zerstampfen der Kräuter und zum Anrichten der Pasten – konnte man sie auch zum Essen verwenden? Entschlossen verneinte sie, denn es ging nicht, dass Johanniskraut, Misteln oder Käsepappel nach Suppe rochen. Würde sie je wieder eine Suppe zu essen bekommen? Die kundige Kräuterfrau bräuchte gar für jedes Produkt eine eigene Holzschüssel, aber das ging Agnes entschieden zu weit. Sie wollte Heilung und Linderung verkaufen, nicht Holzschalen.

Nach einem letzten Rundblick verließ sie den Raum mit einem wohlgefüllten Beutel, der sich dank der leichten Kräuter gut tragen ließ. Sie ging zur Küche und merkte, dass sie nicht die Einzige war, die Reisevorbereitungen traf. Die Köchin plante offensichtlich einen schwunghaften Handel mit Gewürzen, denn sie verpackte enorme Mengen Pfeffer, Nelken und Safran in ganz ähnliche Lederbeutel wie Agnes ihre Kräuter. Durch die Haushaltsabrechnungen wusste sie, dass die Köchin damit ein kleines Vermögen fortschaffte, aber sie wollte der guten Frau ihr Auslangen lassen und hier würde es bald niemandem mehr nützen.

Mit einem Nicken erklärte Agnes ihr Einverständnis und nahm sich einen Satz Essgeschirr aus dem Regal. Auf den Rat und mithilfe der Köchin stellte sie sich ein paar Lebensmittel zusammen, die für die nächsten zwei, mit ein paar Einschränkungen auch für drei Tage reichen konnten.

In der Küche war es ungewohnt kalt. Mit Bitterkeit fiel Agnes ein, dass hier heute Abend niemand etwas zu essen wollte. Doch das erinnerte sie daran, dass sie sich noch festere Schuhe und eine Decke besorgen sollte. Mit einem Blick auf die Köchin fiel ihr auch noch etwas anderes ein.

„Wie geht das?“, fragte sie und zeigte auf den Kopf der Frau.

Mit zwei Handgriffen löste die verdutzte Köchin einen groben Leinenschal, dessen lange Enden zuerst eingedreht und dann um den Kopf gewickelt worden waren. Agnes sah ihr aufmerksam zu, denn auch mit all dem Pioniergeist, der sie zurzeit antrieb, wollte sie keine unnützen Fehler machen. Sie überlegte kurz, wo ein ähnlicher Schal zu finden war, dankte der Köchin und eilte zum Hauswirtschaftsraum davon, in dem die Truhe mit den Leinenstoffen für die Gesindekleidung stand.

Der Schock traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Die Kammer war fast völlig leer. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Bediensteten der Burg schon für die Flucht oder für eigene Zwecke mitgenommen. Agnes ärgerte sich. „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!“, murrte sie leise, doch im selben Moment tat ihr der Gedanke leid.

Die Dienstboten hatten das drohende Unglück mit Sicherheit schon viel länger gesehen – nicht so wie sie, die ahnungslos in ihrer Kammer auf samtenen Kissen gesessen und Laute gespielt hatte. Die Galle wollte ihr übergehen vor Ärger auf ihren Vater und alle Hofschranzen, die fleißig an dem goldenen Käfig gesponnen hatten. Hastig durchsuchte sie die mageren Überreste im Hauswirtschaftsraum. Agnes fand zwei Lederstücke, die sie über ihre Füße binden konnte und es gab auch noch ein Stück altes Leinen, das verschmäht in der Truhe lag.

Eine Decke wollte sie im Stall finden. Agnes kam sich seltsam vor, denn nur in Ausnahmefällen hatte sie die Pferdeunterkunft betreten. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, erstickte fast ihren Kampfgeist und sie stand eine Weile auf der Schwelle und versuchte, sich die Notwendigkeit einer Decke auszureden. Ein kalter Windhauch belehrte Agnes bald eines Besseren und vorsichtig suchte sie unter den Pferdedecken eine aus, die nicht zu streng roch.

Rufe im Hof mahnten sie zur Eile, doch ihre erste Bewährungsprobe wartete schon in ihrem Zimmer. Die Kammerzofe war nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich war sie schon zu ihrer Familie zurückgekehrt. Agnes musste die Schnürungen ihrer Tunika allein lösen. Ungeschickt nestelte sie an den Bändern an der Seite und verschaffte sich mit Mühe genug Freiraum, um sich das Kleidungsstück über den Kopf zu ziehen. Ratlos betrachtete sie sich im Spiegel. Auch ihr Unterkleid hätte sicher nie den Weg in eine Bauernstube gefunden, aber Agnes hatte keine Wahl.

Seufzend streifte sie den Arbeitskittel aus der Kräuterkammer über und wickelte sich das Leinentuch um den Haarknoten, den sie so gut wie möglich aus ihren viel zu langen Haaren gedreht hatte. Anschließend riss Agnes von ihrem Bettzeug ein paar Streifen ab und wickelte sie um ihre Füße, den Abschluss machten die Lederstreifen. Eine Eiseskälte stieg von den Steinplatten am Boden auf.

„O Gott, wie halten das die Menschen bloß aus?“ Agnes merkte, wie sie der Mut verließ und sich eine Welle von Angst breitmachte. Unsicher öffnete sie die Truhe, in der ihre Schuhe aufbewahrt wurden. Die Rettung präsentierte sich in einem Paar Reisestiefeln, die mit gestanzter Wolle ausgelegt waren. Bei nächster Gelegenheit würde Agnes ihnen eine Schlammkur verpassen. Langsam nahm sie den vorbereiteten Beutel. Traurig strich sie über ihren Spiegel und die feinen Einlegearbeiten auf dem Putztisch. Auf dem kleinen Silberkästchen für ihren Schmuck stockte ihre Hand. Zögernd hob Agnes den Deckel. Zumindest die Miniatur mit dem Andenken an ihre Mutter wollte sie mitnehmen.

Plötzlich stürzte sie zur Tür. Sie wollte sich nicht länger quälen. „Vater“, erschien sie ungebeten in seinem Arbeitszimmer. Die Konventionen und Höflichkeiten waren ihr nun gleichgültig. Wie am Morgen starrte der alte Graf aus dem Fenster und beobachtete die kleine Gruppe von hoffnungslosen Menschen, die sich im Hof geformt hatte. Mit ihnen würde er auch die wichtigste Person in seinem Leben fortschicken.

Mit feuchten Augen blickte er Agnes an. Fast wäre er über ihre Erscheinung erschrocken, doch gleichzeitig war er auch stolz auf seine Tochter, dass sie so anpassungsfähig war. Schweigend gab er ihr den bereits versiegelten Brief, den sie Fürst Martin aushändigen sollte.

„Wieder ist es selbstverständlich, dass über meine Zukunft bestimmt wird, und ich darf es nicht einmal lesen“, dachte Agnes unglücklich, doch sie wollte nicht mit bösen Gedanken von ihrem Vater weggehen.

Beide schwiegen betreten. Agnes hatte oft ihren Vater verabschiedet, wenn er die Burg verlassen musste. Umgekehrt war es noch nie der Fall gewesen, denn sie hatte diese Mauern immer nur in seiner Begleitung verlassen. Schüchtern trat sie auf ihn zu und legte die Arme um seinen Hals. Zuerst erwiderte der alte Graf die Umarmung nur zaghaft, doch mit einem Mal begann er zu zittern und drückte Agnes fest an sich. An den Tränen, die sie an ihrer Wange spürte, merkte die junge Frau, dass ihr Vater weinte, so sehr weinte, dass er kein Wort über die Lippen brachte.

2

Die kleine Gruppe war in der Dämmerung aufgebrochen und nach nur kurzer Zeit breitete die Nacht ihr pechschwarzes Kleid über die Landschaft. Das Wetter hatte sich beruhigt und der Mond schien Mitleid mit den Heimatlosen zu haben. Er sandte ein mattes Licht zur Erde, in dem zumindest die größten Hindernisse zu erkennen waren. Agnes war schon nach wenigen Schritten erschöpft. Nie zuvor in ihrem Leben war sie über so unwegsamen Boden gegangen.

Sie kannte diese Straße nur zu Pferd oder geborgen in einer Kutsche sitzend. Von den unbequemen Fahrten wusste Agnes, dass die Straßen alles andere als gut befahrbar waren. Oft war das Gerumpel in der Kutsche kaum zu ertragen, doch zu Fuß erwies es sich die schlechte Fahrbahn als Katastrophe. Noch mehr als die körperliche Belastung machte ihr die Angst zu schaffen. Mit blankem Entsetzen lauschte sie den unbekannten Geräuschen aus der Dunkelheit. Immer wieder ließ die junge Frau ihren Blick in das tiefschwarze Nichts gleiten. Im schwachen Schein der Fackel, die Andrin bei sich trug, waren aber nur bizarre, angsteinflößende Formen zu erkennen, die sich bei Tageslicht vielleicht als harmloser Strauch herausgestellt hätten. Zu ihrer eigenen Beruhigung versuchte Agnes, sich die Bilder des Waldes im Schein des Sonnenlichts auszumalen. Saftige grüne Blätter, die sich sanft in einem lauen Lüftchen wiegten. Tannen mit so dicken Stämmen, dass ein Mann sie nicht umfassen konnte, ragten mit dicht bewachsenen Spitzen in den Himmel, wo sie eifrigen Waldbewohnern eine Heimstatt boten. Doch genau diese verursachten nun all die Geräusche, bei denen Agnes jedes Mal gebannt aufhorchte.

Niemand sagte ein Wort. Alle trugen Last und Leid mit einem Schweigen, das wie eine schwere Wolke auf den unfreiwillig Reisenden lag. Agnes wagte nicht zu klagen. Vielleicht hätte sie mit ihrem Gejammer keine Verwunderung ausgelöst, doch sie konnte es in ihren Gesichtern sehen – sie mochte mitgehen im mageren Schutz der Einheit oder allein zurückbleiben. Alternative gab es keine, denn sie war keine Grafentochter und die anderen waren keine Dienstboten mehr.

Zu Agnes’ großem Glück übernahmen die größeren Kinder, die bisher auch zu Fuß gegangen waren, das Gejammer. Sehnsüchtig sah sie sich nach einem möglichen Rastplatz um. Doch ihre Hoffnung währte nur kurz. Der alte Pferdeknecht Andrin, dem der Graf diese Menschen anvertraut hatte, wollte das nächstgelegene Dorf erreichen. Hier im Wald boten sie nur eine erstrebenswerte Mahlzeit für die Wölfe.

Die auf dem Karren schlafenden Kleinkinder wurden auf die Frauen verteilt. Agnes fand sich mit einer zusätzlichen Last. Das kleine Mädchen schmiegte sich warm und weich in ihre Arme. „Vielleicht findest du das sogar besser als den holprigen Wagen“, flüsterte sie leise gegen die Stirn ihres schlafenden Schützlings.

In aller Eile wurden die älteren Kinder auf dem Gefährt untergebracht und in wesentlich langsamerem Tempo ging es weiter. Mühsam schleppten sich die müden Menschen über die ausgetrockneten und nun wieder frisch aufgeweichten Furchen, die die Kutschen und Karren der fahrenden Händler im einstigen Schlamm zurückgelassen hatten. Jedem Einzelnen von ihnen saßen die Entbehrungen der letzten Wochen in den Knochen und das ungewisse Schicksal in der Zukunft machte jeden Schritt in Richtung Osten zur Höllenqual.

Geschwindigkeit und Moral hoben sich erst, als sich der Wald lichtete und sie zu den Feldern kamen, die zu dem Dorf gehörten, das ihre erste Zufluchtsstätte sein sollte. Der schmale Pfad war durch die häufige Benutzung gut ausgetreten, doch nur bis zu einem ganz bestimmten Punkt. Es war deutlich zu merken, dass der Waldrand eine magische Grenze bildete – hier ging nur hinein, wer unbedingt musste.

In diesem Teil von Enigor zeigte sich eine deutliche Veränderung im Landschaftsbild der kleinen Grafschaft. Das gebirgige Gelände wurde durch ein weitläufiges Becken unterbrochen, dessen fruchtbare Erde zu ausgiebiger Landwirtschaft einlud. Da es auch klimatisch begünstigt war, war dieses Gebiet als Kornkammer von Enigor bekannt. Die im Mondlicht glänzenden Strohstoppel verrieten, dass die letzte Ernte noch eingebracht worden war, doch das übliche Abbrennen der Felder, um den Boden auf das nächste Jahr vorzubereiten, hatte nicht mehr stattgefunden.

Agnes war über diese Tatsache beunruhigt, aber trotzdem ging es ihr in doppelter Hinsicht besser. Die erste Pause war nahe und ihr Körper war in einen Trott verfallen, der schmerzende Füße und eingeschlafene Arme leichter ertragen ließ. Am Feldrand war das Gehen auch befreiter und sie schöpfte wieder etwas mehr Mut. Im Geiste dankte sie dem Umstand, dass sie das Kind tragen musste. Der kleine vom Schlafen warme Körper war das beste Mittel gegen die Kälte der Nacht, die eine zusätzliche Mühsal bedeutete.

Am Dorfrand hieß der alte Pferdeknecht die Erschöpften warten. Langsam ging er zu den Häusern. Es war unheimlich, denn zumindest ein Hund hätte anschlagen oder ein leises Muhen die Ankömmlinge ankündigen müssen.

„Was ist geschehen, Andrin?“, fragte eine der Frauen den alten Mann ängstlich, als er nach viel zu langer Zeit mit besorgter Miene zurückkehrte. „Es sind alle fort“, gab er knapp zur Antwort. „Die Hütten und Ställe sind leer.“

„Mein Vater hat die verbliebenen Bewohner schon vor Wochen in Sicherheit bringen lassen“, sagte Agnes leise. Alle drehten sich zu ihr um.

Plötzlich ergaben die Wortfetzen und Andeutungen der vergangenen Monate Sinn. Das erklärte das Ausbleiben von Getreide, Milch und Vieh. Auf Anordnung des Grafen waren alle Dörfer in der Nähe der Burg aufgelöst worden. Entbehrliche Tiere waren getötet und das Fleisch war verteilt worden. Trächtige Kühe und Kühe mit Kälbern hatten die Bauern mitgenommen. Selbst das letzte Getreidekörnchen war dem herannahenden Feind entzogen worden.

- Ende der Buchvorschau -

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Texte © Copyright by Marianne Acquarelli Leopoldauer Platz 42 1210 Wien [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Marianne Acquarelli

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-9503824-0-2