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Guy de Maupassant, einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, präsentiert in seinem Meisterwerk 'Die schönsten Erzählungen' eine Sammlung von Geschichten, die die Leser auf eine Reise durch die menschliche Natur mitnehmen. Sein präziser und realistischer Schreibstil zeichnet sich durch eine eindringliche Darstellung von Charakteren und Situationen aus, die sowohl faszinierend als auch verstörend sind. Maupassants Werke reflektieren die sozialen und moralischen Fragen seiner Zeit und bieten dem Leser einen tiefen Einblick in die menschliche Psyche des 19. Jahrhunderts. Guy de Maupassant selbst führte ein bewegtes Leben, geprägt von persönlichen Tragödien und literarischem Erfolg. Seine eigenen Erfahrungen spiegeln sich in seinen Erzählungen wider, die oft von Ironie, Sarkasmus und einer unbestechlichen Sicht auf die Welt geprägt sind. Als Schüler von Gustave Flaubert und Edmond de Goncourt entwickelte Maupassant einen einzigartigen Stil, der seine Prosa zu einem Meisterwerk der französischen Literatur macht. 'Die schönsten Erzählungen' von Guy de Maupassant sind ein absolutes Muss für alle Liebhaber klassischer Literatur und bieten eine fesselnde und tiefgründige Lektüre, die auch nach über einem Jahrhundert noch zeitlos ist. Durch seine meisterhafte Erzählkunst und die Vielfalt seiner Themen regt Maupassant seine Leser zum Nachdenken an und hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck, der lange nach dem Lesen noch nachhallt.
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Seitenzahl: 802
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Books
Der Boulevard, dieser Strom des Lebens, wimmelte von Menschen im Goldglanz der untergehenden Sonne. Der ganze Himmel war augenblendend purpurrot, und hinter der Madeleine warf eine riesige leuchtende Wolke einen flimmernden Strahlenregen auf die ganze Straße hinab, die wie vom Dunst eines Hochofens eingehüllt erschien.
Eine lustige Menge wallte auf und ab in diesem flammenden Nebel wie in einer himmlischen Wolke. Die Gesichter strahlten, die Cylinderhüte spiegelten und die schwarzen Röcke glänzten in purpurnem Schein; das Lackleder der Stiefel warf strahlenden Glanz auf den Asphalt der Bürgersteige.
Vor den Cafés saßen eine Menge Menschen und tranken glänzende farbige Getränke, die aussahen wie kostbare, in Krystall eingesetzte Edelsteine.
Mitten zwischen den Gästen, in leichten, dunkleren Anzügen, saßen zwei Offiziere in voller Uniform, und die Vorübergehenden mußten die Augen zukneifen, so glitzerte die Sonne auf dem Gold ihrer Röcke.
Sie plauderten vergnügt ohne besonderen Anlaß, im Strom dieses heiteren Lebens, in der Köstlichkeit dieses strahlenden Sommerabends, und betrachteten die Menschen, die vorübergingen, die langsam schlendernden Männer, die eilig trippelnden Frauen, deren Spur eine Wolke süßen, verwirrenden Duftes bezeichnete.
Plötzlich kam an ihnen ein riesiger Neger vorüber, schwarz gekleidet, wohlbeleibt, auf dessen heller Weste eine Menge Anhänger baumelten. Er sah sehr vergnügt aus, lachte die Vorübergehenden an, lachte den Zeitungsverkäufern zu, lachte in den strahlenden Himmel hinein, lachte auf ganz Paris.
Er war so groß, daß er alles überragte, und hinter ihm drehten sich die Menschen um, um ihn zu betrachten. Aber plötzlich gewahrte er die beiden Offiziere, drängte sich durch die Gäste, und sobald er vor ihrem Tisch stand, sah er sie strahlend, glückselig an, und seine Mundwinkel zogen sich breit bis zu den Ohren, daß man die weißen Zähne sah, hellleuchtend wie der Halbmond an einem dunklen Himmel.
Die beiden Männer waren erstaunt, betrachteten den schwarzen Riesen, ohne seine Heiterkeit zu verstehen, aber er rief mit einer Stimme, daß rundum alles lachte:
– Gute Tag! Gute Tag, Herr Leutnant!
Einer der Offiziere war Major, der andere Oberst. Der erste sagte:
– Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, was Sie wünschen!
Der Neger antwortete:
– Ich liebe sehr Dich Leutnant Védié, belagert Bézi, viel Weintrauben gesucht ich!
Der Offizier war ganz erstaunt und betrachtete den Mann schärfer, suchte in seinen Erinnerungen und plötzlich rief er:
– Timbuctu Du?
Der Neger war glückselig, schlug sich auf den Schenkel, stieß einen seltsamen wilden Schrei aus und rief:
– Ja, ja, Herr Leutnant, erkennt Timbuctu o ja, gute Tag!
Der Major streckte ihm die Hand entgegen und lachte aus vollem Herzen. Da wurde Timbuctu ernst, und so schnell, daß der andere es nicht hindern konnte, küßte er dessen Hand nach Neger-und Araber-Art. Der Offizier sagte verlegen mit strengem Ausdruck:
– Timbuctu, wir sind nicht in Afrika, aber setz Dich mal her und erzähle mir, wie Du herkommst.
Timbuctu warf sich in die Brust und stammelte sich überstürzend, so schnell sprach er:
– Viele Geld gewonnen, viele Restaurant, gut Essen Preußen ich viel stehlen viel mehr französische Küche. Timbuctu Kaiser Koch 2000 Franki mich hahaha.
Und er wand sich vor Lachen und heulte vor Freude.
Doch der Offizier, der seine seltsame Sprechweise ganz gut verstand, sagte zu ihm, nachdem er noch ein paar Sachen gefragt hatte:
– Na, nun lebe wohl, Timbuctu. Auf Wiedersehen!
Der Neger erhob sich sofort, drückte diesmal die Hand, die der andere ihm reichte, lachte wieder und rief:
– Gute Abend! Gute Abend, Herr Leutnant!
Und er ging so fröhlich davon, daß er noch gestikulierte, als er sich entfernte, und die Leute ihn für verrückt hielten.
Der Oberst fragte:
– Was ist denn das für ein Kerl?
Der Major antwortete:
– Ein braver Kerl und ein guter Soldat. Ich will Ihnen erzählen, was ich von ihm weiß, komisch genug ist es.
Sie wissen, daß ich bei Beginn des 70er Krieges in Beziéres, das der Neger Bézi nennt, eingeschlossen war. Wir waren nicht eigentlich belagert, sondern blockiert. Die preußischen Linien umgaben uns überall; sie beschossen uns nicht, aber allmählich hungerten sie uns aus.
Ich war damals Leutnant. Unsere Garnison war aus Truppen aller Art zusammengesetzt, Überreste von dezimierten Regimentern, Flüchtlingen, Marodeuren der verschiedenen Armeecorps, kurz, es war eigentlich alles da, sogar eines Abends kamen, kein Mensch wußte woher, elf Turcos an.
Sie waren am Stadtthor erschienen, ganz heruntergekommen, abgelumpt und besoffen. Man überwies sie mir. Ich erkannte bald, daß sie keiner Disziplin zugängig waren, immer auswärts und immer betrunken. Ich versuchte, sie in Arrest zu stecken, sogar ins Gefängnis, es half alles nichts; die Kerle verschwanden ganze Tage hindurch, als ob sie in die Erde versunken wären; dann kamen sie wieder, total betrunken. Sie hatten kein Geld, wo besoffen sie sich denn? Wie und wovon?
Das intriguierte mich bald sehr, umsomehr als diese Wilden mit ihrem ewigen Lachen und ihrer Art, wirklich wie große, mutwillige Kinder, mich einigermaßen interessierten.
Da entdeckte ich, daß sie dem größten unter ihnen, den Sie eben hier gesehen haben, blindlings gehorchten. Er beherrschte sie vollkommen; er leitete ihre geheimnisvollen Unternehmen.
Ich ließ ihn kommen und befragte ihn. Unsere Unterhaltung dauerte wohl drei Stunden, so schwer war es, das Kauderwelsch zu verstehen, aber der arme Deubel machte alle möglichen Versuche, um sich verständlich zu machen, erfand Worte, gestikulierte, schwitzte vor Anstrengung, wischte sich die Stirn, schwieg, redete dann wieder los, wenn er meinte ein neues Verständigungs-Mittel gefunden zu haben.
Ich erriet, daß er der Sohn irgend eines großen Häuptlings sein mußte, so einer Art König aus der Nähe von Timbuctu. Ich fragte nach seinen Namen, er antwortete so etwas wie:
– Chevaharibuhalikbranafotapola. Mir schien es einfacher, ihn nach seinem Lande Timbuctu zu nennen, und acht Tage später nannte ihn die ganze Garnison nicht anders.
Aber wir starben vor Neugierde zu erfahren, wie es der afrikanische Prinz a.D. fertig kriegte, sich zu betrinken, und das entdeckte ich auf ganz seltsame Weise.
Eines Morgens war ich auf den Wällen und sah in die Ferne hinaus, da gewahrte ich in einem Weinberg etwas, das sich bewegte. Es war zur Zeit der Weinlese, die Weintrauben waren reif, aber daran dachte ich kaum, ich meinte vielmehr, ein Spion nähere sich der Stadt, und ich stellte sofort eine Patrouille zusammen, um den Kerl zu erwischen.
Ich übernahm die Führung, nachdem ich vom General die Erlaubnis erhalten. Aus drei verschiedenen Thoren hatte ich drei kleine Trupps ausfallen lassen, die sich in der Nähe des verdächtigen Weinberges treffen und ihn umzingeln sollten. Um dem Spion den Rückzug abzuschneiden, mußte das eine Detachement mindestens eine Stunde marschieren. Ein Mann, den ich als Beobachtungsposten auf der Mauer gelassen, gab mir ein Zeichen, ob der Mensch den Weinberg auch noch nicht verlassen hätte.
Wir gingen stillschweigend, kletterten, schlichen beinahe auf dem Bauche hin, endlich kamen wir an den bezeichneten Punkt. Plötzlich gebe ich meinen Soldaten ein Zeichen, sie stürzen sich in den Weinberg und finden Timbuctu, der auf allen Vieren zwischen den Stämmen hinkriecht und Weintrauben ißt, oder vielmehr verschlingt wie ein Hund, der sein Fressen hinunterwürgt, mit vollem Mund vom Weinstock selbst, indem er jedes Mal mit den Zähnen die Traube abreißt.
Ich wollte ihn aufstehen lassen, es ging nicht, und nun begriff ich, warum er auf Händen und Knieen rutschte. Sobald man ihn auf die Beine gestellt hatte, schwankte er, streckte die Arme aus und schlug der Länge nach hin. Er war so betrunken, wie ich noch nie einen Menschen gesehen habe.
Wir schleppten ihn in die Stadt. Den ganzen Weg über lachte er und schlug um sich mit Armen und Beinen. Das war also das ganze Wunder: Die Kerle besoffen sich am Stock selbst; wenn sie dann betrunken waren, daß sie sich nicht mehr regen konnten, schliefen sie, wo sie gerade lagen, ihren Rausch aus. Timbuctus Leidenschaft für den Weinberg überstieg aber alle Maße und alles für möglich gehaltene, er lebte förmlich dort.
Eines Abends rief man mich. Auf der Ebene sah man etwas, das sich uns näherte. Ich hatte meinen Feldstecher nicht bei mir und konnte nichts erkennen, es war wie eine große Schlange, die sich fortrollte.
Ich schickte ein paar Mann der seltsamen Karawane entgegen, die bald im Triumph einzog. Timbuctu und seine neun Begleiter trugen auf einer Art Altar aus Feldstühlen gemacht, acht abgeschnittene, blutige, grinsende Köpfe; der zehnte Turco hielt ein Pferd am Schwanz, an den ein anderer gebunden war und sechs andere Tiere folgten in gleicher Weise.
Ich erfuhr folgendes: Als die Afrikaner wieder in den Weinberg gegangen waren, hatten sie plötzlich ein preußisches Detachement entdeckt, das sich dem Dorf näherte. Statt zu fliehen, hatten sie sich versteckt und dann, als die Offiziere am Wirtshaus abgesessen, um sich zu erfrischen, hatten sich die elf Kerle auf sie gestürzt.
Die Ulanen, die sich angegriffen wähnten, waren geflohen; die Afrikaner töteten zwei Posten und den Oberst und fünf Offiziere seines Stabes.
An diesem Tage umarmte ich Timbuctu. Aber ich bemerkte, daß er sich kaum schleppen konnte. Ich meinte, er sei verwundet, doch er begann zu lachen und sagte:
– Ich müssen für die Land!
Timbuctu führte nämlich Krieg nicht der Ehre halber, sondern wegen des Gewinnes. Alles was er fand und was ihm irgend einen Wert zu haben schien, vor allen Dingen, was glänzte, steckte er in die Tasche.
So hatte er das Gold von den preußischen Uniformen abgetrennt, die Beschläge der Helme, die Knöpfe u.s.w., und alles in die Tasche gesteckt, die beinahe platzte. Täglich stopfte er dort hinein jeden glänzenden Gegenstand, der ihm unter die Augen kam, ein Geldstück oder ein Stück Metall, so daß er manchmal ganz verrückt aussah.
Alles das wollte er später in das Land der Strauße mitnehmen, und was hätte er anfangen sollen ohne seine Tasche? Aber jeden Morgen war seine Tasche leer; er mußte also ein Hauptmagazin haben, wo er alle seine Reichtümer aufstapelte, aber wo, konnte ich nicht entdecken.
Der General, dem Timbuctus That gemeldet worden war, ließ sofort die Körper der Enthaupteten, die im nächsten Orte lagen, beerdigen, damit man nicht etwa merken sollte, daß ihnen der Kopf abgesäbelt worden. Am nächsten Tage kehrten die Preußen dorthin zurück. Der Ortsvorstand und sieben der angesehensten Einwohner wurden standrechtlich erschossen, zur Strafe, weil sie die Anwesenheit der Deutschen uns verraten hätten.
Der Winter war eingebrochen, wir waren vollständig verzweifelt; täglich fanden jetzt Gefechte statt. Nur die acht Turcos (einer war getötet worden) blieben dick und fett, kräftig und immer kampfbereit. Timbuctu war sogar ganz wohlbeleibt, er sagte mir eines Tages:
– Du viel Hunger, ich gute Fleisch!
Und in der That brachte er mir ein ausgezeichnetes Filet, aber woher? Wir hatten keine Ochsen mehr, keine Schafe, keine Ziegen, keinen Esel, keine Schweine, es war sogar unmöglich, sich ein Pferd zu verschaffen.
Nachdem ich meinen Braten verzehrt, dachte ich über all dies nach. Da kam mir ein furchtbarer Gedanke: Diese Neger waren geboren nicht weit von dem Lande, wo man Menschenfleisch ißt! Und täglich fielen soviele Soldaten in den Kämpfen um die Stadt.
Ich fragte Timbuctu, aber er wollte nicht antworten. Ich bestand nun nicht weiter darauf, aber fortan nahm ich von ihm nichts mehr zu Essen an.
Er liebte mich. Eine Nacht überraschte unsere Feldwache ein Schneegestöber. Wir saßen am Boden: mitleidig betrachtete ich die armen Neger, die unter diesem weißen weichen Staub klapperten. Da ich tüchtig fror, begann ich zu husten. Da fühlte ich etwas um die Schultern wie eine große, weiche Decke. Es war Timbuctu’s Mantel, den er mir um die Schultern hing.
Ich stand auf, gab ihm das Kleidungsstück zurück:
– Behalte Du’s mein Junge, Du brauchst’s nötiger als ich!
Er antwortete:
– Nein, Herr Leutnant, für Dir, ich nicht, ich heiß, heiß!
Und er betrachtete mich flehend. Ich antwortete:
– Also gehorche, behalte Deinen Mantel, ich befehle es Dir!
Da stand der Neger auf, zog seinen Säbel, den er scharf zu machen verstand wie eine Sense, und indem er mit der anderen Hand den großen Mantel, den ich nicht haben wollte, hielt, rief er:
–- Du nicht Mantel behalten, ich zerschneiden Mantel!
Er hätte es wirklich gethan, und ich gab nach.
Acht Tage darauf hatten wir kapituliert. Ein paar von uns hatten fliehen können, die anderen marschierten aus der Stadt in die Gefangenschaft der Sieger.
Ich begab mich zum Sammelplatz, da blieb ich ganz erstaunt vor einem riesigen, in weißes Leinen gekleideten Neger stehen, der einen Strohhut auf dem Kopf hatte, es war Timbuctu.
Er schien glückselig zu sein und lief, die Hände in den Taschen, vor einer kleinen Bude auf und ab, auf der als Aushängeschild zwei Teller und zwei Gläser prangten. Ich fragte ihn:
– Was treibst Du denn?
Er antwortete:
– Ich nicht fort, ich gut koch, haben Oberst essen gemacht in Allgier, ich essen Preuße, viel gestohlen, viel, viel.
Es waren zehn Grad Kälte; ich zitterte beim Anblick dieses Negers in seinem weißen Leinen-Anzuge. Da nahm er mich beim Arm und ließ mich eintreten.
Nun sah ich ein Riesenschild, das er vor die Thür hängen wollte, sobald wir abmarschiert wären, denn er schämte sich doch etwas, und ich las von der Hand irgend eines Mitschuldigen Folgendes geschrieben:
Militär-Restaurant des Herrn Timbuctu
Küchen-Chef Seiner Majestät des Kaisers.
Pariser Küche – Mäßige Preise.
Trotz der Verzweiflung, die ich im Herzen trug, konnte ich nicht anders, ich mußte lachen, und ich überließ meinen Neger seinem neuen Beruf, war das nicht besser, als ihn in die Gefangenschaft mit zu nehmen?
Sie haben eben gesehen, daß es ihm geglückt ist, dem Kerl. Heute gehört Béziéres Deutschland, aber das Restaurant Timbuctu ist der erste Schritt zur Revanche.
Sie war eines jener bildhübschen, reizenden Mädchen, die, wie durch einen Irrtum des Schicksals, in einer kleinen Beamtenfamilie geboren sind. Sie besaß keine Mitgift, keine Hoffnungen, kein Mittel, um in der Gesellschaft bekannt, geliebt und von einem reichen, vornehmen Manne heimgeführt zu werden.
Und da ließ sie sich mit einem kleinen Beamten aus dem Unterrichtsministerium verheiraten. Sie war einfach, da sie sich nicht elegant anziehen konnte und fühlte sich unglücklich wie eine Deklassierte.
Denn die Frauen gehören weder einer Kaste noch Rasse an, ihre Schönheit, ihre Grazie, ihr Reiz, sind für sie Geburtsschein und Familie. Ihre natürliche Feinheit, ihre geistige Anschmiegsamkeit geben ihnen die einzige Anwartschaft zum Herrschen und stellen die Tochter aus dem Volk mit der größten Dame gleich.
Sie litt unausgesetzt, denn sie fühlte sich für allen Luxus und für alles Schöne des Lebens geboren. Sie litt unter der Armseligkeit ihrer Wohnung, dem Elend in ihren vier Pfählen, unter den abgetragenen Sesseln, der Häßlichkeit der Stoffe.
All diese Dinge, die einer anderen Frau ihrer Kaste vielleicht nicht einmal auffielen, quälten sie und empörten sie. Der Anblick ihres kleinen Bretonischen Dienstmädchens, die ihre einfache Wirtschaft besorgte, erweckte in ihr verzweifeltes Bedauern und jammervolle Träume. Sie dachte an Vorzimmer mit orientalischen Teppichen behangen, in denen hohe Bronceleuchter brannten und wo in tiefen Sesseln zwei Diener in Kniehosen warteten, bei der Wärme des großen, schweren Kamins.
Sie dachte an Salons, mit Seide bespannt, und mit zarten Möbeln, mit köstlichen Nippes und Nichtsen; an kleine, reizende, duftgeschwängerte Boudoirs, die eigens gemacht schienen für eine kleine Unterhaltung Nachmittags zur Theestunde mit den intimsten Freunden, bekannten und bedeutenden Männern, deren Aufmerksamkeit alle Frauen wünschen und neiden.
Wenn sie sich zu Tisch setzte, an den runden Tisch, auf dem das Tischtuch schon tagelang lag, ihrem Manne gegenüber, der den Deckel von der Terrine abnahm und schmunzelnd sagte:
– O, die gute Suppe, das bleibt doch das beste!
Dann dachte sie an großartige Diners, mit glänzenden Silbersachen, wo die Wände bespannt waren mit Gobelins, auf denen seltsame Vögel mitten in einem Feenwald herumflatterten. Sie dachte an außergewöhnliche, herrliche Speisen in köstlichem Geschirr angerichtet, dachte an die Galanterien, die zugeflüstert und angehört werden mit Sphinxartigem Lächeln, während man das rosige Fleisch einer Forelle kostet oder am Flügel eines Birkhuhns knabbert.
Sie hatte keine Toiletten, keinen Schmuck, nichts, und doch liebte sie nur das, sie fühlte sich dazu geschaffen, sie hätte so gern gefallen, beneidet, gesucht und verführerisch sein mögen.
Sie besaß eine reiche Freundin, mit der sie im Kloster erzogen worden, aber sie mochte sie nicht aufsuchen, denn so schrecklich war es ihr jedesmal, wenn sie von dort zurückkam; sie weinte dann tagelang vor lauter Kummer, Verzweiflung und Elend.
Da kam eines Abends ihr Mann mit Siegesmiene herein, einen großen Brief in der Hand.
– Da ist was für Dich! sagte er.
Sie riß schnell das Couvert auf und fand darin eine gedruckte Einladung folgenden Inhalts:
»Seine Excellenz der Unterrichtsminister und Frau Georg Ramponneau geben sich die Ehre Herrn und Frau Loisel für Montag den 18. Januar zur Soiree ergebenst einzuladen.«
Statt glücklich zu sein, wie ihr Mann es erhofft, warf sie die Einladung mit gerümpfter Nase auf den Tisch und murmelte:
– Was soll mir das nützen?
– Aber liebes Kind, ich dachte, Du würdest glücklich sein. Du kommst nie heraus, und da hast Du nun einmal eine schöne Gelegenheit dazu. Es war schwer genug, die Einladung zu kriegen, alle Welt will eine haben, und nicht alle Beamten kriegen eine. Alle offiziellen Persönlichkeiten werden da sein.
Sie sah ihn erregt an und sagte ungeduldig:
– Was soll ich denn anziehen, um dorthin zu, gehen?
Daran hatte er nicht gedacht und stammelte:
– Gott das Kleid, das Du zum Theater anziehst, das scheint mir doch ganz nett!
Er schwieg, auf den Mund geschlagen, ganz verzweifelt, als er sah, daß seine Frau weinte.
Zwei große Thränen rollten langsam aus den Augenwinkeln herab, und er stammelte:
– Was hast Du denn? Was hast Du denn?
Mit aller Gewalt kämpfte sie ihre Verzweiflung nieder und sagte mit ruhiger Stimme, indem sie ihre nassen Wangen abwischte:
– Garnichts! Aber ich habe kein Kleid und kann also auf das Fest nicht gehen. Gieb die Einladung nur irgend einem Kollegen, dessen Frau besser herausstaffiert ist als ich.
Er war traurig, er antwortete:
– Aber sei doch vernünftig, Mathilde. Wieviel soll denn eine anständige Toilette kosten, die Du vielleicht noch bei anderen Gelegenheiten benutzen könntest. Sie braucht ja nur ganz einfach zu sein!
Sie dachte ein paar Sekunden nach, rechnete und überlegte auch, welche Summe sie wohl verlangen könnte, ohne daß der sparsame Beamte sofort nein gesagt hätte und außer sich gewesen wäre.
Endlich antwortete sie zögernd:
– Ich weiß nicht recht, aber ich denke mit vierhundert Franken müßte es gehen.
Er war bleich geworden, denn er wollte gerade diese Summe bei Seite legen, um sich ein Gewehr zu kaufen und einmal auf die Jagd zu gehen, den folgenden Sommer in Nanterre, wo er mit ein paar Freunden Sonntags sich vergnügen konnte. Aber dennoch sagte er:
– Gut, Du sollst vierhundert Franken bekommen, Und nun sieh zu, daß Du ein schönes Kleid kriegst.
Der Tag des Festes rückte heran, aber Frau Loisel schien traurig, unruhig, ängstlich, obgleich ihre Toilette fertig war. Da sagte eines Tages ihr Mann zu ihr:
– Was hast Du denn, Du bist seit einiger Zeit so sonderbar!
Und sie antwortete:
– Ach, mir ist es so unangenehm, daß ich keinen Schmuck habe, keinen Stein, nichts anzuthun. Ich werde eine recht traurige Figur machen, ich möchte am liebsten garnicht hingehen.
Er antwortete:
– Nimm doch natürliche Blumen, das ist sehr chik jetzt, und für zehn Franken bekommst Du zwei oder drei prachtvolle Rosen.
Doch sie war nicht davon überzeugt:
– Nein, es giebt nichts Demütigenderes, als unter all den reichen Frauen so armselig aufzutreten!
Aber ihr Mann rief:
– Sei doch nicht dumm, geh doch mal zu Deiner Freundin Forestier und bitte sie, sie soll Dir irgend einen Schmuck borgen. Du kennst sie doch genau genug dazu.
Sie stieß einen Freudenschrei aus. Das war eine gute Idee, daran hatte sie nicht gedacht.
Am nächsten Tage ging sie zu ihrer Freundin und teilte ihr den Grund ihrer Niedergeschlagenheit, mit. Frau Forestier trat an ihren Spiegelschrank, nahm daraus einen großen Kasten, brachte ihn, öffnete ihn und sagte zu Frau Loisel:
– Bitte, such Dir etwas aus.
Sie sah zuerst Armbänder; dann ein Perlenhalsband, dann ein Venezianisches Kreuz aus Gold, eine wundervolle Arbeit, und all den Schmuck probierte sie vor dem Spiegel an. Sie zögerte, sie konnte sich nicht entschließen, die Sachen aus der Hand zu geben, und sie fragte immer:
– Hast Du noch etwas anderes?
– Aber gewiß, wühle nur, ich weiß ja nicht, was Dir gefällt.
Plötzlich entdeckte sie in einem Etui von schwarzem Satin eine wundervolle Diamanten-Riviere, und ihr Herz begann vor Sehnsucht danach zu schlagen. Ihre Hände zitterten, als sie den Schmuck in die Hand nahm sie legte ihn um den Hals auf dem geschlossenen Kleid, sie war ganz weg über sich selbst.
Dann fragte sie zögernd, voller Angst:
– Willst Du mir das borgen? Nur das?
– Aber gewiß, sehr gern!
Sie fiel ihrer Freundin um den Hals, küßte sie herzlich und lief mit ihrem Schatze davon.
Der Tag des Festes kam, Frau Loisel hatte einen großen Erfolg. Sie war hübscher als alle, elegant, graziös, lächelte und war vor Freude ganz verrückt.
Alle Herren blickten sie an, fragten, wer es wäre, ließen sich ihr vorstellen. Alle jungen Beamten wollten mit ihr tanzen, sogar der Minister ward auf sie aufmerksam. Sie tanzte wie trunken vor Freude und Glück, dachte an nichts mehr im Triumph ihrer Schönheit, in der Wonne ihres Erfolges, wie von einer Art Wolke umhüllt, aus all dieser Bewunderung, aus all diesem Courmachen gewoben, von all den geheimem Wünschen umgeben, durch diesen vollständigen Sieg, der den Frauenherzen so teuer ist.
Gegen vier Uhr Morgens ging sie fort. Ihr Mann schlief schon seit Mitternacht in einem kleinen verlassenen Salon mit drei anderen Herren, deren Frauen sich auch gut unterhielten.
Er warf ihr die Überkleider um die Schultern, die er vom Eingang geholt, bescheidene Alltagsgegenstände, deren Ärmlichkeit gegen die Eleganz der Balltoilette abstach. Sie fühlte es und wollte entfliehen, um von den anderen Frauen die sich in kostbare Pelze hüllten, nicht gesehen zu sein.
Loisel hielt sie zurück:
– Warte doch, Du wirst Dich draußen erkälten. Ich werde einen Wagen rufen.
Aber sie hörte nicht auf ihn und lief rasch die Treppe hinunter. Als sie auf der Straße standen, fanden sie keinen Wagen. Sie suchten und riefen die Kutscher an, die sie in der Ferne vorüberfahren sahen.
Frierend und verzweifelt gingen sie nach der Seine hinuter, endlich fanden sie am Quai eines jener alten Nachtcoupés, die man in Paris nur bemerkt, wenn es dunkel wird, als ob sie Tags über sich ihrer Armseligkeit geschämt hätten.
Das brachte sie bis an ihre Thür Rue des Martyrs, und traurig stiegen sie zu ihrer Wohnung hinauf. Für sie war es jetzt aus, und er ärgerte sich, daß er um zehn Uhr im Ministerium sein mußte.
Sie legte vor dem Spiegel die Kleidungsstücke ab, die sie um die Schultern gethan, um sich noch einmal in all ihrer Schönheit zu sehen, aber plötzlich stieß sie einen Schrei aus: Sie trug kein Halsband mehr um den Hals!
Ihr Mann, der sich schon halb ausgezogen hatte, fragte:
– Was hast Du denn?
Erschrocken wandte sie sich zu ihm:
– Ich habe … ich habe den Schmuck der Frau Forestier nicht mehr!
Er fuhr erschrocken herum:
– Was? Wie? Das ist nicht möglich!
Und sie suchten in den Falten des Kleides, in den Falten des Mantels, überall und fanden nichts.
Er fragte:
– Bist Du gewiß, daß Du ihn noch hattest, als wir den Ball verließen?
– Ja, ich habe ihn im Vorsaal, im Ministerium noch angefaßt.
– Aber wenn er auf der Straße verloren gegangen wäre, hätten wir ihn doch fallen hören müssen. Es muß im Fiaker geschehen sein.
– Sehr wahrscheinlich! Weißt Du die Nummer?
– Nein, hast Du sie Dir nicht gemerkt?
– Nein!
Sie blickten sich tötlich erschrocken an, endlich zog Herr Loisel sich wieder an:
– Ich will den ganzen Weg, den wir zu Fuß gegangen sind, noch einmal zurücklegen, um zu sehen, ob ich ihn nicht vielleicht finde.
Und er ging fort. Sie blieb in ihrer Toilette sitzen, sie hatte nicht die Kraft zu Bett zu gehen. Sie hockte auf einem Stuhl, ohne einen Gedanken fassen zu können.
Gegen sieben Uhr kehrte ihr Mann zurück, er hatte nichts gefunden. Er ging auf die Polizei, zu den Zeitungen, um eine Belohnung auszusetzen; ging zu der Droschken-Gesellschaft, kurz, überall hin, wohin ihn der Schimmer einer Hoffnung trieb.
Sie wartete den ganzen Tag in demselben verstörten Zustand, angesichts des furchtbaren Unglücks. Loisel kam am Abend wieder, mit eingefallenen Wangen, bleich, er hatte nichts gefunden.
Er sagte:
– Du mußt Deiner Freundin schreiben, Du hättest das Schloß kaput gemacht und müßtest es erst wieder herstellen lassen, damit wir Zeit haben, uns noch einmal umzusehen.
Und er diktirte ihr den Brief.
Nach einer Woche hatten sie keine Hoffnung mehr, und Loisel, der um fünf Jahre gealtert war, erklärte:
– Wir müssen sehen, daß wir einen anderem Schmuck schaffen.
Am nächsten Tage nahmen sie das Etui, worin der Schmuck gelegen hatte und gingen zu dem Juwelier, dessen Name sich darin verzeichnet fand. Er schlug in seinen Büchern nach:
– Gnädige Frau, ich habe diese Riviere nicht verkauft, von mir ist offenbar nur das Etui.
Da liefen sie von Juwelier zu Juwelier und suchten überall einen ähnlichen Schmuck und strengten ihr Gedächtnis an, beide ganz krank vor Kummer und Verzweiflung.
In einem kleinen Laden im Palais Royal fanden sie eine Brillant-Schnur, die ihnen ganz genau so zu sein schien, wie die, die sie suchten. Sie sollte vierzigtausend Franken kosten, aber man wollte sie ihnen für sechsunddreißigtausend lassen.
Sie baten also den Juwelier, ihnen drei Tage lang das Vorkaufsrecht zu lassen, und sie stellten die Bedingung, daß er ihn für vierunddreißigtausend Franken zurücknehmen mußte, wenn der erste Schmuck sich etwa vor Ende Februar wiederfände.
Loisel besaß achtzehntausend Franken, die er von seinem Vater geerbt, den Rest wollte er borgen. Er borgte ihn zusammen, von diesem eintausend, fünfhundert von jenem, fünf Zwanzigfrankstücke hier oder drei dort, er schrieb Wechsel, machte verzweifelte Geldgeschäfte und trat mit Halsabschneidern und Wucherern aller Art in Verbindung, er kompromittierte seine ganze Existenz und wagte es zu unterschreiben, ohne zu wissen, ob er je würde zahlen können und, unausgesetzt im Gedanken an die Entbehrungen, an die Zukunft, an das Elend, das über ihren Hausstand kommen würde, durch die in Aussicht stehenden leiblichen Entbehrungen, durch die moralischen Qualen, holte er endlich den neuen Schmuck und legte sechsunddreißigtausend Franken auf den Ladentisch.
Als Frau Loisel ihrer Freundin den Schmuck brachte, sagte diese etwas pikiert:
– Du hättest ihn mir auch früher bringen können, ich hätte ihn doch brauchen können!
Sie öffnete garnicht das Etui, wovor sich ihre Freundin gefürchtet. Wenn sie den Ersatz entdeckt, was hätte sie wohl gesagt? Hätte sie sie nicht für eine Diebin gehalten?
Frau Loisel lernte das Leben der Bedürftigen kennen. Sie fügte sich übrigens darein, wie eine Heldin. Diese furchtbaren Schuldscheine mußten eben bezahlt werden, und sie würden sie zahlen.
Sie schickte das Mädchen fort, sie nahm eine andere Wohnung, eine Mansarde unter dem Dach. Nun lernte sie die groben Hausarbeiten kennen, die entsetzlich groben in der Küche.
Sie wusch selber auf und verdarb ihre rosigen Nägel an den fettigen Töpfen und Schüsseln, sie wusch die schmutzige Wasche, Hemden und Wischtücher, die sie auf einer Schnur zum Trocknen aufspannte.
Gegen Morgen brachte sie den Kehricht auf die Straße, trug das Wasser herauf und blieb an jedem Treppenabsatz stehen, um Atem zu schöpfen. Wie ein gewöhnliches Weib gekleidet, ging sie selbst auf den Markt, in die Kolonialwarenhandlung, zum Fleischer, den Korb am Arm, handelte und ließ sich schimpfen, denn Pfennig um Pfennig verteidigte sie ihre jammervollen paar Groschen.
Jeden Monat mußten Wechsel gezahlt werden und andere ausgestellt, nur um Zeit zu gewinnen.
Der Mann arbeitete Abends daran, die Geschäftsbücher eines Kaufmannes zu führen, und Nachts oft fertigte er Abschriften an für fünf Sous die Seite.
Und dieses Leben dauerte zehn Jahre.
Nach zehn Jahren hatten sie alles abgezahlt mit Wucherzinsen und allem.
Jetzt sah Frau Loisel wie eine alte Frau aus, sie war stark und hart geworden, grob wie ein armes Weib. Sie war nicht mehr frisiert, ihre Röcke saßen unordentlich, ihre Hände waren rot, sie sprach laut und scheuerte die Fußböden.
Aber manchmal, wenn ihr Mann auf dem Bureau war, setzte sie sich ans Fenster und dachte an diesen Abend damals, an diesen Ball, auf dem sie so schön gewesen und so gefeiert worden.
Was wäre wohl geschehen, wenn sie den Schmuck nicht verloren? Wer weiß! Wie seltsam veränderlich ist doch das Leben! Wie wenig ist nur von Nöten, uns zu stürzen, oder zu erheben!
Da gewahrte sie eines Sonntags, als sie in den Champs Elysées, um sich von den Mühen der Woche zu erholen, spazieren ging, eine Dame mit einem Kinde an der Hand. Es war Frau Forestier, immer noch jung, hübsch, verführerisch.
Frau Loisel war ganz erregt, sollte sie sie anreden? Ja gewiß! Und nun, wo sie alles bezahlt hatten, wollte sie ihr die Wahrheit sagen, und sie trat an sie heran:
– Guten Tag, Johanna!
Die andere erkannte sie nicht, sie war erstaunt, von dieser Bürgersfrau so angeredet zu werden und sie stammelte:
– Ja, Frau – – ich weiß nicht – – Sie täuschen sich wohl?
– Nein, ich bin Mathilde Loisel!
Ihre Freundin stieß einen Schrei aus:
– Ach, meine arme Mathilde, wie bist Du aber verändert!
– Ja, ich habe schwere Zeiten durchgemacht, seit ich Dich nicht gesehen, und viel Elend und zwar Deinetwegen.
– Meinetwegen? Wieso denn?
– Erinnerst Du Dich der Diamant-Schnur, die Du mir geborgt hast, um auf den Ball ins Ministerium zu gehen?
– Gewiß, und?
– Nun, ich hatte sie verloren.
– Aber wie ist denn das möglich, Du hast sie mir doch wieder gebracht!
– Ich habe Dir eine andere, ganz gleiche wiedergebracht, und seit zehn Jahren zahlen wir daran ab. Du wirst einsehen, daß das für uns eine furchtbare Last gewesen ist, für uns, die wir nichts hatten. Na, nun ist’s vorbei, und jetzt bin ich glücklich!
Frau Forestier war stehen geblieben:
– Du sagst, Du hast eine Diamantschnur gekauft, um meine zu ersetzen?
– Jawohl! Ja, Du wirst das nicht gemerkt haben, sie war ganz gleich.
Und sie lächelte in naivem Stolz.
Aber Frau Forestier faßte sie ganz erschüttert bei den Händen:
– O Gott, o Gott, meine arme Mathilde, meine Schnur war ja falsch! Sie war höchstens fünfhundert Franken wert!
Als der Briefträger Bonifacius die Post verließ, stellte er fest, daß heute sein Bestellgang kürzer sein würde denn sonst, und er freute sich darüber außerordentlich.
Sein Bezirk war die ganze Umgegend von Vireville, und wenn er abends zurückkam in seinem langen, müden Schritt, hatte er manchmal mehr als vierzig Kilometer im Leibe.
Die Briefabgabe würde also heute schnell gehen, er konnte sich sogar unterwegs ein bißchen aufhalten und würde um drei Uhr wieder zu Hause sein. So ein Glück!
Er verließ den Ort, auf dem Wege nach Sennemare und begann seinen Dienst. Es war Juni, und alles grünte und blühte, der schönste Monat im Flachland.
Der Mann, der eine blaue Bluse trug und ein schwarzes Käppi mit roten Streifen, durchschritt die schmalen Wege zwischen den Hafer-oder Getreidefeldern; bis an die Schultern ging ihm das Korn. Sein Kopf ragte über die Ähren, als schwimme der auf einem ruhigen, grünen Meer hin, das sonst eine leichte Brise wellt.
Er betrat die Bauernhöfe durch das Holzthor in der Hecke, die zwei Reihen Buchen beschatteten. Er nannte jedesmal den Bauer beim Namen:
– Morgen Herr Chicot!
Und gab ihm seine Zeitung, den Petit Normand. Der Bauer wischte sich dann die Hand an der Hose, nahm das Blatt in Empfang und steckte es in die Tasche, um es nach dem Mitagessen in Ruhe zu lesen.
Der Hund, der in seiner Hütte zu Füßen eines überhängenden Apfelbaumes lag, bellte wütend und zerrte an seiner Kette, aber der Briefträger ging, ohne sich umzuwenden, in seiner militärischen Haltung davon, große Schritte machend, den linken Arm auf die Tasche gestemmt, im rechten den Stock drehend, der neben ihm dieselben gleichmäßig eiligen Bewegungen machte.
Er verteilte seine Drucksachen und seine Briefe im ganzen Dorf Sennemare, dann ging er weiter durch die Felder, um die Zeitung dem Lehrer zu bringen, der ein kleines, alleinstehendes Haus, etwa zehn Minuten vom Ort entfernt, bewohnte.
Es war ein neuer Lehrer, Herr Chapatis, der erst vorige Woche eingezogen und seit kurzer Zeit verheiratet war. Er hielt ein Pariser Blatt, und ab und zu warf der Briefträger Bonifacius, wenn er Zeit dazu hatte, einen Blick hinein, ehe er das Blatt dem Empfänger zustellte.
Er öffnete also seine Tasche, nahm die Zeitung, schob sie aus dem Kreuzband heraus, faltete sie auseinander und begann sie während des Gehens zu lesen.
Die erste Seite interessierte ihn kaum, die Politik ließ ihn kalt, Finanz-Nachrichten überschlug er, aber der lokale Teil reizte ihn.
Der war gerade heute sehr reichhaltig, und er regte sich lebhaft auf bei der Schilderung eines Verbrechens in der Wohnung eines Jagdhüters, sodaß er mitten in einem Kleefeld stehen blieb, um es noch einmal langsam zu lesen.
Die Einzelheiten waren schrecklich. Ein Holzfäller war früh beim Forsthaus vorüber gegangen und hatte auf der Schwelle ein paar Tropfen Blut gesehen, als ob jemand Nasenbluten gehabt. Er dachte, der Förster wird die Nacht vielleicht ein Kaninchen erlegt haben, aber als er sich näherte, endeckte er, daß die Thür halb offen stand und das Schloß aufgebrochen war.
Da packte ihn die Angst, er lief ins Dorf, den Ortsvorstand zu benachrichtigen. Der nahm den Flurwächter und den Lehrer zur Verstärkung mit, und die vier Männer kehrten zusammen zurück.
Sie fanden den Förster ermordet am Kamin liegen, seine Frau erwürgt unter dem Bett und ihr kleines zehnjähriges Mädchen erstickt zwischen zwei Matratzen.
Der Briefträger Bonifacius war so erschrocken bei dem Gedanken an diesen Mord, dessen furchtbare Einzelheiten eine nach der anderen ihm hier enthüllt wurden, daß er sich ganz schwach auf den Beinen fühlte und laut sagte:
– Gott verdamm mich! was giebts für schlechte Menschen !
Dann steckte er die Zeitung wieder in das Kreuzband und ging weiter, immer noch das Verbrechen im Kopf. Bald kam er an das Haus des Herrn Chapatis. Er öffnete das kleine Gartenthor und näherte sich dem Häuschen. Es war ein niedriges Gebäude, das nur ein Erdgeschoß enthielt mit einem Mansardendach.
Es stand mindestens fünfhundert Meter vom nächsten Hof entfernt. Der Briefträger stieg die zwei Stufen hinauf, legte die Hand auf die Klinke, versuchte zu öffnen und fand die Thür verschlossen.
Da bemerkte er, daß die Läden noch garnicht geöffnet worden waren und daß heute noch niemand ausgegangen war. Eine gewisse Unruhe überfiel ihn, denn Herr Chavatis war seit seiner Ankunft immer sehr zeitig aufgestanden.
Bonifacius zog die Uhr, es war erst sieben Uhr zehn Minuten morgens, er war also fast eine Stunde früher gekommen als sonst.
Ach was, der Lehrer hätte doch schon auf sein müssen!
Und er ging vorsichtig um das Haus herum, als ob irgend eine Gefahr dabei sei. Er bemerkte nichts Verdächtiges, als ein paar Fußtritte in einem Erdbeerbeet.
Aber plötzlich blieb er unbeweglich und vor Entsetzen gebannt stehen, als er an einem Fenster vorüber kam.
Man stöhnte im Haus!
Er stellte sich mit gespreizten Beinen über ein Thymianbeet ganz nah ans Haus und legte sein Ohr an den Fensterladen, um besser zu hören. Wahrhaftig, es stöhnte! Er hörte ganz genau lange, schmerzliche Seufzer, etwas wie ein Röcheln, etwas wie das Geräusch eines Kampfes, dann wurde das Stöhnen stärker, wiederholte sich, ward noch schärfer und wechselte ab mit Schreien.
Da zweifelte Bonifacius nicht mehr daran, daß in diesem Augenblick gerade ein Verbrechen bei dem Lehrer verübt wurde. Er rannte davon was er konnte durch den kleinen Garten, eilte über das Feld hin mitten durchs Korn, lief, daß er ganz außer Atem kam und seine Tasche im Takt gegen die Hüften klatschte.
So kam er, nach Luft schnappend, verzeifelt an der Thür der Gendarmerie an. Der Wachtmeister Malautour war dabei, einen kaputen Stuhl mit Hammer und Nagel wieder zusammen zu schlagen; der Gendarm Rautier hatte das kapute Möbel zwischen den Beinen und hielt an die Bruchstelle einen Nagel, dann schlug der Wachtmeister, indem er dabei seinen Schnurbart kaute, mit aufgerissenen, vor angestrengter Aufmerksamkeit glänzenden Augen mit tötlicher Sicherheit seinem Untergebenen auf die Finger.
Sobald der Briefträger sie sah, rief er:
– Schnell, schnell! Kommen Sie, man ermordet den Lehrer!
Die beiden Leute hielten in ihrer Arbeit inne, hoben den Kopf mit jener erschrockenen Miene von Leuten, die man plötzlich überrascht und stört. Bonifacius, der ihnen mehr Überraschung, als Diensteifer ansah, wiederholte:
– Schnell, schnell! Diebe sind im Haus, ich habe Schreien gehört, es ist höchste Zeit!
Der Wachtmeister legte seinen Hammer bei Seite und fragte:
– Woher wissen Sie denn das?
Der Briefträger erzählte:
– Ich wollte eben die Zeitung und zwei Briefe abgeben, als ich bemerkte, daß die Thür noch verschlossen war und der Lehrer noch nicht aufgestanden sein konnte. Ich ging um das Haus herum, um mich zu überzeugen, und ich hörte Stöhnen, als ob jemand erwürgt würde, als ob man einem die Kehle durchschnitte. Da bin ich so schnell wie möglich fortgelaufen, Sie zu holen. Es ist höchste Zeit!
Der Wachtmeister richtete sich auf und sagte:
– Ja, haben Sie denn nicht selbst Hilfe geleistet!
Der erschrockene Briefträger antwortete:
– Ich fürchtete, einer Übermacht gegenüber zu. stehen.
Da meinte der Beamte überzeugt:
– Ich will mich nur schnell anziehen, dann komme ich.
Und er trat ins Haus, von seinem Gendarm gefolgt, der den Stuhl trug. Beinahe sofort erschienen sie wieder, und die drei setzten sich im Laufschritt in Bewegung nach dem Orte des Verbrechens zu.
Als sie sich dem Hause näherten, gingen sie vorsichtshalber langsamer. Der Wachtmeister zog seinen Revolver, und dann traten sie ganz leise in den Garten und näherten sich der Mauer.
Nirgends waren Spuren zu entdecken, daß die Verbrecher schon entflohen, die Thür war noch geschlossen, ebenso die Läden.
– Jetzt haben wir sie! – sagte der Wachtmeister.
Der alte Bonifacius zitterte vor Erregung, schickte den Wachtmeister auf die andere Seite des Hauses und zeigte ihm den Fensterladen.
– Dort! – sagte er.
Und der Wachtmeister trat ganz allein heran und legte sein Ohr an den Laden. Die beiden anderen warteten, auf alles gefaßt, starr die Augen auf ihn geheftet.
Lange blieb er unbeweglich stehen und lauschte. Um dem Fensterladen näher zu kommen, hatte er seinen Dreimaster abgesetzt und hielt ihn in der rechten Hand.
Was hörte er? Sein unbewegliches Gesicht verriet nichts, aber plötzlich sträubte sich sein Schnurbart, seine Wangen verzogen sich langsam wie zu einem Lächeln und indem er wieder die Wegeinfassung überstieg, näherte er sich den beiden anderen, die ihn unausgesetzt anstarrten.
Dann machte er ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen und sie gingen auf den Fußspitzen ihm nach. Als sie an den Eingang kamen, sagte er Bonifacius, er möge nur die Zeitungen und die Briefe unter die Thür stecken.
Der Briefträger war starr, doch er gehorchte.
– Und nun fort! – meinte der Wachtmeister, aber sobald sie das Gartenthor verlassen hatten, wandte er sich zum Briefträger und sagte mit ironischem Lächeln und verschmitzter Miene, indem seine Augen vor innerer Freude lachten:
– Sie sind aber ein Luder!
Der Alte fragte:
– Was denn? Ich hab’s doch gehört! Ich schwöre Ihnen, ich hab’s gehört!
Aber der Wachtmeister konnte nicht mehr an sich halten und platzte heraus. Er lachte, als solle er ersticken, beide Hände auf dem Bauch. Die Thränen traten ihm in die Augen, und er schnitt furchtbare Gesichter. Die beiden andern blickten ihn erschrocken an.
Aber da er weder sprechen konnte, noch aufhörte zu lachen, oder zu erklären vermochte, was geschehen sei, machte er eine bezeichnende Bewegung. Da man ihn jedoch noch immer nicht verstand, widerholte er das ein paar Mal und deutete dabei mit dem Kopf zurück auf das noch immer verschlossene Haus.
Der Gendarm verstand nun plötzlich und begann auch fürchterlich zu lachen. Der Alte aber blieb ganz dumm zwischen den beiden sich vor Vergnügen windenden Menschen stehen. Endlich beruhigte sich der Wachtmeister, klopfte dem Alten freundschaftlich auf den Bauch und rief:
– Na Sie kleiner Schäker! Die Morithat werde ich mir merken!
Der Briefträger riß groß die Augen auf:
– Aber ich schwöre Ihnen, ich hab’s gehört!
Der Wachtmeister begann wieder zu lachen, der Gendarm hatte sich auf den Grabenrand ins Gras gesetzt und wand sich gleichfalls vor Lachen.
– Hat’s gehört! Na, ermordest Du Deine Frau auch so? Du alter Witzbold!
– Meine Frau?
Er dachte lange nach, dann sagte er:
– Na, wenn ich meine Alte verdresche, dann heult se und wie heult se! Verdrischt denn der Herr Schullehrer auch seine Frau?
Da packte ihn der Wachtmeister, als verlöre er vor Freude den Verstand, bei den Schultern, wirbelte ihn einmal herum und flüsterte ihm etwas ins Ohr, sodaß der andere vor Erstaunen sich garnicht fassen konnte.
Dann brummte der Alte nachdenklich:
– Nee, nee, so nich! So nich! So nich! Meine sagt garnichts! Das hätte ich nich gedacht, ist so was möglich! Da muß man doch an Mord glauben!
Und wie ein begossener Pudel schlich er durch die Felder davon, während der Wachtmeister und der Gendarm noch immer lachend ihm von weitem grobe Kasernen-Ausdrücke nachbrüllten, bis allmählich sein schwarzes Käppi über dem Riesenmeer der Saaten in der Ferne verschwand.
Die beiden jungen Frauen ruhen wie begraben unter einer Blumendecke. Sie sitzen allein in dem kleinen Landauer, der wie ein gewaltiger Korb mit Blumensträußen beladen ist. Auf dem kleinen Rücksitz, stehen zwei Körbchen mit weißem Satin überzogen, voll Veilchen aus Nizza, und über das Bärenfell, das der Damen Knie bedeckt, rieselt ein Regen herab von Rosen, Mimosen, Levkojen, Margueriten, Tuberosen und Qrangenblüten, einzeln mit Seidenbändchen zusammengeknüpft. Die Blüten scheinen die beiden zarten Körper darunter ganz zu erdrücken, indem aus dem leuchtenden, duftenden Blumenbett nur ihre Schultern, die Arme und ein ganz kleines Stück der Taille hervorlugt, die eine blau, die andere lila.
An der Peitsche des Kutschers befindet sich ein Anemonen-Strauß, die Geschirre der Pferde sind mit Goldlack ausgeputzt, die Speichen der Räder mit Reseda geschmückt und an Stelle der Laternen stecken zwei riesige runde Bouquetts, als wären es die seltsamen Augen dieses blühenden rollenden Tieres.
Der Landauer fährt in schlankem Trabe die Straße von Antibes herab, vor ihm, hinter ihm, neben ihm eine Menge von blumengeschmückten Wagen voller Damen, die aus einem Meer von Veilchen hervorlugen.
Es ist Blumen-Korso in Cannes.
Nun kommen sie an den Boulevard de la Foncière, wo die Blumenschlacht stattfindet. Längs der riesigen Avenue rollt eine doppelte Reihe von blumengeschmückten Equipagen, wie ein endloses Band auf und ab.
Man wirft sich Blumen zu von einem zum andern, wie Kugeln durchsausen sie die Luft, treffen die frischen Gesichter, schweben empor und fallen dann in den Staub, aus dem sie eine Schar von Gassenjungen aufhebt.
Eine dichtgedrängte Menge auf den Bürgersteigen wird von Schutzleuten zu Pferde im Zaum gehalten, die brutal losreiten, wenn die Neugierigen zu Fuß sich vordrängen, als wollten sie diesen häßlichen Menschen nicht erlauben, sich mit den Reichen zu vermischen. Ruhig oder lärmend sieht die Menge zu.
In den Equipagen ruft man sich an, erkennt man sich, bewirft sich mit Rosen.
Ein Wagen voll hübscher Damen, alle in rot wie die Teufel, zieht das Auge an und bestrickt es. Ein Herr, der dem Bilde Heinrichs IV. ähnelt, wirft mit lachender Behaglichkeit ein riesiges Bouquett in die Luft hinaus, das, durch ein Gummiband gehalten, immer wieder zurückschnellt.
Wenn der Anprall der Blumen droht, verstecken die Damen ihr Gesicht, die Herren ducken den Kopf, aber das graziöse, schnelle Geschoß beschreibt nur einen Bogen und kehrt zu seinem Herrn zurück, der es sofort wieder einem andern geschickt zuwirft.
Die beiden jungen Frauen leeren mit vollen Händen ihr Arsenal und erhalten einen Hagel von Bouquetts. Dann, nachdem die Blumenschlacht vielleicht eine Stunde gedauert, sind sie ein wenig müde und befehlen dem Kutscher, längs des Meeres die Straße des Golf Juan hinunterzufahren.
Die Sonne verschwindet hinter l’Esterel, indem sie feuerumsprüht den Schattenriß der gezackten langen Bergkette schwarz abzeichnet. Das ruhige Meer dehnt sich blau und hell bis zum Horizont, wo es sich mit dem Himmel mischt. Und das Panzer-Geschwader, das mitten im Golf vor Anker liegt, sieht aus wie eine Herde gewaltiger Tiere, die bewegungslos auf dem Wasser ruhen, wie apokalyptische Ungeheuer, bucklig und gepanzert, mit dünnen Masten geschmückt wie mit Federn und mit Augen, die anfangen zu leuchten, wenn die Nacht hereinbricht.
Lässig blicken die beiden Frauen, unter dem schweren Pelz ausgestreckt, in die Weite; endlich sagt die eine:
– Ach, an so einem köstlichen Abend erscheint einem doch alles wundervoll. Nicht wahr, Margot?
Die andere antwortet:
– Ja, das ist herrlich, und doch fehlt einem immer etwas.
– Was denn? Ich fühle mich ganz glücklich, ich brauche nichts.
– O doch, Du denkst nur nicht daran. Wie wohlig wir uns auch immer fühlen mögen, immer möchten wir doch etwas mehr haben – etwas fürs Herz!
Die andere meint lächelnd:
– Ein wenig Liebe?
– Ja!
Sie schwiegen, starrten vor sich hin, dann sagte die eine, Margarete geheißen:
– Mir ist es, als könnte man das Leben ohne das nicht ertragen. Ich brauche Liebe, und wäre es die eines Hundes. Und Du kannst sagen, was Du willst, Simone, wir sind alle so!
– O, durchaus nicht, meine Liebe! Ich mag lieber garnicht geliebt sein, als von irgend einem Beliebigen. Glaubst Du, daß ich mich gern lieben lassen würde zum Beispiel von – – von – –
Sie suchte, wen sie nennen könnte, und ihr Auge lief über die weite Landschaft. Nachdem ihre Blicke den ganzen Horizont umkreist hatten, fielen sie auf die zwei blanken Knöpfe auf dem Rücken des Kutschers, und sie sagte lachend:
– Nun, zum Beispiel von meinem Kutscher!
Margot lächelte kaum und antwortete leise:
– Ich kann Dir die Versicherung geben, es ist riesig amüsant, wenn einen ein Diener liebt. Das ist mir schon zwei-oder dreimal passiert. Die machen Augen, das ist zum totlachen! Natürlich muß man umso strenger sein, je verliebter sie sind, und dann schmeißt man sie eines Tages hinaus unter irgend einem ersten besten Vorwand, sonst würde man sich ja lächerlich machen, wenn jemand davon etwas merkte. Simone hörte zu, blickte starr vor sich hin, dann erklärte sie:
»Nein, allerdings, die Liebe eines Dieners würde mir nicht genügen. Erzähle mir doch einmal, wie Du das gemerkt hast, daß sie in Dich verliebt waren.«
»Gott, das merkte ich, wie man es bei anderen Männern merkt, nämlich sobald sie anfangen blödsinnig zu werden.«
»O, mir kommen sie garnicht so dumm vor, wenn sie mich lieben!«
»Meine Liebe, Idioten, sage ich Dir, sind sie. Kein Wort können sie mehr reden, keine Antwort geben, sie kapieren aber auch nichts, nichts mehr.«
»Aber nun sage mir mal, wie war Dir denn, wie Dich ein Diener liebte, warst Du erregt, oder geschmeichelt?«
»Erregt, nein! Geschmeichelt? Na ein bißchen! Man fühlt sich immer geschmeichelt, wenn ein Mann einem von Liebe redet, mag er nun sein wer er will.«
»An was merktest Du’s denn?«
»Ich will Dir mal eine komische Geschichte erzählen, die mir passiert ist, paß mal auf, wie spaßig das ist und wie seltsam, was in so einem Falle in uns vorgeht.
Diesen Herbst vor vier Jahren hatte ich gerade keine Jungfer. Nacheinander habe ich fünf oder sechs gehabt, keine zu brauchen und ich verzweifelte fast daran, eine zu finden. Da las ich in den Stellen-Angeboten meiner Zeitung, ein junges Mädchen, die Nähen, Sticken und Frisieren könne, suche eine Stelle. Sie hätte die besten Zeugnisse und spräche außerdem englisch.
Ich schrieb an das Blatt, und am nächsten Tage stellte sich mir die Person vor. Sie war ziemlich groß, schlank, etwas bleich und war sehr verlegen. Sie hatte schöne schwarze Augen, einen guten Teint und gefiel mir sofort.
Ich fragte nach den Zeugnissen, sie gab mir ein englisches, denn sie hätte eben den Dienst der Lady Rymwell verlassen, bei der sie zehn Jahre gewesen. Das Zeugnis lautete dahin, das junge Mädchen verlasse den Dienst, um nach Frankreich zurückzukehren, und wahrend des langen Dienstes könne man ihr nur ein einziges vorwerfen: etwas französische Koketterie.
Ich mußte lächeln über die prüde Wendung dieses englisches Satzes und nahm das Mädchen sofort. Sie trat bei mir an demselben Tage noch in Dienst. Sie hieß Rosa.
Nach vier Wochen war ich ganz glückselig über sie. Sie war wirklich ein Fund, eine Perle, eine Seltenheit. Sie wußte mit unglaublichem Geschmack zu frisieren, sie garnierte Spitzen auf einen Hut besser, als die erste Modistin, und sie konnte sogar schneidern.
Ich war ganz erstaunt über alles, was sie leistete, so war ich noch nie bedient worden. Sie zog mich schnell an, mit einer erstaunlich leichten Hand, nie fühlte ich ihre Finger auf meiner Haut, und nichts ist mir so fatal, wie wenn mich so ein Mädchen berührt.
Da wurde ich unendlich faul. So angenehm war es mir, mich anziehen zu lassen, vom Kopf bis zu den Füßen, vom Hemd bis zu den Handschuhen durch diese große, verlegene Person, die immer ein bißchen errötete und nie etwas sprach.
Nach dem Bad massierte sie mich und trocknete mich ab, während ich auf einem Sofa halb schlief. Ich betrachtete sie bald wirklich mehr wie eine etwas niedriger stehende Freundin, als wie einen Dienstboten.
Da wollte mich eines Morgens der Portier geheimnisvoll sprechen. Ich war erstaunt, ließ ihn eintreten. Er war ein zuverlässiger Mensch, ehemaliger Soldat, ein früherer Bursche meines Mannes.
Er schien ein wenig verlegen über das, was er mir zu sagen hatte. Endlich meinte er stotternd:
– Gnädige Frau, der Polizei-Wachtmeister ist unten.
Ich fragte kurz:
– Was will er denn?
– Er muß das Haus durchsuchen!
Nun, die Polizei ist gewiß von Nöten, aber ich hasse sie, ich finde, es ist nicht gerade ein anständiges Handwerk, und ich antwortete wütend und verletzt:
– Wozu denn durchsuchen? Auf welche Veranlassung? Der Mann darf nicht herein!
Der Portier antwortete:
– Er behauptet, ein Verbrecher wäre hier versteckt!
Nun hatte ich Angst und befahl, den Polizei-Wachtmeister sofort eintreten zu lassen, denn ich wollte näheres erfahren.
Es war ein ganz anständiger Mann mit der Ehrenlegion im Knopfloch. Er entschuldigte sich, stören zu müssen, erklärte aber, unter unseren Dienstboten befände sich ein Sträfling.
Ich war empört und antwortete, ich könne für all unsere Leute einstehen, und ging sie der Reihe nach durch.
– Der Portier Pierre Courtin ist früher Soldat gewesen.
– Der ist es nicht!
– Der Kutscher Francois Pingau aus der Champagne, ist der Sohn eines Bauern vom Gut meines Vaters.
– Ist es nicht!
– Der Stallbursche, auch aus der Champagne und gleichfalls der Sohn eines Bauern, den ich kenne. Dann der Diener, den Sie eben gesehen haben.
– Die sind es nicht!
– Sehen Sie, da werden Sie wohl einsehen, daß Sie sich irren.
– Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, ich irre mich bestimmt nicht. Da es sich um einen gefährlichen Verbrecher handelt, so bitte ich, haben Sie die Liebeswürdigkeit und lassen Sie in meiner Gegenwart vor mir das gesamte Personal erscheinen.
Ich wehrte mich zuerst, dann gab ich nach und ließ die Leute heraufkommen, männliche wie weibliche Dienstboten.
Der Polizei-Wachtmeister überlief sie mit einem Blick und sagte:
– Es sind nicht alle!
– O bitte sehr, jetzt ist nur noch meine Jungfer übrig, ein junges Mädchen, das Sie doch nicht mit einem Verbrecher verwechseln können.
Er fragte:
– Kann ich sie auch sehen?
– Gewiß.
Ich klingelte Rosa, die sofort erschien; aber sobald sie eingetreten war, gab der Wachtmeister zwei Leuten, die ich nicht gesehen, die hinter der Portiere standen, ein Zeichen, sie warfen sich auf das Mädchen, packten ihre Hände und fesselten sie.
Ich stieß einen Wutschrei aus und wollte mich auf die Leute stürzen, meine Jungfer zu verteidigen. Aber der Wachtmeister rief:
– Das Mädchen, gnädige Frau, ist ein Mann und heißt Johann Nikolaus Lecapet, 1879 wegen Lustmordes zum Tode verurteilt; die Strafe wurde in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt, er ist vor vier Monaten ausgebrochen, und seitdem suchen wir ihn.
Ich fiel beinahe um; ich konnte es nicht glauben, aber der Wachtmeister sagte lächelnd:
– Ich kann Ihnen den Beweis liefern, er ist am rechten Arm tätowiert.
Der Ärmel wurde aufgeschlagen, es war so.
Der Vertreter der Polizei machte noch den zweifelhaften Scherz:
– Was das übrige anbetrifft, können Sie sich auch auf uns verlassen!
Und meine Jungfer wurde abgeführt.
Nun, Du kannst mir schon glauben, daß in mir nicht am meisten die Wut kochte, daß ich so betrogen und lächerlich gemacht war, nicht die Scham, ausgekleidet und angezogen, massiert und berührt worden zu sein von diesem Mann, sondern eine tiefe Demütigung. Ich fühlte mich gedemütigt als Frau, verstehst Du?
– Nein, nicht ganz!
– Nun, so denke nach. Der Kerl war wegen Lustmordes verurteilt worden. Nun ich dachte an die, die er vergewaltigt hatte, und das, weißt Du, das demütigte mich etwas. Na, verstehst Du nun?
Margot antwortete nicht, sie blickte vor sich hin mit starrem seltsamem Blick auf die beiden leuchtenden Knöpfe der Livrée und mit jenem Sphinxlächeln, das die Frauen manchmal an sich haben.
Es war die Theestunde, ehe die Lampen gebracht wurden. Die Villa hatte den freien Ausblick auf das Meer; die Sonne war untergegangen, und der Himmel strahlte in ihrem letzten Widerschein rosig, wie von goldenem Duft überhaucht.
Das Meer lag da, ohne Welle, ohne eine Bewegung, glatt, glänzend im Abendrot wie eine gewaltige, polierte Metallplatte.
In der Ferne rechts zeichneten die Berge auf dem blassen Purpur des Abendhimmels zackig ihr schwarz, gerändertes Profil ab.
Man sprach von der Liebe. Man behandelte dieses alte Thema, man sagte Dinge, die tausend Mal schon gesagt worden sind. Die sanfte Melancholie der Dämmerung ließ die Worte langsamer klingen, über die Seelen kam etwas wie ein Weichwerden, und dieses Wort Liebe, das immer wieder tönte, ab und zu von der kräftigen Stimme eines Mannes, dann wieder in leichtem Ton aus Frauenmund, schien den ganzen kleinen Salon zu erfüllen, herum zu stattern wie ein Vogel, umher zu irren wie ein Geist.
Kann man Jahre lang lieben?
Ja, behaupteten die einen, nein, versetzten die andern. Man erzählte Fälle, Besonderheiten, führte Beispiele an, und alle Damen wie Herren, erfüllt von heraufsteigenden, verwirrenden Erinnerungen, die sie aber nicht laut werden lassen konnten, schienen bewegt und sprachen von dieser banalen und doch alle beherrschenden Sache, vom zarten, rätselhaften Zusammenklingen zweier Wesen, mit tiefer Erregung und glühendem Interesse.
Aber plötzlich rief jemand, der in die Ferne hinaussah:
- O sehen Sie einmal da drüben, was ist denn das?
Ganz draußen am Horizont tauchte auf dem Meer eine ruhige, unbestimmte graue Masse auf.
Die Frauen waren aufgestanden und blickten hin, ohne dies Wunder zu verstehen, das sie noch nie gesehen hatten. Jemand sagte:
- Das ist Corsica. So erblickt man es zwei oder dreimal im Jahr unter ganz bestimmten, außergewöhnlichen Zuständen der Atmosphäre, wenn die Luft von vollkommener Reinheit ist und keinen Wasserdunst mehr enthält, der uns die Ferne verhüllt.
Man unterschied die Gipfel, es war, als sähe man den Schnee darauf. Alle waren erstaunt, fast erschrocken durch diese plötzliche Erscheinung einer Welt, durch dieses aus dem Meer gestiegene Phantom.
Vielleicht hatten die, die einst wie Columbus hinausgefahren in den unerforschten Ocean, solches Phantom gesehen.
Da sagte ein alter Herr, der bisher noch nicht gesprochen:
– Hören Sie einmal, auf dieser Insel, die da aufsteigt, als wolle sie selbst uns auf das, was wir sprachen, die Antwort geben und mich an ein sonderbares Vorkommnis erinnern, auf dieser Insel habe ich ein wunderbares Beispiel dauernder Liebe gefunden, wirklich seltenen Glücks. Hören Sie zu:
Vor fünf Jahren machte ich eine Reise durch Corsica. Diese Insel ist ein unbekanntes Stück Erde eigentlich uns weiter als Amerika, obgleich man sie manchmal, wie heute, von Frankreichs Küste aus sieht.
Stellen Sie sich eine noch im Chaos-Zustand befindliche Welt vor, ein wahres Ungewitter von Bergen, das enge Thäler durchschneiden, in denen Waldströme brausen; keine Flächen, nur riesenhafte Erdwälle mit dichtem Gestrüpp bewachsen oder mit hohen, gewaltigen Wäldern von Tannen und Kastanien.
Es ist ein jungfräulicher, unkultivierter, steriler Boden, obgleich man ab und zu ein Dorf sieht, wie ein Häufchen Felsblöcke auf einer Bergspitze. Kein Ackerbau, keine Industrie, keine Kunst. Nirgends sieht man ein Stück geschnitztes Holz, oder einen behauenen Stein, eine Erinnerung an den kindlichen oder verfeinerten Geschmack unserer Voreltern für schöne und liebreizende Dinge. Und was in diesem herrlichen, wilden Land ebenso auffällt: eine ererbte Gleichgiltigkeit gegen das Streben nach jenen gewinnenden Formen, die man Kunst heißt.
Italien, wo jeder Palast, voller Meisterwerke, selbst ein Meisterwerk ist, wo Marmor, Holz, Bronce, Eisen, jedes Metall und jeder Stein vom Genius der Menschheit redet, wo die kleinsten Gegenstände, die es in alten Häusern giebt, eine liebliche Form haben, ist für uns alle das heilige Vaterland, das man liebt, weil es uns zeigt und beweist: die Betätigung, die Größe, die Macht und den Triumph der schöpferischen Intelligenz.
Und Corsica ihm gegenüber ist ganz genau so wild geblieben, wie da es eben erschaffen. Und seine Bewohner, in ihren unschönen Behausungen, gleichgiltig für alles, was nicht ihre Existenz bedroht, oder Familienzwiste betrifft. Und mit ihren Fehlern, ihren Eigenschaften unzivilisierter Rassen, mit ihrem Haß, ihrer Heftigkeit, ihrer zügellosen Leidenschaft, sind ihnen geblieben die Gastfreundschaft, Großmut, Naivität, mit der sie dem Vorübergehenden die Thür öffnen und treue Freundschaft bieten für das geringste Zeichen von Sympathie.
Also ich irrte seit einem Monat durch diese wundervolle Insel, mit dem Gefühl, daß ich am Ende der Welt wäre. Keine Wirtshäuser, keine Kneipen, keine Straßen. Auf schmalen Saumpfaden erreicht man diese Dörfer, die an den Bergklippen hängen, über den Abgründen thronen, aus denen man Abends fortwährend den dumpfen Ton des Wildbached aus der Tiefe brausen hört.
Man klopft an die Thür der Häuser, man bittet um ein Unterkommen für die Nacht und etwas zu essen bis zum nächsten Tag. Und man setzt sich an einfachen Tisch und schläft unter dem bescheidenen Dach, und Morgens drückt man die Hand, die der Wirt einem entgegenstreckt, der einen bis zur Dorfgrenze führt.
Da erreichte ich eines Abends nach zehnstündigem Marsch ein kleines Haus, das in der Tiefe eines Thales ganz verlassen lag, eines Thales, das eine Stunde weiter ins Meer abfiel. Die beiden schroffen Berghänge, mit Gestrüpp und Unterholz, mit abgestürzten Felstrümmern und großen Bäumen bedeckt, umschlossen wie zwei finstere Mauern diesen entsetzlichen traurigen Thaleinschnitt.
Um das Haus lagen ein paar Weinberge, ein kleiner Garten, und weiterhin standen ein paar große Kastanienbäume. Kurz alles, was zum Leben nötig schien, ein Vermögen in diesem armen Land.
Die Frau, die mich empfing, war alt, arm, aber ausnahmsweise reinlich. Der Mann saß auf einem Strohstuhl, erhob sich, mich zu begrüßen, und dann setzte er sich wieder nieder, ohne ein Wort zu sagen.
Seine Gefährtin meinte:
- Entschuldigen Sie ihn, er ist ganz taub, er ist es vor zwei Jahren geworden.
Sie sprach französisch, wie eine Französin, und ich war erstaunt. Ich fragte:
- Sie sind doch nicht aus Corsica?
Sie antwortete:
- Nein, wir sind vom Kontinent, aber wir wohnen jetzt schon fünfzig Jahre hier.
Ein bedrückendes, ängstliches Gefühl packte mich bei dem Gedanken, daß diese fünfzig Jahre in diesem dunklen Loch vorübergegangen seien, so weit von den Stätten der Menschen.
Ein alter Schäfer kam heim, und man setzte sich, um das einzige Gericht zu essen, eine dicke Suppe, in der Kartoffeln, Speck und Kohl zusammengekocht waren.
Als die kurze Mahlzeit beendet war, setzte ich mich vor die Thür, ganz traurig durch die Melancholie der einsamen Landschaft, und es überfiel mich eine niedergeschlagene Stimmung, wie manchmal den Reisenden an stillen Abenden. Es ist, als ob alles zu Ende ginge, das Dasein und das Weltall.
Man wird sich plötzlich klar über den furchtbaren Jammer des Lebens, die Einsamkeit, in der wir alle unser Dasein verbringen, die Nichtigkeit der Dinge, über die schwarze Öde unsres Herzens, das sich selbst in trügerische Träume wiegt, bis zum Tode.
Die alte Frau kam zu mir und fragte, denn sie quälte jene Neugierde, die im Grunde auch in der resigniertesten Seele lebt:
- Also Sie kommen aus Frankreich?
- Ja, ich reise zu meinem Vergnügen!