9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Ob Nibelungen, Robin Hood oder Barbarossa – die Sammlung "Die schönsten Sagen aus aller Welt" enthält die stärksten Klassiker der Welt. Auch die beliebten Abenteuer von Artus, Odysseus oder Herkules sind dabei. Jede Sage wird so erzählt, dass schon die Kleinen eine ganze Menge aus dem komplexen Sagen-Kosmos der donnernden Götter, jähzornigen Helden, holden Fräuleins und hinterlistigen Zwergen mitnehmen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Im wolkengrauen Himmel hoch über dem Nordmeer lebte das mächtige Göttergeschlecht der Asen.
Asgard hieß ihr Reich. Fast alle von ihnen waren wilde Krieger und hatten genauso viele Fehler und Schwächen wie die Menschen, über deren Schicksal sie herrschten. Die Götter liebten es, rauschende Feste zu feiern, blutige Schlachten zu schlagen, und wenn sie sich zusammensetzten, um über die Zukunft der drei Welten zu beraten, dann stritten und schrien sie genauso laut, wie es die Irdischen tun. Jeder Gott in Asgard hatte einen eigenen prächtigen Palast, und solange die Göttin Idun ihre goldenen Äpfel verteilte, gab es im Himmel weder Krankheit noch Alter. Unsterblich aber waren die Götter nicht.
Der oberste Gott hieß Odin, und alle anderen Götter waren ihm untergeordnet. Odin hatte nur ein Auge und verfügte über großes Wissen und geheime Zauberkräfte. Von seinem Himmelsthron aus konnte er auf die beiden anderen Welten, auf Midgard und Niflheim, hinabblicken, sodass ihm nichts verborgen blieb. Verschleierte jedoch eine Wolkendecke den Blick hinab, so sendete Odin seine beiden Raben als Kundschafter aus.
Obwohl Odin als Göttervater über den anderen Asen stand, war er kein Vorbild. Im Gegenteil. Er war launisch, unberechenbar und selbstsüchtig. Nicht selten säte er Zwietracht unter den Menschen, löste Kriege aus und entschied dann willkürlich, wem der Sieg zufiel. Die besten Krieger jedoch, die auf dem Schlachtfeld starben, nahm er zu sich in den Himmel, wo sie von nun an zu Odins Heer gehörten. Und Asgard brauchte ein Heer! Denn auch das Reich über den Wolken war ständiger Gefahr ausgesetzt. Seit Anbeginn der Zeit schon versuchten die Riesen die Herrschaft der Götter zu brechen. Zusammen mit der Totengöttin Hel und allen Kreaturen der Dunkelheit warteten sie nun auf Ragnarök, auf den Weltuntergang. In diesem letzten Kampf, so sagte es eine Prophezeiung, würde alles Bestehende zerstört werden. Auch die Götter würden sterben, und aus den Trümmern der alten Ordnung würde sich eine neue Welt erheben.
Bis es so weit war, beschützte der Donnergott Thor das Himmelsreich. Thor trug den Beinamen »der Riesentöter«. Immer wieder zog er aus, um die Herrschaft der Götter gegen die Riesen zu verteidigen. Dabei war Thor nahezu unbesiegbar, denn er besaß eine Zauberwaffe, den Wurfhammer Mjöllnir, der niemals sein Ziel verfehlte und nach jedem Wurf in die Hand seines Herrn zurückkehrte. Wenn ein Gewitter aufzog, wenn es donnerte und blitzte, dann wussten alle Wesen in allen Welten, dass Thor in den Kampf zog. Obwohl der rothaarige Donnergott Odins ältester Sohn war und mit ihm regierte, war er das genaue Gegenteil seines Vaters.
Während Odin der Gott der Adligen und Reichen war, war Thor der Schutzherr des einfachen Volks. Er war derb, gutmütig und gerecht. Leider fehlte dem Donnergott aber auch Odins Gerissenheit, und so wurde er immer wieder hinters Licht geführt. Besonders Loki, ein Halbriese, der sich Thors Freundschaft und das Vertrauen der anderen Götter erschlich, nutzte die Gutmütigkeit des Donnergottes für seine Zwecke aus. Und eines Tages war er es dann auch, der die Mächte der Finsternis gegen die Götter in den Krieg führte.
Es gab eine Zeit vor der Zeit, da nahmen alle Dinge ihren Anfang. In dieser Zeit gab es nicht Sand noch See noch kalte Woge oder Himmel, es gab nur das Nichts, die gähnende Leere: Ginungagap.
So war es lange. Dann aber erwärmte sich das Nichts im Süden, es wurde immer heißer und heißer, Flammen stiegen in die Dunkelheit, und aus der Glut formte sich das Land des ewigen Feuers, das Land Muspellheim.
Im Norden aber wurde das kalte Nichts noch kälter. Immer kälter und kälter wurde es, bis die Dunkelheit schließlich gefror und einen Ort der Finsternis hervorbrachte: das Land Niflheim, das Reich der Nebel.
Mit der Zeit jedoch wuchsen der heiße und der kalte Kontinent aufeinander zu. Sie breiteten sich aus, wurden größer, bis sie sich fast berührten, und der Wind trug die Funken Muspellheims hinüber in das Reich der Kälte. Da mischten sich Feuer und Eis, und aus den Tautropfen entstand das erste Lebewesen: der Urriese Ymir.
Ymir war voller böser Kräfte. Sechs Köpfe wuchsen aus seinem Rumpf, und er war dumm, hässlich und faul. Im Schlaf brachte sein Leib durch Riesenzauber einen Mann und eine Frau hervor, während seine beiden Beine einen weiteren Sohn zeugten.
So gründete Ymir, ohne es recht zu wissen, das Geschlecht der Reifriesen, das älteste Geschlecht überhaupt.
Um seinen Hunger zu stillen, trank Ymir die Milch einer riesenhaften Urkuh. Die fette Nahrung ließ Ymirs Körper bald auf ein Vielfaches anwachsen, und es dauerte nicht lange, da war er so groß wie ein ganzes Gebirge.
Eines Tages begab es sich, dass die Kuh die salzige Oberfläche eines Eisblocks ableckte und dabei ein Mann zum Vorschein kam. Der Mann war schön und stark und ganz anders als die Reifriesen. Denn er war der Stammvater der Götter. Kaum war der schöne Mann vom Eis befreit, gebar er sich selbst einen Sohn und nannte ihn Bur. Als Bur herangewachsen war, heiratete er Bestla, die schöne Tochter eines Reifriesen, und bekam mit ihr drei Söhne: Odin, Villi und Ve.
Diese Kinder waren die ersten Götter.
Odin, der Erstgeborene, war von nun an der oberste Gott, noch vor Villi und Ve. Als die Zeit gekommen war, verließen die Brüder Mutter und Vater und zogen aus, um die neblige kalte Landschaft Niflheims nach ihrem Willen zu gestalten. Da aber Ymir und seine Nachkommen die neue Ordnung nicht anerkennen wollten, kam es zum Kampf, und die Götter erschlugen den Urriesen. Ymirs Blut überflutete das Land, und dabei ertranken auch alle Reifriesen. Alle bis auf Bergelmir, einen besonders schlauen Riesen. Dem gelang es, sich selbst und sein Weib in einem Boot zu retten. Auf dieses Paar gingen später alle nachfolgenden Riesengeschlechter zurück.
Nach Ymirs Tod warfen die Götter den gigantischen Leib des Riesen in die Urschlucht Ginungagap und erschufen aus ihm die drei Welten, Asgard, Midgard und Niflheim.
Zuerst nahmen sie Ymirs Fleisch und verwandelten es in Erde. Aus seinem Blut wurde alles Wasser, Meere, Flüsse und Seen. Da es aber in der Leere Ginungagap kein Oben und kein Unten gab und der leere Raum sich endlos ausdehnte, machten die Götter aus Ymirs Schädel das Himmelsdach und aus seinem Gehirn die Wolken. Dann hob Odin die mittlere Welt aus dem Meer und nannte sie Midgard.
Midgard war schön, und die Götter waren sehr zufrieden mit ihrem Werk. Das blaue Meer umspülte das Land, überall wuchsen Pflanzen, und ein freundlicher Himmel wölbte sich darüber. Aber Midgard war unbewohnt. Da beschlossen die Götter, die Menschen zu erschaffen. Aus zwei Holzstämmen, die das Meer an den Strand geworfen hatte, formten sie einen Mann und eine Frau und nannten sie Ask und Embla, also Esche und Ulme. Odin gab ihnen Atem, Leben und Geist, Villi Verstand, Gefühle und Bewegungen, und von Ve erhielt das Menschenpaar Gehör und Sprache. Von nun an sollten Ask und Embla die mittlere Welt bewohnen und bevölkern.
Die Stollen und Höhlen im Inneren der Erde wiesen die Götter den Schwarzalfen oder Zwergen zu, in die Wildnis Utgard aber, außerhalb der befestigten Welt, verbannten sie die Riesen.
Als all das getan war, schufen die Götter ihr eigenes Reich über den Wolken und gaben ihm den Namen Asgard, das Reich der Asen. In direkter Nachbarschaft zu Asgard liegt Vanheim, wo das milde Göttergeschlecht der Vanen wohnt. Das dritte Reich über den Wolken gehört den Lichtalfen. So entstand die oberste Welt.
Nach und nach nahmen die Götter Asgard in Besitz. Sie errichteten Paläste und vermehrten sich. Bald gab es viele Götter, die über die Welten und ihre Bewohner herrschten. Odins ältester Sohn Thor beschützte die oberste Welt gegen die Riesen; Baldur, der Lichtgott, schenkte alles Gute und Gerechte, und sein Bruder, der blinde Höd, war der Gott des Winters. Neben den kriegerischen Göttern regierten im nordischen Himmel auch Göttinnen. Die oberste Herrscherin war Odins Gemahlin Frigg, sie war die Hüterin der Familie.
Die wilde Freyja war die Göttin der Fruchtbarkeit und des Frühlings. Besuchte sie die Welt der Menschen, so legte sie oft ihr Falkengewand an, oder sie fuhr auf einem Wagen, der von Katzen gezogen wurde, hinab über die Regenbogenbrücke Bifröst, die Asgard mit Midgard verband.
An dieser Brücke hielt tagein, tagaus der weise Heimdall Wache. Sein Auge reichte hundert Meilen weit, und seine Ohren waren so gut, dass sie das Gras wachsen hörten. Wenn Ragnarök, der Untergang der Welten, gekommen sein würde, dann würde er in sein Horn stoßen und die Götter zu den Waffen rufen.
Diesen Augenblick fürchtete Odin schon lange. Obwohl er wusste, dass das Schicksal der Götter unabwendbar war, rüstete er für den letzten Kampf.
Auf seinem achtbeinigen Hengst Sleipnir ritt Odin über die Schlachtfelder der Menschen und kennzeichnete die tapfersten Krieger, denen er den Tod bestimmt hatte. Wunderschöne kriegerische Jungfrauen, die Walküren, begleiteten ihn und trugen die gefallenen Helden dann auf ihren fliegenden Pferden empor zu Odins Burg Walhall.
Hier erwachen die Krieger zu neuem Leben, üben sich weiterhin im Kampf und feiern ausgelassene Feste, bis eines Tages Ragnarök hereinbrechen wird und sie als Odins Heer in die Schlacht ziehen werden, gegen die Mächte der Finsternis.
An jenem schrecklichen Tag wird tiefer Winter über allen Welten liegen. Die Tore Niflheims, der untersten Welt, werden sich öffnen, und die Kreaturen der Nacht werden daraus hervorbrechen. Allen voran Hel, die grausame Totengöttin, mit ihrem Gefolge aus all den Verstorbenen, für die kein Platz an Odins Tafel vorgesehen war. An ihrer Seite die Schar der Feuer- und Reifriesen, die furchterregende Midgardschlange und Hels eigener Bruder, der dämonische Riesenwolf Fenrir.
Ebendieser bösartige Wolf, so war es den Göttern geweissagt worden, werde den Weltenbrand herbeiführen. Da fesselten ihn die Götter mit List und stemmten ein Schwert zwischen seine Kiefer, sodass er das Maul nicht schließen konnte.
Wenn jedoch Ragnarök gekommen sein wird, wenn die Wolfszeit anbricht, dann wird Fenrir sich losreißen und unter den Göttern wüten, Seite an Seite mit allen Kräften der Unterwelt. Wenn die Überirdischen gegen die Unterirdischen antreten, dann wird alles auseinanderbrechen.
Auch die immergrüne Weltesche Yggdrasil, der ewige Baum, wird dann verdorren. Wie die Achse des Lebens durchwächst sie alle drei Welten. Ihre Wurzeln reichen bis in die tiefsten Schluchten Niflheims, ihr Stamm stützt die darüberliegende mittlere Welt, und ihre mächtige Krone beschirmt Asgard. An Yggdrasils Fuß aber nagt seit Anbeginn der Zeit der Drache Nidhöggr, und wenn die Zeit gekommen ist, dass der ewige Baum welkt, dann wird mit ihm auch alles andere vergehen.
Seit Urzeiten lagen die Götter mit den Riesen im Krieg. Um Asgard vor Überfällen zu schützen, beschlossen die Götter, ihr Reich mit einer hohen Mauer zu umgeben.
Da trat ein Baumeister zu ihnen und versprach, binnen eines Winters einen uneinnehmbaren Wall um Asgard zu errichten. Als die Götter hörten, dass der Baumeister sich nur sein Pferd Swadilfari zur Hilfe erbat, willigten sie sofort ein. Sie stimmten auch zu, als er zum Lohn für seine Arbeit die Liebesgöttin Freyja zur Frau und noch dazu Sonne und Mond forderte. Denn niemand in Asgard hielt es für möglich, dass der Baumeister rechtzeitig fertig werden könnte. Sollte nämlich der Bau am ersten Sommertag nicht vollendet sein, so würde der Vertrag als nicht erfüllt gelten. Der Handel wurde geschlossen, und der Baumeister machte sich an die Arbeit. Tag und Nacht schichtete er Steinblock auf Steinblock, und als der Winter kam, sahen die Götter voller Sorge, wie die Mauer beständig wuchs.
Verfügte der Baumeister selbst schon über ungeheure Kräfte, so leistete sein Hengst Swadilfari sogar die doppelte Arbeit und schleppte ohne Mühe riesige Felsbrocken heran. Bald waren es nur noch drei Tage bis zum Beginn des Sommers, und die Mauer war so gut wie fertig.
Da rief Odin alle Götter zu einer Ratssitzung zusammen, um gemeinsam mit ihnen zu überlegen, was nun zu tun sei.
»Wir müssen die Bauarbeiten verzögern, sonst verlieren wir nicht nur Freyja, sondern auch noch Sonne und Mond«, rief Odin ärgerlich.
Heimdall, der Wächter Asgards, erwiderte: »Wer hat uns denn dazu geraten, dem Baumeister Freyja als Lohn zu versprechen?«
»Genau«, fielen die anderen Götter ein, »das war Loki, der Halbriese. Er hat uns diesen schlechten Rat gegeben, jetzt muss er auch eine Lösung finden.«
Da ließ Odin Loki vor den Götterrat holen und sprach: »Du wirst dafür sorgen, dass der Baumeister nicht rechtzeitig fertig wird. Nur so können wir Götter den Vertrag einhalten und müssen trotzdem den Lohn nicht bezahlen. Solltest du versagen, werden wir dich mit dem Tod bestrafen.«
Loki blieb nun keine andere Wahl, als sich zu überlegen, wie er den fleißigen Mann überlisten könnte. Und schon in der nächsten Nacht hatte er eine Idee. Loki war ein Gestaltwandler, und so fiel es ihm nicht schwer, sich in eine wunderschöne Stute zu verwandeln. Sofort galoppierte er zur Baustelle und lief dort so lange auf und ab, bis der Hengst des Riesen ihn erblickt hatte. Beim Anblick der silbern glänzenden Stute mit dem seidigen Fell blähte Swadilfari die Nüstern. Er zerrte an seinem Zaumzeug, bis es riss, und folgte dann der schönen Stute in die Weiten Asgards. Der Baumeister aber blieb fluchend zurück. Eine ganze Nacht lang kam der Hengst nicht heim, und auch in der nächsten Nacht und einer dritten musste der Baumeister seine Arbeit alleine verrichten. Als Swadilfari schließlich zu seinem Herrn zurückkehrte, hatte der Sommer begonnen.
Da erkannte der Baumeister, dass er hereingelegt worden war. Er wurde zornig und schrie und tobte. In seiner Wut schien er sogar immer größer und gefährlicher zu werden. Als er schließlich sogar die Götter selbst angriff, erschlug Thor ihn kurzerhand mit seinem Donnerhammer. Loki aber brachte, bevor er seine menschliche Gestalt wieder annahm, ein Fohlen zur Welt, das aus der Verbindung mit Swadilfari entstanden war. Das Fohlen war silbergrau, hatte acht Beine und war das schnellste Pferd zwischen Himmel und Erde. Von nun an war es Odins Pferd und trug den Namen Sleipnir, »der Dahingleitende«.
Jeder Gott in Asgard hatte eine Aufgabe. Odins ältester Sohn, der Gewittergott Thor, verteidigte die Herrschaft der Götter gegen aufständische Riesen. Obwohl Odin die Riesen bei der Verteilung der Reiche in die Wildnis Utgard, fernab der bewohnten Welt, verbannt hatte, geschah es immer wieder, dass sie die Grenzen missachteten und in die Gebiete der Menschen eindrangen. Dort verwüsteten sie Felder und Häuser, lösten Steinschläge aus oder belegten das Vieh mit einem bösen Zauber, sodass es krank wurde. Und wenn Thor die Riesen nicht regelmäßig zurückgedrängt hätte, hätte es nicht lange gedauert, bis sie über die Regenbogenbrücke Bifröst hinauf nach Asgard marschiert wären, um die Herrschaft der Götter zu beenden.
Eines Tages unternahm Thor wie so oft einen Streifzug durch das Land der Riesen. Sein Knecht Thjalfi und sein Freund, der Halbgott Loki, begleiteten ihn. Als die Nacht hereinbrach, kamen sie in einen dunklen Wald und schlugen ihr Lager in einer Höhle auf. Bald darauf waren sie eingeschlafen. Mitten in der Nacht erwachten Thor und seine Gefährten, denn die Erde bebte, und es krachte und knackte vor der Höhle, und als sie am Morgen hinaustraten, erblickten sie den größten Riesen, den sie je gesehen hatten. Er lag ausgestreckt auf dem Boden und schnarchte, dass die Bäume wackelten. Plötzlich jedoch erwachte der Riese, und Thor sprach ihn an.
»Wie ist dein Name?«
Der Riese antwortete mit donnernder Stimme: »Ich bin Skrymir. Und ich weiß, dass du Thor bist. Was ich jedoch nicht weiß, ist, warum du in meinem Handschuh übernachtet hast.«
Da erkannte Thor, dass die Höhle, in der sie geschlafen hatten, in Wahrheit der Fäustling des Riesen war.
»Ich sehe, dass du dich über meine Größe wunderst«, fuhr der Riese fort, »aber verglichen mit den Riesen, die am Ende des Waldes wohnen, bin ich ein Zwerg. Und es gibt keinen, der sich an Klugheit mit ihnen messen kann.«
»Keinen außer mir«, antwortete Thor und befahl Skrymir, ihnen sofort den Weg zur Burg der Riesen zu weisen und sie durch den Wald zu führen.
Weil Skrymir so groß und so stark war, trug er den Proviantsack. Doch als die Sonne unterging, schlief er noch vor dem Essen ein, und weder Thor noch Loki gelang es, die Knoten zu lösen, mit denen der Riese den Sack verschlossen hatte. Hungrig und wütend griff Thor nach seinem Hammer und schlug ihn dem Riesen auf den Kopf. Skrymir öffnete kurz die Augen, blinzelte und fragte: »Ist mir ein Blatt auf die Stirn gefallen?«, dann schlief er wieder ein.
Ungläubig ließ der Gewittergott seinen Hammer Mjöllnir noch zwei weitere Male auf den Riesen niederfahren, aber jedes Mal glaubte Skrymir, nur von einer Eichel oder einem Zweiglein im Schlaf gestört worden zu sein, und die schreckliche Waffe konnte ihm nichts anhaben.
Am nächsten Morgen begleitete der Riese die Gefährten bis zu einer Weggabelung, wies ihnen nochmals die Richtung und verschwand.
Es dauerte nicht lange, da gelangten Thor und seine Begleiter zu der gewaltigen Burg des Königs der Riesen Utgardloki. Obwohl Thor der größte unter den Göttern war und in Wuchs und Gestalt beinahe einem Riesen glich, musste er den Kopf in den Nacken legen, um die Burg ganz sehen zu können, denn sie reichte bis in den Himmel. Ohne Schwierigkeiten gelangten die drei unter Türen und Toren hindurch bis in den Thronsaal. Utgardloki, der Riesenkönig, lächelte spöttisch, als er seine winzigen Gäste erblickte.
»Sei gegrüßt, Thor, ich hätte niemals gedacht, dass du so schmächtig bist.«
Während Thor spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, fuhr der Riese fort: »Verrate mir doch, über welche besonderen Fähigkeiten ihr verfügt. Denn nur wer außergewöhnliche Begabungen hat und es wagt, sich mit meinen Männern zu messen, der ist im Hause Utgardlokis willkommen.«
Bevor Thor etwas erwidern konnte, trat sein Freund, der Halbriese Loki, vor und sagte: »Ich bin ein guter Esser. Keiner hier im Saal verschlingt solche Mengen in so kurzer Zeit wie ich.«
»Dann sollst du gegen Logi antreten«, antwortete der Riesenkönig. »Er hat den größten Appetit unter all meinen Leuten.«
Ein enormer Trog mit Fleisch wurde hereingetragen, und Loki nahm an einem Ende Platz; sein Gegner Logi aber, ein ungeheuer dicker Riese, auf der anderen Seite. Beide verschlangen gierig das Fleisch und trafen nach kürzester Zeit in der Mitte des Trogs zusammen. Loki hatte alles aufgegessen und sogar die Knochen abgenagt, der dicke Riese jedoch hatte nicht nur Fleisch und Knochen, sondern auch noch den Trog verschlungen und ging so als Sieger aus dem Wettstreit hervor.
Der Riesenkönig lachte, dass der Saal erzitterte, und alle anderen Riesen lachten mit. Dann wandte sich Utgardloki wieder an Thor und deutete auf Thjalfi:
»Nun, was kann der andere junge Mann an deiner Seite? Oder gebt ihr auf, Himmelssöhne?«
»Ich kann so schnell laufen wie keiner aus deinen Reihen«, antwortete Thjalfi selbst und trat auf eine freie Fläche im Burghof.
Utgardloki winkte einen schlanken Riesen mit dem Namen Hugi heran, der gegen Thjalfi antreten sollte.
Aber kaum waren beide losgelaufen, da war Hugi schon so weit vorn, dass er Thjalfi von der Ziellinie aus entgegenkam. Ein zweiter Versuch wurde vereinbart, und Thjalfi lief noch schneller als beim ersten Mal, aber immer noch lag er eine Pfeilschussweite hinter Hugi.
Utgardloki nickte anerkennend, als Thjalfi schließlich ins Ziel kam.
»Du bist wirklich ein guter Läufer. Der beste, der je hier war. Aber wenn du meinen Hugi schlagen willst, musst du dich noch mehr anstrengen.«
Ein dritter Lauf sollte die Entscheidung bringen, und Thjalfi war so schnell, dass es beinahe aussah, als würde er fliegen. Und doch hatte er erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Hugi schon im Ziel war. Wieder hatten die Riesen gewonnen.
»Nun ist es an dir, die Ehre Asgards zu retten«, sagte der Riesenkönig und grinste Thor boshaft an.
»Ich werde jeden besiegen, der in einem Wetttrinken gegen mich antritt«, erwiderte Thor, und seine Augen glitzerten zornig.
Utgardloki nahm die Wette an und ließ ein riesiges Trinkhorn hereintragen.
»Bei uns gilt derjenige als guter Trinker, der das Horn in einem Zug leert. In zweien schafft es hier jeder. Nur Schwächlinge müssen dreimal ansetzen, um es auszutrinken.«
Da Thor sehr durstig war und er in Asgard als der beste Trinker gerühmt wurde, lachte er nur über Utgardlokis Worte und setzte das Horn an.
Mit gierigen Schlucken trank der Donnergott so lange, bis er Luft holen musste. Als er das Trinkhorn absetzte, sah er mit Entsetzen, dass der Inhalt kaum weniger geworden war. Er trank noch ein zweites und ein drittes Mal. Aber obwohl Thor glaubte, noch nie zuvor so viel getrunken zu haben, war das Trinkhorn beinahe noch genauso voll wie zu Beginn des Wettstreits.
»Daheim in Asgard hätte ich das Horn wohl geleert«, sagte Thor voller Wut und drohte Utgardloki mit der Faust.
»Ich bin ebenso erstaunt wie du«, antwortete der Riesenkönig, »auch ich hätte die Asenkraft für größer gehalten. Wenn du noch Kraft genug hast, so stelle dich einer neuen Probe.«
Natürlich willigte Thor ein, aber es wäre fast zum Kampf gekommen, als Utgardloki fortfuhr: »Da du weit weniger Kraft hast, als ich dachte, sollst du eine leichte Aufgabe bekommen. Wir haben hier eine Hauskatze, mit der sonst nur die jungen Burschen spielen, aber für dich mag es eine passende Herausforderung sein. Versuch die Katze hochzuheben.«
Eigentlich wollte Thor eine solche Demütigung zurückweisen. Da er aber nicht das Gesicht verlieren wollte, griff er nach der Riesenkatze.
Doch sosehr er sich auch bemühte, die Katze hochzustemmen, sie schien wie festgewachsen. Nach unzähligen Versuchen gelang es ihm schließlich, eine Pfote des Tieres vom Boden zu lösen.
Utgardloki winkte ab und gähnte.
»Nun ja, Thor, die Katze ist ziemlich groß, du aber bist sehr schmächtig. Ich denke, du und deine Gefolgsleute, ihr solltet gehen.«
Rasend vor Zorn löste Thor seinen Donnerhammer vom Gürtel und sprang auf den Riesenkönig zu.
»Wenn ich so schwach bin, so mag doch einer hervortreten und mit mir kämpfen.«
Utgardloki aber lächelte sanft und sagte: »Es gibt keinen Mann hier drinnen, der es nicht als Herabwürdigung auffassen würde, mit einem Schwächling wie dir zu kämpfen. Da du dich aber offensichtlich schlagen willst, so versuche dich an meiner alten Amme Elli.«
Und augenblicklich betrat eine gebeugte Alte den Saal.
»Utgardloki«, rief Thor empört, »die Alte kann kaum stehen. Niemals werde ich mit ihr ringen. Es wäre unwürdig für einen Gott, eine Greisin zu unterwerfen.«
»Dann gibst du also auf?«, fragte Utgardloki und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Nun konnte Thor nicht anders. Er musste sich tatsächlich auf einen Ringkampf mit der alten Elli einlassen. Aber auch diesmal reichte seine Asenkraft nicht aus, um im Hause Utgardlokis einen Sieg zu erzielen. Elli stand fest wie ein Fels, und schließlich musste Thor sich geschlagen geben.
Da inzwischen die Nacht hereingebrochen war, blieben Thor und seine Gefährten noch bis zum Morgen in der Burg des Riesenkönigs. Als sie nach dem Frühstück und guter Bewirtung wieder in den Wald hinaustraten, wandte sich Utgardloki noch einmal an Thor.
»Du wirst meine Burg oder mich nie wiedersehen, deshalb sollst du die Wahrheit erfahren. Hätte ich gewusst, wie stark du bist, hätte ich dich niemals eingelassen. Mit deinen Hammerschlägen hättest du mich nämlich fast getötet. Ich war dein Reisegefährte Skrymir. Der Proviantsack war mit Riesenzauber verschlossen, und als du mir Mjöllnir, den Donnerhammer, auf den Kopf schlagen wolltest, da habe ich ein Gebirge zum Schutz vor meine Stirn geschoben. Siehst du die drei viereckigen Täler dort drüben? Das sind die Spuren deines Hammers.
Auch in den Wettkämpfen habe ich euch getäuscht. Dein Freund Loki trat beim Essen gegen das alles verzehrende Feuer an, Thjalfi, dein Knecht, lief mit meinen Gedanken um die Wette, und als du versucht hast, das Trinkhorn zu leeren, hättest du in Wirklichkeit beinahe das Meer ausgetrunken. Durch deinen Durst hat es sehr viel Wasser verloren, und das heißt jetzt ›Ebbe‹. Auch gegen die Katze konntest du nicht gewinnen, denn in Wahrheit hast du versucht, die Midgardschlange emporzuheben, ein schreckliches Ungeheuer, das im Meer lebt und die Welt mit seinem gigantischen Leib umspannt. Und was meine Amme Elli betrifft, sie besiegt jeden, denn sie ist das Alter. Niemals bin ich einem stärkeren Kämpfer begegnet als dir, daher ist es besser, Thor, wenn wir uns niemals wiedersehen.«
Thor hatte den Worten des Riesenkönigs Utgardloki mit wachsendem Zorn zugehört, er wollte nach Mjöllnir greifen, um Rache zu nehmen für den Betrug des Riesen, aber da war Utgardloki schon verschwunden und mit ihm sein ganzer Hofstaat und die Burg. Thor, Loki und Thjalfi aber kehrten nach Asgard zurück. Und es ist überliefert, dass niemand jemals wieder einem Riesen mit dem Namen Utgardloki begegnet ist.
Der edelste und freundlichste unter allen Göttern war Odins Sohn, der Lichtgott Balder. Er war so schön, dass ein helles, goldenes Leuchten von ihm ausging, und er herrschte über alles Gute und Gerechte. Die Asen liebten den strahlenden jungen Gott, denn wo Balder war, war auch das Glück.
Es begab sich aber, dass Balder eines Tages von schlimmen Träumen gequält wurde. Im Schlaf sah er Unheil über die Götter hereinbrechen, und schließlich träumte er sogar von seinem eigenen Tod.
Voller Sorge um den geliebten Sohn machte sich Odin sogleich auf den Weg in die Unterwelt, um dort eine Völva, eine weise Seherin, um Rat zu fragen.
Schrecklich war der Pfad hinab nach Niflheim, und nur der mächtige Odin selbst auf seinem achtbeinigen Ross konnte ihn wagen. Der Weg wurde immer dunkler und enger, aber Odin kannte keine Angst. Da schoss plötzlich der Höllenhund Garm aus seiner Höhle hervor und versperrte Odin den Eingang zum Totenreich Hel. Die Brust der Bestie glänzte blutnass, denn der Höllenhund nährte sich von frischen Leichen. Odin aber beachtete ihn nicht und betrat das jenseitige Reich. Doch wie staunte er, als er sah, dass alles dort von Gold glänzte, Teppiche lagen auf dem rauen Boden, und Seidentücher deckten die kahlen Felswände.
Verwundert trat Odin an den Grabhügel, in dem die Seherin schlief, und zwang sie mit einem Zauberspruch hervor.
»Sage mir, Seherin, welcher bedeutende Mann wird hier unten wohl erwartet?«
»Für den Lichtgott Balder ist alles geschmückt«, antwortete die weise Frau. »Für Balder, den sein Bruder Höd unschuldig töten wird.«