Die Schuhe der Schneiderin - Katharina Tannhäuser - E-Book

Die Schuhe der Schneiderin E-Book

Katharina Tannhäuser

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Beschreibung

Laura lebt, erlebt und erträgt sehr geduldig und mehr als nachsichtig das Klischee einer typischen Frau Ende vierzig: erfolgreiche Mutter, geduldige Ehefrau, disziplinierter Haushaltsvorstand. Doch damit ist schlagartig Schluss, als eine wie üblich perfekt getaktete Einkaufstour vollkommen aus dem Ruder läuft. Noch dazu ihre streng beherrschte Gefühls- und Liebeswelt gewaltig auf den Kopf gestellt wird, als die schöne Fotografin Eva in ihr Leben tritt. Katharina Tannhäusers Liebesroman "Die Schuhe der Schneiderin" bildet den Auftakt ihrer Laura-Trilogie und verspricht für jedes Geschlecht prickelnde und anregende Leselust in jeder Zeile. Wer auf der letzten Seite angekommen ist, wird merken, dass Lauras wahre Geschichte erst jetzt richtig beginnt.

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Die Autorin

Katharina Tannhäuser heißt in Wirklichkeit zwar anders, lebt aber in der Realität mit einem treuen Ehemann, zwei immer noch launischen, aber inzwischen sehr großen Kindern, Erstund Zweithund sowie einem über alles wachenden Kater am grünen Rand einer großen Kleinstadt in Süddeutschland. »Ich schreibe Bücher«, so sagt die als echtes Nordlicht geborene Hausfrau, Mutter und ein Leben lang Werktätige über sich selbst, »seitdem ich Buchstaben malen kann.«

»Die Schuhe der Schneiderin« ist ihr erster Roman und bildet als Buch Eins (»Lust«) den Auftakt ihrer Laura-Trilogie, den sie als Katharina Tannhäuser veröffentlicht.

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Für meine Muse, die mich seit drei Jahrzehnten auf so herrlich dumme Gedanken bringt.

Ohne sie wäre jede Seite in diesem Buch unbeschrieben.

Inhaltsverzeichnis

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

EPILOG

ADDENDUM

EINS

Die antike Türklingel bimmelt leise, als ich den kleinen Laden betrete. »Bin gleich da«, höre ich von hinten die Stimme meiner Schneiderin.

Wie immer sehe ich mich angeregt in dem engen, aber doch liebevoll eingerichteten Raum um und lasse meine Hände über einige von Natalias neuesten Entwürfen gleiten, die fein aufgereiht an einer Kleiderstange direkt neben dem Eingang hängen.

Ich mag ihren Stil, aber vieles – um nicht zu sagen: eigentlich alles – ist dann doch so verwegen und provokant gestaltet, dass ich bislang noch nie den Anlass, geschweige denn den Mut gefunden habe, mich für etwas Selbstkreiertes von ihr zu entscheiden.

Nachdenklich streicht mein Finger über die akkurat gesteppte Naht eines eleganten, aber extrem tief ausgeschnittenen Abendkleides, das eine Frau in meinem Alter in feiner Gesellschaft eigentlich nicht mehr tragen sollte.

Ohne dass es peinlich wirken würde. Also muss es wohl weiterhin bei den kleinen Reparaturen bleiben, die sie aber ebenfalls sehr akkurat und obendrein äußerst pünktlich und schnell ausführt.

Mit Natalias mondänem Partydress im Blick beginnen aber meine Gedanken ganz plötzlich zu fliegen. Wie das wohl wäre: wieder jung sein, sich treiben lassen und es genauso wild treiben. Sich hemmungslos gehen lassen und heute nicht wissen, was morgen ist. Resigniert lasse ich das einmalige Einzelstück wie auch meinen genauso kurzen wie schrillen Tagtraum mit einem kleinen Seufzer hinter mir und stehe ein paar Schritte weiter wieder voll und ganz in der Realität meines derzeitigen Lebens.

Da liegt sie, die abgewetzte und bereits ziemlich zerlebte Lieblingshose meines Sohnes, bei der wieder der Reißverschluss gerichtet werden musste – koste es, was es wolle. Weil er von ihr einfach nicht lassen kann. Sie ist eben unverzichtbarer Bestandteil seines jungen und ungezügelten Lebens, sein »Must-have«, wenn es auf die Partymeile geht.

Und die Mama wird's doch schon richten!

Klar richtet die Mama das und will bereits das Zeugnis seiner lebenslustigen Jugend aus dem Regal nehmen, als ihr Blick auf einem Paar sehr extravaganter High Heels mit extrem gewagtem Absatz hängenbleibt, die direkt daneben wie ein Pokal ausgestellt sind.

Sofort denke ich wieder an das Abendkleid, kann den glänzenden Stoff schon fast auf meiner Haut spüren und schlüpfe im Geiste in genau diese Schuhe, um mich dann vor meinem Schlafzimmerspiegel zu drehen. Ach was, um mich irgendwo auf einer angesagten Tanzfläche zu drehen, mit dröhnend lauter Musik im Ohr und genießen, dass alle Blicke an der Bar auf mich gerichtet sind.

»Ein schönes Paar!«

Natalias dunkle Stimme hinter mir reißt mich aus meinem Gedankenspiel.

»Die hat mir vor langem eine Kundin gebracht, um die kleine Macke an der Schnalle richten zu lassen.«

Ungefragt schiebt sie gleich die Erklärung hinterher. »Sie hat sie aber nie wieder abgeholt. Ist doch eigentlich schade, oder?«

»Ja«, sage ich, »die sind wirklich einmalig schön.« Und höre mich – wie so häufig – im Sinne einer inzwischen sehr zweckmäßig konditionierten Hausfrau und Mutter pragmatisch urteilen: »Die sehen wirklich noch aus wie neu. So etwas Schönes lässt man doch nicht einfach stehen. Unfassbar!«

Schon halte ich das linke Exemplar in der Hand und begutachte es kritisch von allen Seiten.

Das Fußbett ist tatsächlich makellos, die Sohle ohne Laufspur, rot schimmert die Prägung »Made in Italy« und der Name des Herstellers. Natürlich sind es keine Louboutins, um Gottes Willen. Das wäre tatsächlich ein Frevel, die einfach so bei jemandem in Vergessenheit geraten zu lassen.

Natalia beobachtet meinen prüfenden Blick. »Ich glaube nicht, dass die jemals draußen waren.«

Sie zwinkert mir verschwörerisch zu: »Vielleicht wurden sie auch nur im Schlafzimmer ausprobiert, Sie wissen schon.« Verlegen wende ich den Blick ab und stelle den Schuh schnell, als hätte sie mich bei dem von ihr ausgesprochenen und doch sehr anzüglichen Gedanken ertappt, zurück ins Regal.

»Aber Ihnen würden sie echt gutstehen, wollen Sie nicht einfach mal reinschlüpfen?«, bohrt Natalia beharrlich nach und taxiert meine schon etwas sehr ausgelatschten Boots, die ich bei diesen schnellen Einkaufsrunden durch die Stadt bevorzuge.

Der Pragmatismus überwiegt inzwischen auch bei meiner übrigen Garderobe: zwar noch einigermaßen schick, vor allem aber bequem und ohne Firlefanz.

So nüchtern, nein, eigentlich traurig lässt sich inzwischen meine Devise, wenn es um die alltägliche Klamottenauswahl geht, beschreiben. Und dabei ist mein Kleiderschrank doch immer noch mit etlichen, wirklich ansehnlichen Teilen beachtlich gefüllt!

»Die Größe müsste Ihnen tatsächlich passen«, beurteilt mein Gegenüber bereits mit geübtem Blick und bleibt hartnäckig am Ball.

Ich zögere noch immer. Eigentlich wollte ich doch nur die Hose holen und schnell weiter, die vielen kleinen Dinge erledigen, die noch auf meiner Liste stehen. Und außerdem, wann sollte ich so etwas überhaupt tragen? Im Schlafzimmer?

Ach Gott, die Zeiten sind doch lange vorbei, seufze ich resigniert in mich hinein. Andererseits, einmal anprobieren, einfach nur so, nicht nur in Gedanken, wo ich sie eigentlich schon an meinen Füßen gespürt, ja sogar in ihnen getanzt habe?

»Warum nicht!«, höre ich mich plötzlich sagen und bin, selbst als meine Worte schon längst verklungen sind, noch perplex ob meines Einlenkens.

Ganz im Gegensatz zu Natalia, die meine Entscheidung lediglich mit einem knappen »Gut so!« kommentiert. Als hätte sie tatsächlich nichts anderes erwartet. Mit einem Griff hat sie die Pumps bereits aus dem Regalfach herausgenommen.

»Kommen Sie bitte?«

Mit einem hintergründigen Lächeln bedeutet sie mir, ihr zu folgen, bis wir vor ihrer Kollektion am Eingang plötzlich stehenbleiben.

»Wissen Sie was, Frau Hermes«, höre ich sie sagen, während sie, anscheinend eine bestimmte Sache suchend, die Kleiderbügel auf der Stange mit dem Zeigefinger routiniert durchsortiert, »wenn, dann machen wir es jetzt auch mal richtig! Jedes Mal schauen Sie wehmütig durch diesen Ständer, heute werden Sie etwas aus meiner Kollektion anziehen müssen!«

Mit der freien Hand hat sie bereits ein wunderschönes Partykleid herausgezogen. »Das hier ist genau das Richtige, was Sie unbedingt zu diesen Schuhen tragen müssen. Basta!« Zweifelnd schaue ich Natalia in die Augen, als sie sich mit einem schwarzen Kleid und den roten Heels provokant vor mir aufgebaut hat.

»Meinen Sie etwa«, frage ich verdattert, »ich soll mich jetzt komplett umziehen? So ein Aufwand? Nur um mal die Schuhe anzuprobieren? Nein, das geht jetzt etwas zu weit!« Unbeeindruckt von der kleinen Protestnote in meiner Frage hängt sie mir aber bereits ihre Kreation über den Arm.

»Ja«, sagt sie, »probieren Sie es einfach mal zusammen an. Ich glaube, es wird Ihnen einmalig stehen. Und Sie werden begeistert sein!«

»Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob ich Ihnen nicht doch zu viel Zeit stehle!«, wage ich eine weitere Ausflucht.

»Nachher passt es ja gar nicht und außerdem werde ich doch weder das Kleid noch diese Schuhe mitnehmen. Die ohnehin jemand anderem gehören. Nein, ganz bestimmt nicht!«

»Das wollen wir doch erst mal sehen«, entgegnet Natalia unbeeindruckt, während mir auffällt, dass der weiche Akzent ihrer Muttersprache, der ihrer schönen Stimme diese angenehm warme Melodie verleiht, eine bestimmende Härte bekommt.

»Brak obalenie! Wie sagt man: Keine Widerrede!« Um aber gleich darauf wieder deutlich milder fortzufahren: »Außerdem sind Sie eine so treue und liebe Kundin, für die ich mir immer alle Zeit der Welt nehmen würde.«

Mit sanftem Druck schiebt sie mich bereits quer durch ihre kleine Schneiderei.

»Kommen Sie, Sie können sich ganz in Ruhe hinten bei mir umziehen. Keine Sorge, da sind Sie vollkommen ungestört, versprochen!«

Schon hat sie mich in einen winzigen, aber gemütlich eingerichteten Nebenraum geführt, der mit einem breiten Vorhang vom Atelier abgetrennt ist.

Irgendwie ganz und gar Natalia, denke ich, während meine Augen durch das Zimmer wandern.

»Verzeihen Sie die Unordnung«, wirft diese sogleich entschuldigend ein, »eigentlich war ich heute so gar nicht auf Besuch eingerichtet. Und schon gar nicht darauf, dass eine so liebe und geschätzte Kundin mein schreckliches Chaos hier sieht. Was mögen Sie jetzt nur von mir denken! Kann das Mädchen denn keine Ordnung halten?«

Lachend höre ich über ihre sympathischen Ausflüchte hinweg.

»Mich stört hier gar nichts, ganz im Gegenteil!«

Meine Hand streicht über das fein gemaserte Holz der Arbeitsplatte einer winzigen Küchenzeile. Auf einem kleinen Gasbrenner steht noch ein klein wenig Wärme ausstrahlender und von jahrelanger Hitzezufuhr ziemlich blau verfärbter Teekessel. Direkt daneben leuchtet ein buntes Sammelsurium an Teebeuteln unterschiedlichster Geschmacksrichtungen durch den Glasdeckel einer großen, quadratischen Holzschatulle.

Auf einem runden Bistrotisch in der Zimmerecke türmen sich zerlesene Modezeitschriften aus aller Welt, aus denen unzählige Post-its ragen.

Unmengen von Skizzen, auf denen sie mit schwungvollen Bleistiftstrichen anscheinend ihre nächsten Ideen und neuesten Entwürfe zu Papier gebracht hat, verteilen sich kreuz und quer auf dem Tisch, aber auch auf dem knarzenden Dielenboden und den zwei, mit kleinen Kissen gemütlich ausgepolsterten Chippendale-Stühlen. Das hier, denke ich angeregt, ist also Natalias kleines Prêt-à-Porter-Reich.

Kein großartiges Loft in Paris oder New York mit Blick aus der weißderwievielten Etage. Dafür ein schmales, aber hoch bis zur Decke ragendes Fenster in einen kleinen, grün zugewachsenen Innenhof.

Und zum Beflügeln ihrer Kreativität lieber ein frisch aufgebrühter Chai-Latte-Tee aus dem Henkelbecher anstelle eines prickelnden Moët & Chandon aus der Champagnerschale: So muss Natalia wohl am liebsten ihre unfassbar schönen Werke kreieren.

Die Stirnseite des Zimmers nimmt ein riesiges, sonnendurchflutetes Poster mit dem Panorama einer historischen Altstadtansicht ein, das den Aufdruck »Wroclaw 2001« trägt. Wieder beginnen meine Gedanken zu fliegen. Ob sie in dem Jahr ihre Heimat verlassen hat? Aber da war sie doch bestimmt noch ein Schulkind!

Ist sie zusammen mit den Eltern in unser Land gekommen? Oder hat nur die Mutter sie mitgenommen, nachdem der Vater zuvor durchgebrannt war?

Natalia reißt mich aus meinem mütterlich besorgten, allerdings auch ziemlich wirren Kopfkino.

»Legen Sie Ihre Sachen einfach hier ab, ich bin gleich wieder da.«

Schon ist sie durch den Vorhang nach vorne verschwunden, und ich höre, wie sie leise summend ein paar Schubladen aufzieht.

Nun doch wieder zweifelnd über meine just getroffene Entscheidung, aber auch unsicher über das, was wohl als Nächstes passieren mag, betrachte ich mich ratlos in dem riesigen, bodentiefen Spiegel, der neben dem Durchgang zum Laden hängt.

So gar nicht zurechtgemacht, hier doch wirklich nur kurz reingesprungen, um die Hose meines Sohnes zu holen, dann die Liste von Rossmann und Edeka im Geiste abarbeitend und noch das Rezept meines Mannes im Kopf, welches dringend aus der Apotheke abgeholt werden muss.

Puh!

Fast überkommt mich Hektik, als mir zugleich bewusst wird, dass eigentlich auch bald die Tochter aus der Schule kommt, nicht nur über die Lehrer, sondern auch über die leeren Töpfe jammern wird. Es ist doch noch so viel zu tun an diesem Tag!

Ungeachtet dessen steckt Natalia aber schon wieder fröhlich ihren Kopf durch den Vorhang. »Ich hätte noch etwas, das es wirklich perfekt macht. Schauen Sie mal!« Sie wedelt mit einer Verpackung vor meinem Spiegelbild. »Die bitte unbedingt dazu anziehen!«

Konsterniert, aber zugleich überrumpelt von ihrer forschen Art nehme ich ihr das schmale Kuvert aus der Hand, auf dem zwei makellose Beine in zugegeben sehr schicken Strümpfen aufgedruckt sind.

»Natalia, wirklich, ich bitte Sie!«, setze ich widerstrebend an, doch schon werde ich resolut von ihr unterbrochen. »Frau Hermes, bitte glauben Sie Ihrer guten Modefee, Sie werden wirklich überrascht sein. Und«, setzt sie spitzbübisch grinsend hinterher, »Sie werden es absolut genießen, wollen wir wetten?«

Ich spüre ihren Blick fest auf mir ruhen. Meine Augen wandern von dem Bild auf der Verpackung zu meinem Spiegelbild und schließlich zu Natalia, die, beide Arme vor der Brust verschränkt, im Durchgang stehengeblieben ist.

»Keine Angst, die Gardine ist blickdicht«, schiebt sie mit einem leichten Kopfnicken in Richtung Fenster hinterher und lächelt mich forsch an. »Nun aber, husch, husch! Ich erwarte Sie umgezogen vorne im Laden!« Dem Ganzen noch etwas Nachdruck verleihend schiebt sie fordernd ihr Kinn nach oben, bevor sie mir einer schnellen Drehung durch den Vorhang entschwindet.

Erneut schaue ich tief in die Augen meines Spiegelbildes und atme noch tiefer durch. Okay, rede ich mir selbst etwas Mut zu, wage ich es doch einfach!

Was habe ich jetzt noch zu verlieren, außer ein paar der üblichen, giftigen Bemerkungen über den zu spät aufgefüllten Kühlschrank und die leeren wie kalten Herdplatten zu kassieren.

Schon ein bisschen verrückt, schießt es mir in heißen Wogen durch den Kopf, als ich mich mitten in Natalias Teeküche mehr oder minder nackt ausziehe. Jeder Quadratzentimeter meines Körpers ist plötzlich von prickelnder Gänsehaut überzogen. Kritisch streichen meine Hände über meine Beine. Nicht wirklich glatt, aber Gott sei Dank auch noch nicht stoppelig, obwohl seit der letzten Rasur schon weit mehr als eine Woche vergangen ist.

Aber hätte ich denn überhaupt ahnen können, was mir heute widerfährt? Vorsichtig nehme ich den ultradünnen, seidig schimmernden Stoff aus der Packung, streife ihn über meinen rechten Fuß und rolle ihn behutsam nach oben, bevor ich die Prozedur am anderen Bein wiederhole. Jetzt nur keine Laufmasche einfangen!

Wow, denke ich insgeheim, als ich mich prüfend im Spiegel betrachten kann.

Sorgfältig richte ich den fein verzierten Rand der halterlosen Strümpfe auf meinen Oberschenkeln aus. Ein angenehmer Schauer durchfährt mich. Wie lange habe ich mir so etwas Schönes nicht mehr gegönnt!

Und obwohl ich auch gerade meine nicht besonders aufregend gestylte Alltagswäsche trage: Das, was mir hier so unverhofft widerfährt, tut gerade wirklich gut.

Dann schlüpfe ich in das Kleid.

Als ich in den feinen Strümpfen vorsichtig auf Zehenspitzen zurück in Laden gehe, merke ich, dass der seitliche Schlitz von Natalias Kleid tatsächlich extrem gewagt ist und bei jedem Schritt sehr, sehr viel, nein, eigentlich alles freigibt. Hoffentlich kommt jetzt kein anderer Kunde rein! Natalia hebt anerkennend ihre Augenbrauen und lächelt zufrieden. »Perfekt, Frau Hermes, ich habe es doch gewusst: Das steht Ihnen wirklich einmalig! Als ob ich es von Anfang an nur für Sie gemacht hätte! Kommen Sie?«

Schon hat sie die Schneiderpuppe vom Ankleidepodest gehoben und klopft mit ihrer Hand auf die stoffbezogenen Stufen. »Hopp, hopp, die Dame! Jetzt noch die Schuhe und dann begutachten wir alles zusammen.«

Ich höre ihre Worte nur ganz weit aus der Ferne zu mir dringen. Wie in Trance schaue ich zunächst sehr, sehr lange in Natalias dunkle Augen, bevor meine Augen gebannt ihrem schwarzen Schopf mit hochgesteckten Haaren folgen, der direkt vor mir auf Tauchstation geht.

Sofort beginnt sie, die aufwändig gestickte Ferse der Nylons mit kleinen Zupfern exakt auszurichten, bevor ihre langen Fingernägel die dünne Naht korrigierend über meine Waden bis hoch zu meinen Oberschenkeln streichen.

»Sind wir hier etwa kitzelig?«, gluckst ihre schöne Stimme lachend, als ich bei ihren sanften Berührungen meiner Kniekehlen immer wieder leicht zurückzucke.

»Schon ein wenig«, murmle ich verlegen und muss mir sofort wieder auf die Lippen beißen, als ich ihr zusehe, wie sie meinen linken Fuß in die Hand nimmt, um mir den ersten Schuh überzustreifen.

Er passt perfekt!

Eigentlich kitschig, das ist ja fast wie im Märchen bei Aschenputtel, schießt es mir sogleich aber auch sehr hitzig durch den Kopf. Doch schon folgt die andächtige Prozedur auf der rechten Seite, bis ich schließlich um ganze zwölf Zentimeter erhaben auf dem kleinen Podest mitten in der winzigen Schneiderei stehe. Genussvoll schließe ich die Augen.

Was für ein unfassbar schöner Moment!

Natalia scheint von meiner plötzlich aufwallenden Gefühlswelt, die mich über vier Jahrzehnte zurück mitten in meine längst vergessene und vor allem schon lange vergangene Barbie-Welt katapultiert, nichts wahrzunehmen. Routiniert streicht sie mit festen Handbewegungen über meinen Po und zieht dabei den Schlitz des Kleides, der fast über die Hüfte hinaus reicht, in die richtige Position. »Einmal drehen, bitte!«

Ich spüre, wie mich ihre Hände auf meiner Taille liegend zum riesigen Spiegel gegenüber des Ankleidepodestes dirigieren.

»Fühlt sich das alles nicht herrlich an?«

Meine Stimme zittert leicht, als ich versuche, möglichst beiläufig ein »Ja, tatsächlich!« herauszupressen, während ich mich endlich von Kopf bis Fuß selbst betrachten kann.

Mein Alltag, die Hose, die Liste mit den vielen, kleinen Besorgungen: Alles ist plötzlich weg, ganz weit weg.

Meine Augen wandern im Spiegel zu Natalia, die mich stolz auf ihr gerade vollendetes Werk zufrieden anlächelt. »Wir sollten ein Foto machen. Sie sehen einfach atemberaubend aus!« Ich schlucke. »Ich weiß nicht«, entgegne ich sofort wieder gehemmt: »Warum denn? Wofür denn? Und für wen denn überhaupt?«

»Nun kommen Sie schon«, setzt die Schneiderin beharrlich nach, »und wenn es halt nur für Sie ist, damit Sie es auf Ihrem Handy haben. Oder damit Sie es Ihrer besten Freundin schicken können. Sie müssen sich doch einmal so zeigen!«

Ich zögere kurz, bevor ich ihr wirklich mein Smartphone reiche. Warum nicht, spreche ich mir ein wenig Mut zu, um mich daraufhin etwas unbeholfen in Pose zu stellen. Bein und Schulter raus, Kopf leicht nach unten: Ich denke an die stets aufgedrehten Amateurmodels in den dämlichen Fernsehshows und daran, dass ich mich jetzt wahrscheinlich genauso dämlich anstelle.

Natalia beachtet mein ungelenkes Gehampel erst gar nicht, sondern hat bereits abgedrückt.

»Das sieht doch schon recht gut aus!«, konstatiert sie trocken und hält mir die auf dem Display leuchtende Aufnahme direkt unter die Nase.

Ich spüre, wie mich dieselbe Erregung wie zuvor beim Betrachten meines Spiegelbildes erfasst. »Ja«, sage ich und bin über meine rau und seltsam belegte Stimme verwundert, »das sieht wirklich gut aus!«

»Jetzt aber bitte noch ein bisschen gewagter, meine Liebe, denn dafür habe ich dieses Kleid doch extra gemacht!« Konsterniert schaue ich Natalia an: »Wie..., gewagter?«

»Warten Sie«, entgegnet diese unbeeindruckt meiner Komplexe und durchstöbert bereits das Regal hinter ihrem Rücken. Aufmunternd drückt sie mir kurz darauf einen großen Hut mit breiter Krempe in die Hand.

»Spielen Sie einfach ein wenig mit dem hier, das hilft bei den Posen ungemein, glauben Sie mir!«

Irritiert drehe ich den Hut langsam in meinen Händen und denke unweigerlich an die sexy Posen der damals noch jungen und knackigen Kim Basinger in »Neuneinhalb Wochen«.

Mein Gott, wie verstaubt dieser einstige Skandal doch inzwischen ist!

Und bestimmt sehe ich auf solchen Fotos doch genauso verstaubt und altbacken aus!

Muss man das alles heutzutage nicht besser einer jungen und knackigen Dakota Johnson in »Fifty Shades of Grey« überlassen? Und auf keinen Fall einer angehenden Fünfzigerin, bei der die Lieblingsfriseurin bereits die erste graue Strähne übertönen musste? Doch dann – und ehrlich, ich weiß bis heute nicht warum – gebe ich mir einen Ruck!

»Meinen Sie so?« Keck setze ich den Hut auf und schaue mit erstaunter Mimik über meine Schulter.

»Endlich, genauso ist es richtig«, grinst Natalia fröhlich, und drückt wieder auf den Auslöser.

»Oder so?« Schon habe ich meine Beine frivol über Kreuz gestellt, während ich den Hut tief in die Stirn ziehe und dazu einen provokant herausfordernden Blick aufsetze.

»Noch besser«, lacht Natalia auf und schießt bereits die nächsten Bilder. »Und wie wäre es so?« Langsam schiebe ich den Hut von meinem Kopf und lasse ihn provozierend durch meine Finger gleiten, während ich einen Schmollmund nach dem anderen aufsetze. »Frau Hermes, das ist fantastisch! So, als hätten Sie nie etwas anderes gemacht!«, strahlt mich Natalia nach einer Weile und vielen Klicks auf der kleinen Handykamera zufrieden an.

»Danke schön«, murmle ich leicht errötend. »Ich glaube aber, dass es vor allem Ihr Kleid so fantastisch macht.«

»Das glaube ich nicht«, erwidert Natalia, »was meinen Sie, wie langweilig es immer aussieht, wenn ich meine Kleider der alten Schneiderpuppe überstreife. Das ist nicht besonders sexy. Sie dagegen… Wie sagt man so schön: Kleider machen Leute! Aber ich sage, dass erst die richtigen Leute meine Kleider perfekt machen.«

Wieder schaut sie mich herausfordernd an. »Wir könnten es natürlich vollkommen rund machen!«

Ich blicke erstaunt zurück. »Was meinen Sie, was heißt denn jetzt vollkommen rund?«

»Also, das jetzt bitte nicht falsch verstehen, Frau Hermes, es ist Ihr Slip, nun, der stört schon etwas, finden Sie nicht auch?«

Entgeistert starre ich Natalia an, bevor ich irritiert an mir selbst herunterblicke. Wie ein fein ziseliertes Ornament hebt sich der verschnörkelte Rand des halterlosen Nylonstrumpfes unter dem Schlitz auf meinem rechten Oberschenkel ab, darüber folgt nackte Haut. Tatsächlich bis hierhin nicht schlecht, wenn da nun zum Schluss nicht noch das nicht gerade spitzenbesetzte Höschen mit bravem Blümchenmuster deutlich herausstechen würde.

»Dazu müsste man halt etwas anderes tragen«, sage ich verlegen.

»Oder gar nichts!«, entgegnet Natalia frech. »Würden Sie es denn unten ohne wagen? Nur fürs Foto natürlich«, schiebt sie hastig hinterher. Nun werde ich aber schlagartig knallrot. »Mein Gott, wirklich, Natalia, ich bitte Sie, muss das sein! Echt jetzt?«

»Es ist ja nur fürs Foto und wenn Sie sich geschickt bewegen, wird man auch nichts sehen können«, setzt Natalia keck und herausfordernd nach. »Und außerdem, wir sind ja ganz unter uns!«

Nachdenklich schaue ich ihr eine ganze Weile in die Augen, bevor ich mit einem tiefen Atemzug mein Höschen abstreife.

»Nur fürs Foto!«, sage ich bestimmt.