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Alicia und Patrick Leonards Welt steht still, als ihre acht Monate alte Tochter Emily stirbt. Ihre Unfähigkeit, über die Trauer, die Verzweiflung und die eigene Verletzlichkeit zu reden, setzt ihrer Ehe zu. Die Sprachlosigkeit entfernt sie voneinander. Als Alicia wieder zu arbeiten beginnt, hilft ihr die Hektik des Klinikaltages, die Trauer für kurze Zeit zu vergessen. Aber der Schmerz ist noch da. Daran ändert auch das Angebot, Chefärztin der Chirurgie zu werden nichts. Im Gegenteil, das Gefühl, die Stränge ihres Lebens hätten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verwoben, verstärkt sich noch. Und als Alicia Finn Hansen begegnet, der sie unwiderstehlich anzieht, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihm. Ihr sorgsam gehütetes Geheimnis droht ans Licht zu kommen, als Hansen ermordet wird und sie durch einen anonymen Hinweis ins Visier der Polizei gerät. Und als ihr Mann von ihrer Untreue erfährt, steht Alicia vor den Scherben ihrer Ehe. Verzweifelt sucht sie Rat bei der Anwältin Olivia Mertens. Mertens beauftragt den gewieften Ermittler Simon Henshall herauszufinden, wer der anonyme Informant ist, der Alicia bei der Polizei denunziert hat und wer ihr Schaden zufügen will. Henshall findet schon bald Hinweise, dass jemand auf grausame Weise Rache an den Beteiligten einer weit zurückliegenden Tragödie nimmt. Und als er herausfindet, wer für den Rachefeldzug, der die Handschrift eines Psychopathen trägt, verantwortlich ist, beschliessen er und Patrick Leonard, den Wahnsinnigen aufzuhalten. Doch sie ahnen nicht, wie hoch der Preis ist, den sie dafür zahlen müssen. Weitere Informationen zum Autor und seine Bücher auf www.fredsurer.com
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Seitenzahl: 745
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Buch
Alicia und Patrick Leonards Welt steht still, als ihre acht Monate alte Tochter Emily stirbt. Ihre Unfähigkeit, über die Trauer, die Verzweiflung und die eigene Verletzlichkeit zu reden, setzt ihrer Ehe zu. Die Sprachlosigkeit entfernt sie voneinander. Als Alicia wieder zu arbeiten beginnt, hilft ihr die Hektik des Klinikaltages, die Trauer für kurze Zeit zu vergessen. Aber der Schmerz ist noch da. Daran ändert auch das Angebot, Chefärztin der Chirurgie zu werden nichts. Im Gegenteil, das Gefühl, die Stränge ihres Lebens hätten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verwoben, verstärkt sich noch. Und als Alicia Finn Hansen begegnet, der sie unwiderstehlich anzieht, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihm.
Ihr sorgsam gehütetes Geheimnis droht ans Licht zu kommen, als Hansen ermordet wird und sie durch einen anonymen Hinweis ins Visier der Polizei gerät. Und als ihr Mann von ihrer Untreue erfährt, steht Alicia vor den Scherben ihrer Ehe. Verzweifelt sucht sie Rat bei der Anwältin Olivia Mertens. Mertens beauftragt den gewieften Ermittler Simon Henshall herauszufinden, wer der anonyme Informant ist, der Alicia bei der Polizei denunziert hat und wer ihr Schaden zufügen will. Henshall findet schon bald Hinweise, dass jemand auf grausame Weise Rache an den Beteiligten einer weit zurückliegenden Tragödie nimmt. Und als er herausfindet, wer für den Rachefeldzug, der die Handschrift eines Psychopathen trägt, verantwortlich ist, beschliessen er und Patrick Leonard, den Wahnsinnigen aufzuhalten. Doch sie ahnen nicht, wie hoch der Preis ist, den sie dafür zahlen müssen.
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Fred Surer
Die Schuld
Psychothriller
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by Fred Surer
Umschlag:© 2023 Copyright by Fred Surer
Verantwortlich
für den Inhalt:Fred Surer
Im Ischlag 12
4414 Füllinsdorf
www.fredsurer.com
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar
Nicht für unsere Sünden werden wir bestraft,
sondern durch sie
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Epilog
Der Augenblick braute sich zusammen, er nahm Gestalt an, ragte vor ihr auf – der Augenblick, in dem Alicia erkannte, dass ihre Welt kurz vor dem Einsturz stand. Furcht umklammerte ihre Brust, wie ein wild gewordenes Tier. Alles in ihr fühlte sich rau an, als wäre ihr Körper ein einziges grosses biologisches Alarmsystem, das gerade verrücktspielte. Und während sie zusah, wie Regenrinnsale ihren unausweichlichen Lauf über die Fensterscheibe nahmen, versuchte sie zu verstehen, wie es dazu hatte kommen können, dass sie in diesem kleinen, stickigen Raum, mit den grau gestrichenen Backsteinwänden sass. Aber es war sinnlos, darüber nachzudenken. Für Reue längst zu spät. Sie konnte nur noch versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten.
Schritte auf dem Flur rissen Alicia aus ihren düsteren Gedanken. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als die Tür aufging und zwei Männer mit weissen Hemden und Schlips den Raum betraten. Sie setzten sich ihr gegenüber an den Tisch. Den mit den dunklen Haaren und den feinen Gesichtszügen kannte sie vom ersten Gespräch. Der andere, rechts von ihm, war älter, um die fünfzig schätzte sie. Er war gross und kräftig gebaut, hatte graues, kurz geschnittenes Haar und mit seinem schmalen, kantigen Gesicht und den klaren, blauen Augen, denen nur wenig zu entgehen schien, sah er ausgesprochen gut aus. Daran änderte auch die sichelförmige Narbe auf seinem Kinn nichts. Er legte ein Aufnahmegerät, einen Schreibblock und eine Akte auf den Tisch, in der er kurz blätterte, bevor er Alicia ansah und sagte: «Guten Abend, Frau Doktor Leonhard. Schön, dass Sie es einrichten konnten, aufs Präsidium zu kommen.»
Statt etwas zu erwidern, nickte Alicia nur.
«Ich entschuldige mich, dass Sie so lange warten mussten», fuhr er lächelnd fort und klang aufrichtig dabei. Trotzdem glaubte ihm Alicia nicht. «Die Ermittlungen im Fall Hansen haben zu neuen Erkenntnissen geführt. Aber bitte erlauben Sie mir, dass ich mich kurz vorstelle. Meinen Kollegen Leutnant Markwalder kennen Sie ja schon. Ich bin Major Thaler, Leiter der Abteilung Kapitaldelikte. Wir halten unser Gespräch auf Band fest und ich weise Sie darauf hin, dass Sie nicht verpflichtet sind zu antworten. Wenn Sie eine Antwort geben, tun Sie es freiwillig. Haben Sie das verstanden?»
Alicia nickte erneut, worauf Thaler sie aufforderte, für die Tonaufzeichnung mit Ja oder Nein zu antworten.
«Ja, das habe ich verstanden.»
«Gut, dann fangen wir an.»
Der Major startete das Aufnahmegerät, nannte Datum, Uhrzeit und die Namen der Anwesenden. Dann war für einen Moment nur noch das leise Rauschen des Aufnahmegeräts zu hören, bis sich Thaler etwas vorbeugte und sagte: «Wenn Sie einverstanden sind, beginnen wir ganz von vorn.»
«Nein.»
«Wie bitte?»
«Sie sagten, Sie hätten neue Erkenntnisse. Warum fangen wir nicht damit an, dass Sie mir erklären, weshalb ich hier bin?»
«Haben Sie einen Moment Geduld mit mir», bat der Major Alicia scheinbar ungezwungen. «Wir sammeln Hintergrundinformationen, wer einen Grund gehabt haben könnte, Hansen zu töten. Dazu müssen wir einige Sachverhalte klären. Einer dieser Punkte betrifft Ihre Beziehung zum Verstorbenen.»
«Ich kannte ihn kaum.»
«Bei der ersten Befragung beschrieben Sie ihn als freundlich, hilfsbereit und zuverlässig.»
«Das stimmt.»
«Sie mochten ihn?»
«Ja, ich fand ihn nett.»
«Die Sympathie dürfte gegenseitig gewesen sein», bemerkte Thaler in sachlichem Ton, aber Alicia hörte die subtile Andeutung in den Worten des Majors, als er hinzufügte: «Sonst hätte Hansen Sie kaum mehrfach bei Ihren Ausritten begleitet.»
Alicia schluckte die beissende Gallenflüssigkeit, die vom Magen in die Speiseröhre hochkroch, runter. Niemand hatte ihr eine Frage gestellt, also lehnte sie sich schweigend auf ihrem Stuhl zurück und musterte die beiden Polizeibeamten kühl.
«Ist es üblich, dass ein Stallmeister die Kunden bei ihren Ausritten begleitet?», fragte Markwalder, der bisher geschwiegen hatte, in die sich ausbreitende Stille hinein.
«Es gehört zu seinen Aufgaben, Pferde, die nicht regelmässig beritten werden, ausreichend zu bewegen. Deshalb hat Hansen meistens mehrere Tiere mitgenommen, wenn wir ausritten.»
«Verstehe. Worüber haben Sie geredet?»
«Über Alltägliches, Pferde, die Arbeit. Beim Reiten redet man nicht viel.»
«Hat er je darüber gesprochen, wo er sich vor seiner Anstellung auf dem Michel-Hof aufgehalten, wo er gearbeitet hat?»
«Ja, ich erinnere mich, dass er erwähnt hat, mehrere Jahre in Kentucky auf einer Zuchtranch verbracht zu haben.»
«Woran erinnern Sie sich noch?»
«Das ist alles.»
«Nichts über Eltern, Geschwister, Freunde oder den Ort, wo er aufgewachsen ist?»
«Nein, dazu kannten wir uns nicht gut genug.»
«Ja, das sagten Sie bereits», erwiderte Thaler angestrengt geduldig und wollte dann wissen: «Wo waren Sie am Montag vor drei Wochen?»
Der Knoten in Alicias Magen zog sich zusammen, während sich die Ereignisse jenes Tages, an die sie weder jetzt noch später zurückdenken wollte, in ihrem Kopf überschlugen.
«Da muss ich überlegen.»
«Bitte tun Sie das.»
Alicia liess sich Zeit mit ihrer Antwort. «Mein freier Tag ist eigentlich der Mittwoch. Aber da die Arbeitsbelastung in der Klinik in den Wochen zuvor ungewöhnlich hoch gewesen war, habe ich mir den Nachmittag zusätzlich freigenommen.»
«Und wie haben Sie den Nachmittag verbracht?»
«Ich ging reiten.»
«Wie lange sind Sie ausgeritten?»
«Bis kurz nach drei.»
«Was taten Sie danach?»
Die Antwort, sie sei nach Hause gefahren, lag Alicia schon auf den Lippen, als ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, dass die besten Lügen jene waren, die der Wahrheit am nächsten kamen.
«Ich fuhr in die Stadt.»
«Mit welcher Absicht?»
«Zum Einkaufen.»
«Wo haben Sie Ihren Wagen abgestellt?»
«Im Parkhaus am Postplatz», antwortete Alicia und wunderte sich, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen kam. Dabei hatte sie Mauscheleien, Winkelzüge und Lügen ein Leben lang gehasst. Sie kannte den Preis der Lüge, wusste, dass jede Lüge weitere Lügen nach sich zog.
«Haben Sie beim Einkaufen jemanden getroffen?»
«Nein.»
«Können Sie uns einige Geschäfte nennen, die Sie aufgesucht haben?»
Ein Echo von Furcht stieg in Alicia hoch, als sie begriff, dass man ihre Angaben überprüfen wollte. Sie legte ihre Hände in den Schoss, damit die Polizisten nicht sehen konnten, dass sie zitterten. Ohne die beiden direkt anzusehen, erklärte sie: «Ich bin die Baarerstrasse entlangspaziert, ohne ein Geschäft zu betreten. Ich habe mir lediglich die Auslagen in den Schaufenstern angesehen.»
Thaler musterte Alicia aus schmalen Augen. «Wenn ich mich recht erinnere, hat es an jenem Nachmittag geregnet.»
Alicia hielt seinem Blick stand. «Ich brauchte Bewegung an der frischen Luft und ich hatte einen Schirm dabei.»
«Wie lange hat Ihr Schaufensterbummel gedauert?»
«Eine Stunde, vielleicht etwas länger.»
«Und was haben Sie danach getan?»
«Ich fuhr nach Hause.»
«Wann sind Sie dort angekommen?»
«Gegen sechs.»
Das Gesicht des Majors verriet keine Regung, als er sagte: «Gut, das hätten wir geklärt. Kommen wir zum nächsten Punkt. Sie haben angegeben, Hansen zwei Wochen vor seinem Tod auf dem Michel-Hof zum letzten Mal gesehen zu haben.»
«Das ist richtig.»
«Sie sagten auch, nicht gewusst zu haben, dass er ein Appartement in der Grabenstrasse bewohnte.»
«So ist es.»
«Bleiben Sie bei Ihrer Aussage?», fragte Thaler mit einem Blick, durchdringend wie ein Laserstrahl, der in Alicia das Gefühl aufkommen liess, auf dünnem Eis über einem dunklen Gewässer zu stehen, das jeden Moment zu brechen drohte.
Was wusste die Polizei?
Alicia versuchte, den Gedanken nicht zu Ende zu denken und ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, als sie sagte: «Was soll die Frage? Glauben Sie mir etwa nicht?»
Thaler stiess einen theatralischen Seufzer aus. «Ich glaube, Sie verschweigen uns etwas.»
«Und was sollte das sein?»
«Sagen Sie es mir.»
«Ich habe nichts zu verbergen», entgegnete Alicia mit einer Ruhe, die sich nicht empfand.
«Wir alle verbergen irgendetwas, Frau Doktor. Manchmal vor uns selbst.»
Thalers Herablassung war mehr, als Alicia ertragen konnte. Aber bevor sie die Möglichkeit hatte, etwas darauf zu erwidern, klopfte es an der Tür und eine gutaussehende, junge Frau, die ein marineblaues Kostüm trug, das wie für sie gemacht schien, betrat den Raum.
Thaler reagierte verärgert auf die unerwartete Störung. «Wer sind Sie und wie kommen Sie überhaupt hier rein?», fragte er grollend.
«Durch die Tür und mein Name ist Olivia Mertens, von der Anwaltskanzlei Sternberg, Mertens und Partner. Ich bin der Rechtsbeistand von Frau Doktor Leonhard und wüsste gerne, warum sie hier ist», erwiderte die junge Frau mit den blonden Haaren und den sanften braunen Augen selbstbewusst, ohne auch nur ansatzweise arrogant zu wirken.
«Wir befragen Ihre Mandantin im Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt Hansen. Das Opfer war Stallmeister auf dem Michel-Hof, und Frau Doktor Leonhard hat ihn gekannt. Im Augenblick geht es lediglich darum, Informationen zu sammeln. Reine Routine.»
«Ach so. Reine Routine», wiederholte Mertens. «Und dafür bestellen Sie meine Mandantin aufs Präsidium. Das müssen Sie mir erklären.»
«Ich muss Ihnen gar nichts erklären.»
«Gut, dann endet die Unterhaltung genau an diesem Punkt», erwiderte die Anwältin, ohne mit der Wimper zu zucken.
Thalers Gesicht lief rot an, als sei er geohrfeigt worden. Mit kaum gezügeltem Zorn knurrte er: «Wir haben Grund zur Annahme, dass Ihre Mandantin Hansen weit besser gekannt hat, als sie uns weismachen will.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Ihr Name und die Telefonnummer standen in Hansens Adressverzeichnis. Die Prüfung der Verbindungsdaten hat ergeben, dass sie wiederholt, miteinander telefoniert haben. Zudem können wir beweisen, dass Frau Doktor Leonhards Wagen im Quartier, in dem Hansen gewohnt hat, abgestellt wurde, was einigermassen seltsam erscheint, da Ihre Mandantin behauptet, nichts von Hansens Wohnung in der Grabenstrasse gewusst zu haben.»
Alicia wollte Thaler widersprechen, aber die junge Anwältin hinderte sie daran, indem sie ihre linke Hand mit den leuchtend rot lackierten Fingernägeln auf Alicias Arm legte und Thaler fragte: «Ist das alles, was Sie haben?»
«Nicht ganz», erwiderte der Major, dessen Lächeln jetzt unbestritten selbstgefällig war. «Da ist noch dieser Zeuge, der Frau Doktor Leonhard mehrfach in besagtem Haus gesehen hat.»
Thalers Worte trafen Alicia wie ein Stein, der auf die ruhige Oberfläche eines Weihers prallte. Ihr kam es vor, als hätte sich der Luftdruck im Raum plötzlich verändert, und vor ihren Augen begann sich alles zu drehen.
«Wer ist dieser Zeuge?», fragte Mertens scheinbar unbeeindruckt.
Der Major zögerte und schien stumm mit seinem Kollegen zu kommunizieren, bevor er sagte: «Der Hinweis war anonym.»
«Anonym.» Mertens gab sich schockiert. «Sie veranstalten das hier aufgrund eines anonymen Hinweises. Ist das Ihr Ernst?»
«Wir haben das Recht, Doktor Leonhard zu befragen.»
«Okay, ich habe genug gehört.» Mertens stand auf, berührte sanft Alicias Schulter und sagte: «Kommen Sie, wir gehen.»
«Die Befragung ist noch nicht beendet.»
«Oh doch, das ist sie, Herr Major. Alles, was Sie gegen meine Mandantin vorgebracht haben, sind Vermutungen und Unterstellungen. Frau Doktor Leonhard ist eine erfolgreiche, allseits respektierte Ärztin. Zudem ist sie eine aussichtsreiche Kandidatin für eine Chefarztstelle in der Sonnenbergklinik.»
«Ich brauche von Ihnen keine Belehrung, wie wir unsere Ermittlungen zu führen haben, Frau Anwältin», fauchte Thaler.
«Einverstanden. Aber eine Sache möchte ich klarstellen. Sollte irgendetwas, worüber in diesem Raum gesprochen wurde, an die Öffentlichkeit gelangen und die Kandidatur von Frau Doktor Leonhard beschädigen, verklagen wir Sie und Ihre Behörde auf wirtschaftlich entgangenen Schaden.»
«Das soll wohl ein Scherz sein.»
«Nein, oder hören Sie jemand lachen», entgegnete Mertens kühl. «Ich denke, anstelle haltloser Anschuldigungen in die Welt zu setzen, sollten Sie besser möglichst schnell herausfinden, wer Hansen in Wirklichkeit war.»
Im ersten Moment begriff Alicia die Bedeutung von Mertens Worten nicht. Erst als der Major die Anwältin fragte, woher sie von Hansens falscher Identität wisse, stürzte die Tragweite dessen, was sie eben gehört hatte, mit Wucht auf sie ein. Ein Gefühl der Unwirklichkeit breitete sich in ihrem Kopf aus, und während sie Mertens sagen hörte, sie habe keine Ahnung, woher die Medien Wind von der Sache bekommen hätten, fragte Alicia sich, ob sie Vergebung finden konnte, für das, was sie getan hatte, und was es sie kosten würde.
Sie war sechsunddreissig, hatte alles gehabt, was man sich nur wünschen konnte. Warum hatte ihr das nicht genügt? – Sie hatte alles weggeworfen. Ihr Leben, ihre Karriere als Ärztin, ihre Ehe, das Andenken an ihre wundervolle Tochter, die Achtung der Menschen, die sie liebten. – Einfach alles.
Und wofür?
Oder besser für wen?
Der Mond malte einen silbernen Pfad über die Wasseroberfläche. Selbst das Leuchten der Sterne, deren Licht Millionen von Jahren durch Raum und Zeit gewandert war, um die Gegenwart zu beleuchten, wurde vom Wasser reflektiert. Der Mann im Schlauchboot kannte einige ihrer Namen. Orion, Mira, Kassiopeia, Sirius und Ursa Major.
Es gab Menschen, die glaubten, dass ihr Los in den Sternen geschrieben stand. Der Hüne, dessen Blick so kalt wie ein Gletschersee war, glaubte nicht an Schicksal, Bestimmung oder Karma. Er wusste, dass der Tod einen Menschen jeden Moment finden konnte.
Das blinkende GPS-Signal auf dem kleinen LCD-Bildschirm ortete das Ziel in weniger als einer Seemeile Entfernung und der Vermummte spähte durch das Nachtsicht-Teleskop, wo die bleichen Umrisse eines Segelbootes langsam deutlicher wurden. Zeit, den Aussenbordmotor abzustellen.
Während das Schlauchboot an Fahrt verlor und die salzige Nachtluft noch immer die Hitze des Tages verströmte, vergewisserte sich der Hüne, dass niemand in der Nähe war. Dann begann er mit kräftigen Bewegungen zu paddeln. Dabei orientierte er sich an den Sternen, um das Boot geradeaus zu steuern. Minuten später hatte er die Sloop erreicht, an deren Mast ein Navigationslicht brannte. Vorsichtig, jedes laute Plätschern vermeidend, umrundete er das Heck und machte das Schlauchboot an der Reling fest. Dann hängte er sich die mitgebrachte Sporttasche um und hievte sich geräuschlos an Deck. Während er auf leisen Sohlen zum Niedergang schlich, stellte er zufrieden fest, dass der Mond hinter einer vorüberziehenden Wolke verschwunden war.
In der Dunkelheit der Kombüse, wo der Duft von Kaffee in der Luft hing, verharrte der Mann mit der Sturmhaube regungslos und lauschte. Schliesslich war er sicher, dass alle, die sich mit ihm an Bord befanden, tief und fest schliefen. Gut so, dachte der schwarz Gekleidete und nahm den mit Chloroform getränkten Wattebausch, den er vorbereitet hatte, aus dem verschlossenen Plastikbeutel in seiner Tasche. Der scharfe Geruch, der von der kalten Kompresse ausging, stieg ihm in die Nase und verursachte ein flüchtiges Gefühl von Schwindel, als er vorsichtig die Tür zur Koje öffnete. Im Schein des dünnen Lichtstrahls seiner Lampe erkannte er die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Lautlos näherte er sich dem Bett und presste der Schlafenden den Wattebausch mit eisernem Griff auf Mund und Nase.Der Angriff kam so überraschend, dass sein Opfer keinen Laut von sich geben konnte und der Widerstand schon nach wenigen Sekunden nachliess.
Der Eindringling verlor keine Zeit. Er steckte den Chloroform-Bausch zurück in den Plastikbeutel, fesselte die Besinnungslose mit Klebeband an Händen und Füssen an einen Stuhl und entnahm seiner Tasche die Utensilien, die er für sein Vorhaben benötigte. Dann schob er die Matratze der Koje beiseite und öffnete die Luke, die darunter zum Vorschein kam. Das rechteckige Paket platzierte er direkt neben den Füllstutzen des Treibstofftanks und aktivierte den Empfänger. Nach einem letzten prüfenden Blick schloss er die Luke. Als Nächstes ging er in den kleinen Raum am Ende des Niedergangs. Zu seiner Überraschung waren die Etagenbetten leer, was der Hüne mit einem unterdrückten Fluch quittierte.
Wieder an Deck entfernte er als Erstes den GPS-Sender, den er tags zuvor unter dem Dollbord angebracht hatte. Anschliessend holte er die beiden Kanister Diesel aus dem Schlauchboot. Den Inhalt des ersten Kanisters vergoss er über das gesamte Deck, den Mast und das Schrat-Segel. Mit dem zweiten Kanister ging er hinunter in die Kajüte, wo er Wände, Böden und Türen mit dem Diesel tränkte. Bevor er die leeren Kanister zurück ins Schlauchboot brachte, öffnete er die Ventile der Flaschen für den Gaskocher.
Als der Hüne in die Koje zurückkehrte, spürte er, dass sein Opfer zu sich gekommen war, und er wusste, dass das Denken der Frau, die nichts sehen, nur hören konnte, von nackter Angst beherrscht wurde. Dieser Gedanke erregte ihn irgendwie.
Tatsächlich zuckte die Furcht, Stromschlägen gleich durch Elin Toresens Körper und ihre Kehle war zugeschnürt, sodass sie vorerst kein Wort herausbrachte. Sie hatte keine Ahnung, wer der Angreifer war und was er von ihr wollte. Der Schock des Überfalls im Schlaf lähmte sie noch immer, trübte ihren Verstand. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, als sie fragte: «Wer sind Sie? Was wollen Sie?»
Keine Antwort.
Kalter Schweiss rann Elin über den Körper und ihr Herz hämmerte wie verrückt in ihrer Brust.
«Wie kommen Sie auf mein Boot?»
Stille.
«Sie irren sich, wenn Sie glauben, bei mir gäbe es etwas zu holen. Ich bin nicht reich.» Die Angst zerrte an Elins Stimme. «Bestimmt verwechseln Sie mich.»
Der aufflammende Lichtstrahl schnitt wie eine Klinge durch die Dunkelheit. Die plötzliche Helligkeit blendete sie und Elin spürte den heissen Atem auf ihrer Wange, als sich die vermummte Gestalt zu ihr hinunterbeugte und ihr ins Ohr zischte: «Ich weiss genau, wer du bist.»
«Bitte tun Sie mir nichts», bettelte Elin. «Ich habe Kinder.»
«Ich weiss, deine Tochter Miriam wird nächsten Monat zwölf, Mats, ihr Bruder ist zwei Jahre älter.»
Elin erschrak über die Kenntnisse, die der Eindringling über ihre Familie zu haben schien, und für einen flüchtigen Augenblick war sie dem Schicksal dankbar, dass ihre Kinder zu Hause in Sicherheit waren.
«Wo sind die beiden? Warum sind sie nicht an Bord?», wollte der Mann wissen.
Elin gab keine Antwort. Sie hatte nicht vor, mit dem Eindringling über Miriam und Mats zu sprechen. Doch als der Hüne sie grob an den Haaren zog und sagte: «Ich habe dir eine Frage gestellt und ich erwarte eine Antwort von dir», realisierte sie, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten. Widerwillig erwiderte sie: «Die Kinder sind zu Hause. Mats ist vor ein paar Tagen krank geworden und er hat seine Schwester wohl angesteckt. Mein Mann kümmert sich um die beiden.»
Der Vermummte lachte höhnisch, als er sagte: «Dann bist du also mutterseelenallein auf diesem schönen Boot.» Dabei war das Furchteinflössende nicht die Anzüglichkeit, die in seinen Worten lag, sondern der Blick, mit dem er sie dabei durch die Sehschlitze seiner Maske ansah. Elin ahnte, dass sie ihrer Nemesis in die Augen blickte. Es war der Blick eines Jägers. Hart, unerbittlich, mitleidslos.
Elins Angst mischte sich mit Zorn. Die Verzweiflung liess ihre Stimme schrill klingen, als sie ihren Peiniger anschrie: «Ich weiss, weshalb du hier bist. Du bist eines dieser verfluchten psychopathischen Arschlöcher, denen nur einer abgeht, wenn sie einer Frau Gewalt antun.»
Der Schlag traf sie mit voller Wucht und Elin schmeckte das Blut im Mund.
«Du blöde Fotze, glaubst, ich bin scharf auf dich?» Der Mann lachte grollend. «Irrtum, meine Liebe. Ich will dich nicht ficken.» Er machte eine theatralische Pause und sagte dann: «Ich bin hier, weil Gottes Mühlen langsam mahlen.»
Noch während Elin zu begreifen versuchte, was ihr Peiniger mit seiner Bemerkung gemeint haben könnte, entnahm dieser seiner Tasche eine digitale Uhr mit roten Ziffern. Er kontrollierte die Einstellung und platzierte dann das Display auf dem Kabinenboden vor dem Stuhl. Dann erhob er sich und ging zur Tür. Bevor er die Koje verliess, in der sich der Geruch von Urin ausbreitete, blieb er noch einmal stehen, drehte sich zu Elin um, die am ganzen Körper zitterte, und verkündete so emotionslos, als spräche er über das Wetter: «Es ist jetzt 23 Uhr 45. Den neuen Tag wirst du nicht mehr erleben.»
Alicia Leonard trat aus dem Aufzug und eilte in die Notaufnahme. «Schockraum zwei», beschied ihr die Schwester am Empfang.
Der diensthabende Kollege sagte: «Patient ist männlich, vierunddreissig Jahre alt, Verletzungen an Lunge und Milz.»
«Was ist mit der Niere?»
«Vermutlich ebenfalls verletzt.»
«Blutdruck ist auf achtzig gesunken», verkündete die Anästhesistin, und ein Stakkato weiterer Befunde folgte. «Der Patient ist bereits intubiert. Er bekommt Blut, 0 positiv, und eine Ringerlösung intravenös.»
Alicia tastete die Bauchdecke ab. Sie war hart und angespannt. «Er hat den ganzen Bauch voller Blut.»
«Druck fällt weiter», liess sie der Diensthabende in besorgtem Ton wissen.
«Welcher OP ist frei?»
«Nummer drei.»
«Dann los.»
Die Rollbahre wurde im Laufschritt auf den Korridor hinausgeschoben. Sie waren schon beinahe beim Lift angelangt, als jemand Alicias Namen rief. «Nicht jetzt», antworte sie, ohne sich umzudrehen. «Ich habe einen Notfall.»
Drei Stunden später betrat Alicia den Warteraum, wo die Ehefrau und die Eltern des Patienten sie mit Angst und Besorgnis erwarteten. Alicia wusste, dass ihr Anblick nicht gerade aufmunternd wirkte. Sie sah aus, wie ein verwunderter Soldat nach einer verlorenen Schlacht. Sie hatte sich im Büro hastig einen Laborkittel übergezogen, der die blutbefleckte Operationskluft jedoch nicht vollständig verhüllte. Schweissnasse Haarsträhnen schauten unter ihrer Schutzkappe hervor und ihre geröteten Augen zeugten vom erbarmungslosen Kampf, den sie gefochten hatte. Aber sie kam mit guten Nachrichten und wollte die Ange-hörigen nicht länger auf die Folter spannen. Noch bevor sie sich setzte, erklärte sie: «Ihr Mann lebt, er hat die Operation gut überstanden.»
Die junge Frau stiess einen Seufzer der Erleichterung aus, umarmte Alicia und drückte sie an sich. «Vielen Dank, Frau Doktor.»
Die beiden blieben mehrere Sekunden so stehen, dann liess die Frau sie wieder los und wischte sich die Tränen von den Wangen. Alicia war dankbar, den Angehörigen eine positive Nachricht überbringen zu können, dennoch schlug sie einen geschäftsmässigen Ton an. «Die Operation war kompliziert. Ihr Mann hat Verletzungen an der Lunge, der rechten Niere und der Milz erlitten. Die Milz mussten wir leider entfernen, aber es ist uns gelungen, die Niere zu retten, und es bestehen gute Chancen, dass keine Funktionsbeeinträchtigungen zurückbleiben werden. Er hat sehr viel Blut verloren, aber wir konnten die massiven Blutungen stillen und alle inneren Verletzungen vernähen. Entscheidend war, dass wir ihn so schnell operieren konnten, andernfalls wäre Ihr Mann an Blutverlust gestorben. So aber besteht keine akute Lebensgefahr mehr und Ihr Mann hat gute Chancen, sich vollständig zu erholen.»
«Das sind wundervolle Nachrichten», sagte der Vater des Verunfallten.
Seine Schwiegertochter wollte wissen: «Wann kann ich zu ihm?»
«Sofort, wenn Sie möchten. Ich bringe Sie hin.»
Während die beiden Frauen durch zwei automatische Schiebetüren gingen, die zur chirurgischen Intensivstation führten, sagte Alicia: «Ihr Mann ist noch in der Narkose und erhält starke Schmerzmittel. Wenn er aufwacht, wird er noch sehr schwach sein. Sie sollten also darauf gefasst sein, dass es ihm noch nicht sonderlich gut geht.»
Die junge Frau nickte bedrückt und sagte flehentlich: «Hauptsache er wird wieder gesund.»
«Das wird er», bestätigte Alica mit einem warmen Lächeln.
Leise betraten sie das Zimmer. Der Raum lag im Halbdunkel. Nur das Bett war hell erleuchtet. Der Patient lag auf der linken Seite, von einer dicken Deckenrolle in dieser Position gehalten. Neben dem Bett stand ein Infusionsständer. Sonden und Schläuche schlängelten sich über das Laken, Katheter bohrten sich in seine Haut. An seinen Lippen hatte man einen Beatmungsschlauch befestigt.
«Wir verabreichen Ihrem Mann intravenöses Antibiotikum, um einer allfälligen Infektion vorzubeugen. Ausserdem haben wir einen Katheter gelegt. Sein Urin ist derzeit noch etwas blutig, aber das wird sich in den nächsten Stunden geben. Sobald er wieder bei Bewusstsein ist, werden wir ihn vom Beatmungsgerät abhängen. Natürlich bekommt er weiterhin starke Schmerzmittel. Er verdankt es vor allem seiner guten körperlichen Verfassung, dass er überlebt hat, und die wird ihm auch helfen, sich zu erholen. Einige Tage wird er auf der Intensivstation bleiben müssen und wir werden ihn permanent überwachen, aber die Prognose ist eindeutig positiv.»
Die Frau nahm Alicias Hand und drückte sie. «Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken soll.»
«Das ist nicht nötig, ich habe nur meine Arbeit gemacht.»
Die zierliche Frau, die ihre Haare im Nacken zu einem kleinen Knoten hochgesteckt hatte, schüttelte den Kopf. «Sie haben viel mehr getan. Sie haben den Vater meines Babys gerettet», sagte sie mit Tränen in den Augen. «Gott segne Sie dafür Frau Doktor Leonard.»
«Sie sind schwanger. Gratuliere», sagte Alicia, während sie ihre Hände tief in die Kitteltaschen vergrub.
Wenig später verabschiedete sie sich. Auf dem Weg in ihr Büro nahm sie einen Stapel Patientenakten und die Post aus ihrem Fach. Als sie am Pflegedienstbüro vorbeikam, begrüsste sie die sonst so redselige Schwester mit einem müden «Hallo» und liess sie wissen, dass der Chef sie zu sehen wünschte.
«Richten Sie ihm aus, ich komme gleich. Vorher muss ich noch einen Anruf erledigen», erwiderte Alicia in die Patientenakten vertieft.
Das Gespräch dauerte länger als vorgesehen. Als sie schliesslich ins Büro ihres Chefs trat, verriet ihr der Blick auf die Uhr, dass sie beinahe eine halbe Stunde telefoniert hatte.
Professor Christian Koppenburg, ein grosser, stämmiger Mann mit kurzem, auf der Seite gescheiteltem blondem Haar und einem leichten Bauchansatz, stand am Fenster und schaute gedankenversunken auf den Park hinaus. Wie immer trug er einen gut geschnittenen Anzug. Er war einer der wenigen Ärzte, die auch die Patientenvisite im Anzug absolvierten, was einige Spassvögel zur Behauptung verleitet hatte, Koppenburg trage selbst im OP unter der Schutzkleidung einen Anzug, was natürlich Unsinn war.
Der Klinikleiter drehte sich zu Alicia um und sagte: «Schön dich zu sehen».
«Ich habe nicht viel Zeit. Patrick und ich sind heute Abend zu einer Charity-Veranstaltung zu Gunsten der Stiftung für Paraplegie eingeladen. Um acht geht es los und ich muss mich vorher noch zurechtmachen.»
«Eine schöne Frau benötigt nicht viel Zeit, um noch schöner zu werden», sagte Koppenburg galant.
«Was willst du von mir, du Heuchler?»
Koppenburg, der Alicia seit ihrer Studienzeit kannte und dem eine umgängliche, freundliche Art im Umgang mit Patienten und Angestellten nachgesagt wurde, grinste jungenhaft und bat Alicia Platz zu nehmen. Während er sich ihr gegenüber niederliess, bewunderte er einmal mehr die Schönheit dieser hochgewachsenen Frau, mit den rötlichen Haaren und einer Hautfarbe, die nicht hell war, wie bei den meisten Rothaarigen, sondern einen zarten Goldton aufwies. Alicias Eltern stammten aus Irland und ihr zweiter Vorname lautete Derval, was im Keltischen brennendes Verlangen bedeutete. Koppenburg erinnerte sich daran, dass Alicia einmal augenzwinkernd erklärt hatte, in ihrem Stammbaum gebe es wohl den einen oder anderen südländischen Eindringling, der seine Gene ungebetenerweise in das Erbgut ihrer Familie geschmuggelt habe. Aber der besondere Reiz dieser Frau ging weder von ihren ebenmässigen Gesichtszügen noch dem aufreizenden Farbton ihrer Haut oder dem schulterlangen, gewellten Haar, sondern von ihren tiefgrünen Augen aus, die Anmut und kühle Intelligenz versprühten. Ihr Lächeln konnte jeden Mann um den Verstand bringen und Koppenburg fand, dass sie selbst in ihrer Ärztekluft und ohne Make-up nicht wie sechsunddreissig aussah, sondern irgendwie das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt zu haben schien.
«Ich werde dich nicht lange aufhalten. Ich will dich nur über eine wichtige personelle Veränderung in unserem Team informieren. Altmann hat gekündigt. Er wird Chefarzt einer Privatklinik. Ich muss der Spitalleitung einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin vorschlagen. Dabei habe ich an dich gedacht.»
Alicia schwieg, worauf Koppenburg sagte: «Du wärst die Richtige dafür.»
«Ich weiss nicht?»
«Du bist eine hervorragende Chirurgin und kannst mit Menschen umgehen.»
«Du schmeichelst mir schon wieder.»
«Das ist keine Schmeichelei. Falls du dich bewirbst, werde ich deine Ernennung zur Leiterin der Chirurgie vorbehaltlos unterstützen. Die Klinikkommission hat noch nie gegen meine Empfehlung gehandelt.»
«Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.»
«Ja, mach das.»
«Bis wann benötigst du eine Antwort?»
«Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Häufig können wir die wichtigen Entscheidungen im Leben nicht selbst treffen. Du aber hast jetzt die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ob du diesen Karriereschritt gehen willst oder die Familie weiterhin an erster Stelle steht.»
«Damals war ich schwanger.»
«Ich weiss, wie sehr du dir ein Kind gewünscht hast.»
«Ich hatte ein Kind», entgegnete Alicia schroff und in ihren Augen stand die Botschaft: Ich will nicht darüber reden.
Doch das Thema war Koppenburg zu wichtig. Er legte Alicia fürsorglich die Hand auf den Unterarm und sagte: «Kein Aussenstehender kann ermessen, wie schmerzhaft es ist, ein Kind zu verlieren. Der Tod des eigenen Kindes liegt jenseits des Begreifens. Der Vater eines tödlich verunglückten Jungen sagte mir einst, die Wunde heile nie und die Zukunft sei ein beängstigender Ort, wenn man ein Kind verloren habe. Aber gerade du als Ärztin weisst, dass das Leben weitergehen muss und die Hinterbliebenen, so schwer es auch sein mag, versuchen müssen, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor sie etwas Neues beginnen können.»
Es schien, als wolle Alicia etwas darauf erwidern, aber sie tat es nicht und die eintretende Stille dehnte sich. «Du bist noch jung genug, um wieder ein Kind zu haben», sagte Koppenburg schliesslich.
«Ich muss jetzt wirklich gehen», erwiderte Alicia und stand auf. «Ich werde über dein Angebot nachdenken.»
Für die zweite Tageshälfte hatten die Meteorologen Regen, der in Schnee übergehen konnte, angekündigt und Recht behalten. Ein Tiefdruckgebiet hatte sich aus Skandinavien kommend über dem Alpenraum festgesetzt. Gleichzeitig führten arktische Winde Kälte nach Zentraleuropa.
Alicia mochte Schnee, auch wenn der Verkehr dadurch chaotisch wurde und die Zahl der Unfallpatienten markant anstieg. Dafür sah die Bergwelt unter den weissen Laken wie die Landschaft in einem Märchen aus. Doch jetzt nahm sie das dichter werdende Schneetreiben kaum wahr. Zu sehr beschäftigten sie Koppenburgs Worte. Erst als sie einem Motorradfahrer, den sie beinahe übersehen hatte, ausweichen musste und ihr mintgrüner Mini dadurch ins Schlingern geriet, realisierte sie, wie gefährlich der Strassenzustand geworden war. Zum Glück war sie nicht mehr weit von ihrem Wohnort entfernt und kurz darauf bog sie in die Einfahrt ihres Hauses in Walchwil ein, das direkt am See lag, ein Fundament aus grauem Stein besass und Aussenwände aus Holz, das im Laufe der Zeit eine schimmernde Patina angesetzt hatte. Mit der Fernbedienung – einer der zahlreichen Neuerungen beim Umbau – öffnete sie das elektrische Tor zur Garage, die einmal der separate Schuppen einer Bootswerft gewesen war. Sie fuhr in die Garage, liess das Tor wieder herunter und betrat das Haus durch die Verbindungstür, die in eine offene Küche mit einer ausladenden Kochinsel führte. Daran angrenzend ein grosser, lichtdurchfluteter Wohnraum mit unverputzten Bruchsteinwänden, einem Parkett aus amerikanischem Ahorn und raumhohen verglasten Schiebetüren, die auf den einstigen Bootssteg hinausführten, der zu einer Terrasse erweitert worden war. Über eine offene Treppe aus Holz gelangte man auf eine Galerie, drei Schlafräumen und einem Bad. Alicia hatte das doppelstöckige Loft, zu dem auch noch ein kleiner, baumbewachsener Garten gehörte, vom ersten Moment an geliebt. Selbst in den schwärzesten Stunden, als sie das Gefühl hatte, unter den Trümmern ihrer einstürzenden Welt begraben zu werden, war ihr Zuhause ein Ort der Zuflucht gewesen. Aber jetzt empfand sie die Stille des Raumes, der im Zwielicht des sterbenden Tages lag, irgendwie als bedrückend. Sie schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und dachte daran, zur Entspannung ein Bad zu nehmen. Aber statt nach oben zu gehen, starrte sie weiterhin hinaus auf den See. Über der Wasseroberfläche lag ein blasser, kristalliner Schimmer und die Welt schien im Tanz der Schneeflocken, die vom Wind in die eine und dann in die andere Richtung getrieben wurden, zu versinken.
Koppenburg hatte recht. Sie musste sich entscheiden, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Doch bisher hatte sie um dieses Thema einen grossen Bogen gemacht, weil sie sich vor den Erinnerungen fürchtete.
«Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Denn sonst gäbe es keine Trauer und kein Leid», hatte ihr Dozent in forensischer Psychiatrie einst gesagt. Der Mann hatte gewusst, wovon er sprach. Auch wenn die Zeit nicht stehen geblieben war und der Schmerz sich irgendwohin zurückgezogen hatte und schlummerte, liess die Vergangenheit sie nicht los. Plötzlich, wenn sie am wenigsten damit rechnete, war der abgrundtiefe Schmerz wieder da, hallte die schreiende Leere wieder in ihren Ohren.
Wie unter Zwang ging Alicia die Treppe hoch ins Kinderzimmer, wo ein gerahmtes Foto ihrer Tochter stand. Sie nahm das Bild, das sie lange Zeit nicht hatte betrachten können, zur Hand. Emily lag nackt und frisch gebadet auf einem Handtuch und lachte in die Kamera. Nur wenige Tage, nachdem dieses Bild entstanden war, war sie gestorben.
Emily hatte auf der Seite liegend in ihrem Bettchen gelegen und Alicia sah das Gesicht ihrer Tochter wieder ganz klar vor sich, die kleine Stupsnase, den winzigen, leicht geöffneten Mund, die geschlossenen Lider, die weisse Haut, das seidige Haar. Als sie der Kleinen mit den Lippen zart über die Wange gefahren war, hatte Emily überhaupt keine Reaktion gezeigt und ihr war mit einem Schlag klar geworden, dass ihre Tochter nicht schlief, sondern tot war. Mit eiskaltem Entsetzen hatte sie Emily hochgehoben und nachdem alle Wiederbelebungsversuche erfolglos geblieben waren, stumm in den Armen gewiegt, bis ihr der Notarzt ihr totes Baby sanft aus den Armen genommen hatte.
Emily war acht Monate alt gewesen, als der plötzliche Krippentod sie ereilt hatte. Als Ärztin wusste Alicia, dass jedes Jahr Tausende von Eltern ein Baby durch den plötzlichen Kindstod verloren und anschliessend ihre elterliche Sorgfaltspflicht infrage stellten und versuchten, mit den bohrenden Schuldgefühlen fertig zu werden. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass, wenn Patrick und sie sich für den Tod ihres Kindes verantwortlich fühlten, sie in Gefahr liefen, nie über die Tragödie hinwegzukommen. Aber all dieses Wissen half ihr nicht. Sie fühlte sich trotzdem schuldig. Schliesslich war es die Aufgabe einer Mutter, ihr Kind zu behüten. Sie hatte Emily gestillt und war für gewöhnlich aufgewacht, sobald ihre Tochter sich meldete. Warum hatte sie in jener Nacht, als die Lungen ihrer Tochter aufgehört hatten zu atmen, so tief geschlafen? Warum hatte sie nicht gespürt, dass etwas nicht stimmte? Wenn sie aufgewacht wäre, würde Emily vielleicht immer noch bei ihnen sein. Wenn sie nach ihrer Tochter gesehen hätte, wäre die Katastrophe vielleicht nie passiert.
Mit tränenfeuchten Augen starrte Alicia auf die leere Wiege. Sie erinnerte sich an das winzige, strampelnde Bündel, das in einer Mischung aus Instinkt und Staunen versuchte, ihre Brustwarze zu finden, den vertrauensvollen Blick, mit dem Emily sie oft betrachtet hatte, das Lächeln, das nur ihr gegolten hatte und das sie so sehr vermisste, das Lächeln, das sie nie mehr sehen würde, weil sie ihre Tochter im Stich gelassen hatte.
Bilder der Beerdigung wirbelten Alicia durch den Kopf. Es war ein wunderschöner Spätsommertag gewesen, wie um zu zeigen, welche Ironie in der Schönheit der Natur lag. Der Pfarrer hatte über die Vergänglichkeit des Lebens gesprochen und darüber, was auch ein so junges Leben, das vor der Zeit genommen worden war, im Jenseits erwartete. Aber er hatte nichts sagen können, was ihre Trauer gelindert hatte, denn es war einfach nicht fair, von einem kleinen Mädchen Abschied nehmen zu müssen, dessen Leben vorüber war, noch ehe es richtig begonnen hatte.
Alicias Welt war zum Stillstand gekommen und während der Trauerfeier hatte sie sich nur mittels starker Beruhigungsmittel auf den Beinen halten können. Patrick hatte fortwährend ihre Hand gehalten und als sie schwankend hinter dem kleinen weissen Sarg hergegangen waren, hatte er den Arm fest um ihre Schultern gelegt. Seine Berührungen hatten ihr geholfen, das alles zu überstehen. Patrick war der Starke von ihnen gewesen, hatte ruhig und beherrscht gewirkt. Wenigstens schien es so. Doch in der Nacht nach der Beerdigung, als er glaubte, sie würde schlafen, hatte sie Patrick im dunklen Wohnzimmer gesehen, wie er auf dem Boden kniete und wie ein Metronom mit dem Oberkörper wippend fürchterlich schluchzte. Sie hatte ihn von der Treppe aus beobachtet und eigentlich wollte sie zu ihm gehen, ihn in die Arme nehmen, ihn trösten. Aber sie hatte es nicht getan. Vielleicht war es ein Fehler gewesen. Vielleicht war es falsch, dass sie beide versuchten, allein mit dem fertig zu werden, was der Tod ihres Kindes mit ihnen angestellt hatte.
Mit Emilys Tod hatte sich alles verändert, nichts war mehr so, wie es vorher war. Der Tag, an dem sie starb, war der Tag des Abschieds von der Zukunft gewesen. Seither schien es, als seien sie in zwei verschiedenen Welten, eingesperrt in getrennten Räumen des Schmerzes. Und die Unfähigkeit, mit der tiefen Verzweiflung und der daraus resultierenden Sprachlosigkeit umzugehen, entfernte sie voneinander.
Alicia wusste, dass sie und Patrick miteinander über ihre Gefühle reden sollten. Aber in der ersten Zeit konnten sie einander kaum in die Augen schauen, nicht, weil sie wütend aufeinander gewesen wären oder weil Patrick ihr die Schuld gab, an dem, was geschehen war, sondern weil es so unsagbar weh tat, die Trauer in den Augen des anderen zu sehen. Damals waren sie schon dankbar dafür gewesen, ihr Leben einigermassen zusammenhalten zu können. Aber je mehr Zeit verging, desto schwieriger wurde es, darüber zu reden, was hätte sein können, aber nicht gewesen ist und wie es weitergehen sollte.
Vier Monate nach Emilys Tod hatte Alicia wieder zu arbeiten begonnen und die Hektik des Klinikalltags half ihr, die Trauer manchmal für Stunden zu vergessen. Patrick schien es ähnlich zu ergehen, und so vergruben sie sich beide in ihre Arbeit, was dazu führte, dass sie vor der Trauer davonliefen, statt sie miteinander zu teilen. Selbst bei den selten gewordenen ruhigen Abenden zu Hause sprachen sie selten über das gemeinsame Leben vor dem Morgen, der alles geändert hatte. Stattdessen blieben ihre Gespräche immer öfter oberflächlich, erreichten nicht mehr die Tiefe und Innigkeit früherer Tage. Nur heimlich versanken sie in der Erinnerung an die Geborgenheit, die sie in ihrer Ehe davor erlebt hatten, weil keiner dem anderen das Herz brechen wollte, indem er laut darüber sprach.
Bevor das Schicksal ihnen ihre Tochter genommen hatte, waren sie ein starkes, lebendiges Paar gewesen, das an die Kraft seiner Liebe geglaubt hatte. Nun aber waren sie gezeichnet, wussten, wie sich der Schmerz und die Enttäuschung anfühlten, und manchmal hatte Alicia das Gefühl, als seien Patrick und sie zwei Fremde in einem kleinen Boot, die ganz allein auf dem Meer trieben, in der Hoffnung, irgendwo ein Stück Land zu finden, und sie aufhören konnten zu paddeln.
Eine einzelne Träne kullerte über Alicias Wange, als sie das Bild ihrer Tochter behutsam auf die Kommode zurückstellte.
Halb Sieben. Flughafen Zürich war offen, wenn auch unter Schwierigkeiten. Seit zwei Stunden fiel starker Schneefall aus düsteren Wolken und der Tanz der Flocken liess die Dunkelheit der Nacht erbleichen.
Patrick Leonard, der Leiter der Flugsicherung, gross, schlank und eine Kraftstation beherrschter Energie, stand in der obersten Kanzel des Kontrollturms, von wo aus die Maschinen auf dem Boden dirigiert wurden. Mit besorgter Miene starrte er hinaus in die milchige Dunkelheit. Normalerweise war vom verglasten Raum das gesamte Flugfeld mit den Standplätzen, die Start- und Landebahnen sowie die Rollwege überblickbar. Selbst nachts wurden die Formen und Bewegungen des Flughafens durch die Lichter klar bestimmt. Doch heute Nacht durchdrang nur der diffuse Schimmer naher Lichter den fast undurchsichtigen Vorhang des vom Wind getriebenen Schnees. Aber der Blick durch das Fernglas offenbarte mit schonungsloser Deutlichkeit die Schwierigkeiten, mit denen der Flughafen zu kämpfen hatte.
Das Betriebskonzept des Flughafens sah Starts und Landungen auf drei Pisten vor. Im Augenblick aber waren nur zwei in Betrieb, Bahn 14-32 und 10-28. Auf Piste 14 landeten die Flugzeuge beinahe im Minutentakt. Gerade setzte ein Airbus A320 auf dem Boden auf. Nur wenige Kilometer dahinter waren schon die Landelichter der nächsten und der übernächsten Maschine zu sehen. Gelandet wurde auch auf Piste 28, wo die Jets in einem stetigen Strom, wie auf einer Perlenschnur aufgereiht, hereinschwebten. Die längste Bahn, die Sechzehn oder Vierunddreissig, wie sie beim Anflug oder beim Start aus der Gegenrichtung genannt wurde, war geschlossen. Sie wurde vom Schnee geräumt.
Durch die zeitweise Sperrung der Startbahn war die Flugsicherung gezwungen gewesen, zwanzig Maschinen in die Warteräume zu schicken, wo sie ihre Schleifen zogen. Einige von ihnen näherten sich den Mindesttreibstoffbeständen. Sie hatten Priorität, und so war dem Tower nichts anderes übriggeblieben, als Startbeschränkungen anzuordnen, was dazu geführt hatte, dass sich die Standplätze, die Taxi Wege und die Wartepositionen mit immer mehr Maschinen gefüllt hatten. Aber auch die Terminals waren überfüllt mit Tausenden von Passagieren verspäteter Flüge. Vor den Schaltern der Fluggesellschaften standen lange Schlangen wartender Menschen. Verzögerungen und Umleitungen, die der Schneefall verursacht hatte, erschwerten die Abfertigung und stellten die Geduld aller auf eine harte Probe.
Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme des Geleitzugführers. «Schneeräumungskolonne an Tower. Befinden uns auf Bahn 16 und nähern uns der Kreuzung mit 10-28. Ersuchen um Freigabe, die Kreuzung zu passieren.»
Leonard schwenkte das Fernglas in Richtung der Schneeräumfahrzeuge. Der Anblick war imposant. Die Kette der Fahrzeuge, mit den riesigen Schneepflügen und den blinkenden Warnleuchten auf dem Dach, zog mit choreografischer Präzision die Startbahn hinunter.
«An Geleitzugführer von Bodenkontrolle. Vor Kreuzung anhalten. Zwei Landungen auf 28 stehen unmittelbar bevor. Startbahnkreuzung nicht – ich wiederhole, nicht überschreiten. Bitte bestätigen.»
In der Stimme des Schichtleiters lag Bedauern, denn er wusste, was es hiess, eine rollende Schneeräumungskette zu stoppen und wieder in Fahrt zu bringen. Aber die beiden Flugzeuge im Landeanflug mit minimalen Treibstoffreserven lassen ihm keine andere Wahl. Sie noch länger warten zu lassen, kam nicht infrage.
Die Antwort des Leiters der Schneeräumung kam umgehend und der Ton war gereizt, als er sagte: «Jetzt hört ihr Vögel in eurem komischen Taubenschlag mal zu. Habt ihr eine Ahnung, wie es hier draussen aussieht? Vielleicht seht ihr mal zum Fenster hinaus.»
Patrick gab dem Schichtleiter, dessen kahler Schädel Schweisströpfchen zeigte, ein Zeichen und schaltete sich in den Funkverkehr ein. Er kannte Daniel Schönbächler, der heute Nacht die Schneeräumungskette anführte, persönlich und er wusste, dass sich der motorisierte technische Dienst seit Einsetzen des Schneefalls im Dauereinsatz befand und sich keine Pausen gegönnt hatte. Darum sagte er in besänftigendem Ton: «Tower an Geleitzugführer, hier spricht Patrick Leonard. Hör zu, Dan, den beiden Maschinen, die im Landeanflug sind, geht der Sprit aus und wir haben keine andere Wahl, als sie auf der 28 herunterzuholen.»
Ein geknurrtes «Okay, informiert uns, wenn sie unten sind» kam aus dem Lautsprecher und kurz darauf überflog die Embraer 190 der Alitalia mit aufgeblendetem Landescheinwerfer die Pistenschwelle. Nur wenig später war auch die Maschine aus Istanbul wohlbehalten am Boden und Patrick sah, wie sich die riesigen Schneepflüge mit brüllenden Motoren, die hoch oben in der Kanzel natürlich nicht zu hören waren, langsam wieder in Bewegung setzten. Bewundernd stellte er fest, dass die Formation auch beim Beschleunigen exakt eingehalten wurde.
Die Entscheidung, die beiden einsatzfähigen Bahnen für Landungen zu nutzen, entschärfte die Lage in der Luft allmählich. Dafür warteten nun auf dem Boden zahlreiche Maschinen, manche mit laufenden Motoren, auf die Rollerlaubnis des Towers. Und auch auf den Taxiwegen waren die Umrisse von Maschinen zu sehen, die eine hinter der anderen, einer Prozession gleich, zu den Startbahnen rollten. Dabei bildeten ihre Höhenleitwerke im Schein der Positionslichter eine verschwommene Linie, wie eine Reihe geduldiger Zugvögel, die sich zum Abflug versammelt hatten.
Im Allgemeinen liess der Druck in der Flugsicherung kurz vor Eintritt des Nachtflugverbots nach. Aber heute war dies nicht der Fall und die Flugbeschränkung ab elf Uhr würde nicht eingehalten werden können. Es war damit zu rechnen, dass es bis weit nach Mitternacht dauern würde, bis alle Flüge abgefertigt werden konnten, und das auch nur, wenn sie die Kapazität der Start- und Landebahnen aufs Äusserste beanspruchten. Zum Glück war der Schneeräumungstrupp mittlerweile am Pistenende angekommen und schickte sich an, in die Wartungshallen zurückzukehren, um aufzutanken und die Fahrzeugbesatzungen auszuwechseln. Damit konnten auf der Bahn 16 und 28 ab sofort so viele Starts wie möglich erfolgen, während auf Piste 14 weiterhin die Landungen abgewickelt wurden.
Bevor Patrick dieses Verfahren jedoch anordnete, wollte er die Meinung seines Kollegen, Massimiliano Quadri, hören. Dazu ging er ein Stockwerk tiefer, wo der Tessiner, den alle nur Max nannten, mit seinen Leuten den Verkehr in der unmittelbaren Umgebung des Flughafens dirigierte.
Die Turmkanzel war in ein dämmriges, kränklich wirkendes grünes Licht getaucht, das von den Radarschirmen abstrahlte, und von den Lotsenarbeitsplätzen ging ein stetiger Strom von Funksprüchen und Weisungen aus. Der Ton war ruhig, aber hinter dieser Ruhe verbarg sich eine nervöse Spannung. So war es nicht verwunderlich, dass es da und dort zu Reibereien kam, wie in diesem Augenblick, als die Frequenz für die aus Osten anfliegenden Maschinen zum Leben erwachte und eine schroffe Stimme sagte: «Was zum Teufel tun Sie da unten eigentlich. Wenn ihr uns nicht bald herunterholt, fallen wir runter, denn wir fliegen bereits seit einigen Minuten auf unseren Treibstoffreserven.»
Die Beschwerde kam vom Piloten eines Airbus A319, der aus Madrid kam und zu den letzten Maschinen mit knappen Treibstoffreserven gehörte, die noch keine Landefreigabe erhalten hatten.
Der Lotse, ein alter Hase, der gerade noch mit einer anderen Maschine gesprochen hatte, blieb ruhig und sagte grinsend zu Quadri: «Unser Torero da oben scheint langsam die Fassung zu verlieren. Mal sehen, was wir für ihn tun können». Dann schaltete er das Mikrofon ein und meldete sich so unbefangen, als habe es das Intermezzo mit dem Kapitän nicht gegeben. «Iberia sieben-null-zwei von Tower. Ich bedaure die Verzögerung. Sie haben höchste Priorität. Steuern Sie Kurs eins-zwei-null und sinken Sie auf fünftausend Fuss.»
Als wäre das Verkehrschaos, das der starke Schneefall verursacht hatte, nicht genug, herrschte bei verschiedenen Flugsicherungsstellen auch noch Personalknappheit, was den Druck auf die Anwesenden noch weiter erhöhte, vergleichbar mit der Dehnung einer bereits gespannten Feder. Im Tower, wo der Schichtwechsel vor einer Stunde stattgefunden hatte, konnten die krankheitsbedingten Ausfälle einigermassen ausgeglichen werden. Dazu waren einige Kontroller einer überlappenden Schicht zugeteilt worden. Aber beim An- und Abflugleitdienst APP hatten die Ausfälle Lücken hinterlassen und Max zweifelte daran, dass sich Patricks Plan in die Tat umsetzen liess.
«Das ist bis zum Nachtflugverbot niemals zu schaffen. Ich bin der Meinung, es wäre vernünftiger, einige Flüge zu streichen.»
Patrick schüttelte den Kopf.
«Um die Einhaltung des Nachtflugverbots kümmern wir uns morgen wieder.»
«Das gibt Ärger.»
«Ja, nur darauf können wir keine Rücksicht nehmen», erwiderte Patrick grimmig. Er wusste nur zu gut, dass sein Entscheid zu Klagen und Anschuldigungen der Anwohner gegen die Flughafenleitung und die Flugsicherung führen würde, welche die Presse bereitwillig aufgriff. Aber im Augenblick gab es nichts Wichtigeres, als den Flugbetrieb so rasch als möglich in einigermassen geordnete Bahnen zurückzulenken. Um das zu erreichen, war er bereit, alles zu tun, was notwendig war, wozu auch die kurzzeitige Aussetzung der Lärmschutzvorschriften gehörte. Diese sahen vor, dass nach Osten startende Maschinen, aus Lärmschutzgründen unmittelbar nach dem Start die Motoren drosselten und gleichzeitig eine scharf gezogene Kurve flogen. Aber auf diese Konzession gegenüber den Fluglärmgegnern, durch welche die Sicherheit des Flugzeugs und der Menschen einem kalkulierten Risiko unterzogen wurde, konnte heute Nacht keine Rücksicht genommen werden. Die Flugzeuge würden mit Vollschub und in gerader Linie nach Osten starten und das Stadtgebiet von Zürich überfliegen. Nur so konnte die maximale Kapazität der Startbahn 16 genutzt werden.
Das Handy von Max klingelte und Patrick beobachtete durch das Schneetreiben hindurch, wie auf Piste 16, die vor ein paar Minuten wieder für den Verkehr freigegeben worden war, eine Maschine der American Airlines zum Start ansetzte. Zuerst bewegte sie sich mit schwerfälliger Langsamkeit vorwärts, dann aber immer schneller. Die Farben der Gesellschaft, Blau und Rot, leuchteten in der Widerspiegelung anderer Flugzeuglichter kurz auf und verschwanden dann in einem Wirbel aus Schnee. Gleichzeitig erteilte ein Kontroller der Lufthansa-Maschine, die an der Schwelle von Piste 28 stand, die Starterlaubnis. Der Pilot bestätigte den Funkspruch und beschleunigte die Maschine, noch bevor American Airlines den Kreuzungspunkt von Bahn 16 mit Bahn 28 passiert hatte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Patrick, wie sich die beiden Lichtpunkte aus unterschiedlichen Richtungen auf die Kreuzung zubewegten – beinahe gleichzeitig, wie es schien. Aber die beiden Maschinen rasten nacheinander über die Kreuzung und waren Sekunden später in der Luft und damit in Sicherheit.
Der fast zeitgleiche Start zweier Flugzeuge auf sich überschneidenden Kursen war ein kalkuliertes Risiko. Dazu mussten die Verkehrsleiter der Abflugkontrolle bei ihren Anweisungen an die startenden Maschinen die Abstände haargenau abschätzen und das Warnsystem Rimcas, das akustisch und visuell Alarm schlug, wenn sich Flugzeuge zu nahekamen, auf maximale Toleranz einstellen. Das hatten sie auch diesmal getan, und wie üblich hatte sich das auf Erfahrung beruhende Urteil der Lotsen als richtig erwiesen. Aber die Notwendigkeit, derartige Risiken eingehen zu müssen, bei denen es nicht den geringsten Raum für einen Irrtum oder ein Zögern gab, schuf unnötige Gefahren, die vermieden werden sollten. Doch dazu wäre der Bau einer vierten Start- und Landebahn notwendig, etwas, was politisch völlig undenkbar war.
Während der Lotse in schneller Folge weitere Anweisungen für Flüge der Swiss, KLM, British Airways, Delta und SAS erteilte, hörte Max seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung mit finsterer Miene zu. Bevor er auflegte, sagte er: «Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich kann nichts versprechen.»
Patrick sah seinen Kollegen fragend an.
«Das war Nils Asperger, der Verkehrsleiter der APP. Er möchte, dass ich ihm einer meiner Männer hinüberschicke.»
«Und was wirst du tun?»
«Wie bitte soll das gehen?»
Patrick sah Max nachdenklich an. Heute Nacht verlangte der Schneefall von allen das Äusserste an Leistungsbereitschaft und Konzentration. Deshalb konnte er seinen Dienst jetzt unmöglich beenden, auch wenn seine Arbeitszeit eigentlich längst vorüber war und Alicia zu Hause auf ihn wartete. Normalerweise bedienten weder die Betriebsleiter noch die anderen Aufsichtspersonen ein Radar im Tower. Aber jetzt galt es, alle Ressourcen anzuzapfen, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen, und so sagte er zu Quadri: «Gib mir zehn Minuten, um meine Frau anzurufen, dann kannst du deinen Mann zur APP schicken und ich setze mich für den Rest der Schicht an seinen Platz.»
Max zog theatralisch die Augenbrauen in die Höhe, deutete auf den Radarschirm, auf dessen dunkelgrüner Oberfläche sich leuchtend weisse Lichtpunkte, sogenannte Ziele, bewegten, und fragte: «Wann hast du zum letzten Mal mit so etwas gearbeitet?»
«Ist schon eine Weile her.»
«Aber du kennst das neue Flugdatenmanagementsystem?»
«Ich war massgeblich an seiner Einführung beteiligt», sagte Patrick leicht gekränkt.
Tatsächlich war er eine der treibenden Kräfte für die Anschaffung des elektronischen Systems gewesen, wodurch das Zeitalter der Flugüberwachung mittels auf Papierstreifen gedruckten Informationen beendet worden war. Mit Stripless, wie das neue System hiess, wurden die Radardaten automatisch in ein Flugdatenmanagementsystem überführt, wodurch die Flugzeuge genau identifiziert werden konnten. Die Befürworter lobten die Einfachheit des Systems und die Möglichkeit, die Maschinen mittels Mausklick von einem Kontrollbereich in den anderen übergeben zu können. Kritiker dagegen wiesen darauf hin, dass die Lotsen mehr und mehr zu Systemmanagern wurden.
Max hob abwehrend die Hände und sagte in einer Mischung aus Spass und Ernsthaftigkeit: «Okay, ich sehe schon, dass ich dich nicht davon abhalten kann, dir die Nacht vor einem Radarschirm, um die Ohren zu schlagen. Und ich kann Hilfe ja wirklich gebrauchen. Aber ich werde dich im Auge behalten.»
Auf Patricks Schreibtisch stand ein Bild seiner Frau. Alicia sah ihn mit jenem Lächeln an, das ihn immer schon angezogen hatte, und für einen Moment glaubte er, ihren Duft zu riechen. Normalerweise freute er sich darauf, ihre Stimme zu hören. Aber auf das Gespräch, das er nun führen musste, hätte er gerne verzichtet. Sein Magen zog sich zusammen, als er die Nummer wählte und die Verbindung zustande kam.
«Leonard.»
«Ich bins», sagte Patrick und merkte, dass er den Atem angehalten hatte.
«Von wo rufst du an?»
«Vom Flughafen. Ich wurde aufgehalten.»
«Und nun wirst du mir sagen, dass du es nicht schaffst.»
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und er spürte förmlich durch die Leitung, wie sich die Spannung aufbaute.
«Tut mir leid, Liebling, aber wir sind in Schwierigkeiten.»
«Ist das nicht immer so.»
Patrick entging die Ironie in Alicias Stimme nicht. Er unterdrückte die aufsteigende Ungeduld und entgegnete: «Der Schnee macht uns zu schaffen. Niemand hat so früh mit den Niederschlägen gerechnet und dass sie so heftig sein würden. Dadurch ist es zu massiven Verspätungen gekommen und der Flughafen ist voll von wartenden Passagieren. Zu allem Überfluss haben wir auch noch krankheitsbedingte Absenzen, sodass einige Lotsen in Doppelschichten eingeteilt werden mussten.»
Alicia schien etwas erwidern zu wollen, unterliess es dann aber, und während Patrick darauf wartete, dass sie ihm sagte, was sie dachte oder fühlte, hörte er jenem Schweigen zu, dessen unterschiedliche Arten er in den vergangenen Monaten zu interpretieren gelernt hatte.
Patrick brach das Schweigen als Erster. «Ich kann in dieser Situation nicht einfach nach Hause gehen. Ich muss wenigstens so lange hierbleiben, bis sich die Lage wieder einigermassen normalisiert hat.»
«Warum musst du dich immer persönlich um alles kümmern? Du hast doch Leute, die für dich arbeiten, oder etwa nicht?», fragte Alicia ärgerlich.
Patrick gab sich Mühe, seine Stimme nicht gereizt klingen zu lassen, als er entgegnete: «Natürlich habe ich die, aber ich werde dafür bezahlt, dass ich hier im Tower die Verantwortung übernehme. Du würdest doch auch nicht aus dem OP gehen, solange du nicht sicher sein kannst, dass es deinem Patienten gut geht.»
Alicia antwortete nicht sofort. Schliesslich aber sagte sie: «Du hast recht. Es ist nur so, dass ich mich darauf gefreut habe, mit dir zu dieser Gala zu gehen, denn wir haben schon lange nichts mehr gemeinsam unternommen. Aber…»
Alicia beendete den Satz nicht und Patrick fragte: «Aber was?»
Er spürte ihr Zögern.
«Manchmal habe ich das Gefühl, du bist lieber auf dem Flughafen als zu Hause und suchst nach einem Grund, um nicht heimkommen zu müssen.»
«Das ist doch Unsinn», erwiderte Patrick aufgebracht und gestand sich im selben Moment ein, dass Alicia vielleicht gar nicht so falsch lag.
Die ersten Tage und Wochen nach Emilys Tod, als Alicia in einem Strudel aus Verzweiflung und Schuldgefühlen zu versinken drohte, war Patrick nicht von ihrer Seite gewichen. Er hatte versucht, sie zu trösten, und sich gewünscht, einer jener Männer zu sein, die einfach die Arme um eine Frau legen konnten, um etwas von ihrer Verletzung aufzusaugen. Aber er war nicht so, er konnte ihr nicht helfen, auch weil er sich selbst nicht helfen konnte. Stattdessen musste er mitansehen, wie der Schmerz, statt langsam nachzulassen, ihre Ankerleinen zu kappen schien, und sie sich weiter und weiter in ihre eigene, stille Welt zurückzog. Um nicht länger miterleben zu müssen, wie Alicia um ihre tote Tochter weinte, hatte er sich in seiner Hilflosigkeit in die Arbeit gestürzt. Und mit Alicias Entschluss, nach Monaten tiefster Trauer wieder als Ärztin zu arbeiten, wurden ihre gemeinsamen Momente der Nähe seltener. Sie sprachen nicht über die Vergangenheit und sie sprachen auch nicht über die Zukunft, nur das Heute zählte. Beide versuchten sie, sich durch die Arbeit so zu erschöpfen, dass sie, wenn sie nach Hause kamen, nicht mehr die Kraft hatten, sich den quälenden Gedanken hinzugeben. Doch ihre beidseitige Unfähigkeit, mit der Katastrophe, die so unvermittelt in ihr Leben hereingebrochen war, umzugehen, miteinander zu reden, die Trauer miteinander zu teilen, lastete je länger, desto schwerer auf ihrer Beziehung, liess eine Kluft entstehen, deren kühler Hauch immer deutlicher zu spüren war.
Patrick wusste, dass selbst stabile Ehen am Tod eines Kindes zerbrechen konnten, und in ihm wuchs die Sorge, dass, wenn sie nichts dagegen unternahmen, sie sich immer weiter voneinander entfernen würden, bis nach einem langen, schmerzhaften Prozess nichts mehr übrig bleiben würde, was noch eine funktionierende Beziehung genannt werden konnte.
Er wählte seine Worte vorsichtig, als er sagte: «Liebling, ich verstehe, dass du enttäuscht bist, und ich verspreche dir, ich mache es wieder gut. Jetzt sollten wir einfach das Beste aus der Situation machen. Ich schlage vor, du gehst erst einmal allein zur Feier und ich komme dann nach, sobald sich die Lage ein wenig normalisiert hat.»
«Du weisst, dass dies nicht geschehen wird. Also versprich nichts, was du nicht halten kannst.»
Die Schärfe in Alicias Stimme, die durch die Leitung strömte, überraschte Patrick. Zugleich spürte er, wie ihn ihr unterdrückter Zorn physisch erregte. Schon zu Beginn ihrer Beziehung, als sie sich noch kaum kannten, hatte Patrick die Anziehungskraft gespürt, die von Alicia ausging, wenn sie wütend war. Je hitziger sie wurde, desto anziehender und begehrenswerter war sie ihm erschienen, und meist reagierte er darauf, indem er seinen Blick an ihr heraufwandern liess, bei den Beinen beginnend, denn Alicia besass aussergewöhnlich hübsche Beine, dann über alles andere an ihr, das ebenso wohlproportioniert und anziehend war. Wenn seine Augen diese wohlgefällige Bestandsaufnahme machten, war häufig ein gegenseitiger physischer Kontakt geschlossen worden, der sie beide veranlasst hatte, einander zu berühren. Das Ergebnis war voraussehbar. Unweigerlich wurde Alicias Ärger unter einer Woge von Sinnlichkeit, die sie beide überschwemmte, erstickt. Und in solchen Momenten konnte Alicia von einer erregenden Wildheit sein, mit dem Wunsch nach purem, animalischem Sex. Am Ende waren sie erschöpft und ausgelaugt, sodass keiner von beiden den Wunsch oder die Kraft besass, den Streit wieder aufzunehmen.
Ihre Beziehung war immer schon sinnlich gewesen und sie hatten die sich bietenden Gelegenheiten beim Schopf gepackt, um sich zu lieben. Auch als Alicia schwanger war, hatten sie noch oft miteinander geschlafen, wenn auch sanfter und vorsichtiger. Sie schliefen auch jetzt noch miteinander, aber in den letzten Monaten waren die körperlichen Intimitäten seltener geworden und der Sex hatte die Leichtigkeit, das Spielerische verloren. Und während Patrick Alicia zu überzeugen versuchte, ohne ihn zum Empfang zu gehen, fragte er sich im Stillen, was wohl geschehen würde, wenn er jetzt die Hand ausstrecken und sie berühren könnte. Würde der Zauber immer noch wirken? – Er wusste es nicht und das machte ihn irgendwie traurig.
Viele Paare verloren einander im Verlaufe ihrer gemeinsamen Reise, weil sie unterschiedliche Ziele und Wünsche entwickelten oder auf die Dauer nicht bereit waren, mit jemandem ihr Leben zu teilen. Alicia und er liefen in Gefahr, einander durch die Sprachlosigkeit zu verlieren, die sie befallen hatte, als das Schicksal sie aus ihrem Glück gerissen hatte. Patrick spürte die Gefahr, wie das Ticken eines winzigen, ungebetenen Metronom. Aber auch wenn das bohrende Gefühl des Schmerzes irgendwann in ein gedämpftes Gefühl der Traurigkeit, eine Art permanenter Melancholie übergegangen war, bereitete ihm der Gedanke, über Emilys Tod reden zu müssen, beinahe körperliche Schmerzen. Und da es für Trauer kein Zeitlimit zu geben schien, brodelte in ihm immer noch diese unbestimmte, ziellose Wut, und der Verlust seiner Tochter erschien ihm noch genauso grausam, wie am ersten Tag. Zwar bemühte er sich, der Trauer möglichst wenig Raum zu gewähren, was ihm zeitweise einigermassen gelang, bis er sich plötzlich wieder daran erinnerte, wie sich Emilys kleinen, weichen Fingerchen auf seiner Haut, in seinem Haar angefühlt hatten oder wie sie roch, wenn er sie in seinen Armen hielt. Er hatte auch den Moment immer noch deutlich vor den Augen, als ihm die Hebamme dieses winzige Wesen in die Arme gelegt hatte, mit zitternden Fäusten und bläulichen Lippen, über die leises Wimmern kam.