Die Schwarze Königin II - Markus Heitz - E-Book

Die Schwarze Königin II E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

DIE SCHWARZE KÖNIGIN II Im zweiten Teil der SCHWARZEN KÖNIGIN von Bestsellerautor Markus Heitz bleibt es blutig, actionreich und dramatisch! Wenn es neben Zauberei und Alchemie vor allem Freundschaft ist, die retten kann. In der Gegenwart: Während Len und Klara Waffenstillstand mit Vampiranführer Marek geschlossen haben, spricht es sich in der Anderswelt herum, dass die junge Frau die Gene der schwarzen Königin in sich trägt. Auch das gefürchtete, mächtige Buch ihrer Ahnin voller Alchemie und Zauberkunst kehrte zurück, das buchstäblich Fluch und Segen birgt. Aber in Wahrheit forschen Len und Klara heimlich doch nach einem alchemistischen Mittel, wie die Vampire für immer besiegt werden können - unter den misstrauischen Augen von Tereza, die ihnen Marek als Aufpasserin mitgab. Um sich von einer Verwünschung zu befreien, trachtet derweil Nekromant Tizian nach den legendären Aufzeichnungen und macht sich auf die Jagd. Bald ist er nicht mehr der Einzige, der hinter Len und Klara her ist. Das Buch zieht Vieles an. Als Tereza auch noch einen Verstoß gegen den Waffenstillstand  erkennt, wird es eng für Klara und Len. Und lebensgefährlich. Im 15. Jahrhundert: In der Vergangenheit führen Vlad Dracul und seine Kinder zusammen mit Barbara von Cilli, der schwarzen Königin, ihren Kampf gegen die allgegenwärtigen Strigoi in der Walachei fort. Nach den anfänglichen Siegen wird ihnen zwanzig Jahre später klar, dass etwas Verborgenes vor sich geht: Ein alter Feind hat überlebt, der Rache nehmen will und einen Plan verfolgt. Dazu bedient er sich eines rätselhaften, uralten Wesens tief unter der Erde - ein Gefallener? Kaum dass Vlads Söhne Radu und Draculea als Geiseln ins osmanische Reich gegeben werden, müssen die Jungs erkennen, dass es auch dort keinen Schutz vor Monstern gibt. Das sät Zwietracht zwischen den Brüdern, die auch Jahre danach anhält. Für Barbara macht es den Kampf nicht einfacher. Viele Fronten, viele Bestien. Dann wird Vlad ermordet, und der schwarzen Königin gehen die Verbündeten aus. Während der zurückgekehrte Draculea sich bald als "Pfähler" einen grausamen Namen für die Ewigkeit macht… Im zweiten Teil von DIE SCHWARZE KÖNIGIN werden in der Gegenwart die Abenteuer von Len und Klara fortgeführt. Im historischen Teil wird ein großer Bogen bis zu Vlad III Tepes geschlagen, der Bram Stoker als Vorbild für "Dracula" diente. Wie immer mischt sich Wahres mit Erfundenem. Alchemie, Zauberei, Schlachten und Intrigen gehören ebenso dazu wie große Gefühle und Mystik.

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Seitenzahl: 787

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Markus Heitz

Die Schwarze Königin II

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Im 15. Jahrhundert:

Vlad Dracul und seine Kinder  führen zusammen mit Barbara von Cilli ihren Kampf gegen allgegenwärtige Strigoi in der Walachei fort. Aber nach den anfänglichen Siegen der ersten Jahre wird ihnen klar, dass ein alter Feind überlebt hat, der Rache nehmen will.

Kaum dass Vlads Söhne Radu und Draculea als Geiseln ins osmanische Reich gegeben werden, müssen die Jungs erkennen, dass es auch dort keinen Schutz vor Monstern gibt. Das sät Zwietracht zwischen den Brüdern, die auch Jahre danach anhält.

Dann wird Vlad ermordet, und der schwarzen Königin gehen die Verbündeten aus. Während der zurückgekehrte Draculea sich bald als „Pfähler“ einen grausamen Namen für die Ewigkeit macht…

In der Gegenwart:

Während Len und Klara Waffenstillstand mit Vampiranführer Marek geschlossen haben, spricht es sich in der Anderswelt herum, dass die junge Frau die Gene der schwarzen Königin in sich trägt. Auch das gefürchtete, mächtige Buch ihrer Ahnin voller Alchemie und Zauberkunst kehrte zurück, das buchstäblich Fluch und Segen birgt - und Len und Klara schon bald in Lebensgefahr bringt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

DRAMATIS PERSONAE

GLOSSAR

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

CAPITULUM I

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

CAPITULUM II

KAPITEL 6

KAPITEL 7

CAPITULUM III

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

CAPITULUM IV

KAPITEL 11

CAPITULUM V

KAPITEL 12

CAPITULUM VI

EPILOG

Nachwort

DRAMATIS PERSONAE

GEGENWART
Die Menschen

Lenny »Len« Nikolaus Lenau: Vârcolac, Klaras Leibwächter

Klara Groller: Nachfahrin der Schwarzen Königin

Herta Mokka: Klaras Großmutter

Tizian Sax: Zauberer für Kindergeburtstage und mehr

Cyprienne Graf-Tóth: Privatärztin

Donna Aurelia Galíndez: Cypriennes Patientin

Juan: Aurelia Galíndez’ Hausdiener

Jakub: Schwarzmagier

Tiarnan: Klaras Kommilitone

Dr. Isabella Wyss: Höhlenforscherin

 

Geneve Cornelius: Heilkundige in Leipzig

Eanraig Dagda: Bestatter

Jolana Černá †: Vârcolac, Lens Ausbilderin

Eliska †: Dämonendienerin

Anton Kratki †: Magier

Die Vampire

Tereza Minunat: Strigoi Vii (Murony)

Marek Dvorak: Pán, Strigoi Nobilis

Viorica: Viesczy, Dvoraks Assistentin

Arko, Dimitriu, Marinus, Stepan: Strigoi, Dvoraks Leibwächter

Eugen, Vasiliy: Mareks Handlanger

Maja: Strigoi

Hristo, Stojan, Ilana: Strigoi Nobilis

Deirdre, Venia: Sidhe

Makarenko: Upir aus Weliki Nowgorod

Zita †: Viesczy

 

Samca: Spukgestalt

VERGANGENHEIT
Die Menschen

Barbara von Cilli: Königin von Ungarn, Böhmen, römisch-deutsche Kaiserin

Sigismund von Luxemburg: König von Ungarn und Böhmen, römisch-deutscher Kaiser, Barbaras Gemahl

Maria von Ungarn †: Königin von Ungarn, Sigismunds erste Frau

Vlad II. Dracul: Woiwode der Walachei

Cneajna: Vlad Draculs zweite Gemahlin

Mircea: Vlad Draculs ältester Sohn

Vlad III. Draculea: Vlad Draculs und Cneajnas älterer Sohn

Radu: Vlad Draculs und Cneajnas jüngerer Sohn

Sorin: Vlad Draculs Vertrauter

Traian, Horia, Sever, Razvan, Anyana, Luminița: Sorins Kinder

Grigore, Constantin: Veteranen von Vlads Draculs Leibwache

 

Ahmet: Subaşı am Osttor von Edirne

Selim: Beğ und Erzieher von Vlad Draculea und Radu in Edirne

Johann/Janós »Yanko« Hunyadi: Adliger

Vasile: Bojar

Vladislav: Adliger und Rivale von Vlad Dracul

 

Ilona: Vlad Draculeas zweite Gemahlin

Mihnea: Vlad Draculeas Sohn

István Báthory: Adliger

Tihomir: Kerkerwache

Crin: Götzenanhänger

 

Murad II.: Sultan

Mehmed II.: osmanischer Prinz, späterer Sultan

Laiotă Basarab: Verwandter von Vlad Dracul

Abraham: jüdischer Gelehrter aus Lyptzk (Leipzig)

Abramelim: Gelehrter

Die Strigoi

Lucian: Strigoifürst, Murony †

Draga: Lucians Geliebte, Strigoi Nobilis

Cosmin: Strigoifürst, Viesczy †

Ema†, Estera† und Eta: Cosmins Gemahlinnen

Livia: kleine Nobilis

Raluca: ihre Mutter

Decebal: Strigoi Nobilis

 

Malphas: dämonischer Rabe

»Es gibt ein Buch, das nennt man den Charakter, und wer denselben hat, der kann mehr denn andere Menschen.

So erzählte ein Bauer in einem Dorfe bei Magdeburg, dass er von seinem Vater oftmals und stets mit denselben Worten Folgendes gehört habe.

Als er noch als junger Mann in einem Städtchen, nicht weit von Magdeburg, im Dienst gestanden habe, hätte er mit einem jungen Manne in seinem Alter Umgang gehabt. Er habe bald gemerkt, dass derselbe mehr könne als jeder andere.

So wären einmal ihrer mehrerer von den jungen Leuten zusammen gewesen, an einem Sonntagabend.

Da sei das Gespräch darauf gekommen, ob man auch die Toten herbeirufen könne. Sein Bekannter habe gesagt, das sei möglich und er wolle es ihnen zeigen.

Mittlerweile sei es spät geworden, aber der Betreffende habe sie immer noch hingehalten, bis es elf geschlagen hätte.

Dann habe er einen Jeden von ihnen gefragt, welchen Toten er sehen wolle.

Da hätte denn der eine diesen, der andere jenen von seinen Bekannten genannt, die gestorben waren.

Darauf hätten sich alle im Kreise um seinen Bekannten herumsetzen müssen. Dann habe er ein Buch genommen und darin gelesen.

Das Buch aber sei ein Charakter gewesen.

Er habe gar nicht lange in dem Buche gelesen, da habe sich die Türe aufgetan und dann sei ein Toter nach dem andern hereingetreten, deutlich erkennbar, und zwar in der Reihenfolge, wie ihre Namen früher angegeben seien.

Die Toten seien um sie im Kreise herumgegangen und zwar so dicht an ihnen vorbei, dass dieselben sie fast gestreift hätten. Da hätten ihnen vor Angst die Haare zu Berge gestanden.

Nun aber seien alle Toten im Zimmer gewesen, die sie zu sehen gewünscht hätten.

Als kein Toter mehr gekommen wäre, habe der, welcher sie gerufen hatte, den Charakter rückwärts gelesen.

Darauf hätten sich die Toten langsam wieder aus dem Zimmer entfernt.

Sie hätten noch ein Weilchen wie erstarrt auf ihren Plätzen stillgesessen, dann aber gemacht, dass sie zur Tür hinausgekommen wären.

 

Fortan hätten sie nicht mehr begehrt, von solchen Dingen etwas zu wissen.«

 

Richter: Die Totenbeschwörung,

aus: Sagen aus der Provinz Sachsen V,

in: Zeitschrift für Volkskunde, Leipzig 1889

PROLOG

Tschechische Republik, Hauptstadt Prag, Stadtteil Vínohrady, Gegenwart, Winter

Tizian stand vor der beschnitzten, alten Eingangstür im vierten Stock. Seine Ungeduld stieg. Mehrmals hatte er die Klingel betätigt und das altertümlich-metallische Schellen aus Wohnung 19 vernommen.

Aber es öffnete ihm niemand.

Und das, obwohl der 45-Jährige deutlich hören konnte, wie sich eine Person jenseits der Tür durch die Räume bewegte. So leise es ging. Doch die knarrenden Dielen darin verrieten, wohin die Füße traten.

»Spielchen«, murmelte Tizian und machte einen halben, leicht unbeholfenen Schritt zurück, betrachtete den geschlossenen Eingang.

In seiner Kleidung im Stil der 1970er fiel er in einer Großstadt wie Prag zwar wenig auf, aufgrund seiner gesamten Erscheinung mit halblangen braunen Koteletten, Kinnbärtchen sowie diversen Ketten und Ringen glaubten jedoch manche, er sei ein Schauspieler auf dem Weg zu einem Filmset. In der Stadt wurde ständig gedreht, und zwei Selfies mit Passanten, die ihn für einen Star hielten, hatte er schon ablehnen müssen.

Die Tür und das Haus aus der Gründerzeit im beschaulich-bürgerlichen Wohnviertel Prags teilten dasselbe Alter, das weiß lackierte Holz zierten hier und da Bestoßungen. Narben von Aus- und Einzügen zig neuer Mieterinnen und Mieter. Die Tür hatte alle überdauert.

Aufgrund der mannigfachen charmanten Abnutzung und der Patina wären Unbedarften die winzigen Symbole in den Ecken, die mit einem stumpfen Eisen präzise eingepunzt worden waren, niemals aufgefallen.

Tizian schon.

Er schob den breitkrempigen, weißen Hut in den Nacken, der Rand drückte die nackenlangen braunen Haare zusammen. Er zückte sein Smartphone und wählte die Nummer des Gesuchten.

Nach mehrmaligem Läuten nahm die standardisierte Mailbox ab.

»Das ist mein letzter Versuch«, sagte er deutlich ungehalten in akzentbehaftetem Tschechisch. »Wir hatten eine Verabredung. Um unsere Geschäfte zu regeln. Aber anscheinend ziehst du es vor, dich feige in deiner Bude zu verkriechen, anstatt die Dinge zwischen uns zu klären. Ich war bestens vorbereitet. Und bin es immer noch.« Tizian hämmerte zweimal gegen die Tür, die Ketten um seinen Hals klirrten leise. »Hörst du das? Mach auf, und wir bringen es zu Ende! Ich bin den langen Weg aus Brügge gekommen. Nur dafür. Wenn du es nicht …«

Die Aufzeichnungszeit war abgelaufen, die Mailbox schaltete sich nach einem Signalton aus.

Fluchend rieb Tizian sich über den oberen, einsamen Teil des rechten Oberschenkels. Das Fleisch um den Knochen schmerzte und widersetzte sich der gierigen, unbändigen Nekrose, so gut es ging. Den Rest des Beines hatte er bereits verloren und durch eine Prothese ersetzen müssen. Ein Arbeitsunfall, wie er es nannte. Es wurde Zeit, wieder etwas dagegen zu unternehmen.

Erst diese Angelegenheit. Tizian lauschte mit leicht gesenktem Kopf auf die Schritte.

Dadurch erfassten seine hellbraunen Augen eine feine Schicht aus gelblich glänzendem Staub vor der Schwelle, als wäre im Innern der Wohnung bemalter Glitterputz abgeschlagen und durch einen Luftzug unter dem Spalt hinausgeweht worden.

Die Schritte entfernten sich durch den Flur.

Gleich darauf rumpelte es laut. Etwas Schweres war irgendwo in der Wohnung umgekippt und auf dem Boden gelandet; leise klirrte berstendes Geschirr.

Tizian sah erneut auf den feinen Schmutz vor der Schwelle, dann hinauf zur oberen Türleiste.

Reste einer sandig krümeligen Substanz hafteten am Spalt. Den leichten Verfärbungen auf dem Holz nach hatte sie sich bis vor Kurzem an der Einfassung befunden. Wie zur Abdichtung mit zu trockenem Kitt.

Der flirrende Staub vor dem Eingang verriet, dass die Barriere, zum Schutz vor ungebetenem Besuch eingerichtet, ihre Macht verloren hatte. Außerdem waren zwei weitere eingetriebene Symbole rund ums Schloss zerkratzt und zerstört worden.

Daraus folgerte Tizian, dass die Schritte im Innern nicht zum Gesuchten gehörten. Sondern einer kundigen Person, die sich Zutritt verschafft hatte.

Damit ergaben sich zwei Möglichkeiten.

Gehen und die Sache auf sich beruhen lassen, ohne zu wissen, wer sich in der Wohnung befand und was mit dem Besitzer geschehen war.

Auf diese Weise blieben viele Unsicherheiten zurück.

Oder eindringen und nachschauen, was sich ereignet hatte. Um sicherzugehen, dass ein Duell nicht mehr nötig wäre.

Es könnte dabei jedoch in irgendeiner Form eskalieren.

Tizian gehörte nicht zu denen, die direkte physische Konfrontation suchten. Dem war er körperlich nicht gewachsen, schon gar nicht mit seinem Beinhandicap. Also musste gut durchdacht sein, was er tat, wenn er auf den Besucher im Inneren der Wohnung 19 traf. Oder wie er sich im Falle eines Angriffs schnell zurückzog.

Seine Rechte legte sich auf die geschwungene Türklinke, die Ringe klackten dezent. Leise drückte er den Griff nach unten und öffnete den Eingang.

Eine Kette spannte sich schleifend auf der anderen Seite.

Verdomme. Mit ein wenig Geschick und dem Kammstiel bekam Tizian sie ausgehakt. Beim zweiten Versuch ging die Tür auf.

Parallel rappelte und schepperte es erneut aus einem der Zimmer der Altbauwohnung, die mit hohen Decken und Stuck daherkam. Es roch dezent nach Weihrauch und etwas unbestimmbar Verbranntem.

Eine einsame Untertasse rollte in den vollgestellten Flur, als flüchtete sie vor der Zerstörung im benachbarten Raum, beschrieb konzentrische, enger werdende Kreise auf dem Parkett und klapperte schließlich auf die Seite.

Tizian ging langsam vorwärts. Mit der linken Fußspitze tastete er die Dielen ab, bevor er den Fuß aufsetzte, damit sie nicht knarrten und ihn verrieten.

Das Werk der Vernichtung wurde den Geräuschen nach fortgesetzt. Schubladen und Türen rumpelten. Lose Blätter raschelten, segelten in den Flur wie übergroßes rechteckiges, beschriebenes Laub, mal aus Büchern, mal aus Manuskripten.

Für Tizian war klar, dass es sich nicht um einen beliebigen Einbrecher handelte. Dieser Mensch suchte etwas Bestimmtes.

Über die Hälfte des Flures hatte er passiert, vorbei an offenen Türen, die in rigoros durchwühlte Räume führten.

Und nicht nur das. Auf dem Teppich des Schlafzimmers lag eine dunkelhaarige Frau, um die zwanzig Jahre alt, in Jogginghose und Hoodie, die Kehle aufgeschlitzt und umgeben vom eigenen Blut. Es wirkte, als sei sie darin ertrunken.

Gleich daneben ruhte ein Dobermann, dem erkennbar das Genick gebrochen worden war. Die Zunge hing aus dem offenen Maul bis ins Blut der Leblosen, die glasblinden Augen starrten ins Nichts.

Tizian fixierte die Leichen und lauschte, spürte der Energie nach, die Lebendige in sich trugen. Sie war noch nicht lange aus den Leibern von Mensch und Tier gewichen, doch unrettbar und für immer verloren.

»Hey! Du! Wer bist du?«, wurde er ruppig auf Tschechisch angesprochen.

Tizian hatte nicht bemerkt, dass der ungebetene Besucher in den Flur getreten war.

Er drehte den hutbedeckten Kopf und sah in das wütende Gesicht eines Mittdreißigers, der einen hüfthohen und prallvollen Militärrucksack neben sich abstellte. Diverse Buchrücken und einige gravierte Schalen ragten oben heraus. Die Kleidung war unauffällig, das blonde Haar in einem fingerlangen Zopf gebunden.

»Ich suche Anton Kratki«, antwortete Tizian ehrlich und lächelte den Unbekannten an. Dabei tippte er sich grüßend an die Krempe. »Du suchst nur sein Wissen, habe ich recht?«

Der jüngere Mann grinste fies. »Dein Schmuck hat mir verraten, dass du ein Wissender bist. Sonst würdest du jetzt neben der Schlampe und dem Köter liegen. Aus Respekt habe ich dich nicht angegriffen.«

»Vielen Dank.« Tizian deutete auf die Toten im Schlafzimmer. »Wer waren sie? Jemand, dessen Anblick Kratki wütend macht, wenn er sie findet?«

»Irgendeine Nachbarin. Der Rauchmelder sprang an, und da kam sie nachschauen.« Er zuckte mit den Achseln. »Hatte die Tür nicht abgeschlossen.« Eine Hand legte er beschützend-deutend auf die Oberseite seines gefüllten Rucksacks. »Du willst mir aber nichts hiervon wegnehmen, hoffe ich?«

Tizian schüttelte den Kopf. »Kratki und ich haben noch eine Rechnung offen.«

»Ah, ein magisches Duell. Und er kam nicht?«

»Nein. Er kam nicht.«

»Du bist Franzose? Dein Dialekt ist ziemlich stark.«

»Belgier.« Tizian, der als Brüsseler Flämisch und Französisch je nach Laune und Tag sprach, deutete auf die Beute des Fremden. »Er schuldet dir auch was?«

»Nein. Das ist meins. Hat er sich ausgeborgt. Und weil er es mir nicht zurückbrachte« – der Blonde lehnte den großen Rucksack gegen die Wand, damit er nicht umfiel –, »musste ich es mir holen. Ist aber nicht alles.« Er ging langsam los, den Flur entlang und auf Tizian zu. »Das hier dauert noch. Ich schlage vor, du verschwindest und suchst Kratki. Er müsste jetzt in der Unibibliothek sein. Wie immer um diese Zeit.« Auffordernd deutete er auf die Tür und lächelte verabschiedend.

Tizian wusste, dass es gelogen war.

Jedes Wort.

Von den ausgeliehenen Büchern über die Utensilien im Rucksack über den Verbleib von Anton Kratki, der bestimmt nicht an einer Universität anzutreffen war, bis zum wahren Grund, warum der Mann die Wohnung des Hexenmeisters auf den Kopf stellte.

Das erweckte Tizians Neugier. »Wieso der Rauchmelder?«

»Was?«, fragte der Blonde verwundert, und die aufgesetzte Freundlichkeit schwand.

»Wieso wurde der Rauchmelder ausgelöst?« Er zeigte auf die Leichen der Frau und des Dobermanns im Schlafzimmer. »Der die Nachbarin angelockt hat?«

»Ich habe geraucht.« Nochmals deutete der Unbekannte auf den Ausgang. »Los! Sonst verpasst du ihn. Schnapp dir dein Duell!«

Tizians Augen verschmälerten sich. »Du hast eine Beschwörung durchgeführt. Der Geruch nach Weihrauch und verbrannter Kohle ist ziemlich eindeutig.«

»Verpiss dich jetzt. Ich hab zu tun.« Der Tscheche wurde ungehalten.

»Anton Kratki ist tot. Du hast versucht, seine Seele herbeizurufen, um ihn zu befragen«, folgerte er und nickte zum Beutesack. »Du suchst etwas Bestimmtes, das ihm gehört. Hast es aber noch nicht gefunden.«

Der Mann schürzte die Lippen. »Es geht dich nichts an, belgische Waffel.«

Tizian hob abwehrend und zum Zeichen seiner Friedfertigkeit die offenen Hände. »Nur eine Sache: Wie ist Kratki gestorben?«

»Raus!«

»Nicht so unfreundlich. Ich hätte gerne Gewissheit. Er schuldet mir ein Duell. Da will ich sicher sein, dass –«

»Raus. Jetzt!« Der Mann packte Tizian am Arm und schob ihn zur Tür. »Und bleib draußen!«

Tizian musste hinken und hopsen, um die Geschwindigkeit zu halten und nicht zu stürzen. Sein Halsschmuck klirrte aufbegehrend. »Woher weißt du, dass er …?«

Der wuchtige Ellbogenschlag traf ihn ansatzlos gegen seine rechte Wange.

Hart prallte Tizian an die Flurwand. Sternchen schillerten vor seinen Augen, und er stand kurz vor der Bewusstlosigkeit. Langsam rutschte er an der Blumentapete abwärts und kam auf den Dielen zum Sitzen. Fast hätte er den Hut verloren.

Blutgeschmack breitete sich in seinem Mund aus, die rechte Kopfseite schmerzte und pulsierte. Das Ohr pochte, heftiger Schwindel stieg in ihm auf. Mit dem Schwanken des Untergrunds und seinem Prothesenbein kam er nicht schnell genug in die Höhe, um sich aus eigener Kraft zur Wehr zu setzen.

»Du wirst mir meine Rettung nicht wegnehmen!« Der Mann beugte sich über ihn und hielt nun ein schlankes Springmesser in der Rechten. »Wärst mal besser gegangen. Jetzt gehst du für immer!«

Hastiges Pfotenscharren erklang plötzlich aus dem Schlafzimmer, Nägel kratzten über das Parkett – dann jagte der Dobermann mit schiefem Hals den Gang entlang und warf sich mit geöffneter Schnauze gegen den überrumpelten Angreifer.

Die Zähne schlossen sich um den Unterarm mit dem Messer, knurrend rüttelte der kräftige Hund daran. Deutlich hörbar rieben dabei die losen Stücke der Wirbelsäule übereinander.

Aufschreiend stürzte der Mann und wurde vom Dobermann über den Holzboden gezerrt. »Scheiße, was…?«, stieß er furchtsam aus.

Da trat die Zwanzigjährige aus dem Schlafzimmer, die Kehle aufgeschlitzt, die Kleidung rot von ihrem Blut und mit mehreren Stichwunden in der Brust. Sie packte den entsetzten Mann am Rücken und hob ihn mühelos mit einer Hand an. Der Hund gab sein Opfer augenblicklich frei und fletschte die blutigen Zähne.

Tizian verfolgte durch den leichten Schleier der schwindenden Benommenheit, wie die junge Frau den brüllenden Gegner bis unter die dreieinhalb Meter hohe Decke warf und das angewinkelte Bein in dem Moment in die Höhe riss, als der Mann zurückstürzte.

Ihr Knie traf zielgenau in dessen Rücken. Knackend brach die Wirbelsäule.

Wie eine schlaffe, verkrümmte Puppe krachte der Tscheche auf das Holz und regte sich nicht mehr. Gleichzeitig fiel der Dobermann zur Seite, und die Frau sackte zusammen, wo sie stand.

Tizian spuckte das Blut aus, das sich in seinem Mund gesammelt hatte, und schob sich umständlich an der Wand nach oben. Sein Blick blieb auf die drei Leichen gerichtet.

»Fangen wir noch mal an«, sprach er leise und rieb sich über den schmerzenden rechten Oberschenkel. Er roch die Süße des sich auflösenden Gewebes. Ein neuer Verband und Polsterung sollten dringend in die Prothese. »Wie heißt du?«

Der Angreifer öffnete abrupt die Augen. »Jakub. Aber … was ist passiert?«

»Du bist tot. Ich musste mich gegen dich verteidigen.«

»Du … du bist ein Nekromant?«

»Etwas in der Art, ja. Also, wie starb Anton Kratki?«

Jakub versuchte, sich aus dem Verhör zu winden, aber die finstere Magie ließ es nicht zu. »Ich kenne keine Details, aber er ging in der Slowakei drauf. In einer Burg nahe der Stadt Altsohl.«

Tizian wusste, dass ihn Jakub nicht belog. Jetzt nicht mehr. Tizian nutzte die Erinnerung, die im Gehirn seines Opfers gespeichert war. Jakub wollte viel fragen und wissen, was damit zusammenhing, dass seine Seele noch nicht gänzlich vergangen war. Wie gut sie loslassen konnten, war von Individuum zu Individuum verschieden. Manche bleiben ewig und wurden zu Geistern. »Wo ist seine Leiche?«

»Es gibt keine. Er ist verbrannt.«

Damit war er Kratki für immer los. Unerwartet, aber nicht unerfreulich. Sicherheitshalber würde er die fragliche Burg bei Altsohl ausfindig machen und der Sache auf den Grund gehen. Vielleicht fand er Kratkis Geist dort. »Wonach hast du in seiner Wohnung gesucht? Warum wolltest du seine Seele beschwören?«

»Er und ich dienten dem gleichen Herrn. Antons Zeit lief ab, und er beschäftigte sich mit einer Möglichkeit, den Vertrag zu lösen.«

»Ein Pakt mit dem Bösen! Dass ihr ungeduldigen Schwarzmagier es niemals lernt.« Tizian nickte langsam. »Deine Zeit auch, nehme ich an?«

»Ja. Ich hatte noch vier Jahre, bevor ich geholt worden wäre.« Jakub lachte knisternd. »Du scheiß Hippie hast mich direkt in die Hölle geschickt.«

»Das hast du alleine geschafft.« Tizian korrigierte ihn nicht. Die frühen 1970er waren Disco, Coolness und hatten die bessere Musik als die Sechziger. »Ich habe dich nicht gezwungen, mich zu attackieren.« Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Der Schwindel schwand, und auch die Sternchen vor seinen Lidern lösten sich endlich auf. »Woher wusstest du, dass Kratki eine Lösung gefunden hatte?«

»Ich weiß es eben nicht. Deswegen wollte ich an seine Aufzeichnungen. Eine Freundin schickte mir die Nachricht, dass Kratki was plant. Bevor sie draufgegangen ist.«

»Sehr viel Tod rund um diese Angelegenheit, findest du nicht?« Tizian sah auf die ausgeblutete Nachbarin und den Dobermann mit dem gebrochenen Genick. Es hätten ebenso gut täuschend echte Puppen in einer Geisterbahn sein können. »Wo finde ich ihre Leiche?«

»Eliska? Ist vor ihrer Beisetzung verbrannt worden. Asche kann dir nicht antworten. Außerdem wusste sie nichts Genaues. Sie hat Kratki wegen einer anderen Sache verfolgt und wurde von ihm ausgeschaltet. Schätze ich.«

»Wo?«

»Hier in Prag. Die Tote im Viertel Holešovice. Stand in den Nachrichten.«

Tizian hinkte unter Schmerzen im Stumpf auf den hüfthohen Rucksack zu und warf einen Blick hinein. »Transkripte, Faksimiles, ein Räuchergefäß, persönliche Aufzeichnungen.« Er zog einen Beutel mit USB-Sticks und zwei externen Festplatten heraus. »Sehr viel Information.«

»Die mir nichts mehr nützen wird, Arschloch!«

Tizian sah eine Biografie zwischen den gestohlenen Dingen, die dem Einband nach sehr oft zur Hand genommen worden war. Darin steckten Dutzende verschiedenfarbige Lesezeichen, die wichtige Stellen markierten.

»Barbara von Cilli. Alchemistin und Herrscherin. Von ihren großen Geheimnissen, irdischer und geistiger Natur«, las er den Titel halblaut. »Nie von ihr gehört.«

»Ich auch nicht. Aber Kratki hat viel von ihr gesammelt. Sehr, sehr viel.«

»Mehr weißt du nicht?«

»Nein.«

»Dann fahre in deine ganz eigene Hölle. Du wirst sicherlich erwartet. Ein bisschen zu früh, doch das störte das Böse noch nie.«

»Nein, warte! Wenn du mich in deine Dienste …«, hob Jakub an im verzweifelten Versuch, seine Qualen abzuwenden, die ihm ein dämonisches Wesen unendlich lange zufügen würde.

Aber Tizian löste das Band, und die Spannung wich aus dem Leichnam.

Je frischer die Toten waren, desto leichter fiel es dem Nekromanten, sie zu beleben und zum Sprechen zu bringen, sie zu steuern und Befehle zu geben. Oder eben die Seele gerade noch zu erwischen, bevor sie sich auflöste. Verschwand. Ging, wohin auch immer.

Manche seiner Zunft nutzten den exakt umgekehrten Weg und hatten sich auf alte Tote spezialisiert, doch Tizian bevorzugte es, mit Körpern zu agieren, die als solche noch erkennbar waren. Am besten unverwest. Dann blieben sie für ihn und seine Aktivitäten am nützlichsten.

»Alchemistin«, murmelte er und zog das Buch über die Königin aus dem Rucksack. »Interessant.« Er wog es in der Hand, fuhr mit den Fingern über die Marker wie über eine Klaviatur.

Eine vage Ahnung sagte Tizian, dass Anton Kratki damit eine Spur für ihn hinterlassen hatte, die sich als nützlich erweisen mochte. Mittel gegen einen magischen Höllenpakt suchte er zwar nicht, doch vielleicht verbargen sich zwischen den Aufzeichnungen ein paar Erkenntnisse für seine eigene Kunst.

Tizian klemmte sich die abgegriffene Biografie unter den Arm und humpelte zur Tür, verriegelte sie akribisch von innen und warf einen Blick über die Schulter in den Flur mit den drei Leichen.

Er würde länger in der Wohnung bleiben als gedacht.

KAPITEL 1

Republik Irland, Hauptstadt Dublin, Gegenwart, Winter

Len trottete den nächtlichen Merrion Square auf dem Bürgersteig entlang, vorbei an den bunttürigen Backsteinhäusern, die alle noch original erhalten waren. Sie wurden überwiegend als Bürositze von Firmen und Institutionen genutzt, doch es gab einige Ausnahmen, die als Wohnungen dienten.

Lässig, mit federnden Schritten stromerte er vorwärts, an den Eingängen vorbei.

Deutlich vernahm er die Wortfetzen, die durch eine offene Briefkastenklappe drangen, und roch das warme Abendessen, das in der Wohnung jenseits der Mauern zubereitet wurde.

In eines der malerischen Häuschen aus dem 18. Jahrhundert waren er und Klara zusammen mit ihrer Aufpasserin Tereza Minunat eingezogen. Sie hatten die gemütliche Bleibe für ein halbes Jahr gemietet, um sich in Ruhe in der Stadt umzuschauen, in der Klara ihr Studium beginnen wollte. Master in Real Estate Development, inklusive Stipendium.

Die Förderung brauchte die junge Frau eigentlich nicht mehr, weil sie einerseits von Marek eine jährliche Apanage erhielt, wie es die Abmachungen mit den Strigoi vorsah, und andererseits hatten sie und Len Zugriff auf die versteckten Vermögen der Schwarzen Königin. Doppeltes Einkommen, enorme Ressourcen.

Davon ahnte jedoch niemand etwas.

Len blieb am Straßenrand stehen, hielt die Nase in den nasskalten Winterwind und witterte.

Das fiel ihm in seiner aktuellen Gestalt als großer schwarzer Hund leichter. Seit er sich in einen Vârcolac verwandelt hatte, standen ihm unglaubliche Möglichkeiten offen.

Als Vierbeiner ähnelte er einer Mischung aus Wolfshund und Wolf. Er hatte sich angewöhnt, entgegenkommende Menschen ein wenig anzuwedeln. Nicht anbiedernd, aber mit dem deutlichen Signal, dass er ihnen nichts Übles wollte. Niemand sollte sich vor ihm fürchten und die Polizei rufen, wenn er im Park unterwegs war.

Seine schwarzfellige Tiergestalt gehörte fortan fest zu Len. Er wollte sich verwandeln, das Animalische ausleben und herumstreunen, die Welt buchstäblich mit anderen Sinnen wahrnehmen.

Und auch jagen.

Und töten.

Das tat er außerhalb von Dublin, wo er im Gelände frei agieren und Wild zur Strecke bringen konnte. Ein paar Wanderer und Einheimische mochten ihn vielleicht dabei gesehen oder gehört haben, doch das kümmerte Len nicht. Wahrscheinlich gab es bald die Legende des Hound of Dublin statt des Hound of the Baskervilles.

Len ging geschmeidig über die Straße und betrat den von historischen Lampen beleuchteten überschaubaren Park. Dort schlug er sich sofort ins schattige Unterholz und genoss den frischen Geruch von Erde, Bäumen und Natur. Trotz des anhaltenden Winters bemerkte er am Duft ringsherum, wie sich die Pflanzen bereit machten, in den Frühling zu starten.

Hound. Gefällt mir viel besser als Vârcolac. So schloss sich der Kreis. Die Medien hatten jüngst über den Hound von Prag berichtet, als Jolana in ihrer Tiergestalt umhergezogen war. Und mir das Leben gerettet hat.

Das war zu einer Zeit gewesen, als man ihn noch fälschlicherweise als den letzten Drăculești betrachtet hatte. Doch Vlad II. hatte nichts mit ihm zu tun. Ein Täuschungsmanöver der Gegenseite.

Len strich im Schutz der Sträucher und ausladenden Äste an den vielen Kunstwerken und Statuen vorbei, darunter gleich drei zu Ehren von Oscar Wilde, der in Merrion Square 1 gewohnt hatte.

Überhaupt schien die Gegend sehr beliebt bei Künstlerinnen und Künstlern gewesen zu sein. William Butler Yeats residierte in Nummer 82, die gefeierte irische Modedesignerin Sybil Connolly in 71. Und es hatte sich herausgestellt, dass in ihrem gemieteten Haus einst Sheridan Le Fanu weilte. Jener Le Fanu, der die berühmte Vampirgeschichte Carmilla schrieb, zu der ihn angeblich Barbara von Cillis Leben und Ruf inspiriert hatten.

Es scheint nichts an ihr vorbeizuführen. Len witterte und lauschte, ob sich jemand in der Nähe befand. Die Luft war buchstäblich sauber.

Daher ging er in die Halbform über.

Knackend verformten sich die Knochen, verhalfen Len zu einem aufrechten Gang und menschengroßer Gestalt, wie man sie aus Werwolffilmen kannte. Zufrieden grollte Len und betrachtete seine klauenartigen Hände mit den gefährlich kräftigen Nägeln, die tödliche Hiebe austeilten.

Die Übergänge dauerten ihm noch zu lange, er wollte auf unter vier Sekunden kommen. Als Klaras Leibwächter gab es keine Zeit zu verschenken, sollte bei einer Gefahrensituation ein Wandel nötig sein.An die Schmerzen bei der Transformation hatte er sich gewöhnt, er musste nicht mehr schreien und brüllen. Mehr als ein leises Grollen entwich ihm nicht.

Gleichzeitig kam Gier in ihm auf. Jagdlust. Der Drang nach warmem, frischem Fleisch in seinem Mund, schmackhaften Bissen und Blut von gerissenem Wild in seinem Schlund. Ein Nachteil dieser Form.

»Bist du wahnsinnig, Lenau?«, traf ihn eine bekannte Stimme in den Rücken. »Eine Verwandlung mitten im Park?«

Minunat. Len hatte sie aufgrund seiner eigenen hohen Konzentration auf den Vorgang nicht gewittert. Er wandte sich zu ihr um und nahm die rein menschliche Gestalt an, um sich besser mit ihr unterhalten zu können. Dass er nackt war, störte ihn nicht. Nicht mehr. Als Vârcolac besaß er ein größeres Selbstbewusstsein als in der Zeit davor. Sein Körper war nun sehniger, kräftiger, und die Behaarung dichter. Das blonde Haupthaar hatte den Goldton behalten, aber es war dicker geworden und wuchs schnell.

»Außer dir ist weit und breit niemand«, gab Len zurück. »Die Hundebesitzer sind schon zu Hause, und Partys finden bei dem Wetter nicht statt. Wer sollte mich beobachten?«

Die dreißigjährige Rumänin trug einen stylischen schwarzen Mantel und hielt einen roten Regenschirm gegen den einsetzenden Nieselregen über sich. Sie blieb ihrem Businesslook treu, auch wenn sie in Irland nicht mehr die persönliche Assistentin ihres Páns war. Niemand sonst steckte sich durchgehend Pumps an die Füße, in denen man sich die Zehen abfror.

»Der Zufall macht es immer möglich«, maßregelte Tereza, die hochgewachsen und schlank war. Über die dunklen, hochgesteckten Haare hatte sie ein blutrotes Kopftuch gegen Wind und Wassertröpfchen gelegt. Sie schien überhaupt nicht von seiner Blöße irritiert.

»Ich bin der freundliche Streuner aus der Nachbarschaft«, gab Len mit einem Grinsen zurück. Nun roch er sie überdeutlich. Den Eigenduft und ihr Parfum. Ich werde in Zukunft noch besser aufpassen, damit nicht mal sie mich überrascht. »So« – er zeigte an sich herab – »wird man mich eher für den perversen Exhibitionisten aus der Nachbarschaft halten. Und das nur wegen dir.«

Tereza lächelte falsch. »Ich wollte wissen, was du so oft abends tust, während ich auf das Abramelin achte.« Sie war eine Strigoi Vii, eine Person, die nach ihrem Tod ganz sicher zur Vampirin werden würde, wenn Len es richtig verstanden hatte. Außerdem war sie jetzt bereits eine Zauberin, die sich auf schwarze Magie spezialisierte.

Das würde sie auch als Untote bleiben und sich zur sogenannten Murony wandeln. Eine Kombination, die nicht nach leichter Gegnerin klang. Um ihren Hals trug sie Ketten mit Anhängern. Vermutlich mehr als simpler Schmuck.

»Auf Klara. Und das Abramelin, sollte es nötig sein«, verbesserte Len und lehnte sich gegen den Baum. »Stattdessen spionierst du mir nach und vernachlässigst deine Pflicht. Wenn Marek das erfährt, wird er nicht erfreut sein.«

»Mein Pán ist mit meiner Arbeit zufrieden. Groller schläft, die Wohnung ist sicher.« Sie tippte auf die Manteltasche, in der sich die Umrisse eines Smartphones andeuteten. »Bewegungsmelder sagen mir sofort, sollte jemand einbrechen.«

Len nickte. »Jetzt weißt du, was ich mache, und kannst wieder gehen.« Er strich die nassen, blonden Haare aus dem Gesicht. »Ich bin noch nicht fertig.«

»Ich schon. Mit dieser Insel. Wann verlassen wir Irland?«, fragte sie ungehalten.

»Wir sind vor vier Wochen erst angekommen«, gab er auflachend zurück.

»Ich mag es hier nicht. Es regnet die ganze Zeit, es ist kalt, und es gibt keinen vernünftigen Grund, warum wir hier sind.«

»Ist es in Rumänien um diese Jahreszeit nicht noch kälter?«

»Schnee ist besser als Regen.« Tereza drehte den Schirm und ließ die Tropfen gegen Len spritzen. »Und unsere Kälte ist trocken.«

»Klara wird hier studieren. Schon vergessen?«

»Das hat sie nicht wirklich vor?«, brach es aus ihr heraus. »Es wird Jahre dauern!«

Len zuckte mit den breiter gewordenen Schultern. »Du kannst Marek bitten, dass er dich abzieht. Wir brauchen keine Aufpasserin.«

»Nein, das wird mein Pán nicht tun. Es ist Teil der Abmachung, dass ich euch und das Buch nicht aus den Augen lasse«, sagte Tereza resigniert und blickte zur trockenen Schirminnenseite hinauf. »Ich werde vor Langeweile umkommen. Moos ansetzen. Alles verlernen, was ich konnte. Diese Insel ist Gift für mich! Wie zum Teufel soll ich meine Kunst verbessern?«

Len erwiderte nichts.

Natürlich war das Studium ein vorgeschobener Grund.

Genau wie die Behauptung gegenüber seiner Oma, er habe im Lotto gewonnen und könnte sich deswegen das alles leisten.

In Wahrheit ging es darum, seine und Klaras Liebsten aus dem Schussfeld zu nehmen und heimlich das Abramelin gemeinsam mit der Schwarzen Königin zu erforschen und zu ergründen und mehr zu erlernen. Weit entfernt vom gefährlichen Balkan, auf dem sich die Strigoi tummelten wie Haie in einem Becken. Der Plan war, das Vorhaben der Schwarzen Königin fortzuführen und mit ihrem alchemistischen sowie okkulten Wissen das Ende der Blutsauger einzuläuten. Für immer.

Käme Tereza dahinter, wäre das Waffenstillstandsabkommen mit Marek hinfällig. Ein harter Kampf würde ausbrechen, auf den Len und Klara noch lange nicht vorbereitet waren. Aber er wird kommen.Unausweichlich.

Gleichzeitig nahmen Len und Klara an, dass Marek längst nach einer Möglichkeit suchte, wie er die schützende Verbindung zwischen ihr und Barbaras Geist, der im Abramelin lebte, brechen und das für seine Art so gefährliche Buch vernichten könnte.

Und doch taten beide Seiten so, als sei die fragile Abmachung für die Ewigkeit.

»Oder ist da noch etwas anderes?« Tereza drehte den Schirm erneut, sodass die spritzenden Tropfen wieder Len trafen. Dieses Mal sein Gesicht. »Gehst du Groller aus dem Weg?«

Gekünstelt lachte er und rieb sich die Feuchtigkeit aus den Augen. »Was?«

»Man könnte es fast meinen. Ich habe euch seit der Busfahrt aus Temeswar nicht mehr aus den Augen gelassen. Sie lacht viel mit dir, sucht deine Nähe, während du Tag um Tag abweisender wirst«, fasste Tereza ihre Beobachtungen zusammen. »Als wäre sie deine Ex, Lenau. Ohne dass sie es weiß.«

Len fühlte, dass er errötete. Die Selbstsicherheit des Vârcolac wich. Die Murony hatte einen Teil der Wahrheit erkannt, die er bestimmt nicht mit ihr bereden würde. »Nee. Das bildest du dir ein«, nuschelte er.

Sie ließ den Blick ihrer dunkelgrau gesprenkelten Augen auf ihm ruhen. »Warum meidest du sie?«

»Weil ich mich noch nicht ans Dasein als Vârcolac gewöhnt habe.« Er hoffte, dass ihr dieser Grund schlüssig erschien. »Und sie riecht nicht ansprechend.« Er tippte sich an die Nase. »Bin empfindlicher geworden.«

»Sie stinkt dir, ja?« Tereza lachte laut. »Wie rieche ich?«

Er schnupperte hörbar in ihre Richtung. »Gut. Wie immer. Ich mag das Parfum. Es passt sehr gut zu deinem Eigenduft.«

»Komm nicht auf falsche Gedanken, Lenau. Weder beißt du mich noch sonst was.« Sie bewegte sich langsam weg von ihm. »Wir sehen uns zu Hause.« Dann verschwand die Frau durch das Gebüsch, gleich darauf stöckelten die Absätze über den befestigten Weg.

Len atmete auf.

Er musste sich von Klara fernhalten, so gut es ging, weil er nicht wollte, dass sie sich in ihn verliebte und dasselbe für ihn empfand wie er für sie. Deswegen die zunehmende Zurückhaltung, die freundschaftliche Distanz, keine Berührungen und das Sich-rarmachen.

Die Schwarze Königin hatte Len verboten, mehr als ein Freund für Klara zu sein. Er war zum Vârcolac geworden, zu ihrem Beschützer.

Ein reiner Beschützer.

Nichts durfte diese Pflicht gefährden, keine Begierde, keine Emotion. Nicht einmal, wenn ein anderer Mann ins Spiel kommen sollte, der ihr Herz eroberte.

Es war eine Kunst, in Klaras Nähe zu weilen und sie doch auf Abstand zu halten, ohne ihre Gefühle zu verletzen.

Gleichzeitig liebte es Len, sie wachsen zu sehen. Wie sie durch die Verbindung mit Barbaras Geist immer mehr Wissen und Fertigkeiten erlangte. Sprachen, Erkenntnisse zur Alchemie und Zauberei. Er freute sich jedes Mal mit ihr, wenn ihr etwas Neues gelang.

Und seine Liebe zur ihr blieb. Im Verborgenen.

Beschissenes Schicksal. Seufzend verwandelte sich Len zurück und dachte daran, dass manche Leute den schwarzen Hund als Synonym für eine Depression verwendeten.

***

Klara lag in ihrem Bett, das Gesicht zur Wand gedreht und die Augen geöffnet. Die dicke Decke reichte bis über die Schultern ihres weißen, mit Snoopy bedruckten Pyjamaoberteils, als könnte sie Deckung bieten.

Seit einer halben Stunde, wie die Uhr auf dem schmalen Nachttisch in ihrem Augenwinkel verriet.

Dabei konzentrierte sie sich, die Atmung langsam zu halten, als würde sie schlafen. Sie wollte die Beobachterin in ihrem Zimmer täuschen und zugleich auf jede ihrer kleinsten Regungen lauschen.

Als ein kurzes blondes Haar sie an der Nase kitzelte, kostete es Klara unglaubliche Überwindung, weder zu niesen noch es wegzuwischen.

Das Parfum verriet, wer lautlos im Sessel am Fenster saß und den durchdringenden Blick in ihren Nacken bohrte. Klara spürte ihn. Beinahe schmerzhaft.

 

… Wie einfach es wäre, die Kleine zu töten.

Unter anderen Umständen.

Jede Nacht stelle ich es mir vor.

Und sie weiß genau, dass ich da bin.

Noch nie hat sie sich getraut, mich anzusehen und zu fragen, was ich in ihrem Zimmer tue.

Warum ich sie angaffe wie das größte, verhassteste Wunder der Welt.

Wie sie daliegt, so seelenruhig und unschuldig.

Warum musste sie auch eine Nachfahrin von Barbara sein, zum Teufel?

Sie ist meinem Pán im Weg. Sie verhindert, dass er zur ultimativen Größe aufsteigen kann! Wenn es einer der Nobilis verdient hat, dann Marek.

Aber ich fürchte, dass sie meinem Angriff entkäme. Egal, womit ich es versuche. Das Abramelin beschützt sie. Magie. Sehr starke Magie, die sie umgibt. Ich merke es, sobald ich mich in ihre Nähe begebe. Das Buch ist da.

Diese Energie belauert mich. Sie fühlt genau, was ich vermag.

Und ist umso achtsamer …

 

Es geschah nicht zum ersten Mal, aber noch nie so lange wie jetzt. Als wäre Minunat aufgewühlt.

Als überlegte sie minutenlang, etwas zu versuchen.

Etwas Heldinnenhaftes.

Etwas Unerhörtes.

Etwas Dummes.

 

Das Kissen!

Langsam auf ihr Gesicht legen, zärtlich und liebevoll, nicht aggressiv. Und den Druck erhöhen.

Nein, das würde nicht gelingen.

Ebenso wenig wie Gift im Essen.

Diese elende Schutzmagie der Schwarzen Königin ist allgegenwärtig, allzeit auf der Hut vor mir.

Ich kann verschiedene Methoden nicht einfach ausprobieren. Mein erster Versuch muss gelingen, sonst wird die Reaktion darauf schlecht für den Pán.

Um mich mache ich mir keine Sorgen, mein Leben beginnt nach dem Tod erneut. Und sogar wenn ich dabei vollständig stürbe, wäre es ein Tausch, den ich einginge.

Aber da ist noch der Vârcolac …

Ich würde seinen Spürsinnen niemals entkommen, auch wenn ich das Abramelin zu fassen bekäme und etwas gegen den Schutzzauber ersonnen hätte. Er wird jeden Tag stärker wie die Kleine besser.

Habe ich den Moment verpasst?

Haben wir den Moment verpasst, die beiden zu töten, damals, bei den Höhlen?

 

Klara verbat sich die logischste Reaktion von allen: sich umdrehen und die nächtliche Stalkerin zur Rede stellen.

Was sollte schon geschehen? Ihr gewiss nichts.

Außerdem wachte der Geist der Schwarzen Königin über sie, der gefühlt ein Teil von ihr geworden war und ihr Kräfte verlieh, von denen sie vor der Veränderung niemals zu träumen gewagt hätte. Wie ein zweites Wesen, ein Symbiont, sobald sie das Buch berührte.

Dennoch bannte Klara der Blick in ihrem Genick. Er ließ ihre feinen, blonden Nackenhärchen sich aufrichten und die Haarwurzeln auf dem Kopf prickeln.

 

Oh, ich weiß, was ich versuchen könnte!

Meine Hände werden rein sein.

Rein bleiben!

Auf dieser widerlichen Insel wird es doch genügend Potenzial geben, das ich nutzen kann.

Ist nicht immer die Rede von Kobolden und Feen, die in den Hügeln leben? Von verwunschenen Orten und Plätzen, an denen sie sich versammeln?

Endlich! Endlich ist mir was eingefallen, wie ich der Kleinen das Leben schwer mache.

Und am besten ganz nehme.

Der Pán wird Augen machen!

 

Klara hörte das Reiben von Stoff, als ihre Besucherin das Zimmer verließ.

Noch nie war Tereza so lange geblieben.

Und noch nie hatte sie beim Verlassen des Raumes ein leises Auflachen verloren.

Langsam drehte sich Klara zum Sessel um, wo niemand mehr saß.

Auch die Tür war geschlossen. Nichts verriet die einstweilige Anwesenheit der Schwarzmagierin.

Klara rieb sich mit einer Hand den Nacken und erwartete, dabei auf Wunden oder Blut zu stoßen. Aber ihre Haut war weich wie immer.

Das Lachen würde Klara nicht vergessen.

Niemals mehr.

Etwas geschieht. Bald.

***
Österreich, Stadt Innsbruck, Stadtteil Innenstadt, Gegenwart, Spätwinter

»Küss die Hand, gnä’ Frau Graf-Tóth«, schmähte Tizian übertrieben und trat an den Tisch im Café Central in der Gilmstraße. Die Einrichtung war klassisch für ein Kaffeehaus, mit dunklen Stühlen, Bänken und Tischen, die Decken meterhoch und stuckverziert. Für Licht sorgten Lüster, die an Haken herabhingen, und Strahler an den Wänden. Gelegentliche Marmorelemente machten den Prunk perfekt.

Die Mittdreißigerin hob den Blick vorwurfsvoll von ihrem Pad, auf dem sie gelesen hatte. Sie trug zweckmäßige, wärmende Alltagskleidung, die gegen die Temperaturen wirkte und keine modische Katastrophe darstellte. Um ihren Hals lag eine schlichte Goldkette.

»Jö, geh scheiß’n, Ghul. Es ist so schlimm, wenn ein Nicht-Österreicher versucht, wie ein Einheimischer zu klingen«, gab sie grantig zurück. Die schwarz gefärbten Augenbrauen, die zum verjüngenden Ende in Dunkelrot übergingen, bildeten einen deutlichen Kontrast zu den halblangen, dunkelblonden Haaren. »Wir haben Jahrhunderte an unserer Spracharroganz gefeilt. Diese verbaltönende Überheblichkeit kannst nicht in ein paar Tagen lernen.« Schlagartig lächelte sie ihn an. »Verlängerter?« Sie hob die Hand, um den Ober auf sich aufmerksam zu machen.

Tizian setzte sich ihr gegenüber. Mantel und Hut landeten auf dem Stuhl daneben. »Einen Einspänner, bitte«, bat er den eintreffenden Kellner. Ghul. Eine Kreatur, die um Gräber schlich und sich auf Friedhöfen aufhielt. So durfte nur sie ihn nennen.

»Na, servas. Das hätten S’ mir schon am Eingang sag’n können, der Herr«, schnarrte der Livrierte und drehte auf dem Absatz um. »Hätt’ ich nicht lauf’n müssen.«

»Nicht zu vergessen unsere Freundlichkeit«, fügte sie hinzu und deutete auf den Ober, der zum Tresen verschwand und sich an die Kaffeemaschine begab. Eine tätowierte Schwalbe befand sich hinter ihrem rechten, ein Äskulapstab hinter dem linken Ohr. Tizian wusste, dass sie im Nacken unter den Haaren ein drittes Tattoo trug.

»Schön, dass du für mich Zeit hast, Cyprienne.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

Sie beugte sich vor und hauchte ihm Küsschen rechts-links auf die Wangen. »Für dich immer.« Sie zwinkerte und richtete ihre Kleidung, die bei der Bewegung leicht verrutscht war. »Außerdem war mir fad. Deine Mail klang spannend.«

Tizian lachte. »Ich mag deine Ehrlichkeit.«

»Unsere Wege mögen sich getrennt haben, aber wir bleiben verbunden. Das hab ich dir geschworen.« Sie lächelte mit einer gewissen Melancholie. »Was hätte alles aus dir werden können.«

»So wie aus dir?«, gab er neckend zurück.

»I’ bin eine Arzthure. Ja, und?« Cyprienne hob die Hände und zuckte mit den Achseln. »Wer mir Geld gibt, dem geb ich Hoffnung. Manchen sogar Heilung. Ob rechtschaffen oder nicht, das is’ mir egal. Es bezahlt mir die Rechnungen.« Sie langte nach ihrer Kaffeetasse, schwenkte den Inhalt einmal und trank einen Schluck. »Und du? Immer noch Kindergeburtstage und Grabschändungen, mein Lieber? Oder Siebzigerjahre-Disco-DJ? Du bist deinem Stil jedenfalls treu geblieben.«

Tizian lächelte süßsauer. Die Wahrheit klang aus einem schönen Mund auch nicht besser. »Vielleicht bald nicht mehr. Aber dafür brauche ich deine Hilfe.«

»Da schau her.« Cyprienne sah zum Ober, der den Einspänner abstellte und schnell wieder verschwand. »Was hat sich aufgetan?«

»Nicht die Hölle.«

»Aber auch ka Grab. Wobei das deine Spezialität ist.« Sie stieß mit ihrer Tasse gegen das Glas, in dem ein starker Espresso mit einer großen Haube Schlagsahne verfeinert worden war.

»Vielleicht suche ich mir doch lieber jemand anderes, der mir zur Hand geht«, erwiderte er und bleckte die weißen Zähne.

»Geh, i’ neck di’ nur, Ghul. Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst.« Cyprienne schenkte ihm ein warmes, ehrliches Lächeln.

Tizian nickte ihr mit einem langen Blick zu, trank vom Einspänner. Er mochte, wie sich der starke Kaffee einen Weg durch die Sahne schmolz, die Cremigkeit mitnahm und dabei nicht zu süß wurde. »Es dreht sich um Folgendes.« Das Glas landete auf dem Unterteller. »Du erinnerst dich an Anton Kratki?«

»Naa. Da klingelt nix.«

»Zauberer, Höllenpakt, Prag, nervig?«

»Ah«, machte Cyprienne und klopfte einmal zustimmend mit drei Fingern auf den Tisch. »Hat versucht, zwei meiner Kunden auszuspannen. Hattest du nicht eine Rechnung mit ihm offen?«

»Kratki ist tot, wie ich bei einem Besuch in Prag erfuhr, und ein Konkurrent von ihm stellte seine Bude auf den Kopf, um an dessen Zauber und Beschwörungen zu gelangen.« Tizian nahm sein Pad hervor, schaltete es an und schob es Cyprienne hin. Darauf waren Fotos mit handschriftlichen Notizen zu sehen. »Scroll dich durch.«

»Dieser Konkurrent ist tot?«, erkundigte sie sich, während sie die Aufnahmen sichtete. Auf ihrer Miene wurde zunehmende Verwunderung erkennbar, die mehr und mehr in Begeisterung umschlug. Ihre hellblauen Augen wurden größer, die Pupillen weiteten sich leicht. Aufregung. »Woher hast du das?«

»Vom Konkurrenten. Er hat mich angegriffen.«

Tizian bewunderte ihren ausgefallenen Ring an der linken Hand. Am Mittelfinger, als wären die anderen zu schwach, die Pracht zu tragen. Das Schmuckstück bestand aus einem Platinring, auf dem eine silberne Trägerplatte lag, auf der wiederum eine Gebeinplatte mit Schlitzschräubchen befestigt worden war; die winzigen Köpfe ähnelten Totenschädel, die die Münder senkrecht nach oben geöffnet hatten. Auf dem dünnen Knochenplättchen saß ein schwarzer Diamant, gefasst von nelkenhaften Silberkrappen. Bis heute wusste Tizian nicht, was die Symbole darauf zu bedeuten hatten. Fragen danach war sie stets ausgewichen.

»Seit wann bist du ein Kämpfer?«

»Es gab zwei Leichen in der Wohnung.«

»Das ging sich aus für dich! Sein Pech, dein Glück.« Cyprienne wischte, zoomte, drehte und wischte weiter. »Interessant. Kratki hat geglaubt, dass es ein echtesAbramelin gibt. Nicht diese nutzlosen Nachdrucke, die man aus dem Netz zieh’n kann. Sondern ein Original, das was taugt.« Sie sah zu Tizian. »Ich halt mich mit Jubel noch bedeckt. Bloßes Hirngespinst und ein Strohhalm, um dem Höllenpakt zu entkommen? Hast du seine Leiche befragen können?«

»Nein. Kratki wurde verbrannt.«

Cyprienne legte das Pad auf den Tisch und lehnte sich zurück. Sie musterte ihn lange und ergründend, als beherrschte sie neuerdings die Gabe des Gedankenlesens. »Wieso brauchst du mich, mein Lieber? Du kannst dich jederzeit selbst auf die Suche machen.«

»Es geht nicht einfach nur um ein Original«, gab Tizian zu. »Sondern um eine verbesserte Version, die von einer Alchemistin und Zauberin angefertigt wurde. Ab dem Jahr 1414.«

Cyprienne fuhr sich über eine schwarz-rote Augenbraue. Sie blieb skeptisch. »Woher hatte sie es?«

»Eine Abschrift des Originals. Übergeben von einem jüdischen Gelehrten als Geschenk. In Konstanz.«

»Aha.« Noch war Cyprienne nicht an Bord, das sah er ihrem Gesicht an. »Hat diese Frau einen Namen? Klingt für das Spätmittelalter ziemlich fortschrittlich, oder?«

»Sagt dir Barbara von Cilli etwas?«

»Die Schwarze Königin?«, entfuhr es Cyprienne, und sie richtete sich leicht auf. »Kaan Schaß?«

Tizian war fast beleidigt, dass seine Freundin sich auf Anhieb besser damit auskannte als er. »Woher weißt du von ihr?«

»Machst du Witze? Wie heiße ich mit Nachnamen?«

»Wieso?«

»Los!«

»Graf-Tóth. Aber –«

»Tóth, mein Lieber, ist ein ungarischer Name. Kommt von mütterlicherseits. Wer sich ein bisschen mit unserer ungarischen Geschichte auskennt oder eine ungarische Zwei-Euro-Münze genauer betrachtet hat oder mal eine Sonderbriefmarke kaufte, wird der Cilli begegnet sein. Eine Berühmtheit«, erklärte sie freudig. »Das ergibt nun doch Sinn! Die Schwarze Königin stand im Ruf, Alchemistin, Zauberin und Vampirin zu sein.«

Tizian verzog den Mund. Alles, was er mühsam zusammengetragen hatte, zog sie einfach aus dem Ärmel. »Ich hätte dich gleich anrufen sollen.«

»Wär g’scheiter g’wesen.« Cyprienne zog das Pad zu sich. »Du hast mir nur Fotos rausgesucht, aus denen ich wenig zum Inhalt ableiten kann.«

»Ich wollte vorher wissen, ob wir einen Deal haben.«

Cyprienne betrachtete ihn erneut lange und hob die Hand, um den Kellner nochmals zu rufen. »Einen Biedermeier, bittschön«, bestellte sie laut durch das Kaffeehaus. Die hohen Decken verstärkten ihre Stimme.

»Was brüllen S’ denn so?«, gab der Ober enerviert zurück.

»Damit S’ nätt so weit laufen müssen. Seien S’ lieber mit dem Biedermeier schnell am Tisch. Und nätt mit dem Alkohol spar’n!« Sie wandte sich Tizian zu. »Denkst du wirklich, es gibt dieses Abramelin?«

»Ich weiß es sogar.«

»Und du willst es haben.« Sie senkte den Blick auf den Rest seines rechten Beins. »Deswegen?«

Tizians Mund wurde ein Strich. »Ja«, antwortete er nach Sekunden. »Ich muss immer schneller … Gegenmaßnahmen ergreifen, aber die Nekrose schreitet trotzdem voran.«

Impulsiv fasste sie seine Hand und drückte sie. »Es tut mir so leid, dass ich dir nie helfen konnte. Obwohl ich mich auf Heilung verlagert hab statt wie du auf das Gegenteil.«

Er winkte mit der freien Linken ab. »Es war meine eigene Schuld. Magische Formeln verzeihen selten Fehler. Aber ich verfaule ungern am eigenen Leib und werde zu einem …«

»Untoten Nekromanten. Was irgendwie auch wieder tragisch-komisch ist. Und du wärst nicht der Erste.« Sie drückte seine Finger fester. »Es wär unverdient, mein Lieber. Ich bin dabei.«

»Niemand bei dir zu Hause, der sich fragen könnte, was du da treibst?«

Cyprienne lächelte schwach. »Hier und da ein paar Haberer, aber niemand, der so nahe ist.«

»Haberer?«

»G’schpusis. Fuckbuddys. Und bei dir?«

»Die letzte Beziehung?« Er stampfte mit dem Prothesenbein auf. »Keine mehr. Seit meinem Arbeitsunfall.«

»Welch traurige G’stalten wir sind, Ghul.« Sie räusperte den Stimmungsdämpfer davon. »Mir gehören die Beschwörungen und Zauber des Abramelins, die mit Heilung zu tun haben, du kannst den Rest behalten.«

Erleichtert lächelte er sie an. »Danke.«

»Immer. Für dich immer.« Cyprienne ließ ihn los und nahm dem nahenden Ober die große Tasse ab. Sie war randvoll, mit einer Sahnehaube, es duftete nach süßlichem Alkohol und Kaffee. »Na, also. Geht doch«, sagte sie freundlich zu ihm.

Der Kellner murmelte etwas Unverständliches mit viel Schmäh und zog sich zurück.

»Ich bin hier öfter. Ich darf das«, erklärte Cyprienne. »Eine Sache noch, Tizian.« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Du hast hoffentlich nicht vor, tiefer in die Nekromantie einzusteigen, sollte sich im Abramelin der Schwarzen Königin dazu etwas finden?«

»Nein. Wieso fragst du?«

»Weil ich denk, dass es dich töten wird, solltest du es versuchen.« Sie lächelte hinreißend und hob die Tasse mit beiden Händen an. »Ich will dir nicht dabei helfen, dich schneller ins Jenseits zu befördern.«

»Es geht mir darum, meine Fäule aufzuhalten. Das Abramelin ist die einzige Hoffnung, die ich habe. Und wenn es mir nicht gelingt, dann dir vielleicht mit neuen Zauberformeln.«

Tizian betete still, dass sie die Lüge in seiner Stimme nicht vernahm. Natürlich würde er alles nutzen, was er zur Nekromantie fand. Sein Leben bestand aus der Darbietung kleinerer Täuschmagie, um bei Kindergeburtstagen und Firmenfeiern das Publikum zu beeindrucken. Es reichte jedoch nicht aus, um damit eine eigene Las-Vegas-Show auf die Beine zu stellen. Parallel bot er spezielle Séancen an, abgehalten des Nachts und heimlich auf Friedhöfen, um die frisch Bestatteten noch einmal mit ihren Liebsten zu vereinen. Tizian arbeitete mit einem Koraktor, einem Zauberbuch, das einfache Nekromantie ermöglichte.

Ab und zu, wenn jemand Wohlhabendes gestorben war, nutzte er die Macht, um mithilfe des Untoten an Verstecke von Vermögen zu gelangen, von denen die Erben nichts ahnten. Manchmal gab es einige Tausender, mal Schmuck, mal Goldmünzen oder -barren. Gelegentlich stahl er eine Kreditkarte aus dem Trauerhaus und hob mittels Geheimzahl, die ihm der Tote offenbarte, eine ordentliche Summe ab, bevor das Konto gesperrt wurde.

Mit dem Wissen aus dem Abramelin könnte er viel mehr erreichen.

So viel mehr.

Kein Buddeln, keine Diebstähle mehr.Nur die Kindergeburtstage werde ich beibehalten. Tizian stieß mit seinem Einspänner gegen Cypriennes Tasse. »Was ist ein Biedermeier?«

»Mokka, Schlagobers und Marillenlikör«, erklärte sie und wirkte beruhigt. Sie hatte die Lüge geschluckt wie das Getränk. »Wo fangen wir an? Du hast sicherlich einen Plan.«

Er nickte. »Anhaltspunkte, denen wir nachgehen müssen. Die Aufzeichnungen und Andeutungen führten mich in Prag in die Wohnung von Jolana Černá. Die Zimmer strotzten vor alchemistischer Einrichtung und Vampirabwehrmaßnahmen.«

Sie verzog das Gesicht. »Das klingt arg. I’ mog kaane Blutsauger.«

»Und Notizen rund um die Schwarze Königin.«

»Aber eine Sackgasse«, erriet Cyprienne und genoss ihren Biedermeier.

»Richtig. Aber sowohl Kratki als auch Černá beschäftigten sich mit einem Lenny Nikolaus Lenau. Einem Deutschen, dessen Familie Wurzeln im Banat hat. Er ist der Schlüssel zu diesem einmaligen Abramelin. Angeblich der letzte männliche Drăculești, was wiederum die Verbindung zur Schwarzen Königin in der Vergangenheit darstellt. Vlad II. und Barbara sind zusammen aufgewachsen.«

»Weiß ich doch. Schöne Geschichte.« Cyprienne leckte den Sahneschaum von der Oberlippe. »Du denkst, dass Kratki das Abramelin mithilfe dieser Černá g’funden hat?«

»Ja. Er fädelte das Zusammentreffen von ihr und Lenau ein. Und organisierte eine Bustour, an dem Lenau teilnahm.«

»Was hat die Černá damit zu tun?«

»Das weiß ich nicht. Aber sie ist verschwunden.«

Cyprienne sah nachdenkend zur hohen Stuckdecke des Caféhauses. »Lenau ist kein Magier, richtig?«

»Soweit ich es verstanden habe, nein. Nur der Schlüssel zum Fund.« Tizian nahm das Pad und suchte die neusten Informationen, die er über den jungen Mann zusammengetragen hatte. »Es gab bei der Busfahrt ein Unglück. Die Reisegruppe wurde in einer Höhle eingeschlossen. Alle, bis auf Lenau und die Enkelin einer Teilnehmerin. Es ging überraschend glücklich aus, und danach reiste er sofort ab und verließ Deutschland. Wohin, habe ich noch nicht herausgefunden. In seiner Studentenbude in Tübingen ist er nicht wieder aufgetaucht.«

»Aha! Das Abramelin war in der Nähe der Höhle. Vielleicht hat ihn die Černá erpresst? Und mit Magie hat er sie getötet und die Gruppe gerettet«, folgerte Cyprienne. »Jetzt hat er sich damit an einen sicheren Ort begeben, um es zu studier’n.«

»Nicht nur er. Die Kleine auch.«

»Welche Klaane?«

»Die andere Person, die nicht eingeschlossen war. Die Enkelin. Klara Groller.«

»Vereint in Liebe und Zauberei«, kommentierte Cyprienne mit schwärmerischem Unterton. »Wie romantisch. Wär es nicht tödlich gefährlich. Unwissende, die mit echter Magie hantieren, sterben normalerweise schnell.« Sie stieß dieses Mal mit ihm an. »Gut für uns. Umso einfacher wird’s, das Abramelin zu kriegen. Wir müssen nur noch herausfinden, wo sie abgeblieben sind, und das Buch aus ihren kalten Händen nehmen. Oder du befiehlst es ihnen einfach, mein Lieber, sobald sie gesturb’n sind.«

»Genau.« Er schob ihr das Pad zu. »Das ist die Adresse von Lenaus Großmutter. Ich bin sicher, dass du etwas mit deinem Charme aus ihr herausholen kannst. Am Umfeld von Klara Groller bin ich dran.«

»So mach’ mas.« Cyprienne seufzte wohlig. »Ich seh schon die Nobelpreise für Medizin für mich. Was ich alles heilen werde! Und Krankheiten erfinde, um sie wieder zu heilen. A Wahnsinn.«

Tizian lächelte. Genau so hatte er seine Freundin eingeschätzt.

KAPITEL 2

Republik Irland, etwa 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Dublin, Gegenwart, Spätwinter

Len drückte sich flach auf den grasbewachsenen, nassen Boden, ohne Tereza aus den Augen zu lassen. In der Houndgestalt konnte er an ihr dranbleiben und fiel in der waldfreien Umgebung nicht auf. Von Mulde zu Mulde arbeitete er sich kriechend vorwärts, während sein Herz schneller pochte.

Jagdlust.

Beutegier.

In dieser Nacht ging es jedoch nicht um Wild, Blut und den Geschmack von schwindendem, warmem Leben zwischen seinen Reißzähnen.

Es hatte ihn verwundert, dass Tereza kurz nach Mitternacht heimlich aus dem Haus am Merrion Square getreten war, um in ein Taxi zu steigen und Dublin auf der M3 zu verlassen. Dabei trug sie ausnahmsweise keine edle Garderobe, hingegen hohe Stiefel, robuste Hosen und darüber einen auberginefarbenen Kapuzenregenmantel.

Dass die Aufpasserin gegen ihre Pflicht verstieß und nicht nur das Haus ohne Nachricht verließ, sondern sich über eine weitere Strecke davon wegbewegte, musste mit einem triftigen Grund einhergehen. Umso entscheidender war es für Len, an ihr dranzubleiben. Ein reiner Glücksfall, dass ein zweites Taxi vorbeigekommen war, in das er springen und der Frau folgen konnte. Sonst wäre die Beschattung in diesem Moment beendet gewesen.

Als ihm Klara von Terezas seltsamem Verhalten erzählt hatte, dass diese permanent ins Zimmer schleiche und sie heimliche beobachte, stand für ihn fest, dass er wiederum die Schwarzmagierin sehr genau beobachten würde. Wie sie ihn, so er sie.

Die überraschende Fahrt hatte Len hinaus in eine Gegend geführt, die er von seinen Streifzügen kannte: der Hügel von Tara. Er mochte die sanften Erhebungen und Senken rund um den Haupthügel, die beim Jagen als Deckung dienten.

Len konnte nicht einmal vermuten, was Tereza an diesem Ort wollte. Die Gefahr, dass ihre Abwesenheit von ihm oder Klara bemerkt wurde, stieg mit jeder Minute, die sie sich außerhalb von Dublin aufhielt. Und doch geht sie das Wagnis ein.

Tereza sah sich bei ihrem Gang durchs feuchte Gras gelegentlich um. Sie entdeckte Len nicht und steuerte zielstrebig auf den Stein von Fál zu.

Die Stätte befand sich auf der Spitze des großen Hügels und bot tagsüber einen herrlichen Blick über die Täler. Es gab ein steinzeitliches Ganggrab, das die Einheimischen Hügel der Geiseln nannten, der für die Öffentlichkeit gesperrt war. Noch dazu waren Überreste eines alten Ringkastells und einer Zeremonialallee, dem sogenannten Festsaal, erkennbar. Zwischen ihnen erhob sich das Heiligtum Lia Fáil, der Stein von Fál und laut Legende der Krönungsstein der irischen Hochkönige. Das hatte Len vor nicht allzu langer Zeit nach einem seiner Ausflüge gelesen, ohne sich näher damit zu beschäftigen.

Den Gerüchen nach kamen trotz Wetter und Nebensaison täglich etliche Besucherinnen und Besucher nach Tara, wo sich der unscheinbare Menhir phallusgleich mit knappen 1,60 Meter erhob. Gegenüber hatte man eine Statue von St. Patrick aufgestellt, um die alte Macht im Zaum zu halten. Christenstandardtaktik.

Was hat sie vor? Len kroch weiter und verlagerte seine Position, damit er die Verfolgte besser beobachten konnte.

Tereza betrat die Steineinfassung des Menhirs und legte die bloße linke Hand auf die Oberfläche, schloss die Augen. Die Finger der Rechten berührten einen Anhänger um ihren Hals.

Len sah, dass sie die Lippen bewegte. Einige Worte drangen dank seines feinen Gehörs und trotz des Windes zu ihm, aber die Silben sagten ihm nichts.

Schlagartig leuchtete der Lia Fáil auf.

Aus seiner runden Spitze schon ein grellvioletter Strahl aufwärts, der die Wolkendecke durchbrach und ein Loch hineinzubrennen schien. Gleichzeitig erklang ein gellendes Kreischen wie von etlichen Menschen in Agonie und Furcht.

Beinahe hätte Len vor Schmerz aufgeheult, seine empfindlichen Ohren waren sofort überlastet. Die Intensität von Gekreisch und Licht ließ nach zwei, drei Sekunden nach und schwächte sich über Purpur zu Dunkelblau ab, bevor die Energiesäule abriss und auch das Lärmen verklang.

Len roch die veränderte Luft, aufgeladen und kribbelnd, spürte die Wärme, die der Stein plötzlich abstrahlte, als wäre er von innen erhitzt worden.

Was hat sie gemacht? Er hob den Kopf über die Halme und beobachtete, wie Tereza am Fál zusammensackte und die linke Hand stöhnend in das feuchte, kühlende Gras presste. War dieses Schreien der Stein?

Dann witterte er ihre verbrannte Haut.

Die Beschwörung scheint misslungen zu sein.

Oder war das Signal beabsichtigt gewesen?

Wenn ja, wem galt es?

Ging es zu üblen Mächten zwischen den Sternen?

Eine Nachricht an Marek?

Oder diente es irgendwelchen Unbekannten in der weiteren Umgebung von Tara zur Orientierung, um sich bei Tereza auf ihren magischen Ruf hin einzufinden?

»Hey!«, schallte es unvermittelt erbost durch die Nacht.

Len wandte sich nach rechts, von wo die wütende Stimme erklungen war.

Ein junger, dunkelhaariger Mann in schwarzer Latzhose und grünem Regenmantel eilte über die Wiese. Er kam von dem Gehöft, das etwas abseits des Hügels hinter einigen Bäumen versteckt lag. »Was hast du getan?«

Tereza erhob sich wankend und kämpfte sichtlich, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Dann leuchtete ein grünbläuliches Licht knappe hundert Meter vom Stein entfernt im Boden auf, und eine zweite Person näherte sich rasch, als wäre sie aus dem Schimmer getreten.

Len erinnerte sich an den Zugang zu einer Quelle, der sich an dieser Stelle hinter einem Gitter verbarg. Sie wurde als heilig angesehen und spielte in der langen Geschichte Irlands eine ähnliche Rolle wie der Hügel von Tara mit dem Fál.

Plötzlich glomm es im Eingang zum Steinzeitgrab auf. Aus dem Wabern schälte sich eine dritte Gestalt, die ebenso schnurgerade auf den Stein zusteuerte.

Len blieb in seiner kauernden Haltung und schlich voran, um zu verfolgen, was sich zutragen würde.

»Wie hast du das angestellt?« Der junge Mann in der schwarzen Latzhose zog ein Hurlingschläger unter seinem Mantel hervor, der sich bei genauerem Hinsehen als Exemplar aus massivem Metall mit geschliffenem Schlagende herausstellte.

Len vermochte die Gravuren darauf nicht einzuordnen. Ich bin sicher, Klara könnte sie lesen.

Auch die anderen zwei, ein Mann und eine Frau in herkömmlicher Kleidung, trugen identische Bewaffnung. Angesichts ihres mystischen Erscheinens aus heiliger Quelle und steinzeitlichem Hügelgrab wirkte ihre Aufmachung denkbar trivial.