Die Schweigende - Ellen Sandberg - E-Book
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Die Schweigende E-Book

Ellen Sandberg

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Beschreibung

Manche Erinnerungen hinterlassen tiefe Narben auf der Seele ...

München, 2019. Im Garten der Familie Remy verdorren langsam die Rosenbüsche, die zur Geburt der drei Töchter gepflanzt wurden. Imke, Angelika und Anne sind längst erwachsen und gehen ihrer Wege – bis zu dem Tag, an dem ihr Vater beigesetzt wird. Denn auf dem Sterbebett nimmt er Imke ein Versprechen ab, das schnell eine zerstörerische Kraft entfaltet – und das sie alles hinterfragen lässt, was sie über ihre Mutter zu wissen glaubt.

1956. Im Nachkriegsdeutschland wächst eine neue Generation heran. Die lebenslustige Karin spart für ihre erste Jeans, träumt von Elvis Presley und davon, später Ärztin zu werden. Sie ahnt nicht, dass die Schatten der Vergangenheit lang und mächtig sind – und welch verheerenden Folgen eine spontane Entscheidung haben wird. Nicht nur für sie.

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Seitenzahl: 626

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Ellen Sandbergs Romane in der Presse:

»Mit ihrem fesselnden Roman schafft es Sandberg, dem Vergessen entgegenzuwirken. 500 Seiten, die berühren, überraschen und aufwühlen.«Bayern 2 über Die Vergessenen

»Packend, feinfühlig und sehr engagiert geschrieben.«Für Sie über Die Vergessenen

»Psychologisch tiefgründig, absolut lesenswert!«Hamburger Morgenpost über Der Verrat

»Sandberg erzählt meisterhaft, wie Naziverbrechen nachwirken und wie Gier die Moral zerstört.«Hörzu über Das Erbe

Außerdem von Ellen Sandberg lieferbar:

Die Vergessenen

Der Verrat

Das Erbe

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ELLEN SANDBERG

DIE SCHWEIGENDE

ROMAN

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

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Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Mint Images; Cyndi Monaghan/GettyImages; © Roy photo/shutterstock

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24609-9V007

www.penguin-verlag.de

Dieses Buch ist ein Roman. Etwaige Ähnlichkeiten zu Geschehnissen im realen Leben oder zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, jedenfalls aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfasst.

Karin

Sie lag im Gras und blinzelte in die Sonne, die durchs Blätterdach fiel und tanzende Lichtreflexe auf ihr Kleid malte. Es passte ihr obenrum nicht. Es schnürte sie ein. Es nahm ihr die Luft zum Atmen. Der Stoff kratzte fürchterlich. Überall juckte es. Am Bauch, an den Beinen, am Rücken. Sie hielt es nicht länger aus, sprang auf und riss sich das Kleid vom Leib.

Herrlich, wie der Wind ihre Haut kühlte. Der Duft von Butterkuchen stieg ihr in die Nase. Sie war so hungrig, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief, doch sie wusste, dass sie ihn nicht essen durfte. Wenn sie das tat, würde etwas Schreckliches geschehen.

Hoch oben im Baum sang ein Vogel. Der Wind frischte auf, und eine kühle Bö fuhr ihr ins Haar. Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne. Der Kuchengeruch verschwand. Stattdessen roch es nach Himbeeren. Süß und faulig. Verdorben.

Verdorben. So wie sie. Du taugst nichts! Der Geruch verursachte ihr Übelkeit. Der Wind wurde heftiger. Sie wollte gehen. Sie musste ihn suchen. Obwohl sie wusste, wo er war. Und es zugleich nicht wusste. Es war paradox. Es war zum Verrücktwerden. Ich weiß es, und ich weiß es nicht.

Ihre Haut brannte wie Feuer. Sie lief zum Bach und hüpfte hinein. Doch da war kein Wasser. Himbeerranken umgaben sie wie ein wogendes Meer, gruben ihre Haken aus Metall ins Fleisch, rissen es auf. Blut lief in Rinnsalen an ihr hinab. Ein Vogel kam angeflogen. Sie wollte nach ihm greifen. Er verwandelte sich in ein Tuch und legte sich um ihren Hals. Sie bekam keine Luft mehr. Sie erstickte!

Mit einem Schrei wachte Karin auf. Ihr Herz schlug in wilden Schlägen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Nachttischlampe und schaltete sie ein. Jens, halt mich. Das wollte sie sagen. Doch er war nicht mehr da. Er war gegangen. Vor ihr. Nach vierundfünfzig gemeinsamen Jahren. Es war unfassbar, dass es ihn nicht mehr gab.

Karin schlüpfte in den Morgenmantel und ging hinunter in die Küche. Die Uhr zeigte Viertel nach drei. Aus dem Kühlschrank nahm sie die angebrochene Flasche Lugana, schenkte sich ein Glas ein und setzte sich damit auf die Terrasse. Es hatte geregnet. Die Nacht war kühl, und das war gut.

Ihr rasendes Herz beruhigte sich.

Warum suchte dieser Traum sie nach Jahrzehnten wieder heim? Als junge Frau hatte sie ihn regelmäßig geträumt. Nach der Geburt der Mädchen war er verblasst und hatte sich rargemacht. Nun kehrte er mit aller Macht zurück. Was wollte er ihr sagen? Etwa, dass sie zu früh aufgegeben hatte?

Imke

Die Biene gab nicht auf. Wieder und wieder flog sie gegen die Scheibe des Wohnzimmerfensters, krabbelte ein Stück nach oben und startete einen neuen Versuch, sobald sie den Rahmen erreichte. Eine Weile beobachtete Imke das kleine Drama, dann ging sie in die Küche, nahm ein Glas vom Regal und eine Postkarte ihrer Schwester Geli vom Kühlschrank. Damit kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, stülpte das Glas über die Biene und schob die Karte darunter. Das Surren wurde tiefer und hektisch. Mit der Rettungskapsel auf der Hand trat Imke auf die Terrasse und ließ die Biene frei.

Die Luft war nach dem Regenguss der vergangenen Nacht frisch und klar, doch der Himmel noch grau verhangen. Es war einer dieser Tage, die sich seit Papas Tod häuften. Tage, an denen sie schon am Morgen wusste, dass sie alle Kraft von ihr fordern und sie sich am Abend ein Glas Chardonnay einschenken würde, um runterzukommen. Genau wie ihre Mutter es seit über fünfzig Jahren tat. Dabei hatte sie nie wie Mama werden wollen, die ihr bestenfalls ein negatives Vorbild gewesen war. Was sie in ihrem Leben anders machen würde, hatte Imke bereits mit fünfzehn gewusst. Bis auf ein paar Kleinigkeiten hatte sie das gut hinbekommen. Das Glas Wein beispielsweise, nach einem anstrengenden Tag. Wobei sie nur gelegentlich Chardonnay trank, im Gegensatz zu Mama, die sich täglich ihr Glas Lugana gönnte. Schlimmer war die Mauer, die Imke immer wieder einreißen musste. Wenn ihr Mann Moritz zärtlich wurde, baute sich binnen Sekunden diese verdammte Mauer auf, und sie wehrte ihn häufig ab, obwohl sie das nicht wollte. Warum konnte sie seine Nähe nicht gleich zulassen? Weshalb gab es diesen Widerstand in ihr, der ihr auch nach beinahe zwanzig Ehejahren noch immer weismachen wollte, dass sie es nicht wert war, geliebt zu werden. Diese blöde Macke, von der sie instinktiv wusste, dass sie sie auf verschlungenen Wegen von ihrer Mutter geerbt hatte. Die Biene verschwand aus ihrem Blickfeld. Imke ging hinein.

Schon halb neun. Ihre Familie war längst ausgeflogen. Moritz stand jetzt auf der Baustelle eines Einkaufszentrums in Regensburg, für dessen Statik er verantwortlich war. Ihre Zwillinge Steffi und Tobi saßen in der Schule und bereiteten sich aufs Abi im kommenden Jahr vor. Hoffentlich. Ganz sicher konnte sie nicht sein. Es war Freitag und daher möglich, dass die beiden wieder einmal fürs Klima demonstrierten, während sie versuchte, hier in ihrem Reihenmittelhaus in München-Obermenzing den täglichen Spagat zwischen Hausfrau, Mutter und selbständiger Übersetzerin hinzukriegen. Wobei die Aufträge von Jahr zu Jahr weniger wurden. Übersetzungsprogramme nahmen ihr die Butter vom Brot. Deshalb hatte sie sich entschlossen, ihr Hobby zum zweiten beruflichen Standbein auszubauen. Die Herstellung hochwertiger Seifen. Im Moment konnte sie das allerdings vergessen. Eine weitere Aufgabe schlich sich an: Mama. Ein flaues Gefühl breitete sich in Imke aus. Um diese Verantwortung riss sie sich nicht. Doch sie würde an ihr hängen bleiben. Denn sie lebte nur fünfhundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Seit Papas Tod vor acht Wochen bewohnte Mama es allein und kam nicht gut zurecht.

Bei dem Gedanken an ihren Vater setzte sich ein Druck in ihre Kehle. Er war so überraschend gestorben, und viel zu früh. Kurz vor seinem neunundsiebzigsten Geburtstag. Wobei sie immer erwartet hatte, nicht nur seinen Achtzigsten, sondern auch seinen Neunzigsten mit ihm zu feiern. Mit Mama eher nicht. Ihre Mutter hatte zeitlebens zu viel Wein getrunken und kaum Sport getrieben, während ihr Vater auf seinem Rennrad und später auf dem Mountainbike kilometermäßig die Erde sicher mehrmals umrundet hatte. Als er vor zwei Jahren die Steigung am Deininger Weiher nicht mehr hinaufgekommen war, hatte er sich ein E-Bike zugelegt. »Das ist kein Mofa«, hatte er erklärt. »Man keucht die Berge trotzdem hinauf, allerdings mit ein bisschen elektrischer Unterstützung, was in meinem Alter sinnvoll ist. Ich will nicht absteigen und schieben. Ich will aber auch nicht tot vom Rad plumpsen.«

Und doch hatte er es beinahe so gemacht. War im Klinikgarten einfach umgefallen. Einen Tag vor der Entlassung, während Imke immer davon ausgegangen war, dass Mama vor ihm sterben würde. Und nun war sie es, um die man sich kümmern musste. Und nicht er, für den sie das gern getan hätte.

Wie dankbar sie rückblickend dafür war, dass sie bei ihm sein konnte, als er starb. Das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass er nicht allein war, an diesem strahlend schönen Märztag voller Verheißung, die kurz darauf in Fassungslosigkeit und Trauer umgeschlagen war.

Sie hatte den halbjährlichen Check bei ihrer Gynäkologin in Schwabing hinter sich gebracht und war bereits auf dem Weg zur U-Bahn, als sie sich zu einem Spontanbesuch bei Papa im Krankenhaus entschloss und umkehrte, obwohl er am nächsten Tag entlassen wurde. Bis zur Klinik war es nicht weit, und sie dachte darüber nach, welches Glück er gehabt hatte, so glimpflich davongekommen zu sein. Aber auch, was für ein Schreck es gewesen war, als er sie fünf Tage zuvor aus dem Krankenhaus angerufen hatte. »Mir geht’s gut«, hatte er erklärt. »Kein Grund zur Sorge. Aber du musst das Mama schonend beibringen. Sie wollen mich nicht gehen lassen.«

»Bist du mit dem Rad gestürzt?«

»Die Knochen sind alle heil. Ich habe mich nur ein wenig komisch gefühlt, und da ich grad in der Nähe des Krankenhauses war, habe ich gedacht, es kann nicht schaden, wenn die sich das mal ansehen.«

Ihr Vater war ein Meister im Bagatellisieren. Angst nistete sich hinter ihrem Brustbein ein. »Was ansehen?«

»Na, was wohl, meine Kleine? Meine altersschwache Pumpe.«

»Was ist damit?«

»Ein wenig aus dem Takt geraten. Sie vermuten einen Herzinfarkt und wollen das jetzt ausschließen. Also, du erklärst das deiner Mutter vorsichtig. Ich will nicht, dass sie sich grundlos ängstigt, und dann bräuchte ich noch ein paar Sachen. Pyjama, Zahnbürste und so weiter.«

Er hatte sie immer meine Kleine genannt, obwohl sie die mittlere seiner drei Töchter war. Zuverlässig, wie sie war, hatte sie alles erledigt und war mit Mama und seinen Sachen eine Stunde später bei ihm in der Klinik gewesen. Den Herzinfarkt hatten die Ärzte nicht ausgeschlossen, sondern diagnostiziert. Gott sei Dank war es nur ein leichter. Papa ging es schnell besser. Er hatte großes Glück gehabt.

Mit diesem Gedanken erreichte sie die Klinik und erhielt auf der Station die Auskunft, dass ihr Vater in den Klinikgarten gegangen war, um diesen schönen Tag zu genießen. Also suchte sie dort nach ihm.

In der Wiese blühten Schneeglöckchen und Krokusse. Die ersten Narzissen reckten ihre Köpfe in die Sonne. Bald würde alles blühen. Eine Last fiel von ihr ab. Wie wunderbar, dass es Papa wieder gut ging. Wie herrlich, dass der Frühling kam und er ihn erleben durfte.

Natürlich hatte er in den letzten Jahren abgebaut. Die Muskeln wurden im Alter weniger, trotz seiner regelmäßigen Radtouren. Geschrumpft war er auch. »Es liegt an den Bandscheiben«, hatte er erklärt. »Sie werden dünner, und man wird zum Zwerg.« Aber seinen Humor hatte er sich bewahrt und seine immer gute Laune.

Nun entdeckte sie ihn auf einer Parkbank. Er trug seinen dunkelblauen Bademantel und wirkte aus der Ferne noch kleiner, beinahe eingesunken. Wie eine alte Mauer, deren Fundament nachgab. Ein Gedanke, der ihr einen Stich versetzte. Beim Näherkommen schlich sich Angst an. Etwas stimmte nicht mit ihm. Sie beschleunigte ihre Schritte und erschrak, als sie ihn erreichte. Sein Teint ganz grau, die Lippen violett. Mühsam rang er nach Luft. Sein Blick hielt ihrem nicht stand. Sie beugte sich zu ihm, fasste ihn an der Schulter. »Papa! Durchhalten! Ich rufe einen Arzt.« Hektisch sah sie sich um, während sie das Handy hervorzog. Etwa hundert Meter entfernt näherten sich zwei Krankenschwestern auf einem Kiesweg. »Wir brauchen hier Hilfe!«, rief sie und wedelte mit den Armen. Die Frauen wurden auf sie aufmerksam und eilten auf sie zu. Papa war inzwischen weiter zur Seite gekippt. Sie legte ihn ganz auf die Bank und kniete sich neben ihn. »Mach jetzt keinen Mist, ja?« Noch immer entglitt sein Blick ihrem, obwohl er sich bemühte, ihn zu halten. »Meine Kleine«, stieß er schließlich hervor.

»Spar deinen Atem. Du wirst ihn noch brauchen.«

Er schob seine Hand in ihre. Sie war eiskalt. »Sag Karin, dass ich sie liebe«, stieß er hervor. »Sie war das große Glück in meinem Leben. Sag ihr Danke von mir. Für alles.« Sie wollte widersprechen, er solle das Mama selbst sagen, doch dann verstand sie, dass das jetzt die Stunde war, vor der sie sich fürchtete, seit sie als Kind begriffen hatte, dass ihre Eltern sterben würden. Ihm blieb keine Zeit mehr, und sie nickte. »Mach ich. Versprochen.« Seine Hand zuckte in ihrer. »Such nach Peter.«

Im Laufschritt erreichten die beiden Schwestern die Bank und schoben Imke beiseite. »Herr Remy? Verstehen Sie mich?« Er nickte. Die Schwester gab ihrer Kollegin Anweisungen. Papa versuchte, sich aufzurichten. Seine Hand umklammerte ihre. »Peter«, wiederholte er. Es klang so drängend. »Versprich es.«

»Natürlich, Papa. Versprochen. Ich suche nach ihm.«

»Das ist gut.« Er ließ sich zurückfallen und schloss die Augen. Für immer.

Das Klingeln an der Haustür riss Imke aus ihren Erinnerungen. Ein Lieferdienst gab ein Paket für die neuen Nachbarn ab. Ein Paar mit zwei Kindern hatte das fünfzig Jahre alte Reiheneckhaus nebenan gekauft. Die Eltern arbeiteten beide Vollzeit. Er bei einer Consulting-Firma. Sie bei der Stadtverwaltung. Sohn und Tochter besuchten die Grundschule im Viertel. Morgens verließ die Familie das Haus und kam erst abends zurück. Teure Einrichtung. Zwei neue Autos vor der Tür. Bei diesem Lebensstandard blieb wenig Zeit für die Kinder. Imke taten sie leid.

Ihr Vater hatte immer Zeit für seine Mädchen gehabt und dafür die Dreißig-Stunden-Woche für sich eingeführt. Und das zu einer Zeit, als alle noch vierzig gearbeitet hatten. Er war Zahnarzt mit eigener Praxis gewesen, nur einen Steinwurf von zu Hause entfernt. Damit ihm genügend Zeit für seine Familie blieb, hatte er einen Partner aufgenommen. Mittags, wenn seine Mädchen von der Schule gekommen waren, saß Papa mit am Tisch. Mittwochnachmittag war er zu Hause geblieben, und freitags hatte er ganz freigehabt. Er war ein wunderbarer Vater gewesen. Rad- und Bootstouren hatten sie mit ihm unternommen. Indianerzelte gebaut. Auf Berge waren sie gekraxelt und hatten Drachen und Laternen mit ihm gebastelt. Unzählige Bücher hatte er ihnen vorgelesen, und später, während der Pubertät, hatte er immer ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte gehabt und auch den einen oder anderen Ratschlag, wie man mit Jungs am besten umging.

Sie quittierte den Empfang und stellte das Paket auf die Kommode im Flur. Genug getrödelt. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Waschmaschine und Geschirrspüler mussten auf ihre Fütterung warten. Zuerst war der Auftrag an der Reihe, den sie gestern von der Agentur bekommen hatte. Die Gebrauchsanleitung für einen Food Processor musste bis Montag übersetzt werden. Danach wollte sie nach Mama sehen.

Papas Tod hatte eine Welle von Bürokratie zur Folge, mit der ihre Mutter überfordert war. Das Nachlassgericht erwartete eine Vermögensaufstellung, die Rentenversicherung Nachweise. Gebühren mussten entrichtet und Kondolenzbriefe beantwortet werden. Außerdem nahm sie sich vor, Mama nach Peter zu fragen, denn sie hatte keine Ahnung, wer das sein sollte.

***

Auf dem Weg in ihr Büro warf Imke einen Blick in den Flurspiegel. Die Fünfzig rückten näher. Die Haut wurde trockener und die Falten zahlreicher. Das war nun mal so, trotz sorgfältiger Pflege. Dafür war ihr Haar noch immer hellblond, und der kurze Stufenschnitt gab ihr etwas Burschikoses. »Damit siehst du richtig frech aus«, hatte Moritz gesagt. Sie war seit eh und je der kumpelhafte Typ. Jeans und Sweatshirt statt Kostüm oder Hosenanzug. Lieber Ferienhaus als Luxushotel. Sie war unkompliziert. Was man von ihren Schwestern nicht unbedingt behaupten konnte.

Ihr Schreibtisch stand in der Speisekammer, die sie für ihre Arbeit zweckentfremdet hatte. Vier Quadratmeter mit einem schmalen Fenster zur Straßenseite. Ihr reichte das. Sie brauchte schließlich nur Drucker und PC. Die einzige Deko war eine Pinnwand voller Familienfotos, die Moritz, sie und die Zwillinge in allen Altersstufen und Lebenslagen zeigten. Als Babys und Kindergartenkinder, bei der Einschulung und im Skikurs, beim Schwimmen, Reiten und Fußballspielen. Bilder von Faschingsfesten, von Geburtstagsfeiern und Urlaubsfotos. Manchmal konnte Imke nicht glauben, dass die Kids schon siebzehn waren und erwachsen wurden. Nächstes Jahr Abitur und dann? Ein Auslandsjahr oder gleich das Studium? Sie würden ausziehen. So schnell. Es kam Imke vor, als habe sie sich nur ein paarmal umgedreht, und – schwupps – waren aus den Kindern mit den Rotznasen und schokoverschmierten Mündern, die sich im Dunkeln fürchteten und die man beim Malefitz auch mal gewinnen ließ, mit denen man harte Diskussionen übers Aufräumen und Taschengeld geführt hatte, beinahe Erwachsene geworden. Tobi jobbte für einen Gleitschirmkurs. Steffi mutierte von der Vegetarierin zur Veganerin und steckte ihren Bruder damit an, dessen Leibspeise Fleischpflanzerl gewesen waren, bis Fridays for Future seinen Blick auf die Welt verändert hatte. Seit einem Jahr demonstrierten sie immer wieder fürs Klima. Die beiden informierten sich inzwischen aus unterschiedlichen Quellen und glaubten nicht mehr jeden Mist, der online stand. Sie wurden selbständig denkende Menschen, und darauf konnten Moritz und sie stolz sein.

Imkes Blick wanderte weiter zu einem Foto, das sie mit ihrer älteren Schwester Geli und der jüngeren Anne zeigte. Äußerlich ähnelten sie sich. Alle drei hatten sie die blaugrauen Augen ihrer Mutter geerbt und deren helles Haar, während die ovale Gesichtsform und das ausgeprägte Kinn aus Papas Familie stammten.

In ihrem Wesen unterschieden sie sich allerdings sehr. Geli war chaotisch und sprunghaft und eine überbehütende und stets besorgte Mutter. Kein Wunder, dass ihre Töchter zum Studieren nach Berlin und Schwerin geflohen waren.

Imke war die Mittlere und galt als die Zuverlässige. Durchhaltevermögen war wohl ihre hervorstechendste Eigenschaft. Was sie anfing, brachte sie auch zu Ende, im Gegensatz zu Geli. Was ihr allerdings fehlte, waren Risikobereitschaft und Ehrgeiz.

Davon hatte dafür Anne mehr als genug abbekommen. Strategisch betrieb sie ihre Karriere und war auf dem besten Weg, ihr Ziel zu erreichen. Erst vor einem Jahr war sie zur Leiterin der Abteilung für Governance and Compliance eines internationalen Baukonzerns aufgestiegen und stand jetzt kurz vor der Berufung in den Vorstand.

Schade, dass Mama nicht auf dem Bild war. Sie ließ sich ungern fotografieren und mochte es auch nicht, wenn sich die Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sie stand lieber beobachtend am Rand und hielt sich raus. Und das war nur eine ihrer zahlreichen Macken. Türen durften nicht abgeschlossen werden, am besten auch nicht geschlossen. Sperrangelweit geöffnet waren sie ihr am liebsten. Aufzüge und öffentliche Verkehrsmittel konnte sie nicht benutzen, darin bekam sie Panik. Und wehe, man warf Essen weg. Dann konnte ihre Mutter richtig ausflippen. Das kommt vom Krieg, hatte Papa ihnen einmal erklärt. Dabei war ihre Mutter bei Kriegsende erst fünf Jahre alt gewesen und hatte sicher nicht allzu viele Erinnerungen an diese Zeit.

***

Bis Mittag hatte Imke die Rohfassung der Übersetzung fertig. Sie aß einen Becher Joghurt und räumte nebenbei den Spüler ein. Ob Mama wohl etwas zu Mittag gegessen hatte? Vermutlich nicht. Ihr Leben war aus dem Takt geraten. Sie musste sich neu justieren. Nach vierundfünfzig Jahren war sie plötzlich allein. Es musste furchtbar sein. Imke wagte nicht, sich das auszumalen, weil es die Frage aufwarf, wie es ihr in derselben Situation ergehen würde.

Natürlich sprach Mama nicht über ihre Gefühle. Das tat sie nie. Man konnte immer nur vermuten, was in ihr vorging. Ich liebe dich. Ob sie das je zu Papa gesagt hatte? Zu ihren Kindern jedenfalls nicht. Die Nachricht von Papas Tod hatte sie mit Fassung aufgenommen. Erst als Imke ihr seine letzten Worte überbrachte, war sie in Tränen ausgebrochen.

Jedenfalls trauerte Mama mehr um ihn, als Imke für möglich gehalten hätte. Obendrein hatte sie abgenommen, was ihr Sorgen machte. Mama war eine zarte Person. Wenn sie weiter an Gewicht verlor, hatte sie im Krankheitsfall keine Reserven mehr.

Kurz nach zwei radelte Imke zum Friedhof. Der Gärtner hatte die verwelkten Kränze weggeräumt. Stattdessen standen zwei Schalen mit Frühlingsblumen auf dem Grab. Noch immer war die Vorstellung schwer zu ertragen, dass ihr Vater unter diesem Berg aus Kies und Erde lag. Sein Körper. Sein Geist, seine Seele, sein unbändiges Lachen, seine Herzensgüte, wo waren sie geblieben? Imke hatte nie länger über das Jenseits nachgedacht. Ihre Eltern hatten mit der Kirche nichts am Hut und bezeichneten sie als scheinheiligen Verein von machtbesessenen Menschen. Beide waren aus der Kirche ausgetreten und hatten ihre Töchter mehr oder weniger atheistisch erzogen. Fragen nach Spiritualität hatte sich Imke eigentlich nie gestellt, und nun ertappte sie sich dabei, wie sie sich Gedanken um Papas Seele machte.

Vom Friedhof ging es weiter zum Bäcker. Einem Stück Biskuitrolle konnte Mama selten widerstehen. Imke kaufte zwei und bog kurz darauf in die Einfahrt ihres Elternhauses.

Vor über fünfzig Jahren hatten Jens und Karin das alte Haus gekauft. Es war wunderschön. Ein weißer Würfel, über den sich ein Walmdach stülpte. Sprossenfenster mit grünen Läden, eine Terrasse, über die eine Treppe in einen großen Garten führte, den Papa und Mama liebevoll angelegt und gepflegt hatten. Das Haus war hell und freundlich und verfügte über ausreichend Platz für eine große Familie.

Imke schob das Rad in den Ständer und sah sich um. Der Rasen musste gemäht werden. Vom Ahorn war ein Ast abgebrochen und steckte im Buchs vor dem Gartenhaus. Zwischen Zaun und Staudenbeet hatte sich Laub gesammelt. Mama ging es wirklich nicht gut, wenn sie ihren geliebten Garten verwahrlosen ließ.

Imke betrat das Haus wie immer durch die Hintertür, die meist offen war, und traf ihre Mutter in der Küche an. Sie goss gerade Milch in ein Schälchen. Dabei wurde sie von einer Katze beobachtet, die auf der Arbeitsfläche stand. Es war die hässlichste Katze, die Imke je gesehen hatte. Klapperdürr, dreifarbig. Schwarz, Rot und ein Ton, den man bestenfalls als schmuddelig bezeichnen konnte. Ein eingerissenes Ohr und ein so kurzer Schwanz, dass Imke sich fragte, was da wohl passiert war. Gleichzeitig schwappte eine kleine Welle von Dankbarkeit für dieses Tier in ihr an, das ihre Mutter offenbar aus der Reserve lockte.

»Hallo Mama. Du hast ja Besuch.«

»Ach, Imke. Ich habe dich gar nicht kommen hören. Sie ist einfach zur Terrassentür hereinstolziert und will nicht wieder gehen. Ich glaube, sie ist hungrig.« Mama stellte die Schale auf den Boden. Die Katze sprang hinunter und begann zu schlabbern.

»Soll ich Katzenfutter mitbringen, wenn ich einkaufen fahre?«

»Ach, ich weiß nicht. Dann nistet sie sich vielleicht hier ein, und ich bekomme Ärger mit dem Besitzer.«

»Sie sieht nicht so aus, als ob sich jemand um sie kümmert«, entgegnete Imke. »Sie ist ganz abgemagert.«

»Kann schon sein. Das Leben ist nun mal kein Honigschlecken. Auch für eine Katze nicht. Was willst du eigentlich schon wieder hier?«

»Ein paar Dinge mit dir besprechen. Am besten bei Kaffee und Kuchen.«

Ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin nicht hungrig.«

»Aber ich.« Imke füllte die Kaffeemaschine und beschloss, keine Bemerkung über Mamas Aufzug zu machen. Sie trug noch ihr Nachthemd und den Morgenrock mit einem farbenfrohen Muster exotischer Vögel, den Papa ihr geschenkt hatte. Seit Imke denken konnte, war das Haar ihrer Mutter zu einem kinnlangen Bob geschnitten, der im Lauf der Jahre weiß und dünn geworden war. Heute war der Ansatz fettig, außerdem nahm sie einen unangenehmen Geruch wahr, der unwillkürlich die Frage aufwarf, wann Mama wohl zuletzt geduscht hatte. Sie stellte sie nicht und deckte für zwei am Tisch im Wohnzimmererker.

Sowohl die Katze als auch ihre Mutter folgten ihr. »Eine Tasse Kaffee trinke ich mit.« Sie setzten sich, und die Katze sprang Mama auf den Schoß.

»Sie mag dich.«

»Unsinn.«

Imke sandte einen lautlosen Seufzer gen Decke, schenkte Kaffee ein und beobachtete, wie Mama unsicher eine Hand auf den Katzenrücken legte und mit der anderen nach der Kuchengabel griff. Na, ging doch.

»Und was willst du nun besprechen?«

»Drei Dinge. Erstens wollte ich dich fragen, ob ich im Gartenhaus meine Seifenwerkstatt unterbringen kann. Unser Keller ist zu klein dafür.«

»Es ist voller Gerümpel«, entgegnete Mama mit vollem Mund. »Aber das ist ja kein Hinderungsgrund. Ausräumen musst du es aber alleine.«

»Danke. Das hilft mir wirklich sehr.«

»Du musst mir nicht danken. Das ist doch selbstverständlich. Eine Familie hält zusammen.«

Das hatten sie immer getan. Es war Papa so wichtig gewesen.

»Trotzdem: Danke, denn es ist eben nicht selbstverständlich und wirklich großzügig von dir. Ich müsste sonst etwas mieten, und das kann ich mir im Moment nicht leisten, also lass mich bitte Danke sagen.«

»Bitte Danke sagen. Du bist kurios. Was ist zweitens?«

Imke atmete durch. Sie kannte das schließlich. Mama war einfach so. »Dein Geburtstag. Wie wollen wir ihn feiern?«

»Am liebsten gar nicht. Aber das werdet ihr Mädchen nicht gelten lassen. Also machen wir es hier bei … uns …« Sie stockte, kratzte mit der Kuchengabel Sahne von der Biskuitrolle und hielt sie der Katze hin, die sie mit einem Haps aufschleckte. Imke traute ihren Augen nicht. »Wir machen es hier«, wiederholte Mama. »Ich will nicht in ein Restaurant und schon gar nicht … Du weißt schon. Das will ich auf keinen Fall.«

»Natürlich. Das verstehe ich.« Eigentlich hatten sie wie immer die Geburtstage ihrer Eltern zusammen feiern und dafür ein Ausflugsschiff auf dem Starnberger See mieten wollen. Dafür war es jetzt sowieso zu spät. »Ich kümmere mich ums Essen«, erklärte Imke und stand auf. »Bin gleich wieder da.« Sie nahm ihrer Mutter die Kuchengabel aus der Hand und holte eine frische aus der Küche. Verblüfft nahm ihre Mutter sie entgegen. »Was war mit der anderen?«

»Nichts. Ist schon okay. Also, ich sorge dafür, dass niemand verhungern muss. Sollen wir ein kaltes Buffet machen oder lieber warm? Ein Menü?«

»Mach es, wie du willst.«

»Gut, dann gibt’s dein Leibgericht. Ein Lamm-Stifado, und vorher Suppe und Salat und …«

»Wo willst du veganes Lammfleisch herbekommen?«, fragte ihre Mutter mit blitzenden Augen. Langsam lief sie zur gewohnten Form auf. Dass Imke ihren Kindern Extrawürste beim Essen durchgehen ließ, würde Mama nie verstehen. Zu ihrer Zeit hatte es das nicht gegeben. Da wurde gegessen, was auf den Tisch kam, auch wenn es ekelhaft fetter Presssack voller Schwarten war, in denen nicht selten noch die Borsten steckten. Egal ob einem schlecht davon wurde, aufstehen durfte man erst, wenn der Teller leer war. Allein das Wort Presssack hatte bei Imke als Kind Würgereflexe ausgelöst. Gott sei Dank war Mama nie auf die Idee gekommen, ihn auf den Tisch zu bringen. Und überhaupt war sie erstaunlich tolerant gewesen, was das Essen anging. Aufessen mussten sie als Kinder nie, während das in anderen Familien durchaus üblich gewesen war, wie Imke von ihren Schulfreundinnen wusste.

»Lämmer sind Veganer, soweit ich weiß«, konterte Imke.

»Du bist ganz schön spitzfindig.«

»Ja, war ich schon immer. Steffi und Tobi werden sich selbst um ihr Essen kümmern. Sie können kochen.«

»Es war eine weise Entscheidung von dir, ihnen das beizubringen.«

»Gut. Dann wäre das ja geklärt. Dessert? Was magst du?«

Mama wollte zunächst nichts, dann Tiramisu oder besser Crème brûlée oder Pannacotta mit Erdbeeren. Am Ende einigten sie sich auf Pannacotta. Sie schrieben noch eine Gästeliste, die kurz ausfiel. Außer ihren Töchtern, nebst Partnern und Enkelkindern, wollte Mama nur ihre Freundin Erika und Papas Cousine Gitta dabeihaben. Während sie alles besprachen, fütterte Mama die Katze mit der Biskuitrolle. So war das nicht gedacht gewesen. Doch Imke sagte nichts. Als sie das Geschirr in die Küche trug, sah sie sich um, ob sie Hinweise auf ein Frühstück oder Mittagessen entdeckte. Im Spüler stand Geschirr von mehreren Tagen. Ob etwas von heute dabei war, konnte sie nicht erkennen. Es müffelte ziemlich, also startete sie das Programm, obwohl die Maschine noch nicht voll war, und kehrte zu Mama zurück. »Hast du Lust, heute Abend zum Essen zu kommen? Es gibt Pizza.« Die gab es freitags meistens.

»Wenn ich abends schwer esse, schlafe ich schlecht.«

»Hast du denn heute überhaupt schon etwas gegessen?«

Mama hob den Kopf und sah sie direkt an. »Was ist das denn für ein Tonfall? Bin ich jetzt das Kind?«

»Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast abgenommen.«

Für eine Sekunde glättete sich das faltige Gesicht ihrer Mutter. Ein beinahe zärtlicher Ausdruck erschien, verschwand aber sofort wieder. »Ich werde auch wieder zunehmen. Danke für die Einladung, aber ich bleibe daheim. Was ist Punkt drei?«

Einen Moment zögerte Imke, ob sie das Thema Peter jetzt ansprechen sollte, während Mama ihre Aufmerksamkeit der Katze zuwandte und sie tatsächlich kraulte. Das Tier rollte sich vollends in ihrem Schoß zusammen und begann zu schnurren. Ein giftiges Gefühl stieg in Imke auf. Ihre Mutter kraulte eine wildfremde räudige Katze, während sie es zeitlebens nicht geschafft hatte, eine zärtliche und liebevolle Mutter zu sein. Ohne Papa hätten wir drei Mädchen unsere Kindheit nicht unbeschadet überstanden, dachte Imke. Dann hätten wir jetzt alle einen an der Waffel! Was hätte ich dafür gegeben, von ihr mal gestreichelt zu werden. Und dann lachte sie auf. Herrgott! Es konnte nicht sein, sie war eifersüchtig auf eine Katze.

»Was ist?«

»Nichts. Es ist nur schön, dass du ein wenig Gesellschaft hast. Vielleicht war es ein Fehler, sie mit Kuchen zu füttern. Vermutlich wirst du sie jetzt nicht mehr los.«

»Ich setze sie nachher vor die Tür. Sie gehört mir nicht. Also, was wolltest du noch?«

»Papa hat mich um etwas gebeten.«

»Er ist seit acht Wochen tot.«

»Ja, ich weiß. Ich war dabei, als er starb. Er hat mir nicht nur aufgetragen, dir zu sagen, wie sehr er dich geliebt hat. Er hat mir auch einen Auftrag gegeben. Ich soll jemanden suchen.«

»Jemanden suchen?« Die Hand hielt inne, die Katze hob den Kopf, als wolle sie fragen, wieso es nicht weiterging. »Wen denn?«

»Einen Peter. Weißt du, wen er meint? Ich habe keine Ahnung.«

Mamas Blick wich aus. Sie konzentrierte sich auf die Katze und begann wieder, sie zu kraulen. »Nein. Es gibt niemanden in unserem Bekanntenkreis, der so heißt.«

Imke fragte nicht weiter nach, denn am Tonfall hatte sie erkannt, dass ihre Mutter log. Wenn sie das tat, stieg ihre Stimme unwillkürlich in die Höhe, wurde heller. Genau wie eben.

Es hatte keinen Sinn, nachzuhaken oder Mama der Lüge zu bezichtigen. Sie wusste, wer gemeint war, doch sie würde es ihr nicht sagen.

Karin

Imke war endlich gegangen. Karin dachte an Böll und seinen Roman von der Fürsorglichen Belagerung. Nichts anderes tat ihre Tochter. Sie mischte sich ein, umzingelte und belagerte sie. Kontrollierte sogar, ob sie etwas aß, und schaltete einfach den Spüler an, obwohl der halb leer war. Und ganz sicher hatte sie sich auf die Zunge gebissen, um nicht zu fragen, weshalb ihre Mutter um drei Uhr nachmittags noch im Nachthemd herumlief. Sie tat das alles zwar in bester Absicht, so wie die Polizisten in dem Roman. Ihre Tochter war voller edler Motive, wie Liebe und Dankbarkeit und Fürsorge und all dem Quatsch. Doch sie ging zu weit, wenn sie nach Peter fragte, auch wenn sie das nicht ahnen konnte. Verdammt! Wie kam Jens dazu, Imke auf diese Fährte zu setzen!

Karin öffnete die Terrassentür und schob die Katze mit dem Fuß hinaus. Doch die wollte nicht, witschte gleich wieder herein und sprang aufs Sofa. Mit schief gelegtem Kopf sah sie zu ihr auf. Ich hab dich durchschaut, schien sie zu sagen. Du bist gar nicht so kalt und herzlos, wie du tust. Tief in dir ist all das im Übermaß vorhanden. Liebe. Herzensgüte. Mitgefühl. Es ist nur verschüttet. Eigentlich willst du, dass ich bleibe. Gib es zu.

»Ja, von mir aus, dann mach es dir hier gemütlich! Aber wehe, du kotzt den Kuchen auf den Teppich, dann fliegst du raus. Haben wir uns verstanden?« Die Katze schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder, als habe sie das tatsächlich begriffen.

Karin stellte sich an die Terrassentür und sah in den Garten, den sie und Jens mit viel Liebe und Freude angelegt und gepflegt und immer wieder umgestaltet hatten. Der Rasen musste vertikutiert und die vertrockneten Stauden zurückgeschnitten werden. Die Rosen brauchten Dünger. Doch ihr fehlte die Kraft dafür. Nicht die physische – sie war zäh –, sondern die psychische. Dass Jens sich einfach davongemacht hatte, war unverzeihlich. Wo sie doch fest entschlossen gewesen war, vor ihm zu sterben, damit sie nicht um ihn trauern musste. Denn das würde sie nicht ertragen. Zweimal hatte sie es versucht, allerdings nicht wegen der Trauer, sondern wegen … dem anderen.

Kam das jetzt alles wieder hoch! Wo sie es doch so gut wie vergessen hatte. Kein Blick zurück! Das war seit Jahrzehnten ihr Lebensmotto, und nun wurde ihr der Kopf mit Gewalt in diese Richtung gedreht.

Karin lehnte ihn müde gegen die Scheibe. Peter. Wie lange hatte sie nicht mehr an ihn gedacht? Er war die offene Wunde, die in ihr klaffte. So konnte man das sagen, ohne zu übertreiben. Die einzige Möglichkeit, diesen Schmerz auszuhalten, hatte darin bestanden, ihn zu vergessen. Und nun kam Imke und stellte Fragen.

Imke, ihre fürsorgliche und zuverlässige Tochter. Sie war eine gute Mutter. Sie hatte das entschieden besser hinbekommen als sie selbst. Überhaupt war sie eine tolle Frau, genau wie Geli und Anne. Drei wunderbare Töchter waren ihnen da gelungen. Manchmal konnte sie es nicht glauben, dass es ihr geglückt war, ihren Kindern ein Vorbild zu sein, ihnen eine Anleitung zu geben, wie man im Leben seinen Platz fand und es meisterte. Natürlich hatte Jens einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen. Vermutlich sogar den wesentlichen. Genau genommen war sie eine grauenhafte Mutter und hatte dieses Übermaß an Liebe, Glück und Freude, das ihr im Leben zuteilgeworden war, gar nicht verdient. Im Grunde war sie ein schlechter Mensch. Abschaum. Gesindel. Das Letzte. Du taugst nichts! Früher hat man solche wie dich beseitigt!

Weshalb war es ihr nie gelungen, über ihren Schatten zu springen und ihre Töchter fest in den Arm zu nehmen, sie zu knuddeln und zu kitzeln, bis sie kreischten, ihnen übers Haar zu streichen, sie zu küssen und zu liebkosen, ihnen zu sagen, wie sehr sie sie liebte, wie wunderbar sie waren? Jede von ihnen auf ihre Art. Es ging nicht. Ihre Hand erstarrte in der Luft, ihre Liebe gefror zu einem Eisblock, sobald sie es versuchte. Angst lähmte sie. Wer war sie schon? Also hatte sie ihre Mädchen bestmöglich versorgt, mit Nahrung und Kleidung. Mit guter Bildung. Die war ihr wichtig gewesen. Ihren Mädchen sollte es nicht so ergehen wie ihr selbst. Medizin hatte sie studieren wollen. Bis es eines Tages an der Tür geklingelt hatte und das Unheil begann. Mit einem Klingeln. Ganz harmlos. Ihre Töchter sollten jede Chance haben. Dafür brauchten sie Abitur. Sie hatte sie zum Lernen angehalten, hatte sie getriezt. Alle drei hatten studiert. Das war es, was sie gut gemacht hatte. Und Jens das andere, mit seiner Güte und Herzenswärme. Er war ein umwerfender Vater gewesen. Und außerdem die Pufferzone zwischen ihr und der Wirklichkeit. Er hatte sie beschützt. Damit niemand erkannte, wer sie wirklich war. Das hatte sie an den rabenschwarzen Tagen geglaubt. Aber nein, er war der Schutzschild gewesen, der sie abschirmte vor all dem Unsagbaren. Was für eine Aufgabe er sich zugemutet hatte. Aus Liebe zu ihr, an die sie in den schlimmen Stunden nicht glauben konnte.

Und doch hatte er sie gemeint, von dem Tag an, an dem sie sich begegnet waren. Vor vierundfünfzig Jahren. Im Juli1965, in der Trambahn von Neuhausen Richtung Max-Weber-Platz. Ein anstrengender Arbeitstag in der Rotkreuzklinik lag hinter ihr. Dort hatte sie nach Abschluss ihrer Ausbildung eine Anstellung als Säuglingspflegerin gefunden. Den hochtrabenden Traum, Ärztin zu werden, hatte sie schon Jahre zuvor zu Grabe getragen. Ohnehin würde sie nicht dafür taugen. Die Arbeit mit den Säuglingen erfüllte sie aber auch nicht. Die Angst, etwas falsch zu machen, stand im Vordergrund. Dass ihr ein Kind beim Baden entgleiten und ertrinken könnte oder beim Wickeln herunterfallen. Erst am Tag zuvor war eine Sicherheitsnadel im Windelpack eines Buben aufgegangen und hatte sich in die Leiste gebohrt. Der Kleine hatte geschrien, bis sie das Malheur beim nächsten Wickeln entdeckte, die Nadel beseitigte, den Pikser desinfizierte und mit einer Salbe behandelte. Gott sei Dank hatten die anderen nichts bemerkt.

Angst beherrschte ihr Leben. Es gab so viel, das man falsch machen konnte. Überall lauerten Fallstricke und Gefahren. Auch daheim fühlte sie sich nicht sicher, obwohl sie sich so auf ihre eigene Wohnung gefreut hatte. Innerlich hatte sie gejubelt, als sie ihre erste Gehaltsabrechnung erhalten hatte. Jetzt war sie endlich frei, konnte das Schwesternheim verlassen. Seit einigen Monaten lebte sie in einer kleinen Wohnung in einem neu hochgezogenen Block in Haidhausen. Doch wenn sie dort war, hatte sie oft das Gefühl, keine Luft zu bekommen, zu ersticken. Erst wenn sie die Balkontür öffnete, und das Küchenfenster obendrein, ging es besser.

An diesem Tag im Juli war ihre Schicht um fünf Uhr vorüber gewesen, und sie war erschöpft und völlig verspannt von der Anstrengung, ja nichts falsch zu machen. Den ganzen Tag über war es schon heiß und die Temperatur bis auf dreißig Grad geklettert. Als sie zur Trambahnhaltestelle ging, zogen Wolken auf, Wind setzte ein. Er wirbelte Staub und vertrocknete Lindenblüten auf. Es würde ein Gewitter geben. Hoffentlich schaffte sie es nach Hause, bevor das Unwetter losbrach. Die Tram kam, sie stieg ein und mit ihr ein weiteres Dutzend Menschen. Die Leute drängelten nach, doch sie hielt alle auf, weil sie ihre Monatskarte nicht parat hatte. Ungeduldig schnalzte der Schaffner mit der Zunge. »Geht’s etwas flotter, Fräulein?« Natürlich wurde sie hektisch und ließ die Tasche fallen. Schlüsselbund und Geldbörse, Puderdose, Taschenspiegel und Handcreme kullerten über den Boden. Anstatt sich zu bücken, zog sie instinktiv den Kopf ein, duckte sich weg. Im selben Moment griff jemand nach ihrem Ellenbogen. »Ich helfe Ihnen, wenn Sie gestatten.« Es war ein schlaksiger junger Mann. Sie nickte verdattert. Was hatte er gesagt?

Zwei Minuten später saß er neben ihr. Während sie ihre Handtasche umklammerte, damit sie nicht noch einmal herunterfiel, und die Tram die Nymphenburger Straße entlangzuckelte, stellte er sich als Jens Remy vor. Student der Zahnmedizin im vorletzten Semester. Seine Augen waren so klar und grün wie der Eibsee. Für einen Augenblick glaubte sie, bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können. In ihm gab es nichts Verschlagenes oder Gemeines, nichts Böses, nur Freundlichkeit. Doch man konnte sich natürlich täuschen. Sie schlug die Augen nieder. »Karin Allenstein. Ich bin …« Beinahe hätte sie gesagt: nichts Besonderes. »Ich bin Säuglingspflegerin.«

»Das ist ja famos.«

»Ja? Wieso?«

Sein Mund verzog sich zu einem Lachen, seine Augen strahlten. »Das erkläre ich dir später mal. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen?«

War es in Ordnung? Sie wusste es nicht und nickte.

»Prima. Wollen wir heute Abend ins Kino gehen? Im Tivoli ist gerade der neue James Bond angelaufen. ›Goldfinger‹.«

»Ach, ich weiß nicht.«

»Überlege es dir. Ich frage dich morgen noch mal. Jetzt muss ich raus.« Die Tram hielt am Stiglmaierplatz, und ehe sie es sich versah, war er ausgestiegen, und sie war sich sicher, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Doch am nächsten Tag stand er wieder an ihrer Haltestelle beim Krankenhaus.

Ein würgendes Geräusch riss Karin aus ihrer Erinnerung. Die Katze war vom Sofa gesprungen und erbrach sich auf den Teppich. »Ach, du verdammtes Vieh.« Sie klang nicht wütend, das war sie nicht, sondern müde und kraftlos. Trotzdem verstand das Tier, schoss zur offenen Terrassentür hinaus und verschwand in der Hecke der Nachbarn. Ich war nicht immer so, rief sie der Katze in Gedanken hinterher. Ich war mal ganz anders.

Karin

Sommer 1956

Fred aus der 12 B passte sie nach der letzten Stunde vor dem Klassenzimmer ab. Er war schon achtzehn, zwei Jahre älter als Karin, und besaß ein Moped. Eine chromblitzende Zündapp. Mit seiner blonden Tolle, den Bluejeans mit dem breit umgeschlagenen Saum und dem weißen T-Shirt sah er aus wie der jüngere Bruder von James Dean. Zahlreiche Mädchen des Adolf-Weber-Gymnasiums schwärmten für ihn. Natürlich nicht die braven mit den Faltenröcken und Zöpfen. Die rümpften die Nase über ihn und alle, die Bluejeans trugen und Rock ’n’ Roll liebten. Elvis Presley, Chuck Berry. Little Richard.

Karins Herz setzte für einen Schlag aus, als sie Fred Kaugummi kauend an der Wand lehnen sah, die Daumen in die Gürtelschlaufen gehakt, und er sie ansprach. »Hey Karin.«

»Hallo Fred.«

»Wir treffen uns nachher im Freibad. Kommst du mit?«

Fred und seine Rockabilly-Freunde waren die geheimen Stars der Schule. Von einem aus der Gruppe eingeladen zu werden, war der Ritterschlag. Karin warf das Bücherbündel, das sie mit einem Gürtel zusammengezurrt hatte, lässig über die Schulter, wechselte das Standbein und reckte die rechte Hüfte raus. So kam ihre nagelneue Bluejeans prima zur Geltung, für die sie sich einen Tadel von der Bio-Möller eingefangen hatte. Nachdenklich zog sie die Lippe unter die Schneidezähne. »Hm … Ich gebe Dagmar heute Nachmittag Mathe-Nachhilfe.« Sie wohnte auf derselben Etage und gehörte zu den Faltenrockträgerinnen. Brave Tochter, durchschnittliche Schülerin, davon beseelt, mal einen biederen Mann zu finden und ein spießiges Leben zu führen.

»Verschieb es auf den Winter.«

Jetzt musste sie lachen.

»Oder hat deine Regierung was dagegen, wenn du mit uns rumgammelst?«

»Ich muss es ihr ja nicht erzählen.« Doch es ging nicht. Sie brauchte das Nachhilfegeld für den Bikini. Knallgelb mit großen weißen Tupfen. Jeden Morgen auf dem Weg zur Schule sah sie nach, ob er noch im Schaufenster des Modehauses Schlüter lag. Drei Mark fehlten ihr noch. Dreimal Nachhilfe und er gehörte ihr. Obwohl Mami sicher mit ihr schimpfen würde, weil er so knapp war. Vorausgesetzt, sie zeigte ihn ihr.

»Was ist nun?«, fragte Fred.

»Vielleicht. Mal sehen.«

»Überleg nicht zu lange. Das macht Runzeln. Wir sind auf der Wiese beim Kiosk. Du wirst uns schon finden.« Er stieß sich von der Wand ab, zwinkerte ihr zu und verschwand aus ihrem Blickfeld.

»Puh!« War das gerade wirklich geschehen?

Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, während sie vor der Schule nach Pelle Ausschau hielt. Ihr Bruder wartete bei der Bank auf sie. Auch er besaß das hellblonde Haar der Allensteins und den gleichen hellen Porzellanteint, auf den ihre Mutter so stolz war. Auf seiner Nase tummelten sich allerdings Sommersprossen, die Mami auf ihrer nicht dulden und mit Zitronensaft bekämpfen würde. Das erste Jahr auf dem Gymnasium lag beinahe hinter Pelle, doch er wirkte immer noch so, als habe er sich verlaufen. Er war so klein und schmächtig, dass er für jünger gehalten und gerne übersehen wurde. Was auch daran lag, dass er still war, in sich gekehrt. Oft ganz versunken in seiner Gedankenwelt, die von Sagen- und Märchengestalten bevölkert wurde. »Er ist nun mal ein Träumer, wie sein Vater.« Das sagte Mami oft. Doch er konnte auch eine echte Nervensäge sein.

Wenn Mami von Papa sprach, dann lag immer eine Zärtlichkeit in ihrer Stimme, die Karin ahnen ließ, wie sehr sie Vati geliebt hatte. Er war vier Monate vor Kriegsende gefallen. Da war sie erst vier Jahre alt gewesen, und hatte daher kaum Erinnerungen an ihn.

Auf dem Heimweg überlegte Karin, ob sie die Nachhilfestunde vorverlegen konnte. Wenn sie nur schon den Bikini hätte. Hatte sie aber nicht. Der alte Badeanzug musste es noch tun. Oder sie borgte sich heimlich Mamis. Diese und ähnliche Gedanken wälzte sie, bis sie in die Nibelungenstraße einbogen und das Haus ansteuerten, in dem sie seit einigen Jahren wohnten. Fünfte Etage mit Balkon. Vier Zimmer, Küche und ein eigenes Bad. Bis zu Karins zehntem Geburtstag hatten sie zur Untermiete in einer von Flüchtlingen vollgestopften Wohnung gelebt und sich zu dritt ein Zimmer teilen müssen, dann war es Mami gelungen, diese Neubauwohnung zu ergattern. Der schiere Luxus.

So wie sie wollte Karin mal werden. Ihre Mutter war eine moderne Frau, die als Chefsekretärin ihr eigenes Geld verdiente und ihre Familie ernährte. Wobei sie wusste, dass es Mami andersherum lieber wäre. Dass jemand für sie und ihre Kinder sorgte, während sie sich um den Haushalt kümmerte. Doch daraus wurde vermutlich nichts mehr. Mami war schon vierzig. Jenseits von Gut und Böse. Das hatte Mamis Freundin Marion mal gesagt. Ebenfalls Kriegswitwe. Dennoch gaben die beiden nicht auf. Sie gingen viel aus. Ins Kino und Theater, in Ausstellungen, und sie besuchten Tanztees in der Hoffnung, einen passenden Mann kennenzulernen. Die aber waren rar. Zu viele waren im Krieg geblieben.

Karin betrat mit ihrem Bruder im Schlepptau das Haus und nahm die Post aus dem Briefkasten. Weiter hinten wischte Frau Frey den Hausflur. Eine verbitterte alte Schachtel, die mit ihrem Mann der Vergangenheit nachtrauerte. Einer Zeit, in der noch Regeln und Anstand gegolten hatten. Pelle drückte den Liftknopf. Surrend fuhr der Fahrstuhl nach unten. Bis er kam, hatte die Frey sie entdeckt, und Karin grüßte artig. »Guten Tag, Frau Frey.«

»Karin, Karin.« Ein Kopfschütteln begleitete diese Worte. »Wie du aussiehst. Diese Hosen. Du bist doch ein so hübsches Mädchen.«

»Bluejeans sind modern.«

»Das ist doch keine Mode, sondern eine Verirrung. Aber so etwas passiert, wenn in der Familie die männliche Hand fehlt und die Frau für alles sorgen muss. Arme Kinder.«

»Wir sind nicht arm.«

»Ich meinte das nicht im materiellen Sinn«, erklärte die Frey. »Sondern, was eure Erziehung angeht. So ist das bei Schlüsselkindern nun einmal. Früher hat es das nicht gegeben.«

»Aber jetzt ist jetzt.« Der Lift kam endlich unten an, Karin öffnete die Tür und schob ihren Bruder hinein. »Auf Wiedersehen, Frau Frey.«

Wie immer hatte Mami das Mittagessen im Topf auf dem Herd bereitgestellt. Heute gab es Kartoffelsuppe. Sogar mit Würstchen. Karin schaltete die Platte ein und bat Pelle umzurühren, bis sie wieder da war. Sie lief rasch zu Dagmar Schultheiß, die zwei Wohnungen weiter auf demselben Flur lebte, und verlegte die Nachhilfestunde.

Um drei packte sie die Tasche fürs Freibad. Vorher probierte sie Mamis türkis-weiß gestreiften Badeanzug und betrachtete sich im Spiegel. Er saß ein wenig stramm, denn sie war besser gepolstert als ihre Mutter. Sie war klein wie ein Kobold, aber gut proportioniert, mit schmaler Taille, runden Hüften und einem Busen, der genau richtig war.

Handtuch, Decke und Sonnenmilch landeten in der Tasche. Pelle saß in der Küche am Tisch und machte Hausaufgaben. Sie nahm einen Apfel aus der Obstschale, suchte in der Küchenschublade nach einem Schokoriegel und steckte beides in die Badetasche.

»Gehst du ins Schwimmbad?«

Karin nickte. Die unausgesprochene Frage ›Darf ich mit?‹ lag in der Luft. Doch die Antwort darauf war längst gefunden. »Heute ist Mittwoch. Da hast du Klavierunterricht.«

»Der dauert doch nur eine Stunde. Darf ich mitkommen? Bitte.«

»Es geht nicht.«

»Warum?«

»Darum halt. Ich bringe dich zum Musikunterricht und danach gehst du allein nach Hause. Du bist elf, du kannst das. Ich gebe dir meinen Schlüssel. Bis Mami kommt, bin ich daheim. Ich klingle zweimal lang und zweimal kurz, dann lässt du mich rein. Okay?«

Er nickte. Doch sie wusste, dass er sich fürchtete. Aber sie konnte unmöglich mit ihrem kleinen Bruder im Freibad auftauchen. Also wuschelte sie ihm durch die Haare und sprach ihm Mut zu.

Natürlich waren sie zu früh bei der Musikschule. Karin platzierte Pelle auf der Bank vor dem Unterrichtsraum und hängte ihm ihren Schlüssel an einem Band um den Hals. »Um sechs bin ich daheim. Versprochen. In meiner Schublade sind noch zwei Päckchen Ahoi-Brause. Die darfst du dir nehmen.«

Als sie sich in der Tür noch einmal nach ihm umdrehte, sah er ihr mit großen Augen nach. Es zerriss ihr beinahe das Herz. Sie kehrte um und nahm die Silberkette ab, die Oma aus Lourdes mitgebracht und ihr zur Firmung geschenkt hatte. Daran hing ein Medaillon mit einem Relief der Jungfrau Maria. Karin machte sich nicht viel daraus, doch ihr Bruder hatte Omas Geschichte vom Wunder von Lourdes andächtig gelauscht. Er liebte Märchen und Sagen. Er glaubte an Hokuspokus und Wunder. »Sie wird auf dich aufpassen und dich beschützen. Wenn es nötig ist, schenkt sie dir auch Mut und Kraft.« Sie legte ihm die Kette um, und seine Hand schloss sich um den Anhänger. »Du schenkst sie mir?«, fragte er staunend, und sie zögerte einen Moment. »Klar. Sie gehört jetzt dir. Bis später.«

Die Sonne brannte vom Himmel, als Karin das Dante-Bad erreichte. Der Geruch von Chlorwasser und Sonnenöl lag in der Luft, und leise klang von irgendwoher der neue Elvis-Song zu ihr. Sie ging der Musik nach und entdeckte Fred und seine Freunde auf der Wiese hinter dem Kiosk. Ein halbes Dutzend Jungs und Mädchen hatte Decken und Handtücher ausgebreitet. Ein Kabel zog sich vom Büdchen über die Wiese zu einem tragbaren Schallplattenspieler. Fred sang mit Elvis im Duett »Heartbreak Hotel«. Eine Flasche Pepsi diente ihm als Mikrofon. Sein Hüftschwung war filmreif, und aus den Haaren und der dunkelblauen Badehose perlte noch das Wasser. Es war zum In-Ohmacht-Fallen. Als er sie bemerkte, packte er eine weitere Portion Schmalz in seine Stimme. »Just take a walk down lonely street to Heartbreak Hotel.« Das Lied war zu Ende. Theatralisch sank er vor ihr auf die Knie und warf die Arme in die Luft. »Wahnsinn. Du bist gekommen, Baby!«

Karin lachte. »Logisch. Carpe diem, wie Fräulein Rösler immer sagt. Schon mal überlegt, Schauspieler zu werden?«

»Wenn schon, dann Sänger. Und lassen Sie bitte die Rösler aus dem Spiel, Fräulein Allenstein. Die hat mir heute eine Vier in Latein verpasst.«

»Ja, wenn das so ist.« Sie wusste nicht weiter und sah sich ratlos um. Fred bemerkte ihre Unsicherheit und stellte ihr die anderen vor. Seinen besten Freund Harald, der den Spitznamen Horex trug, weil er ein schrottreifes Motorrad dieser Marke wieder flottgemacht hatte. Karin kannte ihn vom Sehen. Er ging auch aufs Adolf-Weber-Gymnasium. Ein geduldiger und ruhiger Kerl mit einem kleinen Feuermal auf der linken Wange. Er nickte ihr zu. »Servus Karin.« Neben ihm saß Babs auf einem Badetuch und cremte sich ein. Sie ging in die 10 E und war der Kumpel-Typ. Ihre Markenzeichen waren ein kurzer Fassonschnitt und knallrot geschminkte Lippen. Beides sorgte regelmäßig für Gesprächsstoff bei Erwachsenen. Mit den kurzen Haaren sehe sie aus wie ein Junge, wurde ihr vorgeworfen, oder wahlweise, wegen der roten Lippen, wie eine Professionelle. Manche vermuteten gar, sie wäre vom anderen Ufer. Babs war jedenfalls gegen den Strich gebürstet und provozierte gerne. Karin bewunderte sie, weil sie sich etwas traute, und nun reichte Babs ihr die Hand. »Willkommen im Klub.« Neben ihr hatte sich Max ausgestreckt. Sie schob die Sonnenbrille auf die Nasenspitze. »Eigentlich heiße ich Maximiliane. Meine Eltern wünschten sich einen großen, stattlichen Sohn, der diesem Namen Ehre macht. Das haben sie jetzt davon.« Sie deutete auf sich. »Das Gegenteil. Klein und weiblich.« Sie lachte. »Du bist auch nicht gerade ein Riese.« Weiter ging es mit Manfred, den alle Mani nannten. Auch er war Schüler des Adolf-Weber und ein Cousin von Fred. Mani war der Einzige, der keine Badekleidung trug, sondern in Bluejeans und Hemd auf seiner Decke saß und deren Karomuster anstarrte. Unsicher hob er den Kopf, als Fred sie vorstellte. Karin erschrak. Auf dem linken Jochbein prangte ein blauer Fleck, ein Auge war blutunterlaufen. Sie unterdrückte die Frage, wie das passiert war. Er zuckte mit den Schultern und ließ sich auf die Decke fallen. »Bin gegen einen Schrank gelaufen«, sagte er. Das sollte wohl lässig klingen, doch es klang eher verzweifelt, fand Karin.

Fred zog sie beiseite. »Frag ihn nie danach. Da ist er empfindlich.«

»Ist gut, aber warum?«

»Das war sein Vater. Der verprügelt ihn regelmäßig. Und jetzt? Wettschwimmen?«

»Gegen dich verliere ich sowieso. Du hast die längeren Tentakel.«

»Okay. Dann eben planschen.«

Weiter hinten gab es Umkleidekabinen. Karin zog sich um. Als sie herauskam, waren Fred, Max und Horex bereits im Wasser und machten Quatsch. Sie spritzten sich nass, tauchten sich unter, und sie gesellte sich dazu. Schließlich ließ sie sich doch auf ein Wettschwimmen ein und erreichte als Erste den Beckenrand. Ganz bestimmt, weil Fred sie hatte gewinnen lassen. Prustend schlug er neben ihr an. »Ganz schön flott, Fräulein Allenstein. Auch ganz schön mutig?« Sein Blick wanderte zum Sprungturm und ihr wurde flau. Das Einmeterbrett war ihr persönliches Maximum. Das Dreimeter hatte sie mal versucht und war mit Puddingknien umgekehrt. Fred schielte nach ganz oben. »Fünf Meter. Wetten, du traust dich nicht!«

»Die Wette hast du schon verloren«, hörte sie sich sagen. »Wer als Erster oben ist.« Behände zog sie sich am Beckenrand hoch, lief zum Sprungturm und erklomm in Windeseile die Stufen. Fred dicht hinter ihr. Erst als sie vor dem Brett stand, wollte die Angst kommen. Doch kneifen galt jetzt nicht. Nur nicht nachdenken!, befahl sie sich, ging bis zum Ende des wackeligen Bretts, ignorierte ihr rasendes Herz und trat ins Leere. Sie ließ sich kerzengerade fallen, die Beine voran, die Arme an den Körper gedrückt, so wie sie es schon oft bei anderen gesehen hatte. Eine Sekunde freier Fall, dann schlug das Wasser über ihr zusammen, kühl und still. Vor ihren geschlossenen Augen tanzten noch kurz Reflexe, da berührten ihre Füße schon den Boden, sie stieß sich ab und kam schnaubend an die Wasseroberfläche. Ihre bebenden Nerven beruhigten sich, und Euphorie schoss in ihr hoch. Das war herrlich gewesen! Das wollte sie gleich noch einmal. Sie sprangen noch einige Male, bis ihr kalt wurde und sie aus dem Wasser stiegen.

Es wurde ein lustiger Nachmittag, und die Zeiger der Uhr am Kiosk wanderten schneller Richtung sechs, als ihr lieb war. Fred ertappte sie, wie sie wieder einmal nach der Zeit sah. Es war schon Viertel vor sechs, und sie hatte keine Lust zu gehen. »Wann musst du denn daheim sein, damit es keinen Ärger gibt?«

»Um sechs.« Pelle wartete, und außerdem musste sie Mamis Badeanzug trocken kriegen, bevor sie aus dem Büro kam.

»Viertel vor«, sagte Fred. »Das schaffen wir. Ich fahr dich.«

Wie könnte man zu diesem Angebot Nein sagen! In Windeseile zog sie sich um, und auch Fred packte seine Sachen. Der Aufbruch war ein wenig überstürzt. Horex grinste über beide Ohren. »Da hat’s anscheinend jemanden erwischt.«

»Ist nur die gute Kinderstube«, konterte Fred todernst. »Der Herr begleitet die Dame nach Hause.« Er deutete eine Verbeugung an und reichte Karin den Arm. »Gnädigste.«

Sie bekam einen Lachanfall, hakte sich bei ihm ein und verabschiedete sich mit wedelnder Hand von den anderen. Freds Zündapp stand vorm Dante-Bad. »Schon mal Motorrad gefahren?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du musst dich gut an mir festhalten, und pass auf, dass du mit den Beinen nicht an den Auspuff kommst. Der wird heiß, und es wäre schade um die wohlgeformten Waden.«

»Eher um meine Bluejeans.« Sie hatte monatelang dafür gespart.

»Um die natürlich auch.«

Er startete die Maschine. Sie kletterte auf den Soziussitz und schlang die Arme um seine Taille. Leider dauerte die Fahrt nur fünf Minuten. Sie hätte noch Stunden so weiterfahren können und widerstand der Versuchung, ihren Kopf an seinen Rücken zu lehnen. Ein klein wenig verschossen war sie wohl in Fred. Er bog in die Nibelungenstraße ein und ließ die Maschine vor dem Hauseingang ausrollen. Dort standen Frau Frey und Frau Schultheiß in ihren geblümten Kittelschürzen und steckten die Köpfe zusammen. Dagmars Mutter vertrat dieselben rückwärtsgewandten Ansichten von Disziplin, Zucht und Ordnung wie die Frey. Da hatten sich zwei gefunden.

Natürlich blieb ihr Eintreffen nicht unbemerkt. Neugierig wurden Fred und sie gemustert. Ein missbilligendes Kopfschütteln folgte. Und Karin konnte nicht anders. Der Teufel ritt sie, es diesen Spießerinnen zu zeigen. Oder war es Trotz? Jedenfalls folgte sie ihrem Impuls, schlang die Arme um Freds Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Danke fürs Heimbringen.«

»Immer wieder gerne, Fräulein Allenstein.« Grinsend deutete Fred eine Verbeugung an. »Jetzt haben die alten Schachteln Gesprächsstoff für die ganze Woche«, flüsterte er ihr zu.

»Mindestens. Bis morgen in der Schule.« Sie winkte Fred nach, machte den Rücken gerade und ging an den beiden Klatschbasen vorbei. Ihr Leben ging die gar nichts an.

Anne

Es war zehn vor drei an diesem Freitagnachmittag Mitte Mai. Anne Hesse stand im Waschraum für die Damen der Leitungsebene – was bedeutete, dass sie ihn für sich allein hatte, denn sie war die einzige Frau im Unternehmen, die es so weit nach oben geschafft hatte – und prüfte ihre Erscheinung. Noch zehn Minuten bis zum Meeting mit Nils Bachlmann. Er war die rechte Hand von Ludwig Weigelt, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender der Julius Straub AG und somit Big Boss des international agierenden Unternehmens für Hoch- und Tiefbau.

Bei dem Gespräch konnte es nur um Details gehen, denn das Wesentliche war geklärt. Ludwig würde sie dem Aufsichtsrat als neuen Vorstand für Governance and Compliance empfehlen. Sie war seine Nummer eins. Kompetent. Voller Visionen. Unerschrocken. Knallhart. Und last, but not least: eine Frau. Endlich einmal war das von Vorteil. Diesmal eine Frau, denn Ludwig war nicht wild darauf, mediale Dresche zu beziehen. Es lief also alles großartig für sie.

Sie zog die Lippen mit einem farblosen Pflegestift nach. Ihr Look war dezent, und sie bevorzugte Hosenanzüge. Niemals Röcke oder Kleider. Nichts, was ihre Weiblichkeit betonen und Männer zu blöden Sprüchen veranlassen könnte. Ihr Outfit signalisierte unterschwellig: Ich bin eine von euch. Dabei war auch ihre Größe von über eins achtzig von Vorteil. Mit ihr versuchte selten jemand Spielchen. Unter dem Hashtag metoo hätte sie nicht viel zu sagen. Sie war tough. Sie konnte jedem Mann das Wasser reichen. Yes! Anne griff in die Luft und zog einen imaginären Griff herunter. Sie war großartig!

Mit den Fingern fuhr sie sich noch einmal durch die kurzen blonden Haare und atmete durch. Entspann dich. Es gab keinen Grund, nervös zu sein, und doch war sie es. Der Signalton von Facetime erklang. Es war ihr Mann Alex. Sein Gesicht erschien auf dem Display ihres Smartphones.

»Aufgeregt, Liebes?«

»Warum sollte ich?«

»Stimmt. Es ist ja alles so gut wie eingetütet. Ich drücke dir die Daumen, und guck mal, was dich danach erwartet.« Er schwenkte das Smartphone. Ein Eiskübel mit einer Flasche Champagner kam ins Bild. Er stand im Schlafzimmer neben einem Strauß roter Rosen. Sicher waren es fünfzehn Stück. Für jedes Jahr eine. Heute war ihr Hochzeitstag, den sie während eines verlängerten Wochenendes in Basel feiern wollten. Als Überraschung hatte Anne für Alex einen Porsche 911 Carrera gemietet, Baujahr 1985. Er würde Augen machen, wenn morgen der Oldtimer vor der Tür stand. »Das sieht verlockend aus. Aber wir wollten doch erst in Basel darauf anstoßen.«

»Heute feiern wir deine Ernennung zur Vorständin … Nennt man das inzwischen so?«

»Ich pfeife aufs Gendern von Sprache. Weißt du doch.« Allerdings hielt sie viel von Gleichstellung und davon, dass Frauen sich gegenseitig unterstützten. »Auf meiner Visitenkarte wird ›Vorstand‹ stehen. Aber jetzt muss ich los. Wie sehe ich aus?«

»Wunderbar, wie immer. Fühl dich geküsst. Ich denke an dich.« Er legte seine Hand an die Lippen und drehte sie dann zu ihr. »Und ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, sagte sie, und es war keine Floskel. Sie liebte ihren Mann. »Bis später.« Sie beendete Facetime, machte den Rücken gerade und verließ den Waschraum.

Die Vorstandsetage lag nur zwei Stockwerke über ihr und doch betrat sie eine andere Welt. Dicker Teppichboden dämpfte jedes Geräusch. Ein angenehmer Duft lag in der Luft. Teure Originale schmückten die Wände. Im Empfangsbereich saß Juliane Klein, Hüterin der Terminkalender von Ludwig und Nils und Zerberus vor dem Eingang zum Allerheiligsten. Die Tür zu Ludwigs Büro war geschlossen. Er war also da. Weshalb ließ er Nils das Gespräch führen?

»Frau Hesse.« Juliane Klein schenkte ihr ein Lächeln. »Herr Bachlmann erwartet Sie bereits.«

»Danke.« Anne klopfte kurz an, bevor sie eintrat. Nils stand am Fenster und sah hinaus in diesen grauen Maitag. Er war ein paar Jahre älter als sie, Anfang fünfzig, und der sportlich-drahtige Typ mit grauen Schläfen und einer Schwäche für eine bestimmte Sorte Schweizer Kräuterbonbons, die bereits auf ihrer Einkaufsliste für Basel stand. Das Sakko hatte er abgelegt und auch die Krawatte, wie sie bemerkte, als er sich zu ihr umwandte. Eine lockere und ungezwungene Atmosphäre also. Das war ganz in ihrem Sinn.

»Hallo Anne.« Er streckte ihr beide Hände entgegen und hielt sie so eine Armlänge auf Abstand, obwohl sie sich normalerweise mit französischen Küsschen auf die Wangen begrüßten. Lief hier etwas falsch? »Grüß dich, Nils. Wie geht’s Anna und den Kindern?«

»Danke. Alle wohlauf.« Sie nahmen auf den Ledersesseln Platz. Getränke standen bereit. »Kaffee?«, fragte er.

»Danke. Ich hatte vorhin einen Cappuccino.« Nils verhedderte sich in Förmlichkeiten. Etwas stimmte hier nicht. Sie spürte es und entschloss sich, es direkt anzugehen. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Ich meine, weshalb delegiert Ludwig das Gespräch an dich?«

Nach einem Moment des Zögerns kam die Antwort. »Du kennst ihn doch. Immer fokussiert auf das Wesentliche.«