9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Weil Familie nie vergisst ...
Als Nane nach zwanzig Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, hat sich vieles verändert. Nicht aber die Schuld, die weiter auf ihr lastet. Nicht die Erinnerung an die Nacht, die ihr Leben zerstörte, und schon gar nicht das Verhältnis zu ihrer Schwester Pia.
Pia hat es gut getroffen. Die erfolgreiche Restaurateurin lebt mit ihrem Mann auf einem idyllischen Weingut an der Saar. Da lässt es sich gut verdrängen, auf welch zerbrechlichem Fundament ihr Glück gebaut ist. Doch dann tritt ihre Schwester Nane wieder in ihr Leben und Pia ahnt: Es ist Zeit für die Wahrheit. Und damit Zeit für Rache – oder Vergebung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 539
ELLEN SANDBERG
DER VERRAT
ROMAN
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen
von Penguin Books Limited und werden
hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2019 Penguin Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH
Autoren- und Verlagsagentur, München. www.ava-international.de
Das Zitat stammt aus: Martin Walser, Meßmers Momente, Rowohlt Verlag. Copyright © 2013 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Covergestaltung: Favoritbüro
Coverabbildung: buffalosboy2512/Kochneva Tetyana/ah_fotobox/xpixel/Shutterstock
Redaktion: Annika Krummacher
Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-20251-4V007
www.penguin-verlag.de
Ich bin die Asche einer Glut, die ich nicht war.
Martin Walser, Meßmers Momente
Es war Neumond, und die Nacht lag warm und schwarz über dem Tal. Im Dorf saßen Touristen und Einheimische dicht gedrängt vor der Schenke bei Riesling und Spätburgunder. Ihre Bewegungen und Gedanken waren schwerfällig von üppigen Gerichten wie Schwenker und Gefillde, vom Wein und schwüler Luft. Hinter den Mauern des Gasthofs glitt der Fluss ruhig in seinem Bett dahin, nur die Mücken schienen immun gegen die Trägheit der Sommernacht. Beinahe lautlos suchten sie nach Opfern.
Die Kirchturmuhr schlug elf, als Renate Soffas eines dieser Biester mit einem Hieb auf ihrem Arm zerquetschte. Vier Stunden schon hatte sie Schüsseln, Teller, Gläser und Flaschen zwischen Küche und Terrasse hin und her geschleppt, als es endlich ein wenig ruhiger wurde. Die Gelegenheit für eine Rauchpause. Verschwitzt verließ sie die Gaststube durch die Hintertür, stellte sich ans Ufer der Saar und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Noch bevor sie das Feuerzeug aus der Schürzentasche gezogen hatte, vernahm sie das verräterische Sirren und holte mit der Hand aus, mehr ahnend als wissend, wohin sie schlagen musste. Ein Klatschen, gefolgt von Stille. Allerdings nur für einen Moment, denn von weiter oben am Berg, wo das Weingut Graven lag, erklang das Brummen eines Motors. Kurz darauf erschienen Fahrzeuglichter in der Dunkelheit.
Renate zündete die Zigarette an und inhalierte den Rauch, während sie das Auto beobachtete. Da sie seit fünfundfünfzig Jahren im Dorf lebte, kannte sie die Straße so gut, dass sie blind hinauf und hinunter gefunden hätte. Deshalb wurde sie jetzt unruhig, denn sie sah anhand der Scheinwerfer, dass der Wagen sich der ersten von fünf Haarnadelkurven näherte. Langsam sollte der Fahrer mal vom Gas gehen, dachte sie. Doch ganz im Gegenteil, der Wagen wurde schneller. Auf der abschüssigen Straße tanzten die Lichter auf und ab. Unwillkürlich hielt Renate den Atem an. Um Himmels willen! War der Fahrer etwa besoffen? Wenn er nicht endlich bremste, würde das nicht gut gehen. Doch er bremste nicht. Adrenalin jagte durch ihre Adern. Von einem Moment auf den anderen fielen Müdigkeit und Erschöpfung von ihr ab. Mein Gott!, dachte sie noch, dann hörte sie schon den dumpfen Schlag, mit dem das Fahrzeug die Leitplanke durchbrach und in die Steillage des Graven’schen Prälatengartens stürzte. Das Auto überschlug sich zwei-, dreimal, bis die umherwirbelnden Lichter erloschen und nur noch metallisches Scheppern und das Bersten von Glas zu hören waren, dem Stille folgte, als der Wagen endlich liegen blieb. Für einen Moment versuchte Renate Soffas sich einzureden, sie habe sich das Ganze nur eingebildet. Doch sie wusste, was sie gesehen hatte. Sie spürte es am ganzen Leib. Mit bebenden Händen warf sie die Zigarette ins Wasser und lief nach vorne auf die Terrasse, wo der Hauptmann der Freiwilligen Feuerwehr noch bei einem Absacker saß.
Der Himmel wölbte sich in einem makellosen Blau über dem Tal der Saar. Weinberge erstreckten sich zu beiden Seiten des Flusses, so weit das Auge reichte. In gleichmäßigen grünen Reihen zogen sich Rebstöcke über Hänge und Hügel. Es sah aus, als wäre die Landschaft schraffiert. Wie immer erfasste Pia von Manthey eine tiefe Zufriedenheit beim vertrauten Anblick der Gegend, die seit zwei Jahrzehnten ihre Heimat war.
Es war gegen zehn Uhr vormittags, als sie aus Frankfurt zurückkehrte. Sie hatte ihren Mann Thomas zum Flughafen gebracht. Für vier Tage musste er nach London zur Weinmesse, und sie vermisste ihn schon jetzt. Trotz der zwanzig Ehejahre, die hinter ihnen lagen. Wo war die Zeit nur geblieben? Thomas war ihr Freund, ihr Vertrauter, ihr Gefährte, wenn man einen derart altmodischen Begriff gebrauchen wollte. Wobei sie eine Schwäche für Altes hatte. Als Restauratorin war das Bewahren und Erhalten schließlich ihr Beruf.
Sie durchquerte Dörfer mit verwinkelten Gassen und Fachwerkhäusern, die üppig mit Blumenschmuck herausgeputzt waren. Die Hauptstraßen säumten Weinstuben und Terrassencafés. Überall waren Touristen, wie jeden Sommer. Wanderer, Mountainbiker, Genießer und kulturell Interessierte. Familien, Kinder, Paare aller Altersstufen und seit einigen Jahren sogar Besucher aus Japan und China.
Pia erreichte das Dorf Graven und bog kurz danach mit ihrem Jeep auf die Straße ein, die in fünf Serpentinen hinauf zum Weingut führte. Im Weinberg waren die Arbeiter mit Laubarbeiten beschäftigt. Bereits zum zweiten Mal in diesem Sommer mussten die Reben gegipfelt werden. Wenn man die langen Sommertriebe nicht zurückschnitt, würden sie Trauben und Boden beschatten, und das war nicht gut für die Qualität des Weins. In der Großlage des Graven’schen Mühlbergs konnten dafür Maschinen eingesetzt werden, doch in der Steillage des Prälatengartens sah Pia die Arbeiter wie Ameisen herumklettern. Hier musste alles von Hand gemacht werden, ein aufwendiges und mühsames Unterfangen, das sich am Ende aber auszahlte.
Pia schaltete einen Gang herunter und nahm die nächste Haarnadelkurve. Die Sonne blendete, und sie schob die Sonnenbrille vom Haar zurück auf die Nase. Sie freute sich darauf, nach Hause zu kommen. Das Weingut war ihre Heimat, seit sie den Winzer Thomas von Manthey geheiratet hatte, der in dieser Erde verwurzelt war wie ein alter Baum. Seit über zweihundert Jahren war das Gut im Familienbesitz. Genauer gesagt, seit ein Vorfahre von Thomas es 1803 beim Kartenspiel gewonnen hatte. Einen verwilderten Weinberg und ein heruntergekommenes Château hatte er vorgefunden. Doch das schreckte ihn nicht, er krempelte die Ärmel hoch, baute Graven wieder auf, und sein ältester Sohn hatte es von ihm übernommen.
Sechs Generationen von Mantheys hatten Graven nun schon durch die Zeiten geführt – durch Revolutionen, den Deutsch-Französischen Krieg und zwei Weltkriege, durch den Wiederaufbau danach und das Wirtschaftswunder. Sie hatten Krisen und Skandale überstanden und auch das Feuer, das ausgebrochen war, als kurz vor Kriegsende eine amerikanische Mustang in den Garten stürzte und in Flammen aufging. Zusammen mit den beiden kriegsgefangenen Franzosen, die auf dem Hof zur Arbeit eingesetzt waren, hatte Thomas’ Großmutter das Feuer gelöscht. Wie oft er ihr diese Geschichte erzählt hatte. »Mon dieu! Das schöne Haus. Der gute Wein!«, hatte François immer wieder gerufen und die Pumpe wie ein Wahnsinniger betätigt. Am Ende war der Teich leer gewesen, die Enten saßen auf dem Trockenen, doch Wohnhaus und Weinkeller waren gerettet.
Das Weingut Graven war Thomas’ Ein und Alles. Es war sein Leben, seine Heimat und damit auch ihre und die ihrer gemeinsamen Tochter, die das Gut einmal übernehmen würde.
Nach der fünften Serpentine hatte man einen grandiosen Ausblick auf das Tal und den Fluss, der tief unter ihr lag und funkelte, als wäre er mit Diamanten besetzt. Pia wandte den Blick rasch wieder ab und konzentrierte sich aufs Fahren. Wer hier von der Straße abkam, stürzte dreißig Meter in die Tiefe. Ein leichter Schauer überlief sie, und die Erinnerungen an den Sommer vor zwanzig Jahren drohten aufzusteigen, doch sie erstickte sie im Keim, wie sie es immer tat. Für einen kurzen Moment blieb ein ungutes Gefühl zurück, bis sie die weiße Mauer sah, die das Gut umgab, und das Tor aus Schmiedeeisen, das offen stand.
Langsam ließ sie den Wagen in den Hof rollen und erfreute sich an dem Anblick, wie immer, wenn sie Graven sah. Das Gut war ein Juwel. Am Ende der Auffahrt lag das Herrenhaus – manche bezeichneten es auch als Manoir oder Château –, das aus einem prächtigen dreigeschossigen Haupthaus und zwei angebauten Seitenflügeln bestand. Schiefergedeckte Dächer, aus denen ein halbes Dutzend Kamine ragten. Die Mauern in zartem Gelb gestrichen. Efeu und üppig blühende Englische Rosen rankten sich an Spalieren empor. Akkurat geschnittene Buchsbäume flankierten die mit Kopfsteinen gepflasterte Einfahrt. Rechter Hand befanden sich Garagen und Stellplätze, daneben das alte Kelterhaus, das Thomas vor vielen Jahren in eine Vinothek hatte umbauen lassen. Ein Reisebus parkte davor, denn eine Besichtigung mit anschließender Weinprobe stand an. Das neue und mit modernster Technik ausgestattete Keltergebäude befand sich dahinter, ein wenig versetzt am Rand des Areals.
Richtung Süden und bis weit hinter das Hauptgebäude erstreckte sich der Garten, den Thomas’ Großmutter im englischen Stil hatte anlegen lassen, mit Ententeich, weiten Rasenflächen, Büschen und alten Bäumen. Ein Gärtner kümmerte sich darum.
Als Pia den Jeep abstellte, bemerkte sie Leonhard, den Kellermeister. Er steuerte das Büro im Seitenflügel an, das Reich ihrer Schwägerin Margot.
»Hallo, Pia.« Grüßend hob er die Hand. »Ist Thomas schon auf dem Weg nach London?«
»Ich komme gerade vom Flughafen. Brauchst du ihn?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Die vier Tage kommen wir ohne ihn aus. Und die Entscheidung wegen der neuen Abbeermaschine kann bis dahin warten.« Er nickte ihr zu, warf den obligatorischen prüfenden Blick zum Himmel und verschwand in Margots Büro.
Unwillkürlich sah auch Pia nach dem Wetter, wie man sich das auf einem Weingut angewöhnte. Seit Mitte Juli war es heiß und kein Regen gefallen. Mit jedem Sonnentag gewannen die Trauben an Süße. Thomas hoffte auf einen guten, vielleicht sogar großen Jahrgang. Hoffentlich hielt die Schönwetterperiode noch ein Weilchen an.
Pia ging ins Haus, wo der Steinboden und die dicken Mauern für angenehme Kühle sorgten. Im Flur legte sie die Wagenschlüssel in die Schale auf die Anrichte und strich sich eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr. Weder die Anrichte noch der Spiegel waren Antiquitäten, sondern modernes italienisches Design, wie beinahe alle Möbel im Haus, die in ihrer schlichten Eleganz einen wunderbaren Kontrapunkt zum historischen Rahmen des Gebäudes setzten. Vor einigen Jahren hatte die Journalistin einer Wohnzeitschrift das Weingut Graven und seine Besitzer in einer Homestory porträtiert und die schlichte Eleganz gelobt. Sie war nicht Pias Werk. Den Grundstein dafür hatte Thomas’ erste Frau gelegt.
Pia warf einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel. Nächstes Jahr wurde sie fünfzig, doch das sah man ihr nicht an. Die Haut war noch straff, was sie den guten Genen der Frauen ihrer Familie verdankte, die sie zuverlässig von Generation zu Generation weitergaben. Genau wie den Fluch, der angeblich auf ihnen lastete. Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubte Pia nicht daran, wobei nicht zu leugnen war, dass es den Frauen ihrer Familie über Generationen hinweg mit erschreckender Zuverlässigkeit gelungen war, sich ins Unglück zu stürzen. Doch sie alle hatten das selbst in der Hand gehabt, dachte Pia. Diesem Beispiel war sie nicht gefolgt. Bei diesem Gedanken wurde ihr kurz schwindelig, und sie musste sich an der Kommode abstützen.
Die Verbindungstür zwischen Bürotrakt und Haupthaus wurde geöffnet. Das leise Klackern von Absätzen erklang auf dem Steinboden. Es kündigte Pias Schwägerin Margot an, die wenig später mit einem Aktenordner in der Hand erschien. Sie war schon jenseits der Fünfzig und eine elegante Erscheinung, während Pia wie so oft ihr Arbeitsoutfit trug, Jeans und T-Shirt.
»Guten Morgen, Pia. Hast du Thomas gut zum Flughafen gebracht?«
»Es war wenig Verkehr. Wir sind schnell durchgekommen.«
»Prima. Ich lege ihm die Angebote für die Abbeermaschinen auf seinen Schreibtisch.« Mit diesen Worten verschwand Margot in Richtung von Thomas’ Arbeitszimmer, während Pia sich ein Glas Wasser aus der Küche holte und dann nach oben in ihre Werkstatt ging, die sich im ersten Stock mit Aussicht auf den Hof und die Vinothek befand.
Auf drei Staffeleien standen die Gemälde, die sie bis zu einer Auktion im Oktober restaurieren musste. Sie waren der Grund, weshalb sie Thomas nicht nach London begleiten konnte. Der Termin war knapp, und es war höchste Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
Pia zog ein fleckiges Hemd über das Shirt, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und ließ ihren Blick kurz über das Anwesen schweifen. Eine stille Freude erfasste sie. Sie hatte in ihrem Leben alles erreicht, was sie sich je erträumt hatte. Einen Beruf, der sie erfüllte. Einen Mann, der sie liebte. Eine Tochter, auf die sie stolz war. Ein abwechslungsreiches und schönes Leben. Es fehlte ihr an nichts, und dafür war sie dankbar. Im Gegensatz zu ihren Schwestern Birgit und Nane hatte sie alles richtig gemacht.
*
»Da wären wir.« Birgit schlug die Wagentür hinter sich zu und wies auf das Haus am Schweizer Platz in Frankfurt-Sachsenhausen. Voller zwiespältiger Gefühle stellte Nane sich neben ihre Schwester. Nun war sie also wieder daheim.
Fünf Etagen Gründerzeit. Eine ockergelbe Fassade und schmiedeeiserne Balkone zum Platz hinaus, der von Läden und Lokalen gesäumt wurde. Das Wetter war warm und windig, und die Luft roch nach Sommer, nach Blumen und Parfums. Ein Radler sauste vorbei. Ein Hund hatte sich losgerissen, bellend lief er über die Straße und jagte in der Grünfläche einer Taube hinterher. Überall Menschen, Geräusche, Gesprächsfetzen. Überall Leben! Von irgendwo klang Musik zu Nane, und der Duft von Kreuzkümmel stieg ihr in die Nase. Eine geballte Ladung lange vermisster Eindrücke. Es war überwältigend und beinahe zu viel für sie. Also atmete sie tief durch und betrachtete das Haus.
Ihre Eltern hatten es Ende der Siebzigerjahre gekauft, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ihre drei Mädchen großziehen konnten. Unten der Antiquitätenhandel mit der angeschlossenen Galerie, darüber die Familienwohnung und oben die sogenannte Altersvorsorge, die Mietwohnungen. Ihr Vater hatte eine Erbschaft in das Haus investiert. Dennoch bezeichnete er den Kauf gerne als ziemlich spießig für ein Paar, das von sich behauptete, unkonventionell und links zu sein. Doch das waren sie nie gewesen, eher liberal angehauchtes Bürgertum. Er ein Möchtegernbohemien und ihre Mutter die Luxusausgabe eines Hippiemädchens mit einer esoterischen Seite: Räucherstäbchen, Klangschalen, Schamanenzauber.
Die Jahrzehnte waren vergangen, die Eltern bereits gestorben, und die drei Mädchen waren mittlerweile zwischen Mitte und Ende vierzig.
»Du sagst ja gar nichts.« Besorgt sah Birgit sie an. Vor zwanzig Jahren war auch sie eine hübsche junge Frau gewesen, voller Ziele und Pläne, die sich allesamt zerschlagen hatten. Graue Strähnen hatten sich in Birgits dunklen Locken ausgebreitet, und die Zeit hatte ihr einen bitteren Zug um den Mund gelegt.
»Es ist nur so ungewohnt«, entgegnete Nane.
»Jetzt gehen wir erst mal rauf, und wenn etwas ist … Ich bin ja da. Du findest mich entweder in meiner Wohnung nebenan oder hier unten im Geschäft.« Birgit wies auf den Laden. Galerie Arnholdt. Kunst & Antiquitäten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Darauf hatten sich ihre Eltern seinerzeit spezialisiert – Mutter auf die Möbel und Einrichtungsgegenstände dieser Zeit und Vater auf Gemälde und Skulpturen. Im Schaufenster stand ein Sofa von Finn Juhl mit einem maigrünen Bezug. Bei seinem Anblick erfasste Nane eine Sehnsucht nach ihrer Kindheit, nach ihren Eltern, nach einer Zeit, in der alles gut gewesen war. Dabei stimmte das nicht ganz. Denn nicht alles war gut gewesen.
Nane betrachtete ihr Bild in der spiegelnden Fensterscheibe. Das hellblaue ärmellose Leinenkleid, das Birgit ihr für diesen Tag mitgebracht hatte, war schick, und es tat gut, den Luftzug an den nackten Beinen zu spüren, nach so langer Zeit in den immer gleichen blauen Hosen.
»Hübsch siehst du aus.« Birgit wies auf das Spiegelbild. »Blau steht dir. Du hast dich eigentlich gar nicht verändert.«
Natürlich hatte sie sich verändert, wenn auch eher in ihrer Persönlichkeit als in ihrem Äußeren. Sie war ruhiger geworden, ein wenig gelassener. Ihre Figur war noch schlank und ihre Haut blass wie eh und je. Der Teint war fast so hell wie das weißblonde Haar, das sie noch immer wie eine federleichte Wolke umgab. Der Blick aus ihren blauen Augen kam ihr verwirrt vor, und genauso fühlte sie sich auch. Ein wenig durcheinander.
Birgit wollte ihr den Karton abnehmen, doch sie wehrte die Hilfe ihrer Schwester ab, die schon so viel für sie getan hatte. »Lass uns nach oben gehen«, schlug Nane vor.
Die drei Schwestern hatten das Haus von den Eltern geerbt, und Birgit, die es verwaltete und den Kunsthandel weiter betrieb, hatte eine frei gewordene Wohnung nicht neu vermietet, seit sich abgezeichnet hatte, dass der Rest von Nanes lebenslanger Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden würde.
Mit dem Lift fuhren sie in die dritte Etage, und ein Anflug von Panik streifte Nane. Obwohl man sie darauf vorbereitet hatte, fürchtete sie sich mit einem Mal davor, selbst für sich verantwortlich zu sein. Mehrmals hatte sie Freigang bekommen und unter Aufsicht ihres Bewährungshelfers und in Birgits Begleitung einen Crashkurs absolviert, wie die Welt heute funktionierte. Einkaufen im Supermarkt. U-Bahn fahren und vorher ein entsprechendes Ticket kaufen. Das neue Smartphone bedienen. Vor zwanzig Jahren hatte sie ein Handy besessen, an dem man noch eine Antenne herausziehen musste. Man hatte sich SMS geschrieben statt WhatsApps. Wobei sie vieles bereits aus dem Fernsehen und Romanen kannte, ihren Gucklöchern in das Leben jenseits der Mauern.
Als ob Birgit ihre Zweifel gespürt hätte, legte sie einen Arm auf Nanes Schultern. »Das wird schon.« Der Lift kam oben an, sie stiegen aus, und Birgit sperrte die Wohnungstür auf.
»Tata! Da wären wir.« Ihre Schwester breitete die Hände aus wie eine Zauberin im Varieté. »Zwei Zimmer, Küche, Bad. Balkon auf den Platz hinaus. Ich hoffe, das ist dir nicht zu laut.«
Ihre erste eigene Wohnung, und das mit sechsundvierzig. Früher hatte sie immer mit jemandem zusammengewohnt. Erst in WGs und später mit Mark, ihrem Mann.
Die Wohnung war licht und hell, freundlich. Und sie roch gut. Ein schmaler Flur. Bad mit Wanne. Das Schlafzimmer zum Innenhof und ein Wohnzimmer mit großen Fenstern. Moderne Möbel kombiniert mit Stücken aus dem Laden. Ein lederbezogener Sessel zog Nane an. Er stand neben der Balkontür. »Ist das Mamas Egg Chair?«
Birgit lachte. »Nee, der ist von Arne Jacobsen.«
»Sag ich doch. Mamas Sessel. Ach, Birgit …« Ihr kamen beinahe die Tränen. »Das ist so lieb von dir.«
»Eine kleine Erinnerung an sie. Mark hat mir geholfen, die Wohnung einzurichten. Gefällt sie dir?«
»Mark?«, fragte Nane überrascht. »Ihr habt noch Kontakt?«
»Ziemlich lose. Ab und an telefonieren wir. Als ich ihm gesagt habe, dass du rauskommst, hat er spontan seine Hilfe angeboten. Die konnte ich schon gebrauchen. Du weißt also gar nicht, dass Claire und er sich getrennt haben?«
»Nein. Woher auch? Er hat mir damals eine Art Abschiedsbrief geschrieben, dass er mich nicht mehr besuchen kann, weil seine neue Freundin das nicht will. Ist ja verständlich. Und danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Nane wollte das Thema nicht vertiefen und sah sich um. »Die Wohnung ist so schön geworden.«
»Wir haben nur für die Grundausstattung gesorgt. Den Rest musst du selbst einrichten.«
Nane stellte den Karton ab und umarmte ihre Schwester. »Danke, Birgit. Danke für alles.«
»Habe ich doch gerne gemacht. Dann lass ich dich jetzt allein. Komm runter, wenn du etwas brauchst. Zum Mittagessen gehen wir ins Bistro an der Ecke. Das gibt es immer noch, nur die Besitzer haben gewechselt. Danach zeige ich dir deinen Arbeitsplatz, und heute Abend kochen wir für dich zur Begrüßung. Ich hab Mark eingeladen. Vielleicht kommt auch dein Bewährungshelfer. Ist das in Ordnung?«
Nane nickte. Jens Klein, ihr Bewährungshelfer, war ein vierschrötiger, gutmütiger Mann, der sich nicht für etwas Besseres hielt und sie nicht von oben herab behandelte. Sie mochte ihn.
»Ich muss dann mal in den Laden. In Ordnung?«
Sie nickte. Als die Tür sich hinter Birgit geschlossen hatte, war Nane allein. Das war sie gewohnt. So viel Platz allerdings nicht. Die Wohnung war zu groß. Im Gefängnis hatte sie nur acht Quadratmeter für sich gehabt.
Das Bett war ebenfalls eine moderne Antiquität. Ein Design von Lloyd Loom in Türkisblau. Farblich passende Bettwäsche. Der weiße Vorhang bauschte sich im Wind. Alles wirkte so freundlich und hell. Im Bad gab es kein Fenster, dafür aber indirekte Beleuchtung, die jeden Winkel erreichte. Eine Lüftungsanlage begann leise zu surren, als Nane das Licht einschaltete. Welch ein Komfort! Auf dem Wannenrand stand eine Flasche Badeschaum. Auf der Ablage stapelten sich flauschige Badetücher. Wie im Luxushotel.
Seit zwanzig Jahren hatte sie nicht gebadet. Nur geduscht. Und das niemals allein. Gesprungene Fliesen. Schimmel in den Fugen. Modriger Geruch. Das Wasser nie richtig heiß und der Duschraum immer zu kalt. Ein heißes Bad, allein, das war purer Luxus. Nane drehte den Hahn auf und goss den Badezusatz ins Wasser. Lavendelduft breitete sich aus. Kleid und Unterwäsche ließ sie auf den Boden fallen, dann glitt sie mit einem Seufzer ins warme Wasser. Himmel, war das schön!
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Durch die geöffnete Balkontür klang der Lärm der Stadt zu ihr herein. Das Brummen der Motoren, die Stimmen der Leute, die vorübergingen. Lachen, das Bellen eines Hundes. Das Leben hatte sie wieder, und für einen Moment fühlte sie sich so unsagbar leicht und frei, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren war sie glücklich.
Wie immer in Momenten der Zufriedenheit rührte sich Nanes Gewissen, und ihre Tat holte sie ein. Sie hatte einen Menschen getötet. Sie hatte ihm alles genommen. Sein Glück, seine Zukunft, sein Leben. Seiner Tochter den Vater und seiner Frau den Mann. Und einem Vater seinen Sohn. In zwanzig Jahren war diese Last nicht kleiner geworden. Sie ließ sich nicht abtragen und nicht absitzen. Ihre Schuld war mit ihr verwachsen, und das würde sich bis zu ihrem letzten Atemzug nicht ändern.
Nane zog den Stöpsel und stieg aus der Wanne.
*
Um Punkt zwölf betrat Nane Birgits Laden im Erdgeschoss des Hauses und glaubte, das Schrillen der Glocke zu hören, mit der jetzt im Gefängnis zur Mittagspause gerufen wurde. Ihre innere Uhr schlug noch im Knasttakt.
Ihre Schwester war allein. Die Abteilung für Möbel, Geschirr und Accessoires von den Zwanziger- bis in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts war noch genauso, wie ihre Mutter sie aufgebaut hatte. Vaters Galeriebereich hatte sich allerdings verändert. Birgit bot inzwischen auch Skulpturen und Gemälde anderer Epochen an. Man müsse sich nach der Decke strecken, erklärte sie. Die Leute kauften heute zu viel übers Internet.
Nane verkniff sich die Frage, ob Pia die Gemälde für Birgit restaurierte, so wie sie es früher für ihren Vater getan hatte. An Pia wollte sie lieber nicht denken, denn dann würde sie sich unweigerlich an Thomas erinnern.
Das Bistro an der Ecke gab es tatsächlich noch. Doch nicht nur der Besitzer hatte gewechselt, sondern auch die Innenausstattung. Nane erkannte es nicht wieder. Sie bestellte Salat mit gegrilltem Ziegenkäse, dazu Baguette. Herrlich! Und danach einen Café au lait und ein Stück Apfeltarte. Nach Jahren, in denen sie nur lieblos und billig zubereitetes Gefängnisessen bekommen hatte und Kaffee, der nach allem schmeckte, nur nicht nach Kaffee, war der Bistrobesuch ein unbeschreibliches Vergnügen. Beim letzten Bissen schloss sie die Augen und seufzte.
»Es ist eine Freude, dir beim Essen zuzusehen«, sagte Birgit, und Nane schämte sich. Es stand ihr nicht zu, das Leben derart zu genießen.
Nach der Mittagspause zeigte Birgit Nane das Büro und ihren Arbeitsplatz. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit neuem PC und großem Monitor. Im Gefängnis hatte Nane Computerkurse besucht und beherrschte die gängigen Layout- und Bildbearbeitungsprogramme. Nicht, weil sie damit gerechnet hatte, vorzeitig entlassen zu werden und sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, sondern weil so die Zeit etwas schneller vergangen war. Birgit war begeistert gewesen, als sie davon erfahren hatte, und nun war Nane plötzlich verantwortlich für die Webseite, den Katalog und das Plakat für die Herbstauktion der Galerie Arnholdt. Birgit zeigte ihr die alten Kataloge, und Nane fand die zugehörigen Dateien auf dem Rechner. Eine gute Basis für den neuen Katalog.
Birgit lehnte sich an die Schreibtischkante. »Deine Arbeitsstelle trittst du aber erst morgen an. Geh doch heute einfach mal shoppen. Ich hab dir zwar ein paar Sachen in den Schrank gehängt, aber das wird nicht reichen.«
Nane hatte das schon gesehen. Zwei Jeans, eine Leinenhose, ein paar Blusen und Shirts. Etwas Unterwäsche. Aber sie brauchte nicht mehr, und das sagte sie auch ihrer Schwester. Daraufhin schlug Birgit ihr vor, die Parfümerieabteilungen unsicher zu machen und sich Make-up, Lippenstift und Pflegecremes zu besorgen. In Nane sperrte sich alles, dabei hatte sie früher das Haus nie ungeschminkt verlassen. Schließlich zog sie los, nur um ihre Schwester nicht zu enttäuschen. Am Ende kaufte sie nichts außer ein paar Lebensmitteln.
Nach einer Stunde war sie zurück und froh, die Wohnungstür hinter sich schließen zu können. Der Lärm, die Stadt, dieser Trubel überall. Es war zu viel. Die Ruhe der Wohnung tat gut.
Sie verstaute die Sachen im Kühlschrank und wusste nicht, was sie tun sollte. Also deckte sie schon mal den Tisch für vier. Dann zog sie doch noch mal los, um Getränke fürs Abendessen beizusteuern, alles andere wollte Birgit mitbringen. Nane ging in die Weinhandlung an der Ecke, was sich postwendend als Fehler erwies, denn der Händler bot ihr ausgerechnet den Silvaner vom Weingut Graven an. Es gelang ihr nicht, den Fluchtimpuls zu unterdrücken. Auf dem Absatz machte sie kehrt und ließ den verdutzten Verkäufer stehen. Kaum ein paar Stunden in Freiheit, holten die Geister der Vergangenheit sie ein. In einem Supermarkt besorgte sie zwei Flaschen Rotwein aus der Toskana und ging nach Hause.
Um sieben sollten ihre Gäste kommen. Aber schon um sechs klingelte Birgit und brachte alle Zutaten für Spaghetti bolognese mit. »Weißt du noch? Unser Lieblingsessen, als wir Kinder waren. Wir beginnen schon mal mit der Soße, bevor die anderen kommen, und gönnen uns dazu einen Aperitif.«
»Ich habe aber keinen.«
Birgit entdeckte den Rotwein. »Passt doch.«
Sie schenkte zwei Gläser halb voll, und dann begannen sie zu kochen. Sie schnippelten Zwiebeln, schälten Knoblauch und brieten das Hackfleisch an.
»Du bist so still«, sagte Birgit irgendwann. »Ist was mit dir?«
»Es ist alles nur so ungewohnt. Auch das Sprechen. Im Gefängnis ist man viel allein.«
»Das wird schon.« Birgit hob ihr Glas. »Auf dein neues Leben.« Sie stießen an.
Um kurz vor sieben klingelte Mark, Nanes Exmann. Er hatte sich kaum verändert, sondern war einfach nur älter geworden. Wie gut er noch immer aussah. Groß und muskulös. Das dunkle Haar ein wenig zu lang. Ein paar graue Strähnen hatten sich hineingeschlichen. Und ein wenig zugenommen hatte er.
»Grüß dich, Nane.« Er umarmte sie und gab ihr zwei Wangenküsschen. »Gut siehst du aus. Guck mal, was ich aufgetrieben habe.«
Aus der Kühltasche nahm er eine Packung Fürst-Pückler-Eis, und sie musste lachen. Diese Sorte hatten sie als Kinder geliebt, Birgit, Pia und sie. »Dass es das noch gibt«, meinte sie verwundert.
Pünktlich um sieben klingelte ihr Bewährungshelfer. Jens Klein brachte eine beschlagene Flasche Hugo mit, was immer das sein mochte, und eine Topfpflanze fürs neue Heim, die er ihr überreichte. »Hübsch haben Sie es hier.«
Sie gingen zu den anderen in die Küche. Die Soße köchelte, und Birgit holte aus ihrer Wohnung einen Teller mit Bruschetta als Vorspeise. Mit dem Hugo stießen sie an.
»Auf Nanes Neuanfang«, sagte Mark.
»Auf ein glückliches Leben«, schloss sich Birgit an.
»Auf Frau Rauch und ihre Unterstützer«, meinte Jens Klein. »Schätzen Sie sich glücklich, dass Sie Familie und Freunde haben, die für Sie da sind. Die meisten, die rauskommen, stehen ohne da, und das macht die Sache nicht einfacher.«
Sie aßen Spaghetti und tranken zu viel Wein. Im Hintergrund lief eine Playlist mit Songs der Neunzigerjahre, die Birgit zusammengestellt hatte, und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wurden wach. Jeder hatte Geschichten beizusteuern, und Nane genoss den Abend in vollen Zügen.
Irgendwann kam das Gespräch auch auf Claire, und Mark erzählte von der Trennung vor zwei Jahren. Claire hatte begonnen, ihm Affären anzudichten, hatte dann aber selbst eine, die Mark ihr jedoch verzieh. Sie wollten heiraten, sobald Claire schwanger würde. Leider blieb ihr gemeinsamer Kinderwunsch unerfüllt. Dennoch kauften sie ein standesgemäßes Einfamilienhaus, denn mit Marks Karriere ging es steil bergauf. Eines Abends hatte er ihr spontan einen Antrag gemacht, den Claire jedoch ablehnte, denn ihre Liebe brauche keinen amtlichen Stempel.
»In Wahrheit wollte sie sich nicht festlegen«, sagte Mark. »Irgendwann hatte sie einen anderen am Start. Ich habe nichts gemerkt und stand kurz vor der Beförderung zum Personalvorstand, als mich die Midlife-Crisis voll erwischt hat. Ich habe den Krempel hingeschmissen und mir meinen Studententraum erfüllt.« Er sah zu Nane. »Weißt du noch?«
»Natürlich«, sagte sie. »Ein Café. Du hast wirklich eins aufgemacht?«
»Ja, das Coffee & Soul. Ist nur zehn Minuten von hier. Komm doch mal zum Frühstücken vorbei.« Er bedachte sie mit einem Lächeln. »Claire ist übrigens ausgezogen, sobald ich kein Managergehalt mehr bezog. Das war mein Leben im Zeitraffer.«
Drei Augenpaare richteten sich auf sie. »Meines kennt ihr ja«, sagte Nane. »Aber so schlimm wie in der Serie Orange Is the New Black ist es nicht im Frauengefängnis.« In Wirklichkeit hatte sie nur keine Lust, über ihre Zeit hinter Gittern zu sprechen. Es gab Ereignisse, an die sie sich nicht erinnern wollte. Mobbing, Intrigen, Gewalt. Bei einem Vergewaltigungsversuch hatte sie sich gewehrt und ihre Schneidezähne eingebüßt. Unwillkürlich strich sie mit ihrer Zunge über die Implantate und lenkte das Gespräch auf ihre Schwester. »Und jetzt du, Birgit. Wie ist es dir ergangen?«
Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. »Das weißt du doch. Ich altere so vor mich hin. Das Geschäft unserer Eltern habe ich übernommen, obwohl ich das ja eigentlich nie wollte. Aber langsam macht es mir Spaß. Mit den Männern ist das bei mir so eine Sache. Da habe ich kein glückliches Händchen. Ein weitverbreitetes Phänomen bei den Frauen unserer Familie.« Ein schiefes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und sie sah zu Jens Klein hinüber.
Der zuckte mit den Schultern. »Ich mache es kurz und knackig. Sozialarbeiter. Zweimal geschieden. Unterhaltszahler für drei Kinder. Ein viertes kann ich mir nicht leisten, es sei denn, ich gewinne irgendwann die Million bei Wer wird Millionär.« Alle lachten.
»Und wie fühlt sich die Freiheit an?« Mark wandte sich an Nane.
»Noch ein wenig gewöhnungsbedürftig«, sagte sie. »Ich werde euch auf dem Laufenden halten.«
»Ist die Aussetzung zur Bewährung eigentlich an Bedingungen geknüpft?«, fragte Mark.
Jens Klein antwortete an Nanes Stelle. »Natürlich. Sie darf nicht wieder straffällig werden. Und es gibt ein paar Auflagen. Sie muss Kontakt zu mir halten, einer Arbeit nachgehen, und sie braucht eine feste Bleibe. Das ist ja Gott sei Dank alles geregelt. Außerdem sollte sie sich am besten von den engsten Angehörigen des Opfers fernhalten. Das ist zwar keine Auflage des Gerichts, aber mein Rat. In der Regel kommt nichts Gutes bei solchen Kontakten heraus.«
Nane kannte den Ratschlag ihres Bewährungshelfers, doch sie wusste, dass sie sich nicht daran halten würde. Sie musste Thomas sehen. Sie brauchte eine Antwort, die nur er ihr geben konnte.
*
Behutsam tupfte Pia mit einem Wattestäbchen Terpentinöl auf ein Stück verschmutzten Firnis und ließ das Mittel einwirken. Gerade lange genug, um die Oberfläche aufzuweichen, aber nicht so lange, dass es die darunterliegende Ölfarbschicht in Mitleidenschaft ziehen konnte. Dann löste sie mit dem Skalpell die letzten Firnisschuppen von der Oberfläche des Gemäldes. Es zeigte eine aparte junge Frau mit dunklem Haar, das der damaligen Mode entsprechend im Nacken zu einem Knoten geschlungen war, den ein kornblumenblaues Samtband zierte. Wer sie wohl gewesen war? Lediglich das Gildezeichen im Bildhintergrund wies darauf hin, dass die unbekannte Schöne aus einer Lübecker Kaufmannsfamilie stammte.
Der erste Arbeitsgang war beendet. Es war Zeit, zum Flughafen zu fahren. Sie hatte Thomas versprochen, ihn abzuholen, wenn sie ihn schon nicht zur Messe nach London hatte begleiten können, weil sie momentan so viel zu tun hatte. Neben der Kaufmannstochter hatte ihre Schwester Birgit noch ein Blumenstillleben und eine Landschaft auf Rügen in Auftrag gegeben.
Auf dem Smartphone entdeckte Pia eine Nachricht von Thomas.
Boarding beginnt bald. Wir werden wohl pünktlich landen, schrieb er und sandte ihr einen virtuellen Kuss, der sie zum Lächeln brachte.
Ich werde da sein, simste sie zurück. Guten Flug und bis später!
Schultern und Nacken waren verspannt. Sie trat ans geöffnete Fenster ihrer Werkstatt und lockerte die Muskeln. Es war wieder ein strahlend schöner Tag. Aus der Vinothek kam eine Gruppe Touristen, die einem Mitarbeiter zur Führung ins neue Kelterhaus folgten. Einer der Arbeiter fuhr mit dem Unimog vorbei Richtung Geräteschuppen. Auf der Ladefläche lag ein Haufen gegipfelter Rebtriebe, die in der Kompostieranlage landen würden. Außerdem erklang ein vertrautes Klappern. Margot ging gewandt auf hohen Absätzen über das Kopfsteinpflaster des Innenhofs und verschwand in ihrem Büro im Seitentrakt. Die Fenster mit den taubenblau lackierten Läden standen offen. Einen Moment später erschien Margot an ihrem Schreibtisch.
Pia holte ihre Handtasche aus dem Schlafzimmer. In der Halle warf sie zuerst einen prüfenden Blick in den Spiegel, dann zog sie sich die Lippen nach und sah aufs Barometer. Auch das war eine Angewohnheit, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Vom Wetter hing alles ab. Wobei Thomas in den letzten Jahren wenig zu klagen hatte. Die Klimaerwärmung begünstigte den Weinbau an der Saar. Das derzeitige Hochdruckgebiet würde noch anhalten.
In der Küche schenkte Pia sich rasch noch ein Glas Wasser ein. Während sie es leerte, kam ihre Haushaltshilfe mit einem Korb voller Wäsche herein. Irene war eine kleine mollige Person und hatte stets ein Lächeln parat. Sie fragte, ob noch etwas zu erledigen sei. Morgen würde Thomas’ Enkelin Sonja für vier Wochen auf Besuch kommen. Pia erkundigte sich bei Irene, ob das Gästezimmer schon hergerichtet sei, und bat sie, einen Strauß Blumen aus dem Garten hineinzustellen. Eine kleine Entschädigung dafür, dass Sonja nicht die Remise bewohnen konnte. Pia hatte es nicht geschafft, sie rechtzeitig renovieren zu lassen.
Sie startete den Jeep und fuhr los. Vorbei ging es an den schwer zu bewirtschaftenden Steillagen, deren Rebstöcke in saftigem Grün leuchteten und die mit ihren Schieferböden für das unverwechselbare Terroir des Rieslings sorgten, für den das Weingut Graven berühmt war. Besonders der Prälatengarten wurde von Weinkennern voller Ehrfurcht genannt – eine Lage, deren Weine Thomas regelmäßig Auszeichnungen einbrachten und mit denen er bei Auktionen Spitzenpreise erzielte. Und zwar wirklich Spitzenpreise. Für manche Weine wurden einige Tausend Euro pro Flasche gezahlt.
In diesen unruhigen Zeiten suchten die Menschen nicht nur nach dem Besonderen, sondern vor allem nach Heimat, nach Erdung, nach Verbundenheit. Auch deshalb boomte der deutsche Wein und mit ihm das Weingut Graven. Manche Kritiker sahen in den Winzern der Spitzengüter Künstlerseelen am Werk und ließen sich in den Beschreibungen ihrer Weine zu ebenso begeisterten wie adjektivgeladenen Formulierungen hinreißen. Von schiefriger Mineralität war da die Rede, von vibrierender Säure, von weißem Pfeffer und Noten frischen Grases, von weißem Pfirsich und schwarzer Johannisbeere. Kritikerprosa nannte Thomas das, dem jede Menge davon zuteilwurde.
Dieses Spannungsfeld, in dem ihr Mann sich bewegte, hatte Pia von Anfang an fasziniert. Ein berühmter Winzer, der an einem Tag elegante Anzüge und rahmengenähte Schuhe trug und kurz darauf in schlammverkrusteten Stiefeln und dreckigen Hosen im Weinberg arbeitete wie ein Bauer. Der Traktor fuhr, seine Weinstöcke eigenhändig nach Schädlingen und Krankheiten absuchte, und am folgenden Tag in ein Flugzeug stieg, um an den großen Auktionen und internationalen Weinmessen teilzunehmen. Pia genoss das stille Leben auf dem Gut ebenso wie das luxuriöse an der Seite ihres Mannes, das sie in alle Welt führte.
Tief unten wand sich die Saar durchs Tal, und der Himmel war von einem transparenten Blau. Dennoch spürte Pia eine leichte Unruhe in sich, seit sie vor einigen Tagen nach langer Zeit wieder einmal an den Fluch gedacht hatte. Sie schaltete das Autoradio ein, um sich abzulenken. Sie glaubte nicht an Omen, Zeichen oder Flüche. Wenn sie sich selbst charakterisieren müsste, würden in ihrer Beschreibung Worte wie sachlich, nüchtern, pragmatisch vorkommen.
Im Dorf bemerkte Pia im Vorbeifahren Renate Soffas, die auf der Bank vor ihrem Haus saß. Die obligatorische Zigarette zwischen den Fingern und den Rollator, den sie seit einiger Zeit brauchte, neben sich. Sie war alt geworden. Wie rasend schnell die Zeit doch verging.
Kurz vor Mainz klingelte Pias Handy in der Freisprechanlage. Im Display erschien die Nummer ihrer Schwester Birgit, die Pias wichtigste Auftraggeberin war.
»Grüß dich, Birgit. Rufst du wegen der schönen Lübeckerin an? Der Firnis ist schon unten.«
»Stell dir vor, ich habe herausgefunden, wer sie ist.«
Während Pia eine Lkw-Kolonne überholte, erzählte Birgit, dass sie anhand des Gildezeichens das Geheimnis um die Identität der Kaufmannstochter gelüftet hatte. Sie hieß Mathilde Agedin und hatte ein tragisches Schicksal gehabt. Das vom Vater geerbte Vermögen hatte ihr Mann durchgebracht und sich anschließend erschossen. Völlig verarmt und gesellschaftlich isoliert war sie gestorben. Diese Informationen steigerten den Wert des Gemäldes, das Birgit aus einem Nachlass erworben hatte. Denn nun hatte es eine Geschichte.
»Für die Auktion hätte ich das Porträt jetzt doch gerne in erstklassigem Zustand«, fuhr Birgit fort. »Du musst dich also nicht aufs Reinigen beschränken. Schaffst du das bis zur Auktion?«
»Das ist kein Problem.«
»Prima. Sag mal, bist du mit dem Auto unterwegs?«
»Keine Sorge. Ich habe beide Hände am Steuer.«
»Na, dann … Überholst du gerade?«
»Warum fragst du?«
»Ich wollte noch etwas mit dir besprechen, aber ich weiß, wie leicht du dich aufregst. Vielleicht ruf ich dich später noch mal an.«
Das Unbehagen war wieder da. »Du weißt, dass es nur ein Thema gibt, das mich aufregt, und das ist Nane«, sagte Pia. »Aber dazu ist bereits alles gesagt worden.«
»Na ja … Vielleicht nicht alles.«
»Wenn es tatsächlich noch etwas geben sollte, interessiert es mich nicht.«
»So einfach ist das nicht, Pia.«
»Doch. Oder ist sie etwa gestorben?«
»Sie ist draußen. Seit ein paar Tagen schon.«
»Was!«
Pia ging vom Gas und wechselte auf die rechte Spur. Sie musste Birgit falsch verstanden haben. »Sie hat lebenslänglich bekommen, und die Entlassung auf Bewährung wurde abgelehnt. Sie kann nicht draußen sein.«
»Sie hat einen neuen Anwalt, und der hat einen neuen Antrag gestellt. Und diesem Antrag wurde stattgegeben.«
Fassungslos hörte sie zu. Birgit wusste es schon seit Wochen! Pia konnte sich nicht aufs Fahren konzentrieren und war froh, als sie das Hinweisschild für den nächsten Parkplatz entdeckte. Sie setzte den Blinker, während ihre Schwester erzählte, wie man Nane nach zwanzig Jahren im Gefängnis auf ein Leben in Freiheit vorbereitet hatte. Die Voraussetzungen waren ein Arbeitsplatz, eine Wohnung und ein stabiles soziales Umfeld. Und natürlich war es Birgit gewesen, die diese Steine aus dem Weg geräumt hatte.
Noch hundert Meter. Pias Herz raste. Sie fuhr auf den Parkplatz, brachte den Wagen zum Stehen und schloss die Augen. Nane war frei!
»Vielleicht solltet ihr euch endlich aussprechen.« Birgits Stimme erklang noch immer aus der Freisprechanlage.
»Spinnst du? Das habe ich nicht vor.«
»Sei doch nicht so unversöhnlich. Sie hat ihre Strafe verbüßt, und du weißt, wie leid ihr das alles tut.«
Das war wieder einmal typisch Birgit. Sie war harmoniesüchtig und eine ewige Friedensstifterin.
»Zwanzig Jahre war sie im Gefängnis. Das ist beinahe ihr halbes Leben. Sie hat eine zweite Chance verdient.«
»Ich will sie nicht sehen. Und falls du vorhaben solltest, ein zufälliges Treffen zu arrangieren, lass es bleiben.«
Ein Seufzer drang an Pias Ohr. »Bitte, die Umstände haben sich geändert und …«
»Was hat sich denn geändert? Nichts!«, schrie Pia. »Tot ist tot!«
»Schlaf darüber, ja?« Birgit blieb vollkommen ruhig, und das machte Pia erst recht wütend. War das denn so schwer zu verstehen? »Zum letzten Mal: Ich will keinen Kontakt zu ihr.«
»Du vielleicht nicht. Aber es betrifft ja vor allem Thomas. Sieht er das auch so?«
*
Als Pia den Terminal betrat, sah sie auf der Anzeigetafel, dass Thomas’ Flugzeug gerade gelandet war. Sie nutzte die Zeit, bis er sein Gepäck haben würde, um sich in der Apotheke Aspirin zu besorgen. Wenige Minuten nachdem sie eine Tablette geschluckt hatte, waren die Kopfschmerzen wie weggeblasen und der Ärger auf Birgit verraucht.
Birgit war die mittlere der drei Schwestern – konfliktscheu, vermittelnd und immer bereit, das Gute im Menschen zu entdecken. Die brave Tochter, die selten Ärger gemacht hatte. Ihr war der Zusammenhalt der Familie wichtig. Dabei hatten sie nie zusammengehalten. In diesem Punkt machte Birgit sich etwas vor. Nane hingegen, die Jüngste, hatte für Ärger im Übermaß gesorgt. Sie war seit jeher überspannt, chaotisch und unberechenbar. Pia war die Älteste und sah sich selbst als die Pragmatische, die Geerdete. Was ihr an Emotionen fehlte, hatte sie nie als Manko betrachtet, sondern als Vorzug.
Kaffeeduft zog durch die Ankunftshalle. Pia kaufte sich an einer Espressobar einen Cappuccino zum Mitnehmen und hatte sich gerade auf eine Bank gesetzt, als eine WhatsApp ihrer Tochter Lissy kam. Sie studierte Önologie im zweiten Semester und würde einmal das Weingut von Thomas übernehmen. Derzeit verbrachte sie die Semesterferien mit Freunden in Südfrankreich. Sie hatte ein Selfie geschickt, auf dem sie die Sonnenbrille ins Haar geschoben hatte, in der sich die Corniche von Cannes spiegelte. In der Hand hielt sie eine Eiswaffel.
Wie du siehst, geht’s mir gut. Und bei euch so?
Lissys Nachricht war mit etlichen Herze- und Kuss-Emojis verziert, was in Pia die Frage aufwarf, ob ihre Tochter wirklich schon erwachsen war. Sie schickte ein Selfie samt Kaffeebecher. Ich mach gradKaffeepause am Flughafen und hole Thomas ab.
Postwendend kam eine Antwort: Stimmt! Er war ja in London. Gib Papa einen Kuss von mir.
Mach ich. Und du genieß die Ferien und pass auf dich auf, ja?
Während sie auf Thomas wartete, überlegte Pia, ob sie ihm von Birgits Anruf erzählen sollte, denn natürlich betraf es hauptsächlich ihn. Sie konnte ihm diese Nachricht nicht ersparen. Denn früher oder später würde er erfahren, dass ihre Schwester auf freiem Fuß war. Auch wenn Nane sicher nicht die Unverfrorenheit besaß, bei ihnen aufzutauchen, würde Birgit ihm davon berichten.
Schließlich entdeckte sie Thomas’ dichten grau melierten Schopf in der Menge. Wie immer verlieh ihm sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht etwas von einem Abenteurer und Weltenbummler. Sobald er sie bemerkte, zog ein Lächeln über sein Gesicht, und sie entschied, ihm von Nanes Freilassung zu erzählen, aber nicht heute. Sie freute sich auf einen gemeinsamen Abend und wollte ihn nicht durch diese Nachricht verderben.
Er kam durch die Sperre auf sie zu, stellte den Koffer ab und nahm sie in die Arme. »Pia, Liebes. Vier Tage ohne dich … Es war kaum auszuhalten.«
Sie gab ihm einen Kuss. »Schwindler«, erklärte sie lachend. »Du hast dich bestens amüsiert.«
»Was du dir so vorstellst. Das war harte Arbeit.«
»Aber sicher. Sich an Fünf-Gänge-Menüs gütlich zu tun und bei Champagner und Kaviar-Blinis dem International VineMagazine ein Interview zu geben, ist wirklich hart. Und dann auch noch im Claridge’s. Du Armer.«
Scherzend verließen sie den Flughafen. Doch hinter der Fröhlichkeit bemerkte sie die Müdigkeit, die Thomas in den Knochen saß. Natürlich waren vier Tage auf der Messe anstrengend. Der Geräuschpegel. Die klimatisierte Luft, die er nicht vertrug. Ständig präsent sein und performen zu müssen. Die langen Abende mit Kunden, Kritikern und Journalisten. All das kostete Kraft und machte mittlerweile sogar ihr zu schaffen, dabei war sie vierundzwanzig Jahre jünger als er.
Auch nach zwanzig Jahren erinnerte sie sich noch an die Reaktion ihrer Mutter auf die Nachricht, dass Thomas und sie geheiratet hatten. »Du bist neunundzwanzig, und er ist dreiundfünfzig. Er könnte dein Vater sein!«
»Fährst du?« Thomas riss sie aus ihren Gedanken.
»Natürlich«, antwortete sie.
Auf der Heimfahrt nickte er tatsächlich für ein paar Minuten ein. Als sie gegen acht das Weingut Graven erreichten, waren alle Mitarbeiter schon gegangen und das Büro abgeschlossen. Auch die Haushälterin Irene hatte Feierabend gemacht, doch vorher hatte sie noch den Tisch auf der Terrasse gedeckt. Pia nahm das vorbereitete Essen aus dem Kühlschrank und trug es hinaus. Eine Platte mit kaltem Braten, Aufschnitt und verschiedenen Käsesorten, bretonischer Demi-Sel-Butter und dazu ein deftiges Landbrot vom Biobäcker aus dem Dorf. Eine Flasche Wicklinger Silvaner lag im Weinkühlschrank. Pia nahm sie mit auf die Terrasse. Margots Sohn hatte sie mitgebracht, sicher nicht ohne Hintergedanken. Er war Winzer auf Wicklingen, und Margot hoffte noch immer, dass Marius eines Tages hier den Ton angeben würde. Dabei übersah sie, dass es längst eine Nachfolgerin gab.
Von klein auf hatte Thomas Lissy überallhin mitgenommen. In den Weinberg und in den Keller, zu den Nachbargütern, zu den Messen und Auktionen, zur Lese und zum Rückschnitt. Ob Sommer oder Winter, Lissy war an seiner Seite und mit seiner Liebe zum Wein aufgewachsen. Es war ihm gelungen, diese Leidenschaft in ihr zu wecken, anders als bei seinem Sohn aus erster Ehe. Henning hatte mit Weinbau nichts am Hut gehabt. Und mit diesem Gedanken kam Pia nun wieder bei Birgits Anruf an. Nicht heute. Morgen würde sie es Thomas sagen.
Pia und Thomas saßen noch eine Weile beieinander, doch gegen zehn war es für ihn Zeit, zu Bett zu gehen. Seine Tage begannen morgens um fünf. Da war er ganz Bauer. Nach dem Aufstehen würde er sich wie immer in der Küche rasch eine Tasse Kaffee machen, ein Butterbrot dazu essen und dann in den Weinberg gehen.
»Gute Nacht, Pia.« Er gab ihr einen Kuss und rieb sich die Schulter.
»Hast du wieder Schmerzen?«
»Die verdammte Zugluft am Gate. Klimaanlagen gehören verboten.«
Seit einer Sehnenscheidenentzündung im letzten Jahr hatte Thomas immer wieder damit zu tun. »Willst du eine Tablette?«
»Ich nehme die Salbe. Die hat beim letzten Mal schnell geholfen.«
Ein wenig besorgt sah sie ihm nach. Doch es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Auch wenn sie ihm die Strapaze der Messe ansah, morgen würde er wieder ganz der Alte sein. Thomas war zwar dreiundsiebzig, aber fit und kerngesund, und er sah zehn Jahre jünger aus. Nicht einmal sein Blutdruck war zu hoch. Er führte es auf die tägliche Bewegung, den Wein und seine junge Frau zurück.
Sie hörte, wie er ins Bad ging, während sie Terrasse und Küche aufräumte und Türen und Fensterläden schloss. Als sie kurz nach elf zu Bett ging, schnarchte Thomas leise. Pia nahm das Buch, das aufgeschlagen auf seinem Nachttisch lag, und legte das Lesebändchen zwischen die Seiten. Meßmers Momente von Martin Walser.
Leise schlüpfte sie unter die Decke und konnte nicht einschlafen. Ihre Gedanken begannen zu kreisen. Sie wollten zum Sommer vor zwanzig Jahren zurückkehren. Zu Hennings Tod. Doch Pia wollte nicht. Sie ging ins Bad und nahm eine Schlaftablette. Als sie zurückkam, wälzte Thomas sich auf die Seite und stöhnte.
»Hast du die Salbe genommen?«
»Sie hilft nicht.«
»Für den nächsten Flug besorge ich dir ein Katzenfell. Altes Hausmittel.«
»Aber nur Angora. Du weißt, ich bin anspruchsvoll.«
Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. »Morgen früh gehst du zum Arzt.«
»Erst sehe ich im Weinberg nach dem Rechten.«
»Magst du nicht doch eine Tablette nehmen?«
Er nickte, und sie brachte sie ihm mit einem Glas Wasser. Kurz darauf schlief Pia ein.
Um fünf Uhr dämmerte der Morgen. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen, und das erste Licht des Tages fiel herein. Im Halbschlaf nahm sie wahr, wie Thomas das Zimmer verließ. Sie drehte sich auf die andere Seite und stand erst auf, als ihr Wecker um sieben klingelte.
Während sie im Bad war, hörte sie die beruhigenden Geräusche, die signalisierten, dass das Leben auf dem Weingut seinen normalen und gut organisierten Lauf nahm. Das Quietschen der Bürotür. Der Traktor im Hof. Die Stimme des Kellermeisters Leonhard, der mit den Arbeitern sprach. Das Klappern aus der Küche, wo Irene für sie und Thomas das Frühstück vorbereitete, das ihnen beiden heilig war. Ihr Ritual, bevor sich ihre Wege – manchmal bis zum Abend – wieder trennten.
Pia ging zurück ins Schlafzimmer, zog sich an und war in Gedanken schon bei ihrer Arbeit und damit bei der schönen Lübecker Kaufmannstochter, als sie bemerkte, wie die Geräusche sich veränderten. Sie gerieten ins Stocken und dann aus dem Takt. Rufe ertönten, eine hektische Stimmung breitete sich aus. Als sie ans Fenster trat und hinunter in den Hof blickte, sah sie gerade noch, wie Leonhard durchs Tor rannte, gefolgt von zwei Arbeitern.
Margot stand in der offenen Bürotür und war ganz bleich im Gesicht.
»Was ist denn los?«, rief Pia zu ihr hinunter.
»Thomas ist schlimm gestürzt«, antwortete Margot. »Im Prälatengarten. Der Notarzt ist schon unterwegs.«
Gestürzt. In der Steillage! Um Himmels willen! Pia ließ alles stehen und liegen, rannte barfuß die Treppe hinunter, schlüpfte hastig in ein Paar Schuhe und lief hinter Leonhard her, der den Weinberg schon fast erreicht hatte. Von irgendwoher erklang das Geräusch von Rotoren. Ein signaloranger Punkt am Himmel näherte sich. Der Rettungshubschrauber. Weiter vorne beim Wegweiser stand eine Frau. Sie rief Leonhard etwas zu und wies den Hang hinunter. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Ihr weißblondes Haar wehte hinter ihr her. Eine magere Frau mit langen Beinen und den linkischen Bewegungen eines neugeborenen Fohlens. Zwanzig Jahre Gefängnis hatten nichts daran geändert.
Pia musste stehen bleiben. Ihr wurde schwindlig. Dann kam die Übelkeit.
*
Nane lehnte mit geschlossenen Augen an der Natursteinmauer im Weinberg, in den sie vor Pia geflüchtet war. Die Wärme der Steine drang durch das Shirt. Die Sonne brannte auf der Haut, und der Schreck saß ihr noch in allen Gliedern. Dabei waren einige Stunden vergangen, seit sie Thomas im Prälatengarten gefunden hatte und um Haaresbreite Pia in die Arme gelaufen wäre. Mit ihr wollte sie nichts zu tun haben. Und das beruhte ganz auf Gegenseitigkeit, wie Birgit bestätigt hatte. Auch Pia wollte sie nicht sehen. Sie habe mit ihr nichts zu besprechen, hatte sie gesagt, und das war im Grunde auch richtig. Nicht mit ihr, nein, mit Thomas musste Nane reden. Doch das war jetzt nicht möglich, und falls er starb, würde sie nie die Wahrheit erfahren.
Wieso nur gelang es ihr nicht, die Vergangenheit einfach ruhen zu lassen und ihre Freiheit zu genießen? Seit sie draußen war, fühlte sie sich durcheinander und verwirrt. Überfordert. Zwanzig Jahre lang hatten andere über sie bestimmt. Ihr Universum hatte an den Mauern der Haftanstalt geendet. Ein enges und reglementiertes Leben, und nun sollte sie sich plötzlich in einer Welt zurechtfinden, die zu groß für sie war. Sie musste ihren eigenen Rhythmus erst finden. Ihren Takt.
Außerdem war da noch immer ihre Schuld. Sie pappte an ihr und ließ sich nicht abstreifen. Mit jedem Tag in Freiheit wurde Nane das bewusster. Ihre Schuld durchdrang sie wie ein Geflecht aus Adern und Nervenbahnen. Wie sollte sie damit leben, dass sie einen Menschen getötet hatte? Sie wusste es nicht und spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Wenn sie ihre Tat doch nur irgendwie wiedergutmachen könnte.
Die Sonne stand längst hoch am Himmel, der sich über ihr in einem schimmernden Blau dehnte. Wie sehr hatte ihr all das gefehlt. Den Blick schweifen lassen zu können, ohne dass er nach wenigen Metern an eine Mauer knallte. Der Duft von Gräsern und Bäumen. Das sachte Streifen des Windes.
Hoch über ihr schwebte ein Punkt im Blau. Ein Vogel, der sich vom Aufwind tragen ließ. Diese Weite war überwältigend. Wieso konnte sie sich daran nicht erfreuen?
Etwas landete auf ihrer Hand, und sie widerstand dem Impuls, es wegzuschlagen. Es war ein Käfer, schmal und mit langen Fühlern. Filigran und zerbrechlich, trotz seines knallig orangefarbenen Panzers mit dem schwarzen Muster. Sein Anblick trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie fragte sich, was sie hier eigentlich noch tat.
Der Lärm des Rettungshubschraubers war schon vor Stunden verklungen. Sie sollte längst in Frankfurt an ihrem Schreibtisch sitzen und den Herbstkatalog für Birgits Ausstellung entwerfen.
Birgit hatte schon vor einer ganzen Weile angerufen, doch Nane war nicht rangegangen. Fünf Minuten später war eine WhatsApp gekommen, in der Birgit fragte, wo sie sei. Sie hatten eine Art Kernarbeitszeit vereinbart. Zwischen zehn und fünfzehn Uhr sollte Nane an ihrem Schreibtisch sitzen. Und jetzt war es sicher schon zwölf oder eins. Es war nicht fair, ausgerechnet Birgit, die so viel für sie getan hatte, im Unklaren zu lassen. Vermutlich machte sie sich Sorgen. Nane zog das Smartphone hervor und rief ihre Schwester an.
»Nane. Endlich. Ist alles in Ordnung?«
»Ich habe nur einen Ausflug gemacht. Nach Graven. Aber ich mache mich gleich auf den Rückweg.«
»Was willst du denn dort?«
»Ich wollte mit Thomas reden.«
»Und was sagt er?«
»Nichts. Ich erzähle es dir, wenn ich zurück bin.« Nane verabschiedete sich und steckte das Handy wieder ein.
Da sie wusste, dass Thomas im Sommer um fünf aufstand und zwischen halb sechs und sieben seine Runde durch den Weinberg drehte, war das der ideale Zeitpunkt, um ihn alleine anzutreffen. Deshalb hatte sie sich Birgits Wagen geliehen und war schon bei Sonnenaufgang losgefahren.
Während der Fahrt hatte sie sich gefragt, was wohl aus ihm geworden war. Er war jetzt dreiundsiebzig. Ein alter Mann. Ob er ihr je verzeihen würde? Sie wollte ihm endlich von Angesicht zu Angesicht sagen, wie leid es ihr tat, denn dazu hatte sie nie Gelegenheit gehabt. Vor allem aber ging es ihr um die Wahrheit.
Doch würde er ihr eine ehrliche Antwort geben? Wo er doch auf keinen ihrer Briefe reagiert hatte. Alle waren ungeöffnet zurückgekommen. Nane war sich beinahe sicher, dass Pia sie abgefangen hatte und Thomas nichts von ihnen wusste. Das letzte Bild, das Nane von ihm in Erinnerung hatte, stammte von der Urteilsverkündung. Seinen nach innen gekehrten Blick würde sie nie vergessen, als wäre ihm lebenslänglich noch zu wenig, als wäre die Todesstrafe die einzig angemessene Strafe für sie.
Sie hatte es ja versucht! Zweimal sogar. Doch im Gefängnis ließen sie es natürlich nicht zu, dass sich eine Gefangene auf diese Weise aus dem Staub machte. Schließlich wäre es nichts anderes als eine Flucht.
Von der Straße erklang das Brummen eines Autos, das den Berg hinauffuhr. Unwillkürlich fragte Nane sich, ob es Pia war, die aus dem Krankenhaus zurückkam. Wohin hatten sie Thomas gebracht? Nach Trier oder vielleicht sogar nach Frankfurt?
Sie musste ihn sehen.
Doch Pia würde alles tun, um das zu verhindern. Bestimmt glaubte sie wieder einmal, im Besitz der allein gültigen Wahrheit zu sein und zu wissen, was heute Morgen geschehen war. Damit wären die Rollen dann wieder mal klar verteilt in die Schöne und das Biest. Doch Pia hatte keine Ahnung.
Von Kindesbeinen an waren sie Konkurrentinnen gewesen. Pia, die Anmutige und Schöne, die Begabte und Zuverlässige. Die Älteste, die ihren Prinzessinnenthron mit allen Mitteln verteidigte. Zuerst gegen Birgit und später vor allem gegen sie, die Jüngste, die das Gegenteil von ihr war. Unfolgsam, chaotisch und eigensinnig war sie gewesen und hatte ihren Eltern wenig Anlass zur Freude gegeben. Immer nur Ärger mit Nane. Mit dreizehn hatte sie sich die blonden Haare zu einem Iro schneiden und schwarz färben lassen. Sie hatte geraucht und gekifft und sich dabei absichtlich erwischen lassen, damit ihre Eltern ausflippten. Denn das allein war das Ziel. Sie sollten sie endlich sehen! Und nicht nur immer Pia.
Nane streckte sich im Gras aus, sah in den Himmel und fühlte sich wie in den Sommern ihrer Pubertät, als sie regelmäßig die Schule geschwänzt hatte, um die schönen Tage im Freibad mit Freunden zu vertrödeln.
Sie schloss die Augen und dachte an Thomas. In welchem Krankenhaus lag er wohl? Sie musste es herausfinden, denn heute Morgen hatte er ihr keine Antwort geben können. Sie hatte im Weinberg nach ihm gesucht und ihn schließlich röchelnd und nach Luft ringend im taufeuchten Gras gefunden. Für einen Moment hatte sie befürchtet, dass ihm ihr Anblick den Rest geben würde. Doch er hatte die Hand nach ihr ausgestreckt und »Bitte« gesagt. Einfach nur: »Bitte.«
*
Über sechs Stunden wartete Pia. Zuerst vor dem Operationsaal, dann vor dem Aufwachraum. Bis Thomas schließlich auf die Intensivstation gebracht wurde, war es Nachmittag.
Sie musste sich gedulden, bis alle Geräte angeschlossen waren, erst dann durfte sie zu ihm. Sie setzte sich an sein Bett und blendete das erschreckende Umfeld aus, die zahllosen Kabel und Schläuche, die Thomas’ Körper mit medizinischen Geräten verbanden. Sie war einfach nur froh, dass er lebte und dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging und dass er ansprechbar war.
»Was machst du nur für Sachen? Mich so zu erschrecken.« Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss.
Thomas’ Kopf war bandagiert. Die Konturen in seinem bleichen Gesicht waren innerhalb von Stunden hart geworden, was ihm einen fremden und beinahe unerbittlichen Ausdruck verlieh.
»Ich weiß gar nicht, was passiert ist. Ein Herzinfarkt, sagt der Arzt. Aber ich kann mich nicht erinnern.« Seine Stimme klang schwach und brüchig.
»Es liegt an der Narkose«, sagte Pia.
Professor Weigel hatte es ihr erklärt, als Thomas sie im Aufwachraum zunächst nicht erkannt hatte. Das Kurzzeitgedächtnis konnte in Mitleidenschaft gezogen werden, doch es würde vorübergehen. Machen Sie sich keine Sorgen, hatte Weigel gesagt.
»Hauptsache, es geht dir besser. Wie fühlst du dich?«
»Schwach und ein wenig orientierungslos.« Mit einer Hand betastete er seinen Kopf. »Wieso habe ich einen Verband?«
»Du bist im Weinberg gestürzt und hast dir eine Platzwunde zugezogen. Ursache für den Sturz war der Herzinfarkt. Die Ärzte haben dir einen Stent gesetzt. Die Ader ist wieder frei. Jetzt musst du dich nur noch erholen.«
Bei seiner Konstitution würde das sicher nicht lange dauern. Thomas war fit und noch nie ernsthaft krank gewesen. Ein Bär von einem Mann.
Bei diesen Gedanken fühlte sich Pia wie ein kleines Mädchen, das in den Keller ging und tapfer gegen die Angst im Dunkeln ansang. Gegen die Angst, Thomas könnte sterben. Dabei wusste sie, dass sie ihn bei dem großen Altersunterschied wahrscheinlich überleben würde.
»Weiß Lissy schon Bescheid?«, fragte Thomas.
»Ich rufe sie später an.«
»Sag ihr, dass es mir leidtut. Aber sie muss ihren Urlaub abbrechen und sich um Graven kümmern. Ich lege die Verantwortung in ihre Hände, bis ich wieder auf dem Damm bin. Leonhard und Margot sollen sie unterstützen, und sie kann mich jederzeit fragen. Ich brauche nur mein Handy, dann können wir telefonieren und skypen.«
»Mal abgesehen davon, dass man im Krankenhaus keine Handys benutzen darf, solltest du dich erholen und nicht vom Bett aus Regie führen, mein Lieber. Lissy schafft das schon.«
Thomas drückte ihre Hand. »Ja, da hast du recht.« Er schloss die Augen, und kurz darauf bemerkte sie an seinen gleichmäßigen Atemzügen, dass er schlief. Pia konnte sich nicht entschließen, ihn allein zu lassen, und blieb an seinem Bett sitzen.
Wie hatte das nur passieren können? Vielleicht waren die Schmerzen im Arm ein Anzeichen gewesen, das sie falsch gedeutet hatten. Aber eigentlich wusste sie es besser. Es war keine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, wie Professor Weigel ihr weismachen wollte: ein Herzinfarkt, der den Sturz und damit die Kopfverletzung zur Folge gehabt hatte. Das erste Glied dieser Kette war Nane gewesen. In aller Herrgottsfrühe war sie im Weinberg aufgetaucht! Natürlich hatte Thomas sich zu Tode erschrocken. Er wusste ja nicht, dass sie frei war. Hätte sie es ihm doch nur sofort gesagt.
An einem der Geräte ging der Alarm los. Pia fuhr zusammen. Was sollte sie tun? Eine Schwester kam herein und beruhigte sie. »Das ist nichts. Nur eine verrutschte Klemme.« Sie brachte es in Ordnung und riet Pia, nach Hause zu fahren. Thomas sei in guten Händen. Man würde sie anrufen, sollte sich sein Zustand verändern.
Es war höchste Zeit, Lissy Bescheid zu geben. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete Pia sich von ihrem schlafenden Mann und verließ das Krankenhaus. Sie setzte sich auf eine Bank in der Grünanlage, schaltete das Handy ein und stellte fest, dass sie ein halbes Dutzend Anrufe verpasst hatte und etliche SMS, anscheinend alle von Margot. Die Gute musste sich noch ein wenig gedulden.
Erst schrieb sie Lissy eine WhatsApp und erkundigte sich, was sie gerade machte. Wie meistens antwortete ihre Tochter postwendend:
Wir sind gerade vom Strand zurückgekommen und testen die neue Hängematte. Und bei euch so?
Es gibt Neuigkeiten, die ich mit dir besprechen muss, schrieb Pia. Ich ruf dich jetzt an.
Sie schickte ein Kuss-Emoji mit und wartete einen Moment, bevor sie die Nummer wählte.
Ihre Tochter war sofort dran. »Was ist denn passiert?«
»Nichts wirklich Schlimmes. Du musst dir keine Sorgen machen. Thomas geht es schon wieder gut. Er ist gestürzt …«
»Oje. Hat er sich was gebrochen?«
»Er hat eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Kopf, aber seine Knochen sind noch alle heil.«
»Warum klingst du dann so niedergeschlagen?«, fragte Lissy. »Da ist doch noch was.«
»Die Ursache für den Sturz war ein Herzinfarkt.«