Die seltsame Gräfin - Edgar Wallace - E-Book

Die seltsame Gräfin E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Die Gräfin von Moron hütet ein düsteres Familiengeheimnis. Als sie die junge Lois Reddle als ihre Sekretärin einstellt, beginnt das Unheil. Diese wird Zeugin sehr merkwürdiger Vorkommnisse. Ein Balkon stürzt ein, ein seltsamer Butler treibt auf dem Gut sein Unwesen, schließlich kommt es in der Bibliothek zu einem Mord. Zwielichtige Gestalten umgeben die Gräfin. Wer von ihnen könnte der Mörder sein? Oder war es die Gräfin selbst, in der Absicht das Familiengeheimnis zu schützen? Der Roman wurde 1961 verfilmt mit Joachim Fuchsberger, Eddi Arent und Klaus Kinski. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 306

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Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin

Kriminalroman

Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin

Kriminalroman

(The Strange Countess)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Ravi Ravendro 2. Auflage, ISBN 978-3-954182-22-0

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Inhaltsverzeichnis

Die Ed­gar Wal­lace-Sam­mel­band

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

Ka­pi­tel 24

Ka­pi­tel 25

Ka­pi­tel 26

Ka­pi­tel 27

Ka­pi­tel 28

Ka­pi­tel 29

Ka­pi­tel 30

Ka­pi­tel 31

Ka­pi­tel 32

Ka­pi­tel 33

Ka­pi­tel 34

Ka­pi­tel 35

Ka­pi­tel 36

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Der grü­ne Bo­gen­schüt­ze

Der Zin­ker

Die Ban­de des Schre­ckens

Der un­heim­li­che Mönch

Die selt­sa­me Grä­fin

Das in­di­sche Tuch

Das Ge­setz der Vier

und wei­te­re …

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Kapitel 1

Lois Mar­ge­rit­ta Redd­le saß auf der Kan­te ih­res Bet­tes und hielt in der einen Hand eine große Tas­se, in der an­de­ren einen Brief. Die di­cke Brot­schnit­te war zu dünn ge­stri­chen, der Tee zu schwach auf­ge­gos­sen und zu stark ge­zu­ckert, aber die Lek­tü­re nahm Lois so in An­spruch, daß ihr die­se klei­nen Nach­läs­sig­kei­ten ih­rer Freun­din Liz­zy Smith nicht zum Be­wußt­sein ka­men.

Eine gol­de­ne Kro­ne schmück­te den Brief­bo­gen, und das star­ke, grif­fi­ge Pa­pier ström­te einen leich­ten Duft aus.

307 Che­s­ter Squa­re, Lon­don S.W. Die Grä­fin von Mo­ron hat mit Ver­gnü­gen die Nach­richt er­hal­ten, daß Miss Redd­le ihre Stel­lung als Pri­vat­se­kre­tä­rin am Mon­tag, dem 17., an­tritt. Miss Redd­le kann ver­si­chert sein, daß sie einen an­ge­neh­men Pos­ten und viel freie Zeit zur Ver­fü­gung ha­ben wird.

Die Tür wur­de auf­ge­sto­ßen, und Liz­zys strah­lend ro­tes Ge­sicht er­schi­en im Rah­men.

»Das Bad ist fer­tig«, sag­te sie kurz. »Aber nimm vor­sichts­hal­ber dei­ne ei­ge­ne Sei­fe mit – durch die dün­ne Schei­be, die noch da ist, kannst du durch­gu­cken. Hier hast du ein fri­sches Hand­tuch, und hier ist ein halb­nas­ses. Was steht in dem Brief?«

»Er ist von mei­ner Grä­fin – ich fan­ge am Mon­tag bei ihr an.«

Liz­zy zog ein schie­fes Ge­sicht.

»Du schläfst na­tür­lich auch dort? Das heißt also, daß ich mir wie­der je­mand su­chen muß, der hier bei mir wohnt. Die letz­te, mit der ich vor dir zu­sam­men­haus­te, schnarch­te. Aber das gute Zeug­nis kann ich dir we­nigs­tens aus­stel­len, Lois, du hast nicht ge­schnarcht.«

Lois’ Au­gen blitz­ten schalk­haft auf, und um ih­ren aus­drucks­vol­len Mund spiel­te ein Lä­cheln.

»Du kannst dich je­den­falls nicht be­kla­gen, daß ich dich nicht or­dent­lich ver­sorgt hät­te«, sag­te Liz­zy selbst­zu­frie­den. »Du siehst doch ein, wie gut ich un­se­ren Haus­halt ge­führt habe, bes­ser als alle an­de­ren, mit de­nen du frü­her ein­mal zu­sam­men­wohn­test. Ich habe dir alle Haus­halts­sor­gen ab­ge­nom­men, al­les be­sorgt, ein­ge­kauft, ge­kocht und ge­putzt – das gibst du doch zu?«

Lois leg­te ih­ren Arm um die Freun­din und küß­te ihr ein­fa­ches, gut­mü­ti­ges Ge­sicht.

»Ja – wir ha­ben uns gut ver­tra­gen, und es tut mir sehr leid, daß ich fort­ge­hen muß. Aber ich habe im­mer ver­sucht vor­wärts­zu­kom­men. Von der Schul­bank in Leeds kam ich an das klei­ne Kas­sen­pult bei Rooper und von dort zu ei­ner Dro­ge­rie, dann zu der großen Rechts­an­walts­fir­ma –«

»Groß?« un­ter­brach Liz­zy sie är­ger­lich. »Du willst den al­ten Shadd­les doch nicht etwa groß nen­nen? Das Biest hat mir zu Weih­nach­ten nicht ein­mal das Ge­halt um zehn Shil­ling er­höht, und ich habe doch jetzt fünf Jah­re lang die Schreib­ma­schi­ne bei ihm ge­klopft! – Aber, mein Lieb­ling, du wirst nun eine gute Par­tie ma­chen, du wirst je­mand aus der Ge­sell­schaft hei­ra­ten. Die Grä­fin ist si­cher ein weib­li­cher Dra­che, aber sie ist reich, und du triffst vor­neh­me Leu­te bei ihr. – Jetzt mußt du aber ge­hen und dein Bad neh­men; ich ma­che in­zwi­schen die Set­zei­er. Wer­den wir Re­gen be­kom­men?«

Lois rieb ihre wei­ßen, wohl­ge­run­de­ten Arme und fuhr lei­se mit der Hand über eine klei­ne, schwach rot schim­mern­de, stern­för­mi­ge Nar­be kurz über ih­rem El­len­bo­gen. Liz­zy glaub­te fest dar­an, daß es Re­gen gebe, wenn Lois’ Nar­be sich dunk­ler färb­te.

»Das Ding mußt du dir elek­trisch weg­ma­chen las­sen«, sag­te das fri­sche, der­be Mäd­chen, aber Lois schüt­tel­te leicht den Kopf. »Du kannst auch lan­ge Är­mel tra­gen, sie sind in die­ser Sai­son mo­dern.«

Lois hör­te wäh­rend des Ba­des ihre Freun­din in der klei­nen Kü­che her­um­wirt­schaf­ten. Wäh­rend die Set­zei­er in der Pfan­ne brut­zel­ten, pfiff Liz­zy die Me­lo­die des letz­ten Tanz­schla­gers.

Die bei­den hat­ten zu­sam­men das Ober­ge­schoß ei­nes Hau­ses in der Char­lot­te Street ge­mie­tet, seit­dem Lois nach Lon­don ge­kom­men war. Sie war eine Wai­se, ihr Va­ter starb, als sie noch klein war, und sie konn­te sich auch nur dun­kel auf die freund­li­che, müt­ter­li­che Frau be­sin­nen, die sie wäh­rend ih­rer ers­ten Schul­zeit be­treut hat­te. Spä­ter wur­de sie von ei­ner weit­läu­fig ver­wand­ten Tan­te er­zo­gen, die sich aber nur um ihre vie­len ein­ge­bil­de­ten Lei­den küm­mer­te. Sie starb bald, trotz ih­rer vie­len Me­diz­in­fla­schen oder viel­leicht ge­ra­de des­halb, und Lois kam dann zu frem­den Leu­ten.

»Der Grä­fin wird dei­ne vor­neh­me Aus­drucks­wei­se ge­fal­len«, sag­te Liz­zy, als das hüb­sche Mäd­chen in die Kü­che kam.

»Ich wuß­te nicht, daß ich vor­nehm spre­che«, er­wi­der­te Lois in gu­ter Lau­ne.

Liz­zy schwenk­te mit ei­ner ge­schick­ten Be­we­gung die Eier aus der Brat­pfan­ne auf den Tel­ler.

»Si­cher hat auch ihn das so­fort für dich ein­ge­nom­men«, mein­te sie be­deu­tungs­voll.

Lois er­rö­te­te.

»Wenn du doch nicht im­mer von die­sem schreck­li­chen Men­schen spre­chen woll­test, als ob er ein jun­ger Gott wäre!« er­wi­der­te sie kurz.

Liz­zy Smith ließ sich aber nicht im min­des­ten aus der Fas­sung brin­gen. Sie wisch­te sich die Stirn mit dem Han­drücken ab, stell­te die Brat­pfan­ne an ih­ren Platz zu­rück und setz­te sich ener­gisch an den Tisch.

»Hör mal, das ist kein ge­wöhn­li­cher Mensch! Er ge­hört nicht zu die­sen Ge­cken, die einen auf der Stra­ße an­spre­chen«, sag­te Liz­zy, in Erin­ne­rung ver­sun­ken. »Ich bit­te dich, der ist doch Klas­se. Als er mir dank­te, hat er mich wie eine Lady be­han­delt, und wäh­rend der gan­zen Un­ter­hal­tung ist kein Wort ge­fal­len, das nicht auf der ers­ten Sei­te ei­ner from­men Sonn­tags­zei­tung hät­te ste­hen kön­nen. Als ich aber kam und dich nicht mit­brach­te, war er furcht­bar ent­täuscht, und es war wirk­lich kein Kom­pli­ment für mich, daß er ganz ver­le­gen drein­schau­te und sag­te: ›Ach, ist sie nicht mit­ge­kom­men?‹«

»Die Set­zei­er sind an­ge­brannt«, sag­te Lois.

»Er ist wirk­lich ein fei­ner Kerl«, fuhr Liz­zy fort, »ein Gent­le­man! Er fährt sei­nen ei­ge­nen Wa­gen. Er spa­ziert in der Bed­ford Row auf und ab, nur um dich ein­mal kurz von wei­tem se­hen zu kön­nen. Sol­che An­häng­lich­keit wür­de selbst das här­tes­te Herz aus Stein er­wei­chen.«

»Meins ist aber aus Bron­ze«, er­wi­der­te Lois ver­gnügt. »Du machst dich lä­cher­lich, Eli­z­abeth!«

»Du bist die ers­te, die mich seit mei­ner Tau­fe Eli­z­abeth ge­nannt hat. Aber das än­dert an der Sa­che gar nichts, so­weit ich dar­an be­tei­ligt bin. Mr. Dorn –«

»Der Tee schmeckt nach aus­ge­laug­tem Holz«, un­ter­brach sie Lois, und dies­mal fühl­te Liz­zy sich ge­trof­fen.

Es ent­stand eine Pau­se.

»Hast du den al­ten Ma­cken­zie in der ver­gan­ge­nen Nacht ge­hört?« be­gann Liz­zy dann wie­der. »Nein? Er hat die­ses süße Stück aus Hoff­heims Er­zäh­lun­gen – Hoff­manns Er­zäh­lun­gen woll­te ich sa­gen – ge­spielt. Ko­misch, daß ein Schot­te Vio­li­ne spielt. Ich dach­te, sie wä­ren alle Du­del­sack­pfei­fer.«

»Er spielt wun­der­voll. Manch­mal höre ich sei­ne Mu­sik in mei­nen Träu­men.«

Liz­zy murr­te.

»Mit­ten in der Nacht macht man kei­ne Mu­sik«, sag­te sie böse. »Wenn er auch un­ser Haus­herr ist, so ha­ben wir doch das Recht auf Schlaf. Er ist eben ver­rückt, das ist es.«

»Mir ge­fällt er aber ge­ra­de mit sei­nen Ei­gen­hei­ten gut, er ist ein net­ter al­ter Mann.«

Liz­zy rümpf­te die Nase.

»Al­les zu sei­ner Zeit«, sag­te sie, stand auf und hol­te eine drit­te Tas­se aus dem Kü­chen­schrank. Sie stell­te sie ge­räusch­voll auf den Tisch und goß Tee und reich­lich Milch ein.

»Heu­te bist du an der Rei­he, ihm den Tee hin­un­ter­zu­tra­gen. Vi­el­leicht kannst du eine Be­mer­kung fal­len las­sen, daß ich am liebs­ten ›Mond­nacht in Ita­li­en‹ höre.«

Die Mäd­chen hat­ten es sich zur Ge­wohn­heit ge­macht, dem al­ten Mann, der die Eta­ge un­ter ih­nen be­wohn­te, je­den Mor­gen eine Tas­se Tee zu brin­gen. Ganz ab­ge­se­hen von sei­ner Ei­gen­schaft als Haus­wirt, stand der alte Herr mit bei­den Mäd­chen auf gu­tem Fuß. Die Mie­te, die sie zahl­ten, war im Ver­hält­nis zu der zen­tra­len Lage des Hau­ses und der Be­liebt­heit die­ser Ge­gend sehr nied­rig.

Lois trug die Tas­se die Trep­pe hin­un­ter und klopf­te an eine der bei­den Tü­ren auf dem un­te­ren Trep­pen­ab­satz. Schlür­fen­de Schrit­te nä­her­ten sich auf dem har­ten Fuß­bo­den, die Tür öff­ne­te sich, und Mr. Ma­cken­zie ver­neig­te sich mit ei­nem dank­ba­ren Blick über sei­ne Horn­bril­le hin­weg. Er be­trach­te­te wohl­ge­fäl­lig die hüb­sche Er­schei­nung des Mäd­chens.

»Tau­send Dank, Miss Redd­le«, sag­te er eif­rig, als er ihr die Tas­se ab­nahm. »Wol­len Sie nicht ein biß­chen her­ein­kom­men? Ich habe mei­ne alte Vio­li­ne zu­rück­be­kom­men. Habe ich Sie die letz­te Nacht ge­stört?«

»Nein. Lei­der habe ich Sie nicht ge­hört«, sag­te Lois, als er die Tas­se auf die sau­ber ge­scheu­er­te Plat­te des ein­fa­chen Ti­sches stell­te.

Das Zim­mer war pein­lich sau­ber und nur mit dem Al­ler­not­wen­digs­ten mö­bliert. Aber es paß­te so recht zu die­sem klei­nen al­ten Herrn mit den bau­schi­gen Ho­sen, den feu­er­ro­ten Pan­tof­feln und der schwar­zen Samt­ja­cke. Run­zeln und Fal­ten durch­zo­gen sein glat­tra­sier­tes Ge­sicht, aber die hel­len blau­en Au­gen, die un­ter bu­schi­gen Brau­en sa­ßen, wa­ren vol­ler Le­ben und Güte.

Er nahm die Vio­li­ne, die auf der Kom­mo­de lag, be­hut­sam, fast zärt­lich in die Hand.

»Mu­sik ist ein ho­her Be­ruf«, sag­te er, »wenn man ihr ge­nü­gend Zeit wid­men kann. Aber die Büh­ne ist et­was Fürch­ter­li­ches! Ge­hen Sie nie­mals zum Thea­ter, mein lie­bes Fräu­lein, blei­ben Sie hübsch auf der an­de­ren Sei­te der Ram­pen­lich­ter. Die­se Ko­mö­di­an­ten sind son­der­ba­re, un­auf­rich­ti­ge Leu­te.« Er nick­te nach­denk­lich. »Frü­her saß ich ru­hig und ge­bor­gen im tie­fen Or­che­s­ter und be­ob­ach­te­te nur, wie ihre klei­nen, sü­ßen Füße über die Büh­ne trip­pel­ten … Sie war ein schö­nes Mäd­chen, nicht viel äl­ter als Sie, aber sehr hoch­mü­tig, wie die Schau­spie­le­rin­nen eben sind. Wie ich den Mut fand, sie an­zu­spre­chen und zu fra­gen, ob sie mich hei­ra­ten wol­le, ver­ste­he ich heu­te selbst nicht mehr.« Er seufz­te schwer. »Ach ja, und doch war es für mich Nar­ren ein Pa­ra­dies, und das Le­ben mit ihr war schö­ner als die Ein­sam­keit, wenn ich auch be­tro­gen und aus­genützt wur­de. Zwei Jah­re lang –« Er schüt­tel­te den Kopf. »Sie war ein sü­ßes Ge­schöpf, aber sie war ver­bre­che­risch ver­an­lagt. Man­che jun­gen Mäd­chen sind lei­der so. Sie ha­ben kein Ge­wis­sen und füh­len kei­ne Reue, und wenn man kein Ge­wis­sen und kei­ne Reue kennt, dann gibt es nichts, was man nicht tun könn­te – bis zum Mord.«

Lois hat­te ihn schon öf­ters über die­se son­der­ba­re Frau kla­gen hö­ren, ohne daß sie aus sei­nen Äu­ße­run­gen ein kla­res Bild ge­win­nen konn­te. Aber heu­te hat­te er zum ers­ten­mal ihre ver­bre­che­ri­sche Ver­an­la­gung er­wähnt.

»Frau­en sind merk­wür­di­ge Ge­schöp­fe, Mr. Ma­cken­zie«, sag­te sie scher­zend.

Er nick­te.

»Ja, das sind sie«, er­wi­der­te er schlicht. »Aber im all­ge­mei­nen sind sie den meis­ten Män­nern über­le­gen. Ich dan­ke Ih­nen auch schön für den Tee, Miss Redd­le.«

Sie stieg die Trep­pe wie­der hin­auf. Liz­zy zog ge­ra­de ih­ren Man­tel an.

»Na, hat er dich wie­der vor der Büh­ne ge­warnt?« frag­te sie, als sie zu dem klei­nen Spie­gel trat und sich pu­der­te. »Ich möch­te wet­ten, daß er wie­der da­von an­fing. Ges­tern habe ich zu ihm ge­sagt, daß ich auch ein schö­nes Chor­mäd­chen wer­den woll­te. Da hät­te er bei­na­he einen An­fall be­kom­men!«

»Du mußt den net­ten al­ten Herrn nicht so auf­zie­hen!«

»Er müß­te doch et­was mehr Ver­stand ha­ben«, sag­te Liz­zy ver­ächt­lich. »Ich – ein hüb­sches Chor­mäd­chen! Wo hat denn der sei­ne Au­gen ge­las­sen?«

Kapitel 2

Sie gin­gen zu­sam­men aus dem Haus und mach­ten sich auf den Weg zum Büro. Nur ein­mal schau­te sich Lois arg­wöh­nisch nach ih­rem un­will­kom­me­nen Ka­va­lier um, aber er war glück­li­cher­wei­se nicht in der Nähe.

»Ich weiß einen ver­hält­nis­mä­ßig bil­li­gen Schön­heits­sa­lon in der South Moul­ton Street«, sag­te Liz­zy, als sie quer über die Theo­bald Road gin­gen, »wo man sich sol­che Nar­ben ent­fer­nen las­sen kann, wie du eine am Arm hast. Ich habe auch dar­an ge­dacht, mein ro­tes Ge­sicht ein­mal be­han­deln zu las­sen. Denk dir, der Bü­ro­vor­ste­her hat mir das ge­ra­ten; der Kerl fängt an, frech zu wer­den – ich muß ihn ein­mal et­was auf Eis stel­len! Und da­bei ist er achtund­vier­zig Jah­re alt und hat be­reits er­wach­se­ne Kin­der!«

Zwei Stun­den spä­ter nahm Mr. Oli­ver Shadd­les ei­ni­ge Schrift­stücke vom Tisch, las sie schnell durch, rieb sich ner­vös das un­ra­sier­te Kinn mit den grau­en Bart­stop­peln und schau­te auf die Bed­ford Row hin­aus.

Dann wand­te er sich zu der klei­nen elek­tri­schen Tisch­glo­cke, zö­ger­te einen Au­gen­blick und drück­te den Knopf.

»Miss Redd­le!«, sag­te er kurz zu der An­ge­stell­ten, die ei­lig her­ein­kam. Er nahm die Ur­kun­den wie­der auf und las noch dar­in, als sich die Tür öff­ne­te und Lois ein­trat.

Sie war et­was über mit­tel­groß, aber ihre Schlank­heit ließ sie grö­ßer er­schei­nen, als sie wirk­lich war. Sie trug das ein­fa­che schwar­ze Bü­ro­kleid, das die Fir­ma Shadd­les & Soan ih­ren weib­li­chen An­ge­stell­ten vor­schrieb. Mr. Shadd­les hat­te das Al­ter er­reicht, in dem Schön­heit kei­nen Ein­druck mehr auf ihn mach­te. Über Lois Redd­le lag eine zar­te, äthe­ri­sche Lieb­lich­keit. Aber für den Rechts­an­walt war sie nur eine An­ge­stell­te, die all­wö­chent­lich fünf­und­drei­ßig Shil­ling er­hielt. Da­von wur­den je­doch noch die Kos­ten der Un­fall­ver­si­che­rung und Kran­ken­kas­se ab­ge­zo­gen.

»Sie fah­ren nach Tels­bu­ry.« Shadd­les hat­te eine rau­he, ab­ge­ris­se­ne Sprech­wei­se. »Sie sind in an­dert­halb Stun­den dort. Neh­men Sie die bei­den ei­des­statt­li­chen Er­klä­run­gen und brin­gen Sie die zu Mrs. Des­mond. Sie soll sie un­ter­schrei­ben. Das Auto steht un­ten –«

»Ich dach­te, Mr. Dor­ling hät­te es«, be­gann sie.

»Der Wa­gen ist vor der Tür«, sag­te er kurz. »Sie wer­den eine glat­te Fahrt ha­ben und müß­ten ei­gent­lich dank­bar sein, daß Sie so viel fri­sche Luft auf dem Weg schnap­pen kön­nen. Hier, ver­ges­sen Sie das nicht«, rief er ihr nach, als sie mit den Ur­kun­den weg­ge­hen woll­te. Er hielt ihr ein klei­nes Pa­pier ent­ge­gen. »Ver­ges­sen Sie den Pas­sier­schein nicht – sei­en Sie doch nicht so un­auf­merk­sam! Wie sol­len Sie denn sonst ins Ge­fäng­nis kom­men, Mäd­chen? Und dann sa­gen Sie der Des­mond – ma­chen Sie jetzt, daß Sie fort­kom­men!«

Lois ver­ließ den Raum und schloß die Tür lei­se hin­ter sich. Die vier blas­sen An­ge­stell­ten, die nicht mehr all­zu jung wa­ren, sa­ßen an ho­hen Bü­ro­pul­ten und schau­ten nicht einen Au­gen­blick von ih­rer Ar­beit auf. Nur das dral­le Mä­del mit dem run­den Ge­sicht, das die Schreib­ma­schi­ne be­ar­bei­te­te, dreh­te sich nach ihr um.

»Fährst du nach Tels­bu­ry – mit sei­nem so­ge­nann­ten Auto?« frag­te sie. »Ich dach­te mir schon, daß er dich da­mit weg­schi­cken wür­de. Der alte Teu­fel ist so nie­der­träch­tig gei­zig, daß er nicht ein­mal sei­ne Fahrt zum Him­mel be­zah­len wür­de!«

Die Fir­ma Shadd­les & Soan be­saß ein Auto, das vor dem Krieg ein­mal schön und mo­dern ge­we­sen war. Es stand in ei­ner be­nach­bar­ten Ga­ra­ge, für die kei­ne Mie­te ge­zahlt zu wer­den brauch­te, denn das Grund­stück wur­de von Mr. Shadd­les ver­wal­tet. Den Wa­gen selbst hat­te er für eine ver­schwin­dend ge­rin­ge Sum­me bei ei­ner Zwangs­ver­stei­ge­rung er­wor­ben. Es war ein Ford­wa­gen, und je­der An­ge­stell­te muß­te ihn fah­ren kön­nen.

Mr. Shadd­les be­nutz­te ihn, wenn er zum Ge­richt muß­te, die An­ge­stell­ten ab­sol­vier­ten da­mit ihre Bo­ten­gän­ge, und die Fahr­ten wur­den auf al­len Kos­ten­rech­nun­gen nicht zu ge­ring in An­satz ge­bracht. So war das Auto für die Fir­ma oben­drein noch eine recht ein­träg­li­che Sa­che.

»Bist du nicht froh, daß du fah­ren darfst?« frag­te Liz­zy et­was nei­disch. »Gro­ßer Gott, wenn ich ein­mal aus die­sem stau­bi­gen Loch her­aus könn­te! Mög­lich, daß du dei­nem Schick­sal be­geg­nest!«

Lois run­zel­te die Stirn.

»Was meinst du?«

»Dein Schick­sal«, er­wi­der­te Eli­z­abeth, nicht im min­des­ten ein­ge­schüch­tert. »Ich habe ihn schon heu­te mor­gen ge­se­hen, als ich durch das Fens­ter schau­te – na, wenn der nicht in dich ver­liebt ist!«

Lois sah sie kühl und ab­leh­nend an.

»Aber da ist doch nichts da­bei«, fuhr Liz­zy fort. »Der jun­ge Mann war­te­te neu­lich so­gar im Re­gen stun­den­lang auf mich, nur um nach dir zu fra­gen. Ich glau­be, der ist nicht ganz rich­tig im Kopf.«

Lois lach­te lei­se, band sich ein grell­far­be­nes Hals­tuch um und zog ihre Hand­schu­he an. Plötz­lich wur­de sie ernst.

»Ich has­se die­ses Tels­bu­ry, ich has­se über­haupt alle Ge­fäng­nis­se – mich schau­dert, wenn ich nur dar­an den­ke. Ich freue mich, daß ich bald nicht mehr hier in die­sem Büro von Mr. Shadd­les ar­bei­ten muß.«

»Nen­ne ihn bloß nicht Mis­ter – die­ses Kom­pli­ment ver­dient er nicht!«

Der Tag war schön und warm, es weh­te eine laue, mil­de Luft. Als Lois aus dem lär­men­den Trei­ben Lon­d­ons her­aus­kam, wi­chen Nie­der­ge­schla­gen­heit und Un­lust von ihr. Be­vor sie ab­ge­fah­ren war, hat­te sie sich in­stink­tiv nach dem Mann um­ge­se­hen, von dem Liz­zy vor­hin so schmei­chel­haft ge­spro­chen hat­te und des­sen be­stän­di­ge und un­er­schüt­ter­li­che Er­ge­ben­heit sie sehr in Er­stau­nen setz­te. Aber sie konn­te ihn nicht ent­de­cken und ver­gaß ihn auch bald. Au­ßer­halb Lon­d­ons bog sie von der Haupt­stra­ße auf eine der ge­wun­de­nen Land­stra­ßen ab, die par­al­lel zur Chaus­see lie­fen. Von hier aus konn­te man die Na­tur und die gan­ze Land­schaft bes­ser ge­nie­ßen als auf der ge­ra­den, lang­wei­li­gen Chaus­see, die oben­drein noch von ho­hen He­cken ein­ge­faßt war.

Sie­ben Mei­len vor Tels­bu­ry fuhr sie mit zu ho­her Ge­schwin­dig­keit wie­der auf die as­phal­tier­te Haupt­stra­ße zu­rück. Als sie eben die ho­hen He­cken pas­sie­ren woll­te, hör­te sie das Hu­pen ei­nes Au­tos und brems­te. Der klei­ne Wa­gen rutsch­te aber trotz­dem wei­ter auf die Haupt­stra­ße. Zu spät gab sie die Brem­sen frei, um Gas zu ge­ben. Plötz­lich sah sie das Ver­deck ei­nes schwar­zen Wa­gens, der ge­ra­de auf sie zu­kam, und fühl­te den Ruf des Fah­rers mehr, als sie ihn hör­te.

Krach!

Dem Fah­rer des großen, ele­gan­ten Wa­gens war es im letz­ten Au­gen­blick ge­lun­gen, sein Auto zum Ste­hen zu brin­gen; trotz­dem war er noch leicht mit dem al­ten Ford zu­sam­men­ge­sto­ßen. Das Mäd­chen hat­te die Hän­de am Steu­er ih­res Wa­gens und schau­te ver­zwei­felt auf die zer­bro­che­ne Wind­schutz­schei­be. Mi­cha­el Dorn ließ sei­nen Wa­gen lang­sam rück­wärts­rol­len, so daß das lan­ge Tritt­brett sei­nes Wa­gens aus dem Schutz­blech des an­de­ren her­aus­kam, und er be­wies da­bei eine so höf­li­che Ge­duld, daß es ihr noch pein­li­cher war, als wenn er ihr Vor­wür­fe ge­macht hät­te.

»Sa­gen Sie doch et­was – ir­gend et­was Hef­ti­ges – oder mei­net­we­gen schimp­fen Sie! Es ist doch bes­ser, daß man sich die Sa­che vom Her­zen her­un­ter­re­det, als daß man sei­nen Groll in sich hin­ein­frißt.«

Graue Au­gen, durch dunkle Wim­pern ge­ho­ben, dach­te er. Auch hat­te sie eine fein­ge­form­te Nase, wie er sie an Frau­en so gern hat­te, Ihr Kinn ge­fiel ihm, und da sie es an­griffs­lus­tig ge­ho­ben hat­te, konn­te er auch ih­ren Hals se­hen, der ihm trotz des sei­de­nen Hals­tuchs in den schrei­en­den ro­ten und gel­ben Tö­nen in der Form voll­kom­men er­schi­en. Sie war sehr ge­schmack­voll, wenn auch ein­fach ge­klei­det.

»Ich habe ja gar kei­nen Groll und bin höchs­tens et­was ver­wirrt. Aber wenn ich schon et­was aus­set­zen soll, so muß ich sa­gen, daß mir Ihr Hals­tuch durch­aus nicht ge­fällt.«

Sie schau­te an dem Tuch her­un­ter, das sein Schön­heits­ge­fühl be­lei­dig­te, und run­zel­te die Stirn.

»Sie ha­ben kein Recht, mich mit Ihrem Wa­gen an­zu­ren­nen, weil Ih­nen mein Hals­tuch nicht ge­fällt«, sag­te sie kühl. »Wol­len Sie bit­te noch wei­ter zu­rück­fah­ren, da­mit mein Auto frei­kommt? Hof­fent­lich sind Sie ver­si­chert?«

Er fuhr rück­wärts. Sie hör­te, wie Blech schramm­te und Glass­plit­ter zur Erde fie­len, dann war ihr Wa­gen wie­der frei.

»Sie sind mit ei­ner Ge­schwin­dig­keit von vier­zig Mei­len aus der Sei­ten­stra­ße her­aus­ge­kom­men – Ihr Wa­gen wäre si­cher um­ge­schla­gen, wenn ich Sie nicht an­ge­fah­ren hät­te«, sag­te er halb ent­schul­di­gend. »Ich hof­fe je­doch, Sie ha­ben sich nicht ver­letzt?«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Ich bin nicht ver­letzt, aber ich glau­be, mein Chef wird sehr böse sein, wenn er den Scha­den sieht. Im­mer­hin, Sie ha­ben Ihren Zweck er­reicht, Mr. Dorn, Sie ha­ben auf die­se Wei­se mei­ne Be­kannt­schaft ge­macht.«

Er fuhr auf und wur­de rot.

»Sie neh­men doch hof­fent­lich nicht an, daß ich die­sen Zu­sam­men­stoß ab­sicht­lich her­bei­ge­führt hät­te, um Ihre Be­kannt­schaft zu ma­chen?«

Als sie ernst nick­te, war er wie vom Don­ner ge­rührt und starr­te sie groß an.

»Sie fol­gen mir schon seit Mo­na­ten«, sag­te Lois ru­hig. »Sie mach­ten sich so­gar die Mühe, mit ei­ner Ste­no­ty­pis­tin in Shadd­les’ Büro be­kannt zu wer­den, nur um mit mir zu­sam­men­zu­kom­men. Ich weiß, daß Sie mich stets auf dem Heim­weg ver­fol­gen – ein­mal nah­men Sie den­sel­ben Au­to­bus wie ich, und auf dem ein­zi­gen Ball, den ich in die­sem Jahr be­such­te, wa­ren Sie auch.«

Mi­cha­el Dorn mach­te sich am Steu­er zu schaf­fen und war im Au­gen­blick sprach­los. Sie war sehr ernst ge­wor­den. Ihre wun­der­vol­len Au­gen sa­hen ihn mit ei­nem lei­sen Vor­wurf an.

»Nun ja, wirk­lich –«, be­gann er zö­gernd. Dann fehl­ten ihm die Wor­te.

Sie war­te­te, daß er sei­nen an­ge­fan­ge­nen Satz be­en­den wür­de.

»Also wirk­lich –?« Ein schwa­ches Lä­cheln zuck­te um ihre Mund­win­kel. »Nun, Mr. Dorn, es ist ja kein Ver­ge­hen von ei­nem Mann, ein jun­ges Mäd­chen tref­fen zu wol­len – das sehe ich ein. Es wäre lä­cher­lich von mir, mich da­durch be­lei­digt zu füh­len. Aber wie ich schon ih­rer Ge­sand­tin, Miss Liz­zy Smith, sag­te –«

Er schau­te rasch auf und woll­te et­was er­wi­dern, aber sie fuhr un­be­irrt fort.

»Ich wün­sche Ihre Be­kannt­schaft wirk­lich nicht, und ich be­zweifle nicht, daß Liz­zy Ih­nen das von mir aus­rich­te­te. Des­halb hal­te ich Ihr Be­neh­men auch für ein we­nig – wie soll ich es gleich nen­nen?«

»Auf­dring­lich heißt das Wort, das Sie su­chen«, sag­te er kühl. »Ich will zu­ge­ben, daß es fast so aus­sieht.«

Er stieg lang­sam aus, ging an ih­ren Wa­gen und stütz­te sei­ne Arme auf die Ober­kan­te des Schla­ges.

»Bit­te, glau­ben Sie mir, Miss Redd­le, daß mir nichts fer­ner liegt, als Sie zu be­läs­ti­gen. Wenn ich nicht so un­ge­schickt ge­we­sen wäre, wür­den Sie nie­mals er­fah­ren ha­ben, daß ich Sie –« Es fehl­te ihm wie­der das rich­ti­ge Wort. Sie vollen­de­te sei­nen Satz. Ob­wohl er so ernst war, muß­te er la­chen.

»Ver­fol­gen ist ein häß­li­ches Wort, ich woll­te es eben et­was lie­bens­wür­di­ger aus­drücken«, sag­te er.

Als sie ihn jetzt an­sah, ge­fiel ihr der treue, fröh­li­che Blick sei­ner blau­en Au­gen doch, und hät­ten sie sich in die­sem Au­gen­blick ge­trennt, ohne noch mehr mit­ein­an­der zu spre­chen, so hät­te sie freund­li­cher von ihm ge­dacht. Aber er setz­te die Un­ter­hal­tung fort.

»Wo wol­len Sie an die­sem schö­nen Herbst­mor­gen hin?«

Sie wur­de wie­der ab­leh­nend und zu­rück­hal­tend.

»Wenn Sie mir jetzt fol­gen, wer­den Sie einen Schre­cken be­kom­men. Ich bin näm­lich auf dem Weg zum Tels­bu­ry-Ge­fäng­nis.«

Der Ein­druck, den die­se Wor­te auf ihn mach­ten, war ver­blüf­fend. Er schau­te sie ent­setzt und ver­wirrt an.

»Wo­hin wol­len Sie fah­ren?« frag­te er hei­ser, als ob er sei­nen Ohren nicht trau­te.

»Zum Tels­bu­ry-Ge­fäng­nis – bit­te!«

Sie wink­te ihm, Platz zu ma­chen, und der Wa­gen mit der zer­bro­che­nen Wind­schutz­schei­be fuhr die brei­te Chaus­see ent­lang.

»Gro­ßer Gott!« sag­te Mi­cha­el Dorn und starr­te hin­ter ihr her.

Kapitel 3

Der düs­te­re Ein­gang der Straf­an­stalt von Tels­bu­ry wird gnä­dig von ei­ner Grup­pe dunk­ler Fich­ten ver­bor­gen. Die ro­ten Wän­de ha­ben mit der Zeit ihre grel­le Far­be ver­lo­ren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mit­te em­por­rag­te, wür­de ein Wan­de­rer dar­an vor­über­ge­hen, ohne das Ge­bäu­de zu be­mer­ken.

Lois hat­te das Ge­fäng­nis schon zwei­mal be­sucht, um Auf­trä­ge ih­res Chefs dort zu er­le­di­gen. Ei­ner sei­ner Kli­en­ten hat­te eine Frau we­gen Be­trugs an­ge­zeigt. Sie war zu fünf Jah­ren ver­ur­teilt wor­den. Es war nun not­wen­dig, ihre Un­ter­schrift un­ter ge­wis­se Do­ku­men­te zu er­hal­ten, um die Ak­ti­en, die be­trü­ge­ri­scher­wei­se ver­scho­ben wor­den wa­ren, ih­rem recht­mä­ßi­gen Ei­gen­tü­mer wie­der zu­stel­len zu kön­nen.

Sie ließ ih­ren Wa­gen an der Sei­te des ho­hen Stra­ßen­tors hal­ten, stieg aus und klin­gel­te. Gleich dar­auf wur­de ein Git­ter von ei­nem Fens­ter zu­rück­ge­scho­ben, und die wach­sa­men Au­gen des Pfört­ners rich­te­ten sich auf sie. Ob­wohl er sie wie­der­er­kann­te, muß­te sie ihm doch erst ih­ren Pas­sier­schein zei­gen. Dann schloß er auf und führ­te sie in einen mit Stein­flie­sen ge­pflas­ter­ten Raum. Die Ein­rich­tung war sehr ein­fach, sie be­stand nur aus ei­nem Pult mit ei­nem Schreib­ses­sel, ei­nem ein­fa­chen Tisch und zwei Stüh­len.

Der Wär­ter las den Pas­sier­schein noch ein­mal durch und drück­te dann auf eine Klin­gel. Er, die bei­den Leu­te, die ihn ab­lös­ten, und der Di­rek­tor der An­stalt wa­ren die ein­zi­gen Män­ner, die in die­se Mau­ern ka­men. Sein Tä­tig­keits­feld be­schränk­te sich auf den klei­nen Raum und den Tor­weg, der vom In­nen­hof durch star­ke, ei­ser­ne Git­ter ge­trennt war.

»Ist es Ih­nen nicht un­an­ge­nehm hier­her­zu­kom­men, mein Fräu­lein?« frag­te er lä­chelnd.

»Ge­fäng­nis­se ma­chen mich im­mer elend und krank«, sag­te sie.

Er nick­te.

»Hier drin­nen le­ben sechs­hun­dert Frau­en, die noch viel mat­ter und krän­ker sind, als Sie, hof­fent­lich, je­mals in Ihrem Le­ben sein wer­den«, er­wi­der­te er zu­vor­kom­mend. »Nicht daß ich eine von ih­nen zu se­hen be­kom­me – ich öff­ne ih­nen nur das Tor zum Ge­fäng­nis und dann sehe ich sie, so­lan­ge sie hier sind, nicht wie­der. Nicht ein­mal, wenn sie ent­las­sen wer­den.«

Eine Tür wur­de auf­ge­schlos­sen, und eine jun­ge Wär­te­rin in gut­sit­zen­der blau­er Uni­form trat ein. Sie grüß­te Lois mit ei­nem freund­li­chen Kopf­ni­cken und führ­te sie durch eine klei­ne Stahl­tür über einen großen Hof, der ein­sam und ver­las­sen dalag. Da­nach tra­ten sie durch eine an­de­re Tür und gin­gen einen lan­gen Gang ent­lang bis zu dem klei­nen Büro des Ge­fäng­nis­di­rek­tors.

»Gu­ten Mor­gen, Di­rek­tor. Ich möch­te gern mit Mrs. Des­mond spre­chen.« Sie ent­fal­te­te ihre Do­ku­men­te und leg­te sie dem grau­haa­ri­gen Mann auf den Tisch.

»Sie wird jetzt in ih­rer Zel­le sein«, sag­te er. »Kom­men Sie mit, Miss Redd­le, ich wer­de Sie per­sön­lich hin­brin­gen.«

Am Ende des Gan­ges be­fand sich eine an­de­re Tür, die in eine große Hal­le führ­te. Auf bei­den Sei­ten lie­fen ei­ser­ne Ver­bin­dungs­gän­ge, die man über eine brei­te Mit­tel­trep­pe er­rei­chen konn­te. Lois schau­te in die Höhe, sah die Draht­net­ze über ih­rem Kopf und schau­der­te. Sie wuß­te, daß sie an­ge­bracht wa­ren, um zu ver­hin­dern, daß die­se un­glück­li­chen Frau­en sich von oben her­ab­stürz­ten und ih­rem Le­ben so ein Ende mach­ten.

»Wir sind da«, sag­te der Di­rek­tor und öff­ne­te die Zel­len­tür.

Fünf Mi­nu­ten muß­te sie mit der ei­gen­sin­ni­gen, ver­bit­ter­ten Frau ver­han­deln, die sich mit wei­ner­li­cher Stim­me über al­les be­schwer­te und al­len Vor­wür­fe mach­te. Schließ­lich trat Lois mit ei­nem tie­fen Seuf­zer der Er­leich­te­rung wie­der zu dem Di­rek­tor hin­aus.

»Gott sei Dank – ich wer­de nie wie­der hier­her­kom­men!« sag­te sie, als er die Zel­le ver­schloß.

»Wol­len Sie Ihre An­walt­stä­tig­keit auf­ge­ben?« frag­te er scher­zend. »Ich habe schon im­mer ge­sagt, daß das kein pas­sen­der Be­ruf für eine jun­ge Dame ist.«

»Sie über­schät­zen mich und mei­ne Stel­lung. Ich bin nur eine ein­fa­che Ste­no­ty­pis­tin und weiß von dem Ge­setz kaum mehr, als daß Stem­pel­mar­ken auf ge­wis­se Ur­kun­den ge­hö­ren und an be­stimm­ten Stel­len auf­ge­klebt wer­den müs­sen!«

Sie kehr­ten nicht auf dem Weg zu­rück, den sie ge­kom­men wa­ren, son­dern gin­gen durch die große Hal­le in den Hof. Die Or­ga­ni­sa­ti­on der An­stalt war so vor­züg­lich, daß sich in der kur­z­en Zeit, die sie in der Zel­le ver­brach­te, der gan­ze Hof mit grau­en Ge­fan­ge­nen ge­füllt hat­te, die im Kreis um­her­gin­gen.

»Um die­se Zeit ma­chen sich die Ge­fan­ge­nen im­mer Be­we­gung«, er­klär­te der Di­rek­tor. »Ich dach­te, Sie wür­den es viel­leicht gern ein­mal se­hen.«

Lois war von Mit­leid er­füllt, und ihr Herz lehn­te sich ge­gen das Ge­setz auf, das die­se Frau­en zu an­ony­men Num­mern er­nied­rig­te. Die ein­fa­chen Kat­tun­klei­der und die wei­ßen Hau­ben er­schie­nen ihr häß­lich, und die­ser An­blick stimm­te sie trau­rig. Kum­mer und na­men­lo­se Furcht pack­ten sie. Je­des Al­ter war hier ver­tre­ten, sie sah jun­ge Mäd­chen und alte, ver­stock­te Frau­en. Auf je­dem Ge­sicht las Lois den un­leug­ba­ren Stem­pel des Un­ge­wöhn­li­chen. Als sich die­ser ge­spens­ti­sche Kreis lang­sam an ihr vor­über­be­weg­te, sah sie wil­de und schlaue, aber auch er­mat­te­te und in ih­rem Kum­mer er­grei­fen­de Ge­sich­ter. Trü­be Au­gen starr­ten ge­dan­ken­los vor sich hin, dunkle Au­gen blitz­ten bos­haft auf, sorg­lo­se Bli­cke streif­ten Lois ober­fläch­lich. Die sich vor­wärts schie­ben­den Frau­en er­schie­nen ihr un­heim­lich und un­wirk­lich.

Bei­na­he der gan­ze gräß­li­che Kreis war an ihr vor­über­ge­gan­gen, als sie eine große statt­li­che Ge­stalt wahr­nahm, die nicht in die­se grau­en­vol­le Um­ge­bung zu ge­hö­ren schi­en. Die Frau ging auf­recht, mit er­ho­be­nem Kopf, und ihre ru­hi­gen Au­gen sa­hen ge­ra­de­aus. Sie moch­te zwi­schen Vier­zig und Fünf­zig sein. Ihre fein­ge­schnit­te­nen Züge wa­ren nicht ge­furcht, aber ihr Haar war weiß. Eine gött­li­che Ruhe strahl­te von ihr aus.

»Was tut denn die­se Frau hier?« frag­te Lois, be­vor sie sich be­wußt wur­de, daß sie eine Fra­ge ge­stellt hat­te, die kein Be­su­cher an einen Ge­fäng­nis­be­am­ten rich­ten darf.

Di­rek­tor Stan­nard ant­wor­te­te ihr nicht. Er be­ob­ach­te­te die Ge­stalt auch, als sie nä­her kam. Ei­nen Au­gen­blick ruh­ten die Au­gen der Frau ernst auf dem jun­gen Mäd­chen, aber nur eine Se­kun­de lang, so lan­ge, wie eine Frau von Hal­tung das Ge­sicht ei­ner Frem­den an­schau­en wür­de. Dann war sie vor­über­ge­gan­gen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie ge­fragt habe«, sag­te sie, als sie an der Sei­te des Di­rek­tors durch das Git­ter in sein Büro ging.

»Schon vie­le ha­ben die­sel­be Fra­ge ge­stellt«, ent­geg­ne­te er, »und ha­ben auch kei­ne Ant­wort er­hal­ten. Es ver­stößt ge­gen die Ge­fäng­nis­re­geln, den Na­men ir­gend­ei­ner Ge­fan­ge­nen zu ver­ra­ten. Das wis­sen Sie wohl. Aber merk­wür­dig –«

Er schau­te sich um und nahm ein auf­ge­schla­ge­nes Buch von ei­nem Sei­ten­brett her­un­ter. Es war ein di­cker, in Kalbs­le­der ge­bun­de­ner Band. Ohne ein Wort zu sa­gen, reich­te er ihr das Buch. Sie las den Ti­tel: »Faw­leys Kri­mi­nal­fäl­le.«

»Mary Pin­der«, sag­te er kurz, und sie ent­deck­te, daß das Buch an der Stel­le auf­ge­schla­gen war, wo das Ka­pi­tel mit die­sem Na­men be­gann. »Es ist doch merk­wür­dig, daß ich ge­ra­de, be­vor Sie ka­men, den Fall nach­ge­le­sen habe. Ich bin alle Ein­zel­hei­ten durch­ge­gan­gen, um zu se­hen, ob mein Ge­dächt­nis mich nicht im Stich ge­las­sen hat. Ich ge­ste­he Ih­nen, daß ich eben­so ver­wun­dert über die­se Frau bin wie Sie.« Bei den letz­ten Wor­ten senk­te er sei­ne Stim­me, als ob er ir­gend­wel­che Hor­cher fürch­te­te.

Sie schau­te wie­der auf die Über­schrift: »Mary Pin­der. Be­gan­ge­nes Ver­bre­chen: Mord.« Sie war sehr er­staunt.

»Eine Mör­de­rin?« frag­te sie un­gläu­big.

Der Di­rek­tor nick­te.

»Aber das ist doch un­mög­lich!«

»Le­sen Sie den Fall.«

Sie schau­te in das Buch:

Mary Pin­der – ver­ur­teilt we­gen Mor­des vor dem Schwur­ge­richt zu He­re­ford. Das Ur­teil lau­te­te auf Tod, wur­de spä­ter aber in zwan­zig­jäh­ri­ge Ker­ker­stra­fe um­ge­wan­delt. Hier ha­ben wir den ty­pi­schen Fall ei­nes Raub­mor­des. Die Pin­der leb­te mit ei­nem jun­gen Mann zu­sam­men, der al­lem An­schein nach ihr Gat­te war. Die­ser ver­schwand ei­ni­ge Zeit vor dem Ver­bre­chen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mit­tel zu­rück­ließ. Ihre Wir­tin, Mrs. Cur­tain, war eine rei­che Wit­we, de­ren ex­zen­tri­sche Lau­nen bei­na­he an Geis­tes­krank­heit grenz­ten. Sie ver­wahr­te große Sum­men und viel al­ten Schmuck in ih­rem Haus. Nach­dem ihr Mann sie ver­las­sen hat­te, an­non­cier­te die Pin­der um eine Stel­lung. Eine Frau, die sie in dem Haus auf­su­chen woll­te, fand die Haus­tür ge­öff­net. Nach­dem sie ver­schie­dent­lich ge­klopft und kei­ne Ant­wort er­hal­ten hat­te, trat sie ein. Sie be­merk­te, daß eine der Zim­mer­tü­ren of­fen­stand, und als sie in den Raum schau­te, sah sie zu ih­rem größ­ten Schre­cken, daß Mrs. Cur­tain auf dem Bo­den lag und an­schei­nend einen An­fall hat­te. Sie eil­te so­fort zu ei­nem Po­li­zis­ten, der aber nur fest­stel­len konn­te, daß die Frau tot war. Die Schub­la­den ei­nes al­ten Se­kre­tärs wa­ren ge­öff­net und ihr In­halt auf dem Bo­den ver­streut; auch ein Schmuck­stück war dar­un­ter. Da man Ver­dacht hat­te, wur­de das Zim­mer der Mie­te­rin, die das Haus kurz vor der Ent­de­ckung ver­las­sen hat­te, in ih­rer Ab­we­sen­heit durch­sucht. Man fand dort in ei­nem ver­schlos­se­nen Kas­ten eine Fla­sche Zy­an­ka­li und vie­le Ju­we­len. Die Ver­tei­di­gung mach­te gel­tend, daß die Ver­stor­be­ne schon mehr­mals ver­sucht hat­te, Selbst­mord zu ver­üben, und daß man nicht be­wei­sen konn­te, daß die Pin­der das Gift ge­kauft hat­te, das in ei­ner Fla­sche ohne Eti­kett ge­fun­den wur­de. Die Pin­der selbst lehn­te es ab, über sich und ih­ren Mann ir­gend­wel­che Aus­sa­gen zu ma­chen. Ein Trau­schein wur­de nicht ge­fun­den. Der Rich­ter Dar­son lei­te­te als Vor­sit­zen­der die Ver­hand­lung ih­res Fal­les. Sie wur­de ver­ur­teilt. Man nimmt an, daß die Pin­der, die drin­gend Geld brauch­te, ei­ner plötz­li­chen Ver­su­chung un­ter­lag, Zy­an­ka­li in den Tee der Frau goß und dar­auf de­ren Schreib­tisch plün­der­te. Der Fall zeigt kei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­chen Züge mit Aus­nah­me der Wei­ge­rung der Ge­fan­ge­nen, sich zu ver­tei­di­gen.

Lois las den Be­richt zwei­mal durch.

»Ich kann es trotz­dem nicht glau­ben – es ist un­faß­bar. Sie wur­de zu zwan­zig Jah­ren Ge­fäng­nis ver­ur­teilt – aber si­cher wird sie doch be­gna­digt? Gibt es denn kei­nen Straf­er­laß we­gen gu­ter Füh­rung?«

»Un­glück­li­cher­wei­se mach­te sie zwei Ver­su­che aus­zu­bre­chen, und so wur­de ihr die gute Füh­rung von frü­her ge­stri­chen. Es ist sehr scha­de, denn sie ist eine wohl­ha­ben­de Frau. Ihr On­kel, der erst fünf Jah­re nach ih­rer Ver­ur­tei­lung er­fuhr, daß sie im Ge­fäng­nis war, hin­ter­ließ ihr ein großes Ver­mö­gen. Sie hat uns nie­mals ge­sagt, wer sie war. Er be­such­te sie ein paar Wo­chen vor sei­nem Tode hier, und wir wur­den da­von auch nicht klü­ger. Wir konn­ten nur fest­stel­len, daß er ei­ner ih­rer Ver­wand­ten müt­ter­li­cher­seits war.«

Lois sah wie­der auf das Buch.

»Die­se wun­der­vol­le Frau soll eine Mör­de­rin sein?«

Er nick­te.

»Ja – es ist merk­wür­dig, aber selbst Leu­te, die voll­kom­men un­schul­dig aus­se­hen, be­ge­hen böse Ver­bre­chen. Ich bin seit zwan­zig Jah­ren hier auf mei­nem Pos­ten – ich habe alle Il­lu­sio­nen ver­lo­ren.«

»Aber wenn man doch da­von über­zeugt war, daß sie eine Mör­de­rin sei, warum hat man sie denn nicht –«

Sie konn­te es nicht über sich brin­gen, »auf­ge­hängt« zu sa­gen.

Der Di­rek­tor sah sie an.

»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wich­ti­ger Grund so­gar –«

Lois war einen Au­gen­blick er­staunt, aber plötz­lich wur­de es ihr klar. Sie ver­stand.

»Ja, das Baby wur­de hier in die­sem Ge­fäng­nis ge­bo­ren. Es war das ent­zückends­te klei­ne Mäd­chen, das ich je­mals ge­se­hen habe ein wirk­lich schö­nes Kind. Es tat mir furcht­bar leid, als es aus dem Ge­fäng­nis ge­bracht wer­den muß­te, das arme klei­ne Ding!«

»Es wuß­te von nichts, viel­leicht weiß es heu­te noch nicht –« Lois’ Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen.

»Nein, ich glau­be nicht, daß die Klei­ne es er­fah­ren hat«, fuhr der Di­rek­tor fort. »Sie wur­de von ei­ner Nach­ba­rin der Mrs. Pin­der ad­op­tiert, die stets an ihre Un­schuld glaub­te. Wenn ich aber vor­her sag­te, das arme, klei­ne Mäd­chen, dann dach­te ich an die dum­me Kin­der­pfle­ge­rin, durch de­ren Nach­läs­sig­keit sich das Kind den Arm an ei­ner Fla­sche mit ko­chen­dem Was­ser ver­brann­te. Es hat eine recht an­sehn­li­che Brand­nar­be ge­ge­ben, ich er­in­ne­re mich deut­lich dar­an. Es blieb eine stern­för­mi­ge Nar­be nahe des El­len­bo­gens zu­rück – der Knopf der Heiß­was­ser­fla­sche war so ge­formt.«

Lois Redd­le hielt sich krampf­haft an der Tisch­plat­te fest. Ihr Ge­sicht war schnee­weiß ge­wor­den. Der Di­rek­tor stell­te das Buch in das Fach zu­rück und wand­te ihr den Rücken zu. Mit Auf­bie­tung al­ler Ener­gie riß sie sich zu­sam­men.

»Wis­sen Sie – kön­nen Sie sich an den Na­men des Kin­des er­in­nern?« frag­te sie lei­se.

»Ja, denn es war ein ganz un­ge­wöhn­li­cher Name, ich wer­de ihn nicht ver­ges­sen: Lois Mar­ge­rit­ta!«

Kapitel 4

Lois Mar­ge­rit­ta! Ihr ei­ge­ner Name! Und die stern­för­mi­ge Nar­be auf ih­rem Arm!

Ihre Ge­dan­ken wir­bel­ten durch­ein­an­der, und der Raum schi­en sich um sie zu dre­hen. Es be­durf­te ei­ner un­ge­heu­ren An­stren­gung, daß sie nicht laut auf­schrie.

Aber es stimm­te. Die­se wür­de­vol­le, auf­rech­te Frau, die so ru­hig in dem schreck­li­chen Kreis ein­her­ging, war – ihre Mut­ter!

Sie folg­te ei­ner blin­den Ein­ge­bung, eil­te zur Tür, riß sie auf und war schon halb­wegs den Gang ent­lang­ge­lau­fen, als der ent­setz­te Di­rek­tor sie ein­hol­te.

»Was ist denn mit Ih­nen los?« frag­te er sie halb er­staunt und halb är­ger­lich. »Ha­ben Sie den Ver­stand ver­lo­ren?«

»Las­sen Sie mich ge­hen! Las­sen Sie mich ge­hen!« stieß sie zu­sam­men­hang­los her­vor. »Ich muß zu ihr!«

Dann be­sann sie sich plötz­lich, wo sie war, und ließ sich ohne Wi­der­spruch von dem Di­rek­tor zu­rück­füh­ren.

»Set­zen Sie sich – ich wer­de Ih­nen ein leich­tes Be­ru­hi­gungs­mit­tel ge­ben«, sag­te er. Er schloß die Tür so ener­gisch, daß der Schall in den lee­ren Gän­gen wi­der­hall­te. Dann öff­ne­te er eine Haus­apo­the­ke und misch­te schnell einen Trank. »Neh­men Sie das.«

Lois hob das Glas mit zit­tern­den Fin­gern an ihre Lip­pen. Er sah, wie es ge­gen ihre Zäh­ne schlug.

»Ich glau­be, ich war eben von Sin­nen«, sag­te sie.

»Sie sind ein we­nig hys­te­risch«, mein­te der Di­rek­tor. »Es war mein Feh­ler, Ih­nen die­se Leu­te zu zei­gen. Ich ließ alle Re­geln und Vor­schrif­ten au­ßer acht, als ich mit Ih­nen da­von sprach.«

»Es tut mir furcht­bar leid«, sag­te sie, als sie das Glas auf den Tisch stell­te. »Ich – ich – es war so schreck­lich!«

»Ja – das war es, und ich war auch ein Dumm­kopf, daß ich über­haupt da­von ge­spro­chen habe.«

»Wür­den Sie mir bit­te noch eins sa­gen? Was – was wur­de aus dem Kind?«

Es war ihm of­fen­sicht­lich sehr un­an­ge­nehm, noch ein Wort über die Sa­che zu ver­lie­ren.

»Ich glau­be, das Mäd­chen starb. Es war eine aus­ge­zeich­ne­te Frau, die sie zu sich nahm, aber sie hat sie nicht auf­zie­hen kön­nen. Das ist al­les, was ich von der Ge­schich­te weiß. Tat­säch­lich wur­de in den Zei­tun­gen be­rich­tet – der Fall er­reg­te näm­lich großes In­ter­es­se –, daß das Kind im Ge­fäng­nis ge­stor­ben sei. Aber es war in Wirk­lich­keit ein sehr ge­sun­des, kräf­ti­ges Mäd­chen, als es von hier fort­kam. Und nun, mein lie­bes Fräu­lein, muß ich Sie ent­las­sen.«

Er klin­gel­te nach der Wär­te­rin, die Lois wie­der in den Raum des Pfört­ners brach­te. Gleich dar­auf stand das Mäd­chen drau­ßen vor dem Tor.