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Die junge und begabte Margaret Reedle tritt eine Stelle als Sekretärin bei der wohlhabenden Gräfin Moron. Sie hofft, im Schloss in Sicherheit zu sein, denn in jüngster Zeit häufen sich unerklärliche Mordanschläge. Doch im Schloss nimmt die Tragödie ihren Lauf. Reedle wird beinahe von einem herabstürzenden Dachbalken getroffen. Als Mike Dorn von Scotland Yard sich des Falls annimmt, kommt er einem Familiengeheimnis auf die Spur. Spannende Unterhaltung vom Großmeister der Kriminalliteratur.
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Seitenzahl: 304
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LUNATA
Die seltsame Gräfin
Kriminalroman
© 1925 by Edgar Wallace
Originaltitel The Strange Countess
Aus dem Englischen von Ravi Ravendro
© Lunata Berlin 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Lois Margeritta Reddle saß auf der Kante ihres Bettes und hielt in der einen Hand eine große Tasse, in der anderen einen Brief. Die dicke Brotschnitte war zu dünn gestrichen, der Tee zu schwach aufgegossen und zu stark gezuckert, aber die Lektüre nahm Lois so in Anspruch, daß ihr diese kleinen Nachlässigkeiten ihrer Freundin Lizzy Smith nicht zum Bewusstsein kamen.
Eine goldene Krone schmückte den Briefbogen, und das starke, griffige Papier strömte einen leichten Duft aus.
307 Chester Square, London S.W. Die Gräfin von Moron hat mit Vergnügen die Nachricht erhalten, daß Miss Reddle ihre Stellung als Privatsekretärin am Montag, dem 17., antritt. Miss Reddle kann versichert sein, daß sie einen angenehmen Posten und viel freie Zeit zur Verfügung haben wird.
Die Tür wurde aufgestoßen, und Lizzys strahlend rotes Gesicht erschien im Rahmen.
»Das Bad ist fertig«, sagte sie kurz. »Aber nimm vorsichtshalber deine eigene Seife mit – durch die dünne Scheibe, die noch da ist, kannst du durchgucken. Hier hast du ein frisches Handtuch, und hier ist ein halbnasses. Was steht in dem Brief?«
»Er ist von meiner Gräfin – ich fange am Montag bei ihr an.«
Lizzy zog ein schiefes Gesicht.
»Du schläfst natürlich auch dort? Das heißt also, daß ich mir wieder jemand suchen muß, der hier bei mir wohnt. Die letzte, mit der ich vor dir zusammenhauste, schnarchte. Aber das gute Zeugnis kann ich dir wenigstens ausstellen, Lois, du hast nicht geschnarcht.«
Lois' Augen blitzten schalkhaft auf, und um ihren ausdrucksvollen Mund spielte ein Lächeln.
»Du kannst dich jedenfalls nicht beklagen, daß ich dich nicht ordentlich versorgt hätte«, sagte Lizzy selbstzufrieden. »Du siehst doch ein, wie gut ich unseren Haushalt geführt habe, besser als alle anderen, mit denen du früher einmal zusammenwohntest. Ich habe dir alle Haushaltssorgen abgenommen, alles besorgt, eingekauft, gekocht und geputzt – das gibst du doch zu?«
Lois legte ihren Arm um die Freundin und küßte ihr einfaches, gutmütiges Gesicht.
Ja – wir haben uns gut vertragen, und es tut mir sehr leid, daß ich fortgehen muß. Aber ich habe immer versucht vorwärtszukommen. Von der Schulbank in Leeds kam ich an das kleine Kassenpult bei Rooper und von dort zu einer Drogerie, dann zu der großen Rechtsanwaltsfirma –«
»Groß?« unterbrach Lizzy sie ärgerlich. »Du willst den alten Shaddles doch nicht etwa groß nennen? Das Biest hat mir zu Weihnachten nicht einmal das Gehalt um zehn Shilling erhöht, und ich habe doch jetzt fünf Jahre lang die Schreibmaschine bei ihm geklopft! – Aber, mein Liebling, du wirst nun eine gute Partie machen, du wirst jemand aus der Gesellschaft heiraten. Die Gräfin ist sicher ein weiblicher Drache, aber sie ist reich, und du triffst vornehme Leute bei ihr. – Jetzt mußt du aber gehen und dein Bad nehmen; ich mache inzwischen die Setzeier. Werden wir Regen bekommen?«
Lois rieb ihre weißen, wohlgerundeten Arme und fuhr leise mit der Hand über eine kleine, schwach rot schimmernde, sternförmige Narbe kurz über ihrem Ellenbogen. Lizzy glaubte fest daran, daß es Regen gebe, wenn Lois' Narbe sich dunkler färbte.
»Das Ding mußt du dir elektrisch wegmachen lassen«, sagte das frische, derbe Mädchen, aber Lois schüttelte leicht den Kopf. »Du kannst auch lange Ärmel tragen, sie sind in dieser Saison modern.«
Lois hörte während des Bades ihre Freundin in der kleinen Küche herumwirtschaften. Während die Setzeier in der Pfanne brutzelten, pfiff Lizzy die Melodie des letzten Tanzschlagers.
Die beiden hatten zusammen das Obergeschoß eines Hauses in der Charlotte Street gemietet, seitdem Lois nach London gekommen war. Sie war eine Waise, ihr Vater starb, als sie noch klein war, und sie konnte sich auch nur dunkel auf die freundliche, mütterliche Frau besinnen, die sie während ihrer ersten Schulzeit betreut hatte. Später wurde sie von einer weitläufig verwandten Tante erzogen, die sich aber nur um ihre vielen eingebildeten Leiden kümmerte. Sie starb bald, trotz ihrer vielen Medizinflaschen oder vielleicht gerade deshalb, und Lois kam dann zu fremden Leuten.
»Der Gräfin wird deine vornehme Ausdrucksweise gefallen«, sagte Lizzy, als das hübsche Mädchen in die Küche kam.
»Ich wußte nicht, daß ich vornehm spreche«, erwiderte Lois in guter Laune.
Lizzy schwenkte mit einer geschickten Bewegung die Eier aus der Bratpfanne auf den Teller.
»Sicher hat auch ihn das sofort für dich eingenommen«, meinte sie bedeutungsvoll.
Lois errötete.
»Wenn du doch nicht immer von diesem schrecklichen Menschen sprechen wolltest, als ob er ein junger Gott wäre!« erwiderte sie kurz.
Lizzy Smith ließ sich aber nicht im mindesten aus der Fassung bringen. Sie wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab, stellte die Bratpfanne an ihren Platz zurück und setzte sich energisch an den Tisch.
»Hör mal, das ist kein gewöhnlicher Mensch! Er gehört nicht zu diesen Gecken, die einen auf der Straße ansprechen«, sagte Lizzy, in Erinnerung versunken. »Ich bitte dich, der ist doch Klasse. Als er mir dankte, hat er mich wie eine Lady behandelt, und während der ganzen Unterhaltung ist kein Wort gefallen, das nicht auf der ersten Seite einer frommen Sonntagszeitung hätte stehen können. Als ich aber kam und dich nicht mitbrachte, war er furchtbar enttäuscht, und es war wirklich kein Kompliment für mich, daß er ganz verlegen dreinschaute und sagte: ›Ach, ist sie nicht mitgekommen?‹«
»Die Setzeier sind angebrannt«, sagte Lois.
»Er ist wirklich ein feiner Kerl«, fuhr Lizzy fort, »ein Gentleman! Er fährt seinen eigenen Wagen. Er spaziert in der Bedford Row auf und ab, nur um dich einmal kurz von weitem sehen zu können. Solche Anhänglichkeit würde selbst das härteste Herz aus Stein erweichen.«
»Meins ist aber aus Bronze«, erwiderte Lois vergnügt. »Du machst dich lächerlich, Elizabeth!«
»Du bist die erste, die mich seit meiner Taufe Elizabeth genannt hat. Aber das ändert an der Sache gar nichts, soweit ich daran beteiligt bin. Mr. Dorn –« »Der Tee schmeckt nach ausgelaugtem Holz«, unterbrach sie Lois, und diesmal fühlte Lizzy sich getroffen.
Es entstand eine Pause.
»Hast du den alten Mackenzie in der vergangenen Nacht gehört?« begann Lizzy dann wieder. »Nein? Er hat dieses süße Stück aus Hoffheims Erzählungen – Hoffmanns Erzählungen wollte ich sagen – gespielt. Komisch, daß ein Schotte Violine spielt. Ich dachte, sie wären alle Dudelsackpfeifer.«
»Er spielt wundervoll. Manchmal höre ich seine Musik in meinen Träumen.«
Lizzy murrte.
»Mitten in der Nacht macht man keine Musik«, sagte sie böse. »Wenn er auch unser Hausherr ist, so haben wir doch das Recht auf Schlaf. Er ist eben verrückt, das ist es.«
»Mir gefällt er aber gerade mit seinen Eigenheiten gut, er ist ein netter alter Mann.«
Lizzy rümpfte die Nase.
»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie, stand auf und holte eine dritte Tasse aus dem Küchenschrank. Sie stellte sie geräuschvoll auf den Tisch und goss Tee und reichlich Milch ein.
»Heute bist du an der Reihe, ihm den Tee hinunterzutragen. Vielleicht kannst du eine Bemerkung fallen lassen, daß ich am liebsten ›Mondnacht in Italien‹ höre.«
Die Mädchen hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, dem alten Mann, der die Etage unter ihnen bewohnte, jeden Morgen eine Tasse Tee zu bringen. Ganz abgesehen von seiner Eigenschaft als Hauswirt, stand der alte Herr mit beiden Mädchen auf gutem Fuß. Die Miete, die sie zahlten, war im Verhältnis zu der zentralen Lage des Hauses und der Beliebtheit dieser Gegend sehr niedrig.
Lois trug die Tasse die Treppe hinunter und klopfte an eine der beiden Türen auf dem unteren Treppenabsatz. Schlürfende Schritte näherten sich auf dem harten Fußboden, die Tür öffnete sich, und Mr. Mackenzie verneigte sich mit einem dankbaren Blick über seine Hornbrille hinweg. Er betrachtete wohlgefällig die hübsche Erscheinung des Mädchens.
»Tausend Dank, Miss Reddle«, sagte er eifrig, als er ihr die Tasse abnahm. »Wollen Sie nicht ein bißchen hereinkommen? Ich habe meine alte Violine zurückbekommen. Habe ich Sie die letzte Nacht gestört?«
»Nein. Leider habe ich Sie nicht gehört«, sagte Lois, als er die Tasse auf die sauber gescheuerte Platte des einfachen Tisches stellte.
Das Zimmer war peinlich sauber und nur mit dem Allernotwendigsten möbliert. Aber es paßte so recht zu diesem kleinen alten Herrn mit den bauschigen Hosen, den feuerroten Pantoffeln und der schwarzen Samtjacke. Runzeln und Falten durchzogen sein glattrasiertes Gesicht, aber die hellen blauen Augen, die unter buschigen Brauen saßen, waren voller Leben und Güte.
Er nahm die Violine, die auf der Kommode lag, behutsam, fast zärtlich in die Hand.
»Musik ist ein hoher Beruf«, sagte er, »wenn man ihr genügend Zeit widmen kann. Aber die Bühne ist etwas Fürchterliches! Gehen Sie niemals zum Theater, mein liebes Fräulein, bleiben Sie hübsch auf der anderen Seite der Rampenlichter. Diese Komödianten sind sonderbare, unaufrichtige Leute.« Er nickte nachdenklich. »Früher saß ich ruhig und geborgen im tiefen Orchester und beobachtete nur, wie ihre kleinen, süßen Füße über die Bühne trippelten ... Sie war ein schönes Mädchen, nicht viel älter als Sie, aber sehr hochmütig, wie die Schauspielerinnen eben sind. Wie ich den Mut fand, sie anzusprechen und zu fragen, ob sie mich heiraten wolle, verstehe ich heute selbst nicht mehr.« Er seufzte schwer. »Ach ja, und doch war es für mich Narren ein Paradies, und das Leben mit ihr war schöner als die Einsamkeit, wenn ich auch betrogen und ausgenützt wurde. Zwei Jahre lang –« Er schüttelte den Kopf. »Sie war ein süßes Geschöpf, aber sie war verbrecherisch veranlagt. Manche jungen Mädchen sind leider so. Sie haben kein Gewissen und fühlen keine Reue, und wenn man kein Gewissen und keine Reue kennt, dann gibt es nichts, was man nicht tun könnte – bis zum Mord.«
Lois hatte ihn schon öfters über diese sonderbare Frau klagen hören, ohne daß sie aus seinen Äußerungen ein klares Bild gewinnen konnte. Aber heute hatte er zum erstenmal ihre verbrecherische Veranlagung erwähnt.
»Frauen sind merkwürdige Geschöpfe, Mr. Mackenzie«, sagte sie scherzend.
Er nickte.
»Ja, das sind sie«, erwiderte er schlicht. »Aber im allgemeinen sind sie den meisten Männern überlegen. Ich danke Ihnen auch schön für den Tee, Miss Reddle.«
Sie stieg die Treppe wieder hinauf. Lizzy zog gerade ihren Mantel an.
»Na, hat er dich wieder vor der Bühne gewarnt?« fragte sie, als sie zu dem kleinen Spiegel trat und sich puderte. »Ich möchte wetten, daß er wieder davon anfing. Gestern habe ich zu ihm gesagt, daß ich auch ein schönes Chormädchen werden wollte. Da hätte er beinahe einen Anfall bekommen!«
»Du mußt den netten alten Herrn nicht so aufziehen!«
»Er müßte doch etwas mehr Verstand haben«, sagte Lizzy verächtlich. »Ich – ein hübsches Chormädchen! Wo hat denn der seine Augen gelassen?«
Sie gingen zusammen aus dem Haus und machten sich auf den Weg zum Büro. Nur einmal schaute sich Lois argwöhnisch nach ihrem unwillkommenen Kavalier um, aber er war glücklicherweise nicht in der Nähe.
»Ich weiß einen verhältnismäßig billigen Schönheitssalon in der South Moulton Street«, sagte Lizzy, als sie quer über die Theobald Road gingen, »wo man sich solche Narben entfernen lassen kann, wie du eine am Arm hast. Ich habe auch daran gedacht, mein rotes Gesicht einmal behandeln zu lassen. Denk dir, der Bürovorsteher hat mir das geraten; der Kerl fängt an, frech zu werden – ich muß ihn einmal etwas auf Eis stellen! Und dabei ist er achtundvierzig Jahre alt und hat bereits erwachsene Kinder!«
Zwei Stunden später nahm Mr. Oliver Shaddles einige Schriftstücke vom Tisch, las sie schnell durch, rieb sich nervös das unrasierte Kinn mit den grauen Bartstoppeln und schaute auf die Bedford Row hinaus.
Dann wandte er sich zu der kleinen elektrischen Tischglocke, zögerte einen Augenblick und drückte den Knopf.
»Miss Reddle!«, sagte er kurz zu der Angestellten, die eilig hereinkam. Er nahm die Urkunden wieder auf und las noch darin, als sich die Tür öffnete und Lois eintrat.
Sie war etwas über mittelgroß, aber ihre Schlankheit ließ sie größer erscheinen, als sie wirklich war. Sie trug das einfache schwarze Bürokleid, das die Firma Shaddles & Soan ihren weiblichen Angestellten vorschrieb. Mr. Shaddles hatte das Alter erreicht, in dem Schönheit keinen Eindruck mehr auf ihn machte. Über Lois Reddle lag eine zarte, ätherische Lieblichkeit. Aber für den Rechtsanwalt war sie nur eine Angestellte, die allwöchentlich fünfunddreißig Shilling erhielt. Davon wurden jedoch noch die Kosten der Unfallversicherung und Krankenkasse abgezogen.
»Sie fahren nach Telsbury.« Shaddles hatte eine raue, abgerissene Sprechweise. »Sie sind in anderthalb Stunden dort. Nehmen Sie die beiden eidesstattlichen Erklärungen und bringen Sie die zu Mrs. Desmond. Sie soll sie unterschreiben. Das Auto steht unten –«
»Ich dachte, Mr. Dorling hätte es«, begann sie.
»Der Wagen ist vor der Tür«, sagte er kurz. »Sie werden eine glatte Fahrt haben und müßten eigentlich dankbar sein, daß Sie so viel frische Luft auf dem Weg schnappen können. Hier, vergessen Sie das nicht«, rief er ihr nach, als sie mit den Urkunden weggehen wollte. Er hielt ihr ein kleines Papier entgegen. »Vergessen Sie den Passierschein nicht – seien Sie doch nicht so unaufmerksam! Wie sollen Sie denn sonst ins Gefängnis kommen, Mädchen? Und dann sagen Sie der Desmond – machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen!«
Lois verließ den Raum und schloß die Tür leise hinter sich. Die vier blassen Angestellten, die nicht mehr allzu jung waren, saßen an hohen Büropulten und schauten nicht einen Augenblick von ihrer Arbeit auf. Nur das dralle Mädel mit dem runden Gesicht, das die Schreibmaschine bearbeitete, drehte sich nach ihr um.
»Fährst du nach Telsbury – mit seinem sogenannten Auto?« fragte sie. »Ich dachte mir schon, daß er dich damit wegschicken würde. Der alte Teufel ist so niederträchtig geizig, daß er nicht einmal seine Fahrt zum Himmel bezahlen würde!«
Die Firma Shaddles & Soan besaß ein Auto, das vor dem Krieg einmal schön und modern gewesen war. Es stand in einer benachbarten Garage, für die keine Miete gezahlt zu werden brauchte, denn das Grundstück wurde von Mr. Shaddles verwaltet. Den Wagen selbst hatte er für eine verschwindend geringe Summe bei einer Zwangsversteigerung erworben. Es war ein Fordwagen, und jeder Angestellte mußte ihn fahren können.
Mr. Shaddles benutzte ihn, wenn er zum Gericht mußte, die Angestellten absolvierten damit ihre Botengänge, und die Fahrten wurden auf allen Kostenrechnungen nicht zu gering in Ansatz gebracht. So war das Auto für die Firma obendrein noch eine recht einträgliche Sache.
»Bist du nicht froh, daß du fahren darfst?« fragte Lizzy etwas neidisch. »Großer Gott, wenn ich einmal aus diesem staubigen Loch heraus könnte! Möglich, daß du deinem Schicksal begegnest!«
Lois runzelte die Stirn.
»Was meinst du?«
»Dein Schicksal«, erwiderte Elizabeth, nicht im mindesten eingeschüchtert. »Ich habe ihn schon heute morgen gesehen, als ich durch das Fenster schaute – na, wenn der nicht in dich verliebt ist!«
Lois sah sie kühl und ablehnend an.
»Aber da ist doch nichts dabei«, fuhr Lizzy fort. »Der junge Mann wartete neulich sogar im Regen stundenlang auf mich, nur um nach dir zu fragen. Ich glaube, der ist nicht ganz richtig im Kopf.«
Lois lachte leise, band sich ein grellfarbenes Halstuch um und zog ihre Handschuhe an. Plötzlich wurde sie ernst.
»Ich hasse dieses Telsbury, ich hasse überhaupt alle Gefängnisse – mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Ich freue mich, daß ich bald nicht mehr hier in diesem Büro von Mr. Shaddles arbeiten muß.«
»Nenne ihn bloß nicht Mister – dieses Kompliment verdient er nicht!«
Der Tag war schön und warm, es wehte eine laue, milde Luft. Als Lois aus dem lärmenden Treiben Londons herauskam, wichen Niedergeschlagenheit und Unlust von ihr. Bevor sie abgefahren war, hatte sie sich instinktiv nach dem Mann umgesehen, von dem Lizzy vorhin so schmeichelhaft gesprochen hatte und dessen beständige und unerschütterliche Ergebenheit sie sehr in Erstaunen setzte. Aber sie konnte ihn nicht entdecken und vergaß ihn auch bald. Außerhalb Londons bog sie von der Hauptstraße auf eine der gewundenen Landstraßen ab, die parallel zur Chaussee liefen. Von hier aus konnte man die Natur und die ganze Landschaft besser genießen als auf der geraden, langweiligen Chaussee, die obendrein noch von hohen Hecken eingefaßt war.
Sieben Meilen vor Telsbury fuhr sie mit zu hoher Geschwindigkeit wieder auf die asphaltierte Hauptstraße zurück. Als sie eben die hohen Hecken passieren wollte, hörte sie das Hupen eines Autos und bremste. Der kleine Wagen rutschte aber trotzdem weiter auf die Hauptstraße. Zu spät gab sie die Bremsen frei, um Gas zu geben. Plötzlich sah sie das Verdeck eines schwarzen Wagens, der gerade auf sie zukam, und fühlte den Ruf des Fahrers mehr, als sie ihn hörte.
Krach!
Dem Fahrer des großen, eleganten Wagens war es im letzten Augenblick gelungen, sein Auto zum Stehen zu bringen; trotzdem war er noch leicht mit dem alten Ford zusammengestoßen. Das Mädchen hatte die Hände am Steuer ihres Wagens und schaute verzweifelt auf die zerbrochene Windschutzscheibe. Michael Dorn ließ seinen Wagen langsam rückwärtsrollen, so daß das lange Trittbrett seines Wagens aus dem Schutzblech des anderen herauskam, und er bewies dabei eine so höfliche Geduld, daß es ihr noch peinlicher war, als wenn er ihr Vorwürfe gemacht hätte.
»Sagen Sie doch etwas – irgend etwas Heftiges – oder meinetwegen schimpfen Sie! Es ist doch besser, daß man sich die Sache vom Herzen herunterredet, als daß man seinen Groll in sich hineinfrißt.«
Graue Augen, durch dunkle Wimpern gehoben, dachte er. Auch hatte sie eine feingeformte Nase, wie er sie an Frauen so gern hatte, Ihr Kinn gefiel ihm, und da sie es angriffslustig gehoben hatte, konnte er auch ihren Hals sehen, der ihm trotz des seidenen Halstuchs in den schreienden roten und gelben Tönen in der Form vollkommen erschien. Sie war sehr geschmackvoll, wenn auch einfach gekleidet.
»Ich habe ja gar keinen Groll und bin höchstens etwas verwirrt. Aber wenn ich schon etwas aussetzen soll, so muß ich sagen, daß mir Ihr Halstuch durchaus nicht gefällt.«
Sie schaute an dem Tuch herunter, das sein Schönheitsgefühl beleidigte, und runzelte die Stirn.
»Sie haben kein Recht, mich mit Ihrem Wagen anzurennen, weil Ihnen mein Halstuch nicht gefällt«, sagte sie kühl. »Wollen Sie bitte noch weiter zurückfahren, damit mein Auto freikommt? Hoffentlich sind Sie versichert?«
Er fuhr rückwärts. Sie hörte, wie Blech schrammte und Glassplitter zur Erde fielen, dann war ihr Wagen wieder frei.
»Sie sind mit einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen aus der Seitenstraße herausgekommen – Ihr Wagen wäre sicher umgeschlagen, wenn ich Sie nicht angefahren hätte«, sagte er halb entschuldigend. »Ich hoffe jedoch, Sie haben sich nicht verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht verletzt, aber ich glaube, mein Chef wird sehr böse sein, wenn er den Schaden sieht. Immerhin, Sie haben Ihren Zweck erreicht, Mr. Dorn, Sie haben auf diese Weise meine Bekanntschaft gemacht.«
Er fuhr auf und wurde rot.
»Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, daß ich diesen Zusammenstoß absichtlich herbeigeführt hätte, um Ihre Bekanntschaft zu machen?«
Als sie ernst nickte, war er wie vom Donner gerührt und starrte sie groß an.
»Sie folgen mir schon seit Monaten«, sagte Lois ruhig. »Sie machten sich sogar die Mühe, mit einer Stenotypistin in Shaddles' Büro bekannt zu werden, nur um mit mir zusammenzukommen. Ich weiß, daß Sie mich stets auf dem Heimweg verfolgen – einmal nahmen Sie denselben Autobus wie ich, und auf dem einzigen Ball, den ich in diesem Jahr besuchte, waren Sie auch.«
Michael Dorn machte sich am Steuer zu schaffen und war im Augenblick sprachlos. Sie war sehr ernst geworden. Ihre wundervollen Augen sahen ihn mit einem leisen Vorwurf an.
»Nun ja, wirklich –«, begann er zögernd. Dann fehlten ihm die Worte.
Sie wartete, daß er seinen angefangenen Satz beenden würde.
»Also wirklich –?« Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Nun, Mr. Dorn, es ist ja kein Vergehen von einem Mann, ein junges Mädchen treffen zu wollen – das sehe ich ein. Es wäre lächerlich von mir, mich dadurch beleidigt zu fühlen. Aber wie ich schon ihrer Gesandtin, Miss Lizzy Smith, sagte –«
Er schaute rasch auf und wollte etwas erwidern, aber sie fuhr unbeirrt fort.
»Ich wünsche Ihre Bekanntschaft wirklich nicht, und ich bezweifle nicht, daß Lizzy Ihnen das von mir ausrichtete. Deshalb halte ich Ihr Benehmen auch für ein wenig – wie soll ich es gleich nennen?«
»Aufdringlich heißt das Wort, das Sie suchen«, sagte er kühl. »Ich will zugeben, daß es fast so aussieht.«
Er stieg langsam aus, ging an ihren Wagen und stützte seine Arme auf die Oberkante des Schlages.
»Bitte, glauben Sie mir, Miss Reddle, daß mir nichts ferner liegt, als Sie zu belästigen. Wenn ich nicht so ungeschickt gewesen wäre, würden Sie niemals erfahren haben, daß ich Sie –« Es fehlte ihm wieder das richtige Wort. Sie vollendete seinen Satz. Obwohl er so ernst war, mußte er lachen.
»Verfolgen ist ein häßliches Wort, ich wollte es eben etwas liebenswürdiger ausdrücken«, sagte er.
Als sie ihn jetzt ansah, gefiel ihr der treue, fröhliche Blick seiner blauen Augen doch, und hätten sie sich in diesem Augenblick getrennt, ohne noch mehr miteinander zu sprechen, so hätte sie freundlicher von ihm gedacht. Aber er setzte die Unterhaltung fort.
»Wo wollen Sie an diesem schönen Herbstmorgen hin?«
Sie wurde wieder ablehnend und zurückhaltend.
»Wenn Sie mir jetzt folgen, werden Sie einen Schrecken bekommen. Ich bin nämlich auf dem Weg zum Telsbury-Gefängnis.«
Der Eindruck, den diese Worte auf ihn machten, war verblüffend. Er schaute sie entsetzt und verwirrt an.
»Wohin wollen Sie fahren?« fragte er heiser, als ob er seinen Ohren nicht traute.
»Zum Telsbury-Gefängnis – bitte!«
Sie winkte ihm, Platz zu machen, und der Wagen mit der zerbrochenen Windschutzscheibe fuhr die breite Chaussee entlang.
»Großer Gott!« sagte Michael Dorn und starrte hinter ihr her.
Der düstere Eingang der Strafanstalt von Telsbury wird gnädig von einer Gruppe dunkler Fichten verborgen. Die roten Wände haben mit der Zeit ihre grelle Farbe verloren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mitte emporragte, würde ein Wanderer daran vorübergehen, ohne das Gebäude zu bemerken.
Lois hatte das Gefängnis schon zweimal besucht, um Aufträge ihres Chefs dort zu erledigen. Einer seiner Klienten hatte eine Frau wegen Betrugs angezeigt. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden. Es war nun notwendig, ihre Unterschrift unter gewisse Dokumente zu erhalten, um die Aktien, die betrügerischerweise verschoben worden waren, ihrem rechtmäßigen Eigentümer wieder zustellen zu können.
Sie ließ ihren Wagen an der Seite des hohen Straßentors halten, stieg aus und klingelte. Gleich darauf wurde ein Gitter von einem Fenster zurückgeschoben, und die wachsamen Augen des Pförtners richteten sich auf sie. Obwohl er sie wiedererkannte, mußte sie ihm doch erst ihren Passierschein zeigen. Dann schloß er auf und führte sie in einen mit Steinfliesen gepflasterten Raum. Die Einrichtung war sehr einfach, sie bestand nur aus einem Pult mit einem Schreibsessel, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen.
Der Wärter las den Passierschein noch einmal durch und drückte dann auf eine Klingel. Er, die beiden Leute, die ihn ablösten, und der Direktor der Anstalt waren die einzigen Männer, die in diese Mauern kamen. Sein Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf den kleinen Raum und den Torweg, der vom Innenhof durch starke, eiserne Gitter getrennt war.
»Ist es Ihnen nicht unangenehm hierherzukommen, mein Fräulein?« fragte er lächelnd.
»Gefängnisse machen mich immer elend und krank«, sagte sie.
Er nickte.
»Hier drinnen leben sechshundert Frauen, die noch viel matter und kränker sind, als Sie, hoffentlich, jemals in Ihrem Leben sein werden«, erwiderte er zuvorkommend. »Nicht daß ich eine von ihnen zu sehen bekomme – ich öffne ihnen nur das Tor zum Gefängnis und dann sehe ich sie, solange sie hier sind, nicht wieder. Nicht einmal, wenn sie entlassen werden.«
Eine Tür wurde aufgeschlossen, und eine junge Wärterin in gutsitzender blauer Uniform trat ein. Sie grüßte Lois mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie durch eine kleine Stahltür über einen großen Hof, der einsam und verlassen dalag. Danach traten sie durch eine andere Tür und gingen einen langen Gang entlang bis zu dem kleinen Büro des Gefängnisdirektors.
»Guten Morgen, Direktor. Ich möchte gern mit Mrs. Desmond sprechen.« Sie entfaltete ihre Dokumente und legte sie dem grauhaarigen Mann auf den Tisch.
»Sie wird jetzt in ihrer Zelle sein«, sagte er. »Kommen Sie mit, Miss Reddle, ich werde Sie persönlich hinbringen.«
Am Ende des Ganges befand sich eine andere Tür, die in eine große Halle führte. Auf beiden Seiten liefen eiserne Verbindungsgänge, die man über eine breite Mitteltreppe erreichen konnte. Lois schaute in die Höhe, sah die Drahtnetze über ihrem Kopf und schauderte. Sie wußte, daß sie angebracht waren, um zu verhindern, daß diese unglücklichen Frauen sich von oben herabstürzten und ihrem Leben so ein Ende machten.
»Wir sind da«, sagte der Direktor und öffnete die Zellentür.
Fünf Minuten mußte sie mit der eigensinnigen, verbitterten Frau verhandeln, die sich mit weinerlicher Stimme über alles beschwerte und allen Vorwürfe machte. Schließlich trat Lois mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung wieder zu dem Direktor hinaus.
»Gott sei Dank – ich werde nie wieder hierherkommen!« sagte sie, als er die Zelle verschloß.
»Wollen Sie Ihre Anwaltstätigkeit aufgeben?« fragte er scherzend. »Ich habe schon immer gesagt, daß das kein passender Beruf für eine junge Dame ist.«
»Sie überschätzen mich und meine Stellung. Ich bin nur eine einfache Stenotypistin und weiß von dem Gesetz kaum mehr, als daß Stempelmarken auf gewisse Urkunden gehören und an bestimmten Stellen aufgeklebt werden müssen!«
Sie kehrten nicht auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, sondern gingen durch die große Halle in den Hof. Die Organisation der Anstalt war so vorzüglich, daß sich in der kurzen Zeit, die sie in der Zelle verbrachte, der ganze Hof mit grauen Gefangenen gefüllt hatte, die im Kreis umhergingen.
»Um diese Zeit machen sich die Gefangenen immer Bewegung«, erklärte der Direktor. »Ich dachte, Sie würden es vielleicht gern einmal sehen.«
Lois war von Mitleid erfüllt, und ihr Herz lehnte sich gegen das Gesetz auf, das diese Frauen zu anonymen Nummern erniedrigte. Die einfachen Kattunkleider und die weißen Hauben erschienen ihr häßlich, und dieser Anblick stimmte sie traurig. Kummer und namenlose Furcht packten sie. Jedes Alter war hier vertreten, sie sah junge Mädchen und alte, verstockte Frauen. Auf jedem Gesicht las Lois den unleugbaren Stempel des Ungewöhnlichen. Als sich dieser gespenstische Kreis langsam an ihr vorüberbewegte, sah sie wilde und schlaue, aber auch ermattete und in ihrem Kummer ergreifende Gesichter. Trübe Augen starrten gedankenlos vor sich hin, dunkle Augen blitzten boshaft auf, sorglose Blicke streiften Lois oberflächlich. Die sich vorwärts schiebenden Frauen erschienen ihr unheimlich und unwirklich.
Beinahe der ganze gräßliche Kreis war an ihr vorübergegangen, als sie eine große stattliche Gestalt wahrnahm, die nicht in diese grauenvolle Umgebung zu gehören schien. Die Frau ging aufrecht, mit erhobenem Kopf, und ihre ruhigen Augen sahen geradeaus. Sie mochte zwischen Vierzig und Fünfzig sein. Ihre feingeschnittenen Züge waren nicht gefurcht, aber ihr Haar war weiß. Eine göttliche Ruhe strahlte von ihr aus.
»Was tut denn diese Frau hier?« fragte Lois, bevor sie sich bewußt wurde, daß sie eine Frage gestellt hatte, die kein Besucher an einen Gefängnisbeamten richten darf.
Direktor Stannard antwortete ihr nicht. Er beobachtete die Gestalt auch, als sie näher kam. Einen Augenblick ruhten die Augen der Frau ernst auf dem jungen Mädchen, aber nur eine Sekunde lang, so lange, wie eine Frau von Haltung das Gesicht einer Fremden anschauen würde. Dann war sie vorübergegangen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie gefragt habe«, sagte sie, als sie an der Seite des Direktors durch das Gitter in sein Büro ging.
»Schon viele haben dieselbe Frage gestellt«, entgegnete er, »und haben auch keine Antwort erhalten. Es verstößt gegen die Gefängnisregeln, den Namen irgendeiner Gefangenen zu verraten. Das wissen Sie wohl. Aber merkwürdig –«
Er schaute sich um und nahm ein aufgeschlagenes Buch von einem Seitenbrett herunter. Es war ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr das Buch. Sie las den Titel: »Fawleys Kriminalfälle.«
»Mary Pinder«, sagte er kurz, und sie entdeckte, daß das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo das Kapitel mit diesem Namen begann. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade, bevor Sie kamen, den Fall nachgelesen habe. Ich bin alle Einzelheiten durchgegangen, um zu sehen, ob mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich ebenso verwundert über diese Frau bin wie Sie.« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme, als ob er irgendwelche Horcher fürchtete.
Sie schaute wieder auf die Überschrift: »Mary Pinder. Begangenes Verbrechen: Mord.« Sie war sehr erstaunt.
»Eine Mörderin?« fragte sie ungläubig.
Der Direktor nickte.
»Aber das ist doch unmöglich!«
»Lesen Sie den Fall.«
Sie schaute in das Buch:
Mary Pinder – verurteilt wegen Mordes vor dem Schwurgericht zu Hereford. Das Urteil lautete auf Tod, wurde später aber in zwanzigjährige Kerkerstrafe umgewandelt. Hier haben wir den typischen Fall eines Raubmordes. Die Pinder lebte mit einem jungen Mann zusammen, der allem Anschein nach ihr Gatte war. Dieser verschwand einige Zeit vor dem Verbrechen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mittel zurückließ. Ihre Wirtin, Mrs. Curtain, war eine reiche Witwe, deren exzentrische Launen beinahe an Geisteskrankheit grenzten. Sie verwahrte große Summen und viel alten Schmuck in ihrem Haus. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, annoncierte die Pinder um eine Stellung. Eine Frau, die sie in dem Haus aufsuchen wollte, fand die Haustür geöffnet. Nachdem sie verschiedentlich geklopft und keine Antwort erhalten hatte, trat sie ein. Sie bemerkte, daß eine der Zimmertüren offenstand, und als sie in den Raum schaute, sah sie zu ihrem größten Schrecken, daß Mrs. Curtain auf dem Boden lag und anscheinend einen Anfall hatte. Sie eilte sofort zu einem Polizisten, der aber nur feststellen konnte, daß die Frau tot war. Die Schubladen eines alten Sekretärs waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut; auch ein Schmuckstück war darunter. Da man Verdacht hatte, wurde das Zimmer der Mieterin, die das Haus kurz vor der Entdeckung verlassen hatte, in ihrer Abwesenheit durchsucht. Man fand dort in einem verschlossenen Kasten eine Flasche Zyankali und viele Juwelen. Die Verteidigung machte geltend, daß die Verstorbene schon mehrmals versucht hatte, Selbstmord zu verüben, und daß man nicht beweisen konnte, daß die Pinder das Gift gekauft hatte, das in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurde. Die Pinder selbst lehnte es ab, über sich und ihren Mann irgendwelche Aussagen zu machen. Ein Trauschein wurde nicht gefunden. Der Richter Darson leitete als Vorsitzender die Verhandlung ihres Falles. Sie wurde verurteilt. Man nimmt an, daß die Pinder, die dringend Geld brauchte, einer plötzlichen Versuchung unterlag, Zyankali in den Tee der Frau goss und darauf deren Schreibtisch plünderte. Der Fall zeigt keine außergewöhnlichen Züge mit Ausnahme der Weigerung der Gefangenen, sich zu verteidigen.
Lois las den Bericht zweimal durch.
»Ich kann es trotzdem nicht glauben – es ist unfaßbar. Sie wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt – aber sicher wird sie doch begnadigt? Gibt es denn keinen Straferlass wegen guter Führung?«
»Unglücklicherweise machte sie zwei Versuche auszubrechen, und so wurde ihr die gute Führung von früher gestrichen. Es ist sehr schade, denn sie ist eine wohlhabende Frau. Ihr Onkel, der erst fünf Jahre nach ihrer Verurteilung erfuhr, daß sie im Gefängnis war, hinterließ ihr ein großes Vermögen. Sie hat uns niemals gesagt, wer sie war. Er besuchte sie ein paar Wochen vor seinem Tode hier, und wir wurden davon auch nicht klüger. Wir konnten nur feststellen, daß er einer ihrer Verwandten mütterlicherseits war.«
Lois sah wieder auf das Buch.
»Diese wundervolle Frau soll eine Mörderin sein?«
Er nickte.
»Ja – es ist merkwürdig, aber selbst Leute, die vollkommen unschuldig aussehen, begehen böse Verbrechen. Ich bin seit zwanzig Jahren hier auf meinem Posten – ich habe alle Illusionen verloren.«
»Aber wenn man doch davon überzeugt war, daß sie eine Mörderin sei, warum hat man sie denn nicht –«
Sie konnte es nicht über sich bringen, »aufgehängt« zu sagen.
Der Direktor sah sie an.
»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wichtiger Grund sogar –«
Lois war einen Augenblick erstaunt, aber plötzlich wurde es ihr klar. Sie verstand.
»Ja, das Baby wurde hier in diesem Gefängnis geboren. Es war das entzückendste kleine Mädchen, das ich jemals gesehen habe ein wirklich schönes Kind. Es tat mir furchtbar leid, als es aus dem Gefängnis gebracht werden mußte, das arme kleine Ding!«
»Es wußte von nichts, vielleicht weiß es heute noch nicht –« Lois' Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein, ich glaube nicht, daß die Kleine es erfahren hat«, fuhr der Direktor fort. »Sie wurde von einer Nachbarin der Mrs. Pinder adoptiert, die stets an ihre Unschuld glaubte. Wenn ich aber vorher sagte, das arme, kleine Mädchen, dann dachte ich an die dumme Kinderpflegerin, durch deren Nachlässigkeit sich das Kind den Arm an einer Flasche mit kochendem Wasser verbrannte. Es hat eine recht ansehnliche Brandnarbe gegeben, ich erinnere mich deutlich daran. Es blieb eine sternförmige Narbe nahe des Ellenbogens zurück – der Knopf der Heißwasserflasche war so geformt.«
Lois Reddle hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden. Der Direktor stellte das Buch in das Fach zurück und wandte ihr den Rücken zu. Mit Aufbietung aller Energie riß sie sich zusammen.
»Wissen Sie – können Sie sich an den Namen des Kindes erinnern?« fragte sie leise.
»Ja, denn es war ein ganz ungewöhnlicher Name, ich werde ihn nicht vergessen: Lois Margeritta!«
Lois Margeritta! Ihr eigener Name! Und die sternförmige Narbe auf ihrem Arm!
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und der Raum schien sich um sie zu drehen. Es bedurfte einer ungeheuren Anstrengung, daß sie nicht laut aufschrie.
Aber es stimmte. Diese würdevolle, aufrechte Frau, die so ruhig in dem schrecklichen Kreis einherging, war – ihre Mutter!
Sie folgte einer blinden Eingebung, eilte zur Tür, riß sie auf und war schon halbwegs den Gang entlanggelaufen, als der entsetzte Direktor sie einholte.
»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte er sie halb erstaunt und halb ärgerlich. »Haben Sie den Verstand verloren?«
»Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich gehen!« stieß sie zusammenhanglos hervor. »Ich muß zu ihr!«
Dann besann sie sich plötzlich, wo sie war, und ließ sich ohne Widerspruch von dem Direktor zurückführen.
»Setzen Sie sich – ich werde Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben«, sagte er. Er schloß die Tür so energisch, daß der Schall in den leeren Gängen widerhallte. Dann öffnete er eine Hausapotheke und mischte schnell einen Trank. »Nehmen Sie das.«
Lois hob das Glas mit zitternden Fingern an ihre Lippen. Er sah, wie es gegen ihre Zähne schlug.
»Ich glaube, ich war eben von Sinnen«, sagte sie.
»Sie sind ein wenig hysterisch«, meinte der Direktor. »Es war mein Fehler, Ihnen diese Leute zu zeigen. Ich ließ alle Regeln und Vorschriften außer acht, als ich mit Ihnen davon sprach.«
»Es tut mir furchtbar leid«, sagte sie, als sie das Glas auf den Tisch stellte. »Ich – ich – es war so schrecklich!«
»Ja – das war es, und ich war auch ein Dummkopf, daß ich überhaupt davon gesprochen habe.«
»Würden Sie mir bitte noch eins sagen? Was – was wurde aus dem Kind?«
Es war ihm offensichtlich sehr unangenehm, noch ein Wort über die Sache zu verlieren.
»Ich glaube, das Mädchen starb. Es war eine ausgezeichnete Frau, die sie zu sich nahm, aber sie hat sie nicht aufziehen können. Das ist alles, was ich von der Geschichte weiß. Tatsächlich wurde in den Zeitungen berichtet – der Fall erregte nämlich großes Interesse –, daß das Kind im Gefängnis gestorben sei. Aber es war in Wirklichkeit ein sehr gesundes, kräftiges Mädchen, als es von hier fortkam. Und nun, mein liebes Fräulein, muß ich Sie entlassen.«
Er klingelte nach der Wärterin, die Lois wieder in den Raum des Pförtners brachte. Gleich darauf stand das Mädchen draußen vor dem Tor.
Es war unverzeihlich von ihr, sich so verrückt zu benehmen. So viele Fragen waren zu beantworten, so viele Möglichkeiten hätten sich ihr geboten, diese herrliche Frau zu sehen, die ihre – Mutter war. Ihr Herz schlug heftig bei diesem Gedanken. Es war nicht möglich! Die untersetzte, einfache, gutmütige Frau, die Mutterstelle an ihr vertreten hatte, lebte nicht mehr, sie konnte sie nicht mehr fragen, um Gewissheit zu erlangen. Aber nein! Es mußte ein Zufall sein. Sicherlich gab es auf der Welt noch ein anderes Kind, das auf den Namen Lois Margeritta getauft worden war – ebenso war es möglich, daß es in frühester Kindheit eine ähnliche Brandwunde davongetragen hatte.
Doch dann schüttelte sie den Kopf. Es war jenseits der Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen, daß es zwei Lois Margerittas mit sternförmigen Narben am linken Arm gab.