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Maria arbeitet als Magd auf einem großen Hof, gleichzeitig muss sie Sorge tragen für ihr lediges Kind Susanne. Dessen Vater wanderte einst noch vor ihrer Geburt nach Amerika aus. Sehr früh wird auch Susanne auf dem Hof mit Arbeit in die Pflicht genommen. Mit nur zwölf Jahren verliert sie zudem ihre geliebte Mutter durch ein Unglück. Nun muss das Mädchen seinen Weg allein gehen.
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LESEPROBE ZU
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2004
© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelbild: Michael Wolf, München
Bearbeitung, Lektorat und Satz: Pro libris Verlagsdienstleistungen, Villingen-Schwenningen
eISBN 978-3-475-54786-7 (epub)
Hans Ernst
Die silberne Ähre
Maria arbeitet als Magd auf einem großen Hof, gleichzeitig muss sie Sorge tragen für ihr lediges Kind Susanne. Dessen Vater wanderte einst noch vor ihrer Geburt nach Amerika aus. Sehr früh wird auch Susanne auf dem Hof mit Arbeit in die Pflicht genommen. Mit nur zwölf Jahren verliert sie zudem ihre geliebte Mutter durch ein Unglück. Nun muss das Mädchen seinen Weg allein gehen.
Mehr als alles andere haben mich die Sommer in meiner Kindheit geprägt, die ich mit meiner Mutter in der einsamen, aber friedlichen und schönen Abgeschiedenheit der Alm verbracht habe. Von mir aus hätten diese Monate endlos dauern können.
Wenn ich abends, nach Feierabend, mit meiner Mutter vor der Almhütte saß und den Abend heraufziehen sah – die grauen Schatten, die sich langsam ins Bergland hineintasteten, die Berge, die sich langsam von sonnenbestrahlten, leuchtend hellen Steingebilden in schwarze, aneinander gereihte Buckel verwandelten, der Wind, der durch das Latschenfeld rauschte, und die silberne Scheibe des Mondes, die dann schließlich hinter den Bergen heraufstieg und die Welt in einen geheimnisvollen Glanz tauchte – dann hätte ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen wollen, obwohl ich genau wusste, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, mich oder meine Mutter um unser Leben zu beneiden.
Meine Mutter, Maria Reichertseder, war Magd beim Hartauerbauern Josef Liegl von Ödlberg, dem diese hoch gelegene Alm gehörte. Die Mutter war nicht sonderlich groß gewachsen und hatte kastanienbraunes Haar, von dem ihr eine widerspenstige Locke in die Stirne hing. Braun waren auch ihre Augen. Und ihre ganze Liebe gehörte mir, ihrer kleinen Tochter.
Früher hatte sie auch einmal einen Mann geliebt, einen gewissen Georg Koffler, der nach Amerika ausgewandert war. Manchmal erzählte sie mir von ihm. Und wenn sie dann so im Erzählen war, dann kramte sie ein kleines hölzernes Kistchen hervor und holte ein Bild von ihm heraus. Das musste ich dann anschauen.
Ich schaute es gerne an, denn auch wenn ich ihn nie gesehen hatte, war ich ein bisschen stolz darauf, dass mein Vater ein so groß gewachsener, gut aussehender Mann war. In kurzer Lederhose war er abgebildet, die graue Lodenjoppe nur lose über die Schultern gelegt. Den rechten Fuß mit dem Nagelschuh hatte er auf einen Felsbrocken gestellt, in der rechten Faust hielt er einen langen Bergstecken, die linke Hand hatte er tief in die Hosentasche gesteckt. Das sah aus, als klimperte er da drinnen mit Geldstücken, fand ich damals.
Er hatte einen runden Trachtenhut auf, den eine Feder zierte, und unter der Hutkrempe stahl sich eine Locke hervor, von der meine Mutter sagte, dass sie genauso blond gewesen sei, wie es auch meine Haare waren. Auch hätte ich seine blauen Augen geerbt.
Niemals jedoch gab sie zu, dass mein Vater sie einfach hatte sitzen lassen. Im Gegenteil, sie lobte ihn immer in den höchsten Tönen, und sie war sicher, dass er uns eines Tages zu sich holen würde. Also wollte sie auf ihn warten.
Er sei nur schnell einmal auf Amerika hinübergefahren, meinte sie, um dort eine Farm aufzubauen. Dort bekomme man den Grund von der Regierung fast geschenkt, man müsse ihn nur bearbeiten und fruchtbar machen. Es sei ein guter Boden, den man dort habe, von dem man zweimal im Jahr ernten könne. Gleich nach seiner ersten Ernte würde er uns Geld schicken.
Ich war noch nicht auf der Welt gewesen, als er statt einer Heirat seine Auswanderung betrieben hatte, und seitdem hatte meine Mutter nie wieder etwas von ihm gehört. Dennoch hörte sie niemals auf, daran zu glauben, dass er uns beide eines Tages nach Amerika holen würde. Bis dahin würden wir beim Hartauer bleiben, auch wenn es dort kein schönes Leben für uns war, von den Sommermonaten auf der Alm einmal abgesehen.
Alle auf dem Hof ließen meine Mutter und auch mich die Geringschätzung spüren, die zu dieser Zeit ledigen Müttern allgemein entgegengebracht wurde. Meiner Mutter wären eigentlich vier Mark Wochenlohn zugestanden, aber man zahlte ihr bloß drei Mark aus, weil ich ja auch mit verpflegt wurde. Dabei musste ich schon als Schulmädchen sehr viel auf dem Hof mitarbeiten. Ich musste Holz hereintragen, Geschirr spülen und im Stall mithelfen. Dafür durfte ich die abgetragenen Kleider von Liesl anziehen, der Tochter der Bauersleute, die zwei Jahre älter war als ich, sodass ich wenigstens immer ordentlich gekleidet daherkam. Diese kleine Vergünstigung wurde mir aber auch immer wieder von der Bäuerin vorgehalten, die mit Genugtuung feststellte, dass ich ohne sie wohl kaum anständige Kleidung haben würde.
Da meine Mutter also zusätzlich zu ihrem Lohn Essen und Kleidung für mich bekam, fand der Bauer, dürfe sie sich überhaupt nicht über den geringeren Wochenlohn beklagen, denn er müsse für sie ja auch noch zwanzig Pfennige Rentenversicherung draufzahlen. Das habe so ein »Saupreiß« namens Bismarck erfunden, ein Mensch, der vom Bauernleben keine blasse Ahnung habe. Früher habe es so etwas doch auch nicht gegeben, und trotzdem hätten die Leute gelebt.
Ja, so sah das Leben einer Bauernmagd damals, in den zwanziger Jahren, noch überall aus. Maschinen, so wie sie heute allgemein üblich sind, waren damals zwar schon erfunden, aber noch wenig verbreitet; und so gab es auf jedem Hof zahlreiche Knechte und Mägde, die sich mit dem abfinden mussten, was die Bauern ihnen boten: Eine Kammer als Dach über dem Kopf, Essen und Trinken und dazu einen meist sehr geringen Arbeitslohn. Doch man kannte es ja nicht anders, und so gab man sich damit zufrieden.
Auch meine Mutter begehrte nicht auf, sondern war froh, für sich selbst und mich ein Zuhause zu haben, und dieses Zuhause liebte sie nicht weniger, weil es ihr nicht gehörte.
Sie war ja auch schon viele Jahre auf dem Hof des Hartauers, und so nannte auch niemand sie die Maria Reichertseder, sondern sie war für alle einfach die Hartauermarie von Ödlberg.
Je älter ich wurde, desto mehr wurde ich auch in die täglichen Arbeiten mit eingespannt, im Winter unten im Hof, und im Sommer droben auf der Alm. Als ich in die fünfte Klasse kam, machte der Bauer eine Eingabe, dass er mich noch notwendig auf der Alm brauche zur Arbeit, man möge deshalb meine Ferien, die eigentlich am ersten September beendet gewesen wären, noch um drei Wochen verlängern.
Ob das im Ermessen des alten Lehrers Tischlinger gelegen hat, so etwas zu genehmigen, weiß ich nicht. Es war ihm aber wahrscheinlich keine andere Wahl geblieben, denn von unserm Hof – jetzt sage ich auch schon »unser Hof«, obwohl mir von ihm ja gar nichts gehört hat – also, vom Hartauerhof bezog er jeden Tag zwei Liter Milch, die ich immer am Morgen mitnehmen musste. Wenn eine Sau geschlachtet wurde, bekam er auch immer ein Stück Fleisch, außerdem im Herbst Kartoffeln und Äpfel.
Für solch großzügige Gaben konnte er dann ruhig auch einmal ein Auge zudrücken, wenn der Hartauer eine Eingabe machte, oder auch der Hartauer Liesl im Rechnen und Aufsatz einen Zweier in die Noten schreiben, obwohl sie eigentlich einen Vierer verdient hatte. Der Bauer hätte es nämlich nicht gerne gesehen, wenn seine Liesl so viel schlechtere Noten in der Schule bekommen hätte als ich, der »Bankert« seiner Magd.
Was die Schule betraf, sie machte mir Spaß. Ich lernte leicht, und manchmal, wenn niemand um die Wege war, dann legte mir der Lehrer Tischlinger die Hand aufs Haar und sah mich durch seine dicken Brillengläser lange an, als hätte er Mitleid mit mir.
»Ach, Suserl«, sagte er dann. »In dir steckt so viel. Dich müsste man auf eine höhere Schule schicken können.«
Ich verstand das damals noch nicht und stellte mir unter einer höheren Schule vor, dass sie hoch oben in den Bergen liegen müsse, noch höher gelegen als unsere Alm. Das erschien mir einleuchtend, denn wie sollte man sonst auf einer solchen Schule mehr lernen können als auf einer Alm?
Ich war nicht unglücklich, dass ich erst drei Wochen später zur Schule gehen würde, denn die Alm gefiel mir noch viel besser als die Schule. Ich lag oft zwischen den Almrosenbüschen in der hellen Sonne und spürte, wie der Wind die Gräser um mich herum leise bewegte. Über den hohen Latschenbüschen knisterte die Hitze. Es raschelte manchmal leise, vielleicht schlüpfte dann ein Murmeltier tiefer in die Schatten der Latschen hinein. Ein Salamander kroch langsam an einem herumliegenden Felsbrocken hinauf und lag dann, grünlich schillernd, regungslos im prallen Sonnenlicht. Ach ja, wie oft war auch die Mutter so dagelegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Füße weit von sich gestreckt, die Augen hinaufgerichtet zu den Gipfeln der Berge, über die runde, weiße Wolken hinzogen. Wohin zogen diese Wolken wohl? Vielleicht bis nach Amerika, wo ein Farmer namens Koffler gerade die zweite Ernte schnitt?
Dass ich noch drei Wochen auf der Alm bleiben sollte, das machte mich außerdem sehr stolz, denn es war doch ein Beweis dafür, dass man mich brauchte und dass ich also kein unnützer Esser war, wie man es meiner Mutter früher manchmal vorgeworfen hatte.
Ich half meiner Mutter nach Kräften bei der Almarbeit.
Zum Beispiel trieb ich zur Melkzeit die Kühe vom unteren Almfeld herauf, und ich saß auch vor dem Butterfass und drehte die Kurbel, bis aus dem Rahm Butter wurde.
Für mich war es ein herrliches Leben auf der Alm, und mein Herz zog sich in leiser Wehmut zusammen, wenn ich daran dachte, dass ich doch wieder hinunter musste ins Tal, auf den Hof zu den Menschen, die mich eigentlich nicht mochten, obwohl ich immer versuchte, es allen recht zu machen.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, einige mochten mich schon. Der Pferdeknecht zum Beispiel, der Ferdinand, oder auch der kleine Michael, der Sohn des Hartauers, der vier Jahre jünger war als ich. Die Bäuerin konnte mich aber offensichtlich nicht leiden. Vielleicht deshalb, weil ich bessere Noten heimbrachte als ihre Tochter Liesl, und das obwohl der Lehrer bei der Liesl oft alle beide Augen bei den Noten zudrückte. Obwohl ich zwei Jahre jünger war, musste ich der Liesl oft bei den Rechnungen helfen, oder beim Aufsatz.
Dass ich kein unnützer Esser war, davon musste doch jeder überzeugt sein, wenn er erfuhr, dass ich eine Kalbin, die sich verlaufen hatte, wiedergefunden und vor dem Absturz in den Abgrund gerettet hatte! So dachte ich jedenfalls. Ich hatte mir bei der Suche, weil ich mich durch Latschen und Jungholz zwängen musste, die Waden so aufgerissen, dass sie bluteten. Endlich hatte ich sie dann gefunden – sie stand verängstigt vor einem Abgrund und wagte sich erst nicht zu rühren, als ich sie heranzulocken versuchte. Dann aber sprang die Kalbin schließlich mit torkelnden Sprüngen und hoch erhobenem Schweif über das Almfeld hinunter, gerade als ob sie sich freute, der Gefahr entronnen zu sein.
Ich setzte mich nach der ausgestandenen Gefahr erst einmal auf einen der herumliegenden Felsblöcke und betrachtete meine zerschundenen Beine. Huflattichblätter müsste ich jetzt darauf legen, so viel wusste ich schon. Aber so hoch heroben wuchs kein Huflattich, und so musste ich halt doch hinunter zur Mutter in die Almhütte, die mich mitleidig in ihre Arme schloss, dann meine Beine wusch und verband.
Es gab auf der ganzen Welt wohl kaum einen besseren Menschen, als meine Mutter es war, da war ich in diesem Moment ganz sicher. Es war nicht gerecht, dass sie so arm sein musste. Um ihretwillen wünschte ich mir, reich zu werden und ihr jede Freude machen zu können, die ich mir vorstellen konnte. Wenn ich so meinen Tagträumen nachhing, dann sah ich mich selbst mit einem roten Sonnenschirm durch das Dorf gehen, einen weißen Pudel an der Leine führen und gnädig das Haupt neigen, wenn Hüte vor mir gezogen wurden, genauso wie es die junge Frau des Kunstmalers Lipold machte, wenn sie durchs Dorf ging und sich mit »Frau Professor« grüßen ließ, obwohl diesen Titel doch nur ihr Mann verliehen bekommen hatte und nicht sie selber.
So schöne Kleider wie die Frau des Kunstmalers sollte auch meine Mutter haben, und in einem Haus wohnen, das genauso war wie die Villa Lipold, die ein kleines Stück außerhalb des Dorfes auf einem Hügel lag und mir vorkam wie ein stolzes Märchenschloss, soviel größer und schöner als alle anderen Häuser war dieses Gebäude.
Ja, ich malte mir immerzu aus, wie es wäre, reich zu sein und wie schön ich meiner Mutter dann das Leben gestalten würde.
Die Tage gingen rasch dahin, viel zu schnell für mich. Ein Gewitter kam, ein Septembergewitter von ungeahnter Wucht, viel heftiger als die Gewitter im Hochsommer. Es krachte und polterte um die Hütte, und der Regen klopfte auf das Schindeldach wie mit tausend Hämmern. Ich schrie nicht, obwohl ich Angst hatte. Die Mutter aber kam herauf zu mir ins Heu, legte sich neben mich und schlang den Arm um meine Schultern.
Ein paar Tage regnete es noch nach. Doch dann brach der graue Himmel wieder auf, und die Sonne stand an einem strahlend blauen Himmel und lachte herunter, als wollte sie sagen: ›Noch bin ich da, um euch zu wärmen, aber ich wollte euch schon jetzt einmal zeigen, wie es in ein paar Wochen sein wird.‹
Wunderschöne Herbsttage folgten darauf. Nur die Abende fielen früher ins Land und wurden kühler, aber man konnte noch auf der Bank vor der Hütte sitzen. Die Mutter hatte einen alten Janker über die Knie gebreitet und setzte einen neuen Flecken auf die durchgescheuerten Ellbogen. Sie nähte in großen Stichen, die Feinarbeit sparte sie sich für das Taglicht auf. Die Haarlocke hing ihr wieder in die Stirne herein, und manchmal schob sie die Unterlippe vor und blies sie zurück.
Ich hatte meinen Kopf an ihre Schulter gelehnt und betrachtete meine Hände, die ein bisschen wehtaten, weil ich heute zum ersten Mal eine ungewohnte Arbeit getan hatte. Die Mutter hatte mich unter eine Kuh gesetzt und mir den Melkeimer zwischen die Knie geschoben.
»Wir versuchen es zuerst einmal bei der Frieda«, sagte sie. »Die gibt die Milch am leichtesten her. Und jetzt pass auf, Herzerl. Nicht mit Gewalt drücken, mehr streicheln, mit einem leichten Druck der Handballen. Das beste ist, du denkst dir, du hättest ein paar Eier in den Händen, die du nicht zerdrücken darfst. Mit Kraft und Gewalt geht da gar nichts. Mit Gewalt geht überhaupt nichts im Leben. So – ja – siehst du, es geht ganz schön.«
Ja, es war ganz schön gegangen, aber meine Finger waren noch zu kurz und zu klein. Für sie war es eine große Anstrengung gewesen.
»Tun dir die Finger arg weh?«, fragte meine Mutter, legte den Janker weg und nahm meine Hände in die ihren. Ich schüttelte den Kopf, und die Mutter redete weiter: »Das ist bloß am Anfang so. Und überhaupt ist es ja nicht so, dass du es unbedingt lernen müsstest, denn aus dir soll ja einmal etwas anderes werden als eine Bauernmagd.«
»So? Was denn, Mutter?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber wenn dein Vater einmal schreibt, dass wir kommen sollen …« Sie unterbrach sich und reckte lauschend den Kopf ein bisschen vor, denn es war plötzlich ein feines Klingen in der Luft, als ob man mit einem Klöppel an eine Silberschale klopfte. Es kam über die hohen Hügel her, bald leiser, dann lauter – so, wie der aufgekommene Wind die Klänge trug. Es war das Abendglöcklein von Birkenstein.
Die Mutter ließ meine Hände los, faltete die ihren unter der Brust und betete halblaut: »Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …«
Danach lehnte sich die Mutter ein wenig zu mir herüber und legte ihren Arm um meine Schulter. Sie sagte jetzt zu mir: »Warte nur, eines Tages kommt der Vater, und dann fahren wir zusammen nach Amerika. Dort gibt es riesige Weizenfelder, und unter den Tausenden von Ähren soll da und dort auch eine silberne herausleuchten.«
Übrigens hatte dieser Georg Koffler meiner Mutter auch ein Gewehr zurückgelassen. Es hatte zwei Läufe und einen braunen Schaft. In diesen Schaft waren ein wenig ungeschickt die Buchstaben G. K. eingekritzelt. Man konnte es in der Mitte auseinandernehmen, und meine Mutter hatte die zwei Teile in eine alte Decke gewickelt. Sie nahm das verschnürte Paket immer mit auf die Alm und versteckte es unter ihrem Bett. Manchmal holte meine Mutter das Gewehr aus der Verpackung und streichelte mit ihren Fingern andächtig darüber.
Vielleicht hatte dieses Gewehr auch eine Rolle dabei gespielt, dass der Vater so schnell verschwunden war, denn die Mutter hatte einmal erzählt, dass die Jäger ihrem Georg dicht auf den Fersen gewesen seien. Die Jäger hätten dann auch bei ihr nachgeforscht, und sie hatte sagen müssen, der Georg wäre die ganze Nacht bei ihr gewesen. Sie habe immer die Lüge verabscheut, aber aus Liebe könne man auch einmal lügen.
Einen solchen Satz hätte ich niemandem außer meiner Mutter einfach so geglaubt. Lügen war doch eine Sünde! Aber wenn sie es sagte, dann musste das wohl so sein.
»Ich muss noch mal davon reden«, sagte jetzt die Mutter in meine Gedanken hinein. »Was tun wir denn, wenn der Vater schreibt, dass wir kommen sollen?«
»Er schreibt aber nicht, Mutter.«
Wir schwiegen lange. Es war so still um uns, dass man den Holzwurm im Gebälk der Hütte nagen hören konnte.
Die Mutter seufzte und sagte dann auf einmal: »Und wenn du ihm schreibst? Du hast so eine schöne Schrift.«
Ich fasste es als Spaß auf und lachte. »Aber Mutter, wir haben ja gar keine Adresse.«
»Amerika einfach. Wenn du schreibst, Herrn Georg Koffler, Amerika. Wir fragen auf der Post, ich glaube, so einen Brief kann man auch einschreiben lassen.«
»Ach, Mutter. Amerika ist doch so groß und hat viele Staaten. Das sagt wenigstens der Lehrer, und er hat es uns auch auf dem Globus gezeigt: Mexiko, Texas, Florida, und wie sie alle heißen. Da kann man jemanden nur finden, wenn man weiß, in welchem Staat er wohnt.«
»Ah, so? Ja, das kann schon sein.« Die Mutter lehnte sich jetzt mit einem harten Ruck gegen die Bretterwand. Sie strich mit der Hand über ihre Stirne und seufzte.
»Ach ja, Herzerl, manchmal rede ich dummes Zeug daher, ich weiß schon. Aber im Ernst, ich mach mir schon manchmal Sorgen um deine Zukunft. Du sollst einmal keine Bauernmagd sein.«
»Warum eigentlich nicht, Mutter? Ich finde das Leben, so wie wir zwei es da heroben leben, einfach wunderschön.«
Langes Schweigen.
Wenn sich ihre Stirn so in Falten legte, dann war sie immer am Nachdenken, als versuchte sie, den Rätseln des Lebens näherzukommen.
»Eigentlich hast du Recht«, sagte sie dann. »Es ist schon etwas Merkwürdiges: Ein Leben als Magd ist nichts anderes als ein Dienen um einen Hungerlohn. Und trotzdem tut man seine Arbeit mit einer Hingabe, als müsste man sich später einmal im Himmel dafür verantworten.«
Das war die andere Seite meiner Mutter, aber vielleicht liebte ich sie gerade deshalb so abgöttisch. Einmal fühlte sie sich verlassen und einsam wie in großer Hilflosigkeit, dann wieder stellte sie sich dem Leben und all ihren Pflichten, als könne sie überhaupt nichts erschüttern.
Die Sterne flimmerten unruhig in dieser Nacht, bis dann der Mond heraufkam. Er war nicht voll, trotzdem vermochte er ein silbernes Licht über das Almfeld zu werfen, sodass ein wunderliches Gezack von Licht und Schatten durcheinanderspielte. Das Mondlicht fiel auch ein wenig auf unsere Gesichter, und als ich einmal den Kopf wandte und meine Mutter anschaute, da musste ich unwillkürlich denken, dass ich eine wunderschöne Mutter hatte. Das Mondlicht beleuchtete ihr Gesicht so sonderbar, dass mir dies zum ersten Mal bewusst wurde. Die hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Markantes, ihr Mund war sinnlich geschwungen, ihr Hals schlank und biegsam. Ein paar Augenblicke lang sah ich sie an, mir war, als hätte sie sich plötzlich in eine Märchenfee verwandelt. Dann streckte sie sich unvermittelt und stand auf. »Zeit zum Schlafengehen«, sagte sie, und nun war sie plötzlich wieder von der Märchenfee zu meiner Mutter geworden. Ich erhob mich ebenfalls und folgte ihr in die Hütte. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte ich immer mit der Mutter in einem Bett geschlafen. Aber das Bett war so schmal, dass es zu zweit immer unbequemer wurde, je älter ich geworden war. Seit diesem Jahr schlief ich lieber im Heu. Das Heu war angenehm weich, und es war noch voll von den Gerüchen des Sommers.
In dieser Nacht verfolgten mich die Gedanken an meinen Vater im fernen Amerika bis in den Schlaf, und ich hatte einen sonderbaren Traum. Ich ging durch ein mächtig großes Ährenfeld und sah da und dort eine silberne Ähre. Aber wenn meine Hand danach griff, dann zerfiel sie zwischen meinen Fingern.
Sehr viel zu tun hatten wir in dieser Woche, denn am Samstag sollte Almabtrieb sein. Wir flochten Kränze aus Fichtenzweigen und fertigten Papierröserl an, rote und gelbe. Im Vorjahr war uns diese Arbeit erspart geblieben, weil eine Kuh abgestürzt und daraufhin verendet war, was einen herben Verlust für den Bauern bedeutete, der uns deshalb auch viele lautstarke Vorwürfe machte, obwohl das Unglück nicht unsere Schuld gewesen war.
»Zefix«, hatte der Bauer geflucht. »Ihr blöden Weibsbilder, habt ihr nicht aufpassen können? Für dieses Jahr ist der Profit schon wieder beim Teufel. Von euch ist eine blöder wie die andere.«
Diesmal aber stand die Herde vollzählig, sauber gestriegelt und wohlgenährt da. Der Bauer kam gegen Mittag. Er warf mir die Zügel zu, damit ich das Pferd ausspannte. »Gib ihm ein Büschl Heu«, sagte er. Dann lehnte er sich mit beiden Armen über das Gatter und musterte die Herde, Stück für Stück, nickte wohlwollend und sagte dann zu meiner Mutter: »So ist’s recht. Es geht also auch anders, wenn man die Augen aufmacht und aufpasst, dass keine abstürzt.«
Ich sah, wie die Mutter errötete und demütig den Kopf senkte. Dazu sagte sie auch noch: »Dank dir schön, Bauer.«
Zum ersten Mal regte sich etwas wie Aufbegehren in mir. Warum diese Unterwürfigkeit? Es wäre doch eher angebracht gewesen, wenn der Bauer sich bei ihr bedankt hätte für die Mühe und Hingabe, die nötig gewesen war, dass sein Vieh nun so prächtig auf der Weide stand.
Der Hartauer war sonst eigentlich kein unrechter Mensch. Ein Mann von mittlerer Größe, der bereits einen recht ansehnlichen Bauch hatte, obwohl er erst vierzig Jahre alt war. Er dürfe nicht so viel Bier trinken, sagte er immer. Aber er trank trotzdem jeden Tag seine fünf bis sechs Maß.
»Willst du etwas essen, Bauer?«, fragte jetzt die Mutter. »Soll ich einen Schmarrn kochen?«
»Ja, einen Schmarrn mag ich schon. Aber pack du die Sachen zusammen. Den Schmarrn kann doch die Kleine auch kochen. Wär ja noch schöner, wenn sie das noch nicht könnte.« Zehn Jahre war ich alt, aber man hielt es für eine Selbstverständlichkeit, dass ich schon alles konnte. Und natürlich konnte ich es auch, denn ich hatte der Mutter oft genug zugesehen. Vier Eier, Mehl, Milch, Butter und eine kleine Prise Salz. Goldgelb lag der Schmarrn in der Pfanne, die ich nach einer Viertelstunde auf den Tisch stellte. Teller gab es nicht, denn das Geschirr war schon in der großen Kiste verpackt, also aßen wir gemeinsam aus einer Pfanne. Nachdem er ein paar Brocken gegessen hatte, nickte der Bauer anerkennend und lobte: »Kleine, du machst dich. Der Schmarrn ist gut, sogar fast besser als daheim.«
Die Mutter wurde ein bisschen rot vor Freude über das Lob, das mir galt. Ich aber sagte ohne Scheu der Wahrheit gemäß: »Das glaub ich schon, weil die Bäuerin immer so spart mit der Butter und den Eiern.«
»Susanne«, rief die Mutter tadelnd und errötete noch mehr, diesmal aus Verlegenheit. »So was sagt man doch nicht.«
»Und warum nicht, wenn es die Wahrheit ist?«, begehrte ich auf.
Der Bauer sah mich abwägend an und meinte dann: »Die Wahrheit, ja, die soll man schon sagen, auch wenn sie manchmal wehtut. Von dir hört es sich allerdings ein wenig vorlaut an.«
So demütig war meine Mutter nun auch wieder nicht, dass sie einen solchen Vorwurf gegen mich ohne Widerspruch hingenommen hätte. »Vorlaut ist das nicht gewesen«, meinte sie und knüpfte dann rasch die Frage an: »Ist drunten am Hof alles in Ordnung?«
»Wie man’s nimmt«, antwortete der Bauer. »Der Michl hätte am ersten September in der Schule anfangen sollen, da hat er die Masern bekommen.«
»Masern«, sagte meine Mutter, und man konnte ihr ansehen, dass sie den sorgenvollen Ton nicht begreifen konnte, den der Bauer dabei angeschlagen hatte. Ich hatte auch vor ein paar Jahren die Masern gehabt, aber da hatte man keinen Doktor geholt. Das hatte sie ganz allein kuriert mit Kräutern, die sie vom Berg mit heimgebracht hatte. Der Bauer aber lamentierte noch eine Weile, erzählte, dass sogar der Doktor sorgenvoll geschaut hätte, als er die roten Flecken am Körper des Knaben gesehen habe. Aber dann sei es an ihm selbst gewesen, sorgenvoll zu schauen, als er die Rechnung des Doktors bekommen habe.
Wir hatten an diesem Morgen die Tiere nicht mehr auf die Weide getrieben, sondern im Stall gelassen. So konnten wir ihnen jetzt die grünen Fichtenkränze um die Hörner winden und die Papierröslein zurechtzupfen. Der Bauer blies die Backen auf vor lauter Stolz, als er seine geschmückte Herde betrachtete. Er sagte nichts, er nickte nur vor sich hin. Und da schien es meine Mutter doch für angebracht zu halten, dem Bauern zu sagen, dass ich unter eigener Lebensgefahr die scheckige Kalbin vor einem Absturz an der Schludererwand gerettet hätte. Aber das rührte ihn nicht sonderlich, er griff nur mit Daumen und Zeigefinger in seine Westentasche, und ich frohlockte schon, dass er mir jetzt vielleicht etwas schenken würde, ein Geldstück, ein Zehnerl vielleicht, für meine mutige Tat. Aber er zog nur ein Zuckerstückl heraus, drehte sich um und hielt es auf der flachen Hand dem Pferd hin, das bereits vor den Almkarren gespannt war.
Die Hütte wurde sorgfältig abgesperrt. Im letzten Moment fiel meiner Mutter noch ein, dass sie etwas vergessen hatte. Sie sperrte noch einmal auf und kam mit einem verschnürten Bündel zum Vorschein, mit dem Gewehr meines Vaters. Sie warf es aber nicht auf den Karren, wo das übrige Gepäck lag, sondern klemmte es unter den Arm. In die andere Hand nahm sie den Bergstecken. Dann setzte sich der lange Zug in Bewegung. Der Bauer war aufgesessen und fuhr voraus, dann kam die stattliche Herde, und hintennach ging die Mutter. Ich schloss das Gatter noch, dann trippelte ich neben der Mutter her. Der Bauer hätte mich leicht zu sich auf den Wagen setzen können, aber auf die Idee kam er nicht. Er saß da vorne mit gekrümmtem Rücken und sah sich nicht einmal um.
Im Wald war es kühl wie in einer Kirche, aber nicht so still, denn die Glocken der Rinder machten einen unglaublichen Lärm, und das Echo tat ein Übriges dazu. Es übertönte jedes andere Geräusch, das Rädergerassel des Karrens, den Hufschlag des Pferdes und das Geklirr unserer Nagelschuhe. Zwischen den Glockentönen hörte man das viel leisere, schnelle und helle Gebimmel der Kälberschellen heraus.
Endlich lichtete sich der Wald, und man sah in der Tiefe das Dorf liegen. Eng zusammengeschmiegt drängten sich die Häuser um den Ortskern. In der Mitte ragte der spitze Turm der Kirche empor wie ein erhobener Zeigefinger. Auf der linken Anhöhe dann lagen noch verstreut einzelne große Höfe, zu denen sich schmale Sträßlein hinaufzogen.
Nun fing das andere, das normale Leben wieder an. Die freie, ungebundene Zeit auf der Alm war zu Ende.
Ich hatte meiner Mutter das verschnürte Paket mit dem Gewehr abgenommen und trug es auf meinen Armen, so vorsichtig, als wäre es eine Garbe mit silbernen Ähren. Erst als wir uns den ersten Häusern näherten, nahm mir die Mutter das Paket ab und klemmte es wieder unter den Arm.
Aus den Bauernhäusern strömten nun die Menschen und betrachteten neugierig die Herde. Marianne, die junge Frau des Kunstmalers, stand unter den Bäumen des Wirtsgartens vom Lamplwirt mit ihrem weißen Pudel und einem Fotoapparat. »Bleib stehen«, sagte sie zu mir, »und lächle ein bisschen, mein Kind.«
Ich lächelte, weil es mir befohlen worden war. Aber mir war eigentlich gar nicht danach, denn da vorne lag bereits der Hartauerhof, und dort, das wusste ich, würde ich nun viele Monate lang wenig Grund zum Lachen haben.
Die Bäuerin stand unter der Türe, und die Liesl neben ihr und bohrte in der Nase. Vom Fenster des oberen Stockwerkes schaute der Michael herunter und hatte ein wollenes Tuch um den Hals. Kein Wort des Grußes kam von der Bäuerin oder die freundliche Frage: »So, seid ihr jetzt wieder da?« Nur das Vieh war für die Bäuerin von Interesse. Da empfand ich es wieder, dieses Gefühl, dass wir eigentlich ein Garnichts waren, die Mutter und ich. Nur der kleine Michael lächelte mir vom Fenster herunter in kindlicher Freude zu.
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Vieh vom Tannenschmuck und den Glocken befreit und dann im Stall untergebracht worden war. Still und bedrückt folgte ich der Mutter in unsere Kammer, die zu ebener Erde neben dem Stall lag. Die Mutter schob das verschnürte Paket gleich unter ihr Bett und öffnete dann die Fenster, denn die Luft war zum Ersticken schlecht. Offensichtlich hatte man den Raum den ganzen Sommer über nicht gelüftet. Ich aber sah auf meine Schlafstatt hin, die ich insgeheim den »Sarg« nannte. Es war eine längere Kiste, in der sich der Bauer einmal Maschinenteile für den Dreschwagen hatte schicken lassen. »Maschinenfabrik Röhrle, Düsseldorf« stand auf der Seite mit großen schwarzen Buchstaben geschrieben. Da hinein hatte man einen Strohsack gepreßt, ein Kissen und eine Wolldecke dazugegeben. Das Ganze befand sich gegenüber von einem richtigen Bett, in dem meine Mutter schlief.
Außer den beiden Betten, dem eintürigen Schrank meiner Mutter und einer Truhe, die wir gerade wieder von der Alm mitgebracht hatten, waren keine weiteren Möbelstücke in der Kammer. Über dem Bett der Mutter hing ein Kruzifix und daneben ein Bild mit der Mutter Gottes, die das Jesuskind auf dem Schoß hielt. Das Jesuskind hatte einen roten Apfel in der Hand und streckte die Hand mit dem Apfel so weit vor, dass ich manchmal meinte, danach greifen zu können. In der Mitte der düsteren Kammer hing noch eine Fünfundzwanzig-Watt-Birne, die nicht imstande war, die Kammer auszuleuchten. Immerhin, wir hatten in unserer Kammer auch einen Anschluss für elektrisches Licht bekommen, als vor ein paar Jahren im Dorf die Stromleitungen gelegt worden waren. Davor hatten wir uns mit einer Petroleumlampe begnügen müssen.
Wir setzten uns eine Weile auf den Rand von Mutters Bettstatt und hielten uns an den Händen. Die Bäuerin hatte sich vorhin doch noch ein halbes Lächeln abgerungen und die Bemerkung, dass wir wohl froh seien, wieder daheim zu sein. Aber wir waren nicht froh, sondern kamen uns wie zwei Sünder vor, die man aus dem Paradies vertrieben hatte.
Um vier Uhr in der Frühe klopfte die Faust des Bauern an die Türe. Es war eine harte Faust, und wenn es sich so traf, dass er mit seinem Ehering die Füllung traf, dann gab es einen beinahe schrillen Klang. So oder so, man wachte jedenfalls sofort auf, wenn er klopfte, und ich reckte mich in meinem »Sarg« hoch und blinzelte schläfrig zur Mutter hinüber. Die gähnte zunächst laut, seufzte ein paar Mal und stieß dann mit den Füßen die Decke zurück. Dann richtete sie sich auf und schwang die Füße aus dem Bett, dass es leise auf den Dielen klatschte. So saß sie ein paar Sekunden lang, rieb sich die Augen und schaute dann zu mir herüber.
»Armes Kind«, sagte sie manchmal. Ich tat ihr wohl Leid, weil ich auch schon so früh aufstehen musste. Die Liesl durfte liegen bleiben bis um sieben Uhr. Sie war ja auch die Tochter des Bauern, ich aber nur das uneheliche Kind der Magd.
Während die Mutter sich anzog, betete sie halblaut ein Vaterunser. Später dachte ich manchmal, dass die Mutter sich durch ihr Morgengebet wohl die Kraft geholt hat für ihren oft sechzehnstündigen Arbeitstag. Das waren ja über die Woche hingerechnet über hundert Stunden. Und es war keine Gewerkschaft da, die gesagt hätte, das sei zu viel.
Die Mutter steckte dann mit ein paar Haarnadeln das Haar flüchtig über den Nacken hinauf, stülpte ein Kopftuch über und sagte dabei mitunter: »Bloß einmal im Leben richtig ausschlafen können. Aber packen wir’s wieder, in Gottes Namen. Komm, Herzerl!« Ich trippelte hinter der Mutter her in den Stall hinaus, wo die Kühe schon alle aufgestanden waren und ihre Hälse über den Barren streckten. Auf der anderen Seite drüben striegelte der Ferdinand bereits die Pferde. Ein anderer, jüngerer Knecht schob den Mist ins Freie hinaus, die Mutter holte das Milchgeschirr herein und setzte sich unter die erste Kuh. Ich selbst hatte die Aufgabe, Futter in die Barren zu werfen. Man hatte für mich eigens eine kürzere Gabel hergerichtet. Den Bauern sah man um diese Zeit noch nirgends, er kam erst immer später hinzu, und ich glaube, dass er sich nach dem Wecken noch für eine Stunde hinlegte.
Um sieben Uhr saßen wir dann alle um den großen Tisch in der Stube bei der Morgensuppe. Zuvor aber wurde gebetet, im Stehen. Es war wenig Andacht dabei, und der liebe Gott brauchte sich wohl keine besondere Mühe geben, die Milch zu segnen und das Schwarzbrot, das der Bauer in großen Brocken in die Schüssel schnitt, aus der wir gemeinsam löffelten. Es war ein weiter Weg für mich, mit meinen kurzen Armen bis in die Tischmitte zur Schüssel hinzulangen, und manchmal tröpfelte es mir vom Löffel herunter, so dass eine dünne weiße Spur über den Tisch zu mir hinführte.
»Nicht einmal richtig essen kann sie«, schimpfte dann die Bäuerin. »Aber den Tisch putzt du mir nachher wieder sauber.«
Die Liesl und der Michael tröpfelten nicht. Sie bekamen jedes ein kleines Schüsselchen vor sich hingestellt. Nach dem Essen wurde dem Herrn wieder gedankt, dass er uns gespeist hatte, und dann stob alles auseinander wie eine Hühnerschar, wenn es gedonnert hatte.
Ich machte dann die Tischplatte sauber, und die Bäuerin richtete für die Liesl und den Michael ein Pausenbrot her, mit viel Butter drauf und einigen Wurstscheiben. Mir gab sie aber nur ein trockenes Stück Brot mit.
Wenn es stimmt, dass Bauernbrot die Wangen rot macht, bei mir traf das auf jeden Fall zu. Ich hatte rote Backen und überhaupt noch eine gesunde Farbe im Gesicht vom Almsommer. Die Liesl hatte dagegen eine fahle Haut und viele Pickel. Heimlich freute mich das, denn die Liesl war ein bisschen hochmütig und lief auf dem Schulweg immer voraus, als ob sie sich schämte, mit einem Magdkind gemeinsam zur Schule zu gehen.
Der Michael aber wartete immer auf mich, und wenn wir außer Sichtweite seiner Mutter waren, fasste er immer nach meiner Hand. Es kam auch vor, dass er sein Pausenbrot mit dem meinen tauschte.
In der einen Hand hatte ich immer die Blechkanne mit den zwei Litern Milch für den Herrn Lehrer zu tragen. Die Kanne hatte an der Seite eine leichte Beule, weil ich sie dem Hirmer Toni einmal auf den Schädel geschlagen hatte, als er einmal den Michael in eine Drecklache gestoßen hatte. Zum Glück war das auf dem Heimweg passiert, als die Kanne leer war, sonst hätte die Bäuerin sicher noch viel schlimmer geschimpft.
Bevor ich zur Schule ging, gab mir meine Mutter immer einen Kuss auf die Stirn, auf die Wange oder auf den Mund. Sie machte auch das Kreuzzeichen über mich. Einmal sagte Michael darauf zu seiner Mutter: »Mutter, warum tust du mich nie busseln?«
Die Hartauerin schob ihn mürrisch zur Seite und sagte: »So eine Gefühlsduselei könnte ich gerade noch brauchen. Bei einem Bauernmenschen ist das nicht üblich. Die glaubt doch, sie sei was Besseres als eine Magd.« Womit sie meine Mutter meinte.
Meine Mutter aber wollte gar nichts Besseres sein. Sie machte aus ihrem Magdleben das beste, was daraus zu machen war. Sie hielt sich sauber – reinlicher als die Bäuerin –, war grundehrlich und erfüllte gewissenhaft ihre Pflichten, gerade als ob sie darauf einen Eid geleistet hätte. Ihre drei Mark in der Woche sparte sie eisern zusammen, denn es könnte ja immerhin sein, dass mein Vater zuwenig Geld schickte, und dann würde sie ihre Spargroschen für unsere Überfahrt brauchen.
Ja, diese anhängliche Treue an einen Menschen, der sie verlassen hatte, das war schon etwas Merkwürdiges, aber ganz ihrem Wesen entsprechend. Sie hat sich nie mit einem anderen Mann eingelassen. Oder ist ihr wegen mir so viel Übles nachgeredet worden, dass kein anderer Mann mehr um sie werben mochte?
Nein, es gab schon Männer, denen meine Mutter gefallen hätte, denn manchmal klopfte es nachts an unser Fenster. Aber die Mutter machte nie auf. Vielleicht tat sie das ja auch meinetwegen? Sie blieb ganz still in ihrem Bett, und ich auch. Bei mir aber war es bloß die Angst vor diesem Klopfen, denn ich dachte, das sei vielleicht ein Einbrecher. Was es mit diesem nächtlichen Klopfen auf sich hatte, das begriff ich erst später, obwohl mir damals der Schmiedgeselle, Ambros, einmal eine Tafel Schokolade geschenkt hatte mit den Worten, dass ich die Mutter aufwecken solle, wenn er wieder ans Fenster klopfe.
Wenn ich mit der Milch ins Schulhaus kam, musste ich sie in die Küche zur Lehrersfrau bringen. Die schüttete sie gleich in einen Topf und stellte ihn übers Feuer. Für das Milchbringen bekam ich im Monat dreißig Pfennige, also für jeden Tag einen Pfennig. Die gab ich immer der Mutter, als Beitrag für die »Überfahrt nach Amerika«. Wenn es nach der Lehrersfrau gegangen wäre, hätte diese die dreißig Pfennige gerne vergessen. Aber der Tischlinger, ihr Mann, fragte immer in meiner Gegenwart: »Hat das Suserl ihr Geld schon bekommen?«
Einmal antwortete sie: »Ja, natürlich«, obwohl das gar nicht stimmte. Ich aber sagte nein, ich hätte das Geld noch nicht bekommen, und der Lehrer sah seine Frau darauf so durchdringend an, dass sie schließlich zugab, sie habe kein Kleingeld zur Hand gehabt. Da zog der Tischlinger seinen Geldbeutel heraus und gab mir fünfzig Pfennige. Am nächsten Monatsende gab mir die Lehrersfrau dann bloß zehn Pfennige und sagte dabei: »Zwanzig Pfennige hast du ja schon vom letzten Mal. Mein Sebastian geht ein bisschen leichtsinnig mit dem Geld um.«
Die Schule dauerte immer von acht bis zwölf und dann von zwei bis vier Uhr. Mittags konnten wir zum Essen heimgehn, weil unser Hof mitten im Dorf lag. Die Bergbauernkinder aber saßen beim Lamplwirt hinten am großen Tisch und bekamen einen Teller Suppe für fünf Pfennige. Das Brot brachten sie von daheim mit. Aber ich glaube, diese Bergbauernkinder, die oft einen Schulweg von zwei Stunden hatten, waren besser verpflegt als wir, weil die Suppen wechselten: Nudelsuppe, Milzsuppe, Gemüsesuppe oder auch Lüngerl mit Knödel. Das kostete dann acht Pfennige. Wir jedoch hatten daheim manchmal tagelang immer nur das gleiche, denn die Bäuerin kochte aus Sparsamkeit sehr große Portionen, die dann jeden Tag aufgewärmt wurden.
Zweimal in der Woche hatten wir auch Religionsstunde. Da kam dann schnaufend und mit wuchtigem Schritt der Herr Pfarrer Zimmerer, und wir mussten aufstehen und »Gelobt sei Jesus Christus« sagen. Der Herr Pfarrer wog gut zwei Zentner und hatte auf seinem breiten, mächtigen Kopf überhaupt keine Haare mehr. Er litt an Asthma und hielt sich während der Religionsstunden meistens in der Nähe des offenen Fensters auf, weil er dort mehr Luft bekam. Er sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme. Dabei sah er dann gelegentlich zum Fenster hinaus, in den Garten hinunter, wo der Lehrer seine Freistunde nützte und sich mit seinem Bienenhaus beschäftigte.
Religion interessierte mich brennend, insbesondere das Leben Jesu, und ich fuchtelte förmlich mit den Armen mit, wenn der Pfarrer mit ausladenden Gebärden erzählte, wie Jesus die Pharisäer zum Tempel hinausgejagt hatte, gerade so, als ob er selbst so etwas auch gerne einmal machen würde. Das ganze Leben Jesu verfolgte ich mit brennender Hingabe bis zu seinem einsamen Sterben auf Golgatha. Wenn man etwas genauer wissen wollte, dann musste man den Finger heben. Das tat ich manchmal, und der Herr Pfarrer sah mich dann erwartungsvoll an.
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