Die Smartphone-Waisen 1: Das Schloss der Smartphone-Waisen - Salah Naoura - E-Book

Die Smartphone-Waisen 1: Das Schloss der Smartphone-Waisen E-Book

Salah Naoura

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Beschreibung

Kalli, Leo, Tara, Bodhi und Bhavani haben ein Problem: Ihr Waisenhaus soll abgerissen werden. Was nun? Vielleicht könnten sie bei der alten Hermine wohnen, die ein echtes Schloss besitzt? Die wäre sofort dabei, aber ihr Sohn Henry – ein fieser Immobilienhai – hat andere Pläne. Also entführen die Fünf kurzerhand Hermines Enkel Archie, um Henry zu erpressen. Dummerweise scheint er den Jungen gar nicht zu vermissen – und schnell wird klar, weshalb: Archie ist ein Kotzbrocken und muss erst mal umerzogen werden. Aber dann sind sie ein gewieftes Sechser-Team und planen auch schon den nächsten Coup!

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Salah Naoura - Das Schloss der Smartphone-Waisen

Kalli, Leo, Tara, Bodhi und Bhavani haben ein Problem: Ihr Waisenhaus soll abgerissen werden. Was nun? Vielleicht könnten sie bei der alten Hermine wohnen, die ein echtes Schloss besitzt? Die wäre sofort dabei, aber ihr Sohn Henry – ein fieser Immobilienhai – hat andere Pläne. Also entführen die Fünf kurzerhand Hermines Enkel Archie, um Henry zu erpressen. Dummerweise scheint er den Jungen gar nicht zu vermissen – und schnell wird klar, weshalb: Archie ist ein Kotzbrocken und muss erst mal umerzogen werden. Aber dann sind sie ein gewieftes Sechser-Team und planen auch schon den nächsten Coup!

Wohin soll es gehen?

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Viten

Danksagung

 

Für Susanne Kilian

1.

Die Sache, die alles veränderte

O ja, es stimmt, Erwachsene tun merkwürdige Dinge. Früher, als kleines Mädchen, hatte sich Marla über das merkwürdige Verhalten ihrer Eltern sehr gewundert. Sie steckten sich Stäbchen aus getrockneten Pflanzen in den Mund und zündeten sie an. Sie tranken durchsichtiges Zeug, das wie Wasser aussah, aber kein Wasser war und im Hals brannte wie die Hölle! (Hinterher redeten sie dann sehr viel Unsinn oder schliefen ein.) Und sie quasselten fast pausenlos in ein kleines schwarzes Rechteck oder tippten und wischten darauf herum.

Marlas Eltern liebten Smartphones über alles, und sobald sie ein Mobiltelefon in der Hand hielten, war es im Grunde zwecklos, etwas zu sagen – sie reagierten einfach nicht. Wenn Marla ihnen zeigen wollte, was für tolle Kunststücke sie sich mit ihrem Skateboard beigebracht hatte, murmelten sie: »Gleich, Schatz, gleich«, und vergaßen dann, den Kopf zu heben. Wenn sie alle zusammen zur Oma fuhren und fünf Stunden im Zug saßen, redeten Marlas Eltern fast pausenlos am Telefon, aber zu Marla sagten sie nur: »Hier hast du Mamas Laptop, da sind schöne Filme drauf.« Und als Marla damals vom Klettergerüst fiel und an der Stirn blutete, ärgerte sich ihr Vater, dass der Krankenwagen schon kam, ehe er eine SMS an seinen Chef absenden konnte.

Ausgerechnet an Marlas zehntem Geburtstag passierte die Sache, die alles veränderte. Ihre Eltern waren verreist, um ihren Hochzeitstag zu feiern, und Oma Babett war für vier Wochen eingezogen, um Marla morgens, wenn sie zur Schule musste, ihre Pausenbrote zu schmieren und ihr zum Abschied noch schnell einen Kuss auf die Wange zu drücken.

Als Marla nachmittags nach Hause kam, kosteten sie und Oma Babett die Geburtstagstorte, nämlich Omas sensationelle Kirschbombe – da klingelte das Telefon. Marlas Eltern riefen aus Portugal an, um ihrer Tochter per Skype zu gratulieren. Hinter ihnen schimmerte das blaue Meer, und Marlas Vater schwenkte seinen Selfie-Stick einmal im Kreis herum, damit Marla die herrliche Aussicht bewundern konnte. Und als die Eltern nach dem Singen winkten und Kusshände warfen, begann das Bild plötzlich zu wackeln und Mama und Papa verschwanden wie durch Zauberei vom Display.

Abrakadabra, weg waren sie.

Es war leider das letzte Mal, dass Marla ihre Eltern sah, denn die beiden standen auf dem berühmten Cabo da Roca, dem westlichsten Punkt Europas, und als sie zum Abschied in ihr Smartphone winkten, traten sie dummerweise zwei Schritte zurück, dorthin, wo Europa endgültig zu Ende ist. Und da es sich beim berühmten Cabo da Roca um eine hohe Klippe handelt, fielen sie ins Meer – was übrigens an der Schwerkraft liegt. Ohne Boden unter den Füßen fällt man nämlich runter, weil der Kern der Erdkugel einen ansaugt wie ein Superstaubsauger, frag deinen Physiklehrer. All diese Dinge wussten Marlas Eltern natürlich noch von früher aus der Schule. Nur dachten sie in diesem Moment dort oben auf der Klippe nicht daran, weil sie mit ihrem Handy-Stick und der Filmerei so beschäftigt waren. Ach, manchmal reicht ein kleiner unaufmerksamer Moment, und schon passieren schlimme Dinge!

Marlas Eltern verschwanden spurlos und wurden nie gefunden, nur das Smartphone mit dem Selfie-Stick entdeckte man am Rand der Klippe. Die portugiesische Polizei schickte beides nach Deutschland zurück, und Marla guckte sich das Filmchen noch ein einziges Mal an und ging acht Jahre später, an ihrem achtzehnten Geburtstag, auf eine hohe Brücke, um Papas Smartphone samt dem Selfie-Stick in den Fluss zu werfen. Und als sie das Platschen hörte und sah, wie das Handy in den Fluten versank, fühlte sie sich etwas besser.

»Liebe Oma«, sagte Marla nach ihrem Ausflug zu der Brücke. »Ich muss weg. Hier erinnert mich alles an früher, als Mama und Papa noch da waren. Ich gehe nach Berlin.«

Oma Babett pustete die lange weiße Haarsträhne beiseite, die ihr immer vor dem linken Auge hing, und antwortete: »Ach, Kind, dös versteh i. Aber traurig is es trotzdem. I werd di sehr vermissen.«

»Komm doch mit!«

»Naaa«, knarzte die Oma mit ihrer tiefen, rauen Stimme. »Berlin! Was soll i denn do? I hob doch hier mein Geschäft.« Ihr Geschäft war eine Konditorei, denn Oma Babett war die beste Konditorin weit und breit und konnte die wunderbarsten Kuchen, Torten und Törtchen backen. »Aber was willst du da denn anstellen, da oben in Berlin, Kind?«

»Kirschbomben machen«, antwortete Marla.

Da lächelte die Oma, denn wie man Kirschbomben macht, das hatte sie Marla schon vor Jahren beigebracht. So gut, dass Marlas Bomben inzwischen fast so hervorragend waren wie die von ihrer Oma. (Allenfalls ein ganz, ganz kleines bisschen schlechter.)

»Is recht«, sagte Oma Babett und nickte. Und dann schrieb sie Marla noch ihre besten Rezepte auf, damit die Leute da oben in Berlin ordentlich was zu staunen hatten.

So kam es, dass Marla an einem Frühlingstag mit Herzklopfen, zwei Koffern und einem Notizbuch voll leckerer Rezepte am Berliner Hauptbahnhof aus dem Zug stieg.

Berlin war groß, Berlin war laut, und die Mieten waren viel, viel teurer, als Marla es sich vorgestellt hatte. Aber mit der Suche nach einer Arbeit hatte sie Glück. In einer schönen Konditorei mitten in der Stadt klappte es sofort, weil Marla einfach eine Kirschbombe mitbrachte. Herr Sander, der Chef, kostete mit einem winzigen Kuchengäbelchen, runzelte die Stirn und sagte: »Oh.« Und nachdem er ein zweites Mal gekostet hatte, sagte er: »Herzlich willkommen, Frau Madelhuber, Sie sind eingestellt. Ab heute leiten Sie unsere Kirschbombenabteilung.«

Marla fand zwar keine Wohnung, aber immerhin ein kleines Zimmer am Stadtrand. Die Vermieterin hieß Frau Kolokowski, hatte schlechte Laune und fuchtelte die ganze Zeit mit ihrem Gehstock. Ihr rechtes Bein war eingewickelt wie bei einer Mumie, und neben ihrem Sessel lag ein Riesenhund, der nach feuchtem Keller roch und Marla unfreundlich anknurrte. »Drei Minuten duschen, länger nicht«, sagte Frau Kolokowski. »Und kein Besuch!«

Weil Frau Kolokowskis Haus von der Konditorei so weit entfernt war, musste Marla jeden Morgen sehr früh aufstehen, ein bisschen übers Feld wandern und dann einen langen Hang hinauflaufen, bis zum Bahnübergang. Von dort führte ein kleiner Weg an den Gleisen entlang zum nächsten S-Bahnhof.

Am ersten Morgen ging alles gut und Marla erschien pünktlich zur Arbeit. Doch gleich am nächsten Morgen ging etwas schief. Als Marla vom Feld kam und in die Straße einbog, die zum Bahnhof hinaufführte, sah sie oben auf dem Hügel ihren Zug, der wie ein großer Wurm durch die Nebelschwaden kroch. Halt!, dachte Marla, denn der Zug kam zu früh, und sie musste ja erst noch die lange Straße hinauf, also würde sie ihre Bahn verpassen und eine halbe Stunde auf die nächste warten müssen und zu spät zur Arbeit kommen … Halt!, dachte Marla, so laut sie konnte. Warte doch auf mich!

Erstaunlicherweise schien die S-Bahn Gedanken lesen zu können, denn im nächsten Moment heulte sie auf, was wie eine Antwort klang. Weithin schallte ihr schauriger Heulton über die neblige Landschaft. Und dann – es war fast wie Zauberei – blieb die Bahn tatsächlich mitten auf der Strecke stehen!

Marla begann zu laufen. So schnell sie konnte, eilte sie den Hang hinauf. Um sie herum wirbelte der Morgendunst, und als plötzlich Wind aufkam und der milchige Vorhang sich hob, erkannte Marla oben am Hang etwas Seltsames, das sich bewegte.

Offenbar ein Fahrzeug, jedoch kein Auto oder Laster.

Auch kein Motorrad oder Moped.

Hm … Ein Fahrrad war es auch nicht.

Ja, aber was denn dann?, fragst du dich nun sicher, und Marla stellte sich genau dieselbe Frage. Sie kniff die Augen zusammen. Das Ding sah aus wie eine komische kleine Kiste. Eine Kiste auf zwei Rädern. Und weil die abschüssige Straße so lang war und nicht sehr steil, fuhr diese Kiste sehr langsam und schnurgerade direkt auf Marla zu!

Jetzt erst konnte sie erkennen, was es war: ein rückwärts rollender Fahrradanhänger auf zwei Rädern! Es gab einen kleinen schmerzhaften Rums, als der Anhänger mit der Hinterseite gegen Marlas Beine stieß. Vorne am Anhänger war eine geschwungene Metallstange angebracht, die über den Straßenbelag schleifte.

Das Innere der Kiste war durch ein Verdeck geschützt, und als Marla die Plane ein wenig lupfte, blickte sie in die Augen von zwei dunkelhäutigen kleinen Kindern. Das jüngere erschrak und begann zu weinen. Aber das ältere, ein Mädchen, wirkte neugierig.

»Guckguck!«, sagte Marla und lächelte. Und das Mädchen lächelte zurück.

2.

Noch ein Waisenkind

Vier Jahre später wohnte Marla nicht mehr bei Frau Kolokowski und ihrem stinkenden Hund, sondern in einem kleinen Haus mit schiefem Giebeldach, mitten in Berlin. Es stand in einem Hinterhof, angelehnt an eine hohe Mauer. Rings um das Haus lagen ein paar Gemüsebeete mit labberigen Salatköpfen und verwelkten Möhren, eingerahmt von einem weißen Holzzaun. Und nicht sehr weit vom Zaun entfernt parkten rostige Fahrräder und rollbare Mülltonnen.

Manchmal fiel der Sturm über den Hof her wie ein wildes Tier, dann zitterten die dünnen Wände des Hauses und die Fensterscheiben klirrten wie bei einem Erdbeben. Stell dir vor, du sitzt in deinem Zimmer und hast Angst, dass jeden Moment das Dach wegfliegt! Marla hielt sich die Ohren zu, wenn die Dachziegel klapperten und der kalte Wind durch alle Ritzen pfiff. Ja, bei Sturm war das kleine Hinterhofhaus wabblig wie ein Wackelpudding, im Sommer heiß wie eine Sauna und im Winter kalt wie eine Tiefkühltruhe. Aber Marla liebte es trotzdem und war sehr stolz darauf – besonders auf das große Messingschild an der Tür, auf dem in schnörkeligen Buchstaben zu lesen stand:

Es gibt nämlich leider noch mehr Leute, die manchmal ein bisschen unvorsichtig werden, wenn sie ein Telefon in der Hand halten. Das war nicht nur bei Marlas Eltern so gewesen. Seit ihrem Umzug nach Berlin hatte Marla mehrere Kinder kennengelernt, denen es ganz ähnlich ergangen war wie ihr. Und weil diese Kinder keine lieben Omas hatten, die sich um sie kümmerten und Torten backten, hatte Marla dort in dem kleinen Hinterhofhaus ein Wohnheim für Smartphone-Waisen gegründet. Vormittags, wenn die Kinder in der Schule waren, arbeitete sie in der Konditorei und leitete die Kirschbombenabteilung, und nachmittags, wenn die Kinder nach Hause kamen, leitete sie das Wohnheim.

Das kleine Waisenhaus im Hinterhof entwickelte sich prächtig. Marla arbeitete mit dem Jugendamt zusammen, und vier Jahre lang lief alles glatt und ohne Probleme – bis eines Tages … tja, bis eines Tages dieser schreckliche Brief im Postkasten lag. So ist das manchmal. Alles funktioniert fantastisch, und man denkt, so sollte es jetzt bleiben, die Zeit müsste anhalten, die Uhren müssten stehen bleiben, damit sich bloß nichts ändert. Und dann bekommt man einen einzigen Brief, und schon ändert sich alles! Ärgerlich, so was.

Der Brief kam einen Tag vor Beginn der Sommerferien. Er war vom Vermieter des kleinen Hinterhofhauses, und darin stand:

Liebe Frau Madelhuber,

Sie wissen, wie sehr ich mich immer über Ihr kleines, feines Waisenhaus bei uns im Hof gefreut habe, aber inzwischen ist das Gebäude so alt und baufällig, dass es nicht mehr renoviert werden kann, sondern abgerissen werden muss. Ein halbes Jahr haben Sie noch Zeit, dann müssen Sie leider ausziehen. Ich hoffe sehr, dass Sie schnell ein anderes geeignetes Haus finden!

Mit den besten Grüßen

B. Meyer

Marla erschrak. Ein halbes Jahr klang zwar recht lang, aber in Berlin, das wusste sie, war es fast unmöglich, ein neues Zuhause für sich und ihre Waisenkinder zu finden. Vor allem ein bezahlbares. Was würden sie dazu sagen, dass sie ihr kleines geliebtes Hinterhofhaus verlassen mussten? Wie sollte Marla es ihnen beibringen? Und wann? Ach, der Tag hatte so gut begonnen! Und dann das!

Sie wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, um den Kindern von dem Brief zu erzählen – da klingelte es an der Tür.

Draußen stand Frau Jaletzke, die Frau vom Jugendamt, unter deren linkem Arm wie immer eine riesige geblümte Tasche klemmte, wodurch sie ständig so aussah, als wäre sie gerade unterwegs zum Strandbad. In Wirklichkeit aber befanden sich in ihrer großen Tasche keine Badesachen, sondern Aktenordner. An ihrer rechten Hand hielt sie, ebenfalls wie immer, ein Kind. Diesmal einen kleinen Jungen, der Marla durch die Gläser seiner Brille mit großen, ernsten Augen anguckte. Er wirkte ungewöhnlich ordentlich. Sein Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt, und er trug einen altmodischen Wollanzug aus braunschwarzem Fischgrätenstoff, faltenfrei und sauber, wie eben erst gewaschen und gebügelt. Neben ihm stand sein Gepäck, ein kleiner brauner Aktenkoffer mit zwei goldglänzenden Schnappschlössern. Mehr nicht.

»Das ist Karl-Friedrich«, sagte Frau Jaletzke.

»Kalli«, verbesserte der Junge.

»Karl-Friedrich hat …«

»Kalli.«

»Verzeihung, Kalli hat leider keine Eltern mehr. Seine Mutter ist schon lange verschwunden, und sein Vater wurde vor ein paar Tagen von Bord eines Schiffes geweht, während er telefonierte … Ein trauriger Unfall. Sie haben doch noch ein Plätzchen für ihn, Frau Madelhuber? Das hier ist einfach das allerbeste Wohnheim für Smartphone-Waisen, das ich kenne … Und auch das einzige.«

Marla wusste genau, was sie eigentlich hätte tun sollen, aber manchmal meldet sich in solchen Situationen ja diese kleine, vorlaute Stimme der Unvernunft, die einen überredet, genau das Gegenteil von dem zu tun, was man müsste. So wie wenn du einen Teller mit gesunden Möhrchen und Brokkoli vor dir stehen hast, ihn wegschiebst und dir dann lieber leckere Pizza mit Döner und zum Nachtisch Eis bestellst.

Eigentlich hätte Marla Frau Jaletzke ja von dem schrecklichen Brief erzählen sollen, den sie gerade bekommen hatte, aber als sie sah, wie Kalli sie so hoffnungsvoll und traurig anblickte, flüsterte diese kleine, vorlaute Stimme der Unvernunft ihr ins Ohr, was sie sagen sollte, nämlich: »Natürlich haben wir noch ein Plätzchen für dich frei, Kalli. Du kommst genau im richtigen Moment, denn die anderen Kinder sind gerade von der Schule nach Hause gekommen, da kannst du sie gleich kennenlernen.«

Da griff Kalli nach seinem Aktenkoffer und betrat das Wohnheim, und Frau Jaletzke rief ihm noch hinterher, die erste Woche wäre auf Probe und dass sie ihm am nächsten Tag noch ein paar Anziehsachen aus seinem Kleiderschrank vorbeibringen würde …

Als Kalli mit seinem Köfferchen ins Wohnzimmer kam, erblickte er vier Kinder, die alle sehr beschäftigt waren. Das älteste war ein elf- oder zwölfjähriger Junge, der mit verknoteten Beinen in einem alten Sessel hockte und an einem Schal strickte. Seine blonden Haarsträhnen wippten bei jeder Handbewegung auf und ab, seine Stricknadeln klapperten, und die Augen hatte er halb zusammengekniffen und starr auf die Maschen gerichtet. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht einmal den Kopf hob.

Die beiden Mädchen am Tisch waren in Kallis Alter und schienen Hausaufgaben zu machen. Die eine hatte braune Haut und schwarze Locken, die andere war sehr blass, und ihre langen roten Haare waren zu Zöpfen geflochten, die links und rechts von ihrem Kopf herabhingen wie zwei dicke rote Taue.

Das jüngste Kind war ein braunhäutiger, schwarzhaariger Junge, der auf dem Wohnzimmerteppich lag. Seine Lippen produzierten blubbernde Motorengeräusche, während er ein Spielzeugauto hin und her schob.

»Alle mal herhören«, sagte Marla. »Das hier ist unser neuer Mitbewohner, Kalli.«

Die vier Kinder drehten die Köpfe.

»Also, Kalli: Der Stricker auf dem Sofa ist Leo. Die beiden am Tisch sind Tara und Bhavani. Und der auf dem Teppich ist Bodhi, Bhavanis kleiner Bruder.«

»Aha.« Kalli stellte seinen Aktenkoffer ab. »Was ist denn mit euren Eltern passiert?«

Marla musste lächeln, weil tatsächlich jedes neue Kind diese Frage stellte. Vielleicht nicht ganz so fix wie Kalli, aber auf jeden Fall wollten die Kinder immer sehr schnell wissen, wie die anderen Smartphone-Waisen ihre Eltern verloren hatten.

»Meine Mutter fiel von einer Pyramide«, sagte Leo und strickte weiter.

»Von einer Pyramide?« Kalli runzelte die Stirn. »Wie kann man denn von einer Pyramide fallen? Wie kommt man überhaupt da hoch?«

»Es war eine mexikanische Stufenpyramide«, erklärte Leo. »Man steigt 91 Stufen hinauf, dann ist man oben.«

Leos Mutter war Influencerin gewesen und hatte im Internet Werbung für ungewöhnliche Kleider und Schuhe gemacht. Als sie in Mexiko die Pyramide hinaufstieg, trug sie flache Turnschuhe und ein rotes Kleid mit zwei langen Bändern, die im Wind tanzten wie rote Schlangen. Oben angekommen, zog sie für ihr Selfie rote Lackschuhe mit hohen Absätzen an, die passten gut zu ihrem Kleid. Doch als ihre Handykamera klickte, verfing sich eins der Bänder im Absatz ihres linken Schuhs, und Leos Mutter stürzte rückwärts von der Pyramide.

»Bei uns war es ein Zugunglück«, erzählte Bhavani. »Wir waren noch sehr klein und unser Vater wollte uns mit dem Rad zum Kindergarten bringen. Wir saßen hinten im Anhänger.«

»Papa hatte Kopfhörer auf und hörte Musik!«, rief der kleine Bodhi. »Deswegen hat er den Zug nicht bemerkt.«

Bodhis und Bhavanis Vater war an einem unbeschrankten Bahnübergang über die Gleise gefahren und vom Zug erfasst worden, aber der Anhänger mit Bodhi und Bhavani darin löste sich zum Glück und rollte rückwärts die Straße hinunter. »Genau in meine Arme«, erzählte Marla.

Als sie damals erfuhr, dass die Kinder niemanden mehr hatten, beschloss sie, sich selbst um die beiden zu kümmern. Aber es hatte mehrere Jahre gedauert, bis die Behörden es erlaubten. Und außerdem hatte es sehr viel Streit mit Frau Kolokowski gegeben, die weder Männer noch Kinder in ihrem Haus haben wollte. (Und natürlich keine Katzen, wegen ihrem stinkenden Hund.)

Doch dann, nach drei langen Jahren, fand Marla endlich das kleine, feine Haus im Hinterhof und konnte bei Frau Kolokowski und dem Stinkhund ausziehen.

Und danach durfte sie die beiden Kinder endlich adoptieren!

»Bodhi und Bhavani waren die Ersten, die hier einzogen«, sagte Marla zu Kalli. »Und dann kam Tara.«

Tara, die niemals lächelte, hob ihren Kopf wie eine stolze Tänzerin und warf ihre roten Zöpfe nach hinten. »Meine Mutter war eine Fee!«, verkündete sie.

Vielleicht kennst du ja jemanden, der immer und immer und immer wieder dasselbe erzählt. Du kennst diese Geschichte wirklich schon auswendig und kannst sie einfach nicht mehr hören. Aber obwohl du diesen Jemand gerade eben erst zum hundertsten Mal darum gebeten hast, endlich damit aufzuhören, erzählt er die Geschichte fünf Minuten später noch mal, weil er nämlich Erzähl-Alzheimer hat – diese furchtbare Krankheit, bei der man leider vergisst, was man schon erzählt hat und was nicht. Und nun stell dir vor, wie dieser seltsame Laut klingt, der aus deiner Kehle kommt, wenn dir diese erzählalzheimerische Person schon wieder dieselbe Geschichte erzählt, so ein genervtes Stöhnen wie »Unnnnnnnnnnggggghhhhh!« oder so ähnlich.

Genau so ein Stöhnen kam jedenfalls von den anderen Kindern, als Tara behauptete, dass ihre Mutter eine Fee gewesen sei.

»Na ja, auf jeden Fall gibt es Aliens«, sagte Kalli.

»Unnnnnnnnnnggggghhhhh!«

»Sehr richtig!« Tara nickte. »Aber Feen gibt es auch. Meine Mutter stammte aus einem alten Feenvolk in Irland. Ein sehr altes und sehr weises Feenvolk.«

»Unnnnnnnnnnggggghhhhh!«

»Wie interessant.«

»Ja. Das Besondere an diesem Volk ist, dass sie mit Tieren sprechen können!«

»Außer mit Tigern«, sagte Leo, was irgendwie gemein klang.

Taras Miene verfinsterte sich wie der Himmel kurz vor einem Unwetter. Sie guckte plötzlich so traurig und verzweifelt, als würde alles Leid der Welt auf ihren Schultern lasten. »Meine Mutter konnte sehr wohl mit Tigern sprechen«, sagte sie leise. »Aber mit diesem Tiger gab es eben ein Missverständnis. Sie mochte ihn sehr und besuchte ihn jeden Tag im Zoo, um sich mit ihm zu unterhalten. Aber er sprach einen schwierigen Dialekt. Und als meine Mutter ins Gehege kletterte, um ein Foto mit ihm zu machen, wurde er wütend.«

»Au weia«, sagte Kalli, der sich vor vielen Dingen fürchtete. Vor Aliens zum Beispiel. Und auch vor wilden Tieren.

Frau Jaletzke vom Jugendamt hatte Kalli erzählt, dass die Heimleiterin von SMART e.V. ebenfalls ein Smartphone-Waisenkind war. Und dass sie gerade deswegen die Kinder, die bei ihr wohnten, so gut verstehen konnte. Also fragte Kalli: »Und du, Frau Madelhuber?«

»Ich heiße Marla.«

»Und du, Marla? Was war bei dir?«

»Tja, bei mir … ist genau dasselbe passiert wie bei deinem Papa. Meine Eltern fielen ins Meer.«

Kalli schüttelte traurig den Kopf. »Mein Papa ist aber nicht ins Meer gefallen. Das hat die Polizei mir erzählt, aber das war gelogen. Wollt ihr die Beweise sehen?«

Alle wollten die Beweise sehen.

Kalli legte seinen Klappkoffer flach auf den Boden und klappte ihn auf. In dem Koffer befanden sich: drei Paar Socken, zwei Unterhosen, ein Schal aus Kaschmirwolle (Leo bewunderte das Strickmuster), eine Zahnbürste und Unmengen von ausgeschnittenen Zeitungsartikeln. Kalli klaubte sie alle heraus und legte sie hübsch ordentlich in einer langen Reihe auf den Wohnzimmerteppich.

Marla, Tara, Bodhi, Bhavani und Leo beugten sich darüber.

Die Schlagzeilen lauteten:

Und:

Handy fiel ins Wasser, Mann sprang hinterher.Seither verschollen.

Oder auch:

»Das sind sehr gute Beweise«, sagte Tara.

Kalli nickte. »Ja. Außerdem ist mein Papa schon oft ins Wasser gesprungen, um sein Handy zu retten. Einmal im Freibad. Und einmal im See, aber das war nah am Ufer. Da ist er bis zum Grund getaucht. Mein Papa war ein guter Schwimmer. Aber an dem Tag, als er mit der Fähre fuhr, war es ziemlich stürmisch. Mit hohen Wellen. Das stand auch in den Zeitungen. Er hat bestimmt gedacht: So schlimm ist es nicht, weil ich so gut schwimmen kann. Aber dann kam eine Welle und plötzlich war er weg.«

Als die fünf Smartphone-Waisenkinder an diesem Abend in ihren Etagenbetten lagen, setzte sich Marla, bevor sie das Licht im Schlafraum ausmachte, noch auf Kallis Bettkante. Er schlief in der unteren Etage des blauen Bettes, das obere Bett war noch frei.

»Wie ungewöhnlich, dass du lieber unten schläfst«, wunderte sich Marla. »Die meisten mögen die oberen Betten lieber.«

»Ich nicht. Ich bin nicht so gerne oben. Wenn man irgendwo oben ist, könnte man herunterfallen.«

»Da hast du natürlich recht«, sagte Marla. »Willkommen bei uns, Kalli. Hast du noch irgendeine wichtige Frage?«

»Ja«, sagte Kalli. »Warum sind deine Haare so unordentlich?«

Marla musste lachen. Jeden Morgen versuchte sie, ihre langen Haare mit vielen Haarklammern kunstvoll hochzustecken, und jeden Abend war die Hälfte der Klammern aus ihrem Haarkunstwerk herausgefallen.

Marla pustete die lange Strähne beiseite, die ihr immer vor dem linken Auge hing, genau wie bei Oma Babett. »Na ja«, sagte sie zu Kalli. »Das liegt daran, dass ich überall immer ein paar Haarklammern verliere, deswegen hängen abends manche Teile von meiner Frisur herunter.«

Kalli blickte sie mit ernster Miene an, zog seine linke Faust unter der Decke hervor und legte sie behutsam auf ihr Knie.

»Was hast du denn da drin, in deiner Hand?«

Die Faust öffnete sich, und zum Vorschein kamen vier Haarklammern. »Hab ich gefunden. Eine im Bad, eine im Flur und zwei auf der Treppe.«

Ende der Leseprobe