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Halle an der Saale in den Jahren 1700/1701. Alles läuft auf Ostern hinaus. In nur wenigen Wochen muss Magdalene ihr Leben ordnen: das Ultimatum der Krämer-Innung erfüllen, den verschwundenen Studenten Caspar finden und entscheiden, was sie von den Experimenten ihres Gesellen halten soll. Könnte das unerwartete Treffen mit ihrer jüdischen Freundin Esther der rettende Neuanfang sein?
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HISTORISCHE HINTERGRÜNDE: GLIKLS GESCHICHTE
HISTORISCHE HINTERGRÜNDE: GASTHÖFE IN HALLE
LESEPROBE AUS »JAKOBS GEHEIMNIS«
Magdalene Rehnikel strich sich eine kastanienbraune Locke aus der Stirn. Immer wieder wollte dieses widerspenstige Ding aus der Haube rutschen! Sie seufzte und sortierte die Schalen auf ihrem Tisch neu: Canariwurz, Spanische Kreide, Gummi arabica, die Päckchen mit der Seife. Waren das nicht viel zu wenige Spezereien? Die Gewürze hatte sie nicht mitnehmen können, die brauchten eine Feinwaage. Vielleicht sahen die Leute nur nicht richtig, was sie anzubieten hatte? Hätte sie den Tisch vielleicht ein Stück weiter vorn aufbauen sollen? Aber der Marktmeister hatte sie hierher, zu den Gemüsehändlern, geschickt. Sie gehöre nicht zu den Krämern mit irdenen Waren, auch nicht zu den Wollkrämern und den Lederhändlern.
Und überhaupt, was sie sich einbilde – Spezereien auf einem Marktplatz! Wo habe man so etwas schon gehört!
Magdalene achtete nicht auf sein Schimpfen und tat, was sie sich ausgedacht hatte. Es musste doch zu schaffen sein, dass ein bisschen Geld in die Kasse kam!
Der Himmel versprach einen sonnigen Tag, das Blau vertiefte sich von Stunde zu Stunde. Dieser Juni im Jahr des Herrn 1700 war ein freundlicher, er ließ das Getreide auf den Feldern mit Regen und Sonne im Wechsel gut wachsen, und für den Markttag hatte er angenehme Wärme mitgebracht. Seit dem morgendlichen Ruf der Betglocke stand Magdalene hier, nachdem der missmutige Jakob ihr die Warentaschen und den Tisch hinterhergetragen hatte und wieder gegangen war. Ihr Geselle hielt ebenso wenig von ihrem Plan wie der alte Marktmeister. Natürlich hatte noch nie jemand auf dem Halleschen Marktplatz Spezereien verkauft. Warum auch? Es gab ja den Laden, das Geschäft ihres seligen Georg. Dorthin gingen die Leute, wenn sie etwas brauchten, was die Apotheken nicht boten und die Mode oder das Geschäft dennoch verlangte. Nur, dass immer weniger Leute kamen, seit Georg nicht mehr lebte.
Sie atmete auf, als eine Bäuerin aus Seeben auf ihren Stand zuschlenderte. Es war eine runzlige Alte, die nicht nach viel Geld aussah. Aber man wusste nie, manchmal wollten gerade die Alten sich etwas leisten und legten dafür ihre Ersparnisse auf den Tisch.
»Rehnikelin«, krächzte die, »habt Ihr Löcher im Dach, dass Ihr neuerdings nicht mehr in Eurem Laden verkaufen könnt?«
Magdalene lächelte. »Aber nicht doch! So ein Laden ist wunderbar, man hat ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet und die Waren liegen trocken und sicher. Bloß ist es ein bisschen einsam da. Ich wollte gern dort sein, wo etwas los ist.«
Die Alte entblößte ihren einzigen Schneidezahn. »Kommt wohl keiner mehr zu Euch?«
Ihr Erröten verbarg Magdalene, indem sie die Kopf senkte. »Doch, doch! Aber als Händlerin muss ich mich zeigen, damit die Leute sehen, was für schöne Sachen ich zu verkaufen habe. Sehr doch hier: die Indische Seife! Jeder in Halle will sie haben. Sie kann alles viel weißer waschen als ihr je gesehen habt.«
»Jeder? Ich sehe keinen. Und meine Seife mach ich selbst. Das Weiße ist was für Stadtleute, nicht für solche wie uns. Wie kommt es denn, dass Ihr Zeit habt, Euch auf den Markt zu stellen? Man hört, Ihr könnt Euch keine Magd mehr leisten. Wer macht Euch den Haushalt, und wer kümmert sich um die Kinder?«
»Macht Euch keine Sorgen um mich, das schaffe ich schon.«
Die Alte lächelte gütig, als ob sie Mitleid hätte. »Wollt auch nichts gesagt haben. Steht mir ja nicht zu, einer Bürgerin zu sagen, wie sie ihre Pflichten erfüllt. Wünsch Euch einen schönen Tag, Rehnikelin!«
Magdalene biss sich auf die Lippen, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Das boshafte Weib würde ihr ja doch nichts abkaufen, es nützte nichts, ihr einen guten Preis für die Seife hinterherzurufen.
Neben ihr an den Ständen der Bauern aus den Vororten wurde das Gedränge größer. Es ging auf Mittag zu, die Mägde kauften Zwiebeln, Kohl, Rapünzchen. »Indische Seife!«, rief Magdalene laut. »Hier gibt es die beste Seife vom Hof des Kurfürsten! Indische Seife!«
Eine Seilersfrau trat näher. »Ein Stück von Eurer Seife, was kostet das?«
»Einen Groschen, gute Frau.«
»Einen Groschen! Da mache ich mir doch lieber meine Seife selbst.«
»Es ist eine ganz besondere Seife. Ihr werdet staunen, wie weiß Eure Wäsche werden kann!« Magdalene hob ihre weiße Schürze an, die sie extra für den Markt aus der Truhe geholt hatte.
»Aber einen Groschen, nein, das ist zu viel.«
»Acht Pfennige, nur für Euch.«
»Vier.«
»Um Gottes Willen, wollt Ihr mich an den Bettelstab bringen? Sieben.«
»Vier, oder ich gehe wieder. Es herrscht ja wohl kein Andrang, dass Eure Seife so etwas Besonderes sein kann.«
»O doch, die Leute haben sie nur alle schon gekauft.«
»Vier.«
»Sechs, aber weiter herunter kann ich nicht gehen.«
»Vier.«
»Gut. Fünf, das ist mein letztes Wort.«
Die Seilerin zog ihre Börse hervor und zählte ihr fünf Pfennige in die Hand, nahm das Päckchen Seife entgegen und verschwand grußlos. Fünf Pfennige für etwas, das schon allein an Zutaten und Verpackung vier kostete. Jakob hatte ihr eingeschärft, die Seife niemals unter acht Pfennige zu verkaufen. Aber es war ein Anfang. So war es auf den Märkten immer: Zuerst musste ein gewisser Andrang entstehen, dann kamen noch mehr Menschen.
Aber Andrang gab es nur woanders. Manche Leute schlenderten vorüber, warfen neugierige Blicke auf ihre Auslagen, niemand blieb stehen. Magdalenes Rufe, am Morgen noch voller Zuversicht, verklangen am Nachmittag müde. Der Himmel zog sich zu, Wolken bedeckten ihn, es sah aus, als könnte es noch regnen. Bei Regen sofort alles einpacken, hatte ihr Jakob eingeschärft. Spezereien vertragen keine Feuchtigkeit, die Wurzeln ziehen Wasser und verderben, das Pulver klumpt und die Seife löst sich auf.
Magdalene schaute nach oben. Noch war Zeit. Vielleicht kamen jetzt ein paar Leute und kauften. Aber gerade das Gegenteil geschah, der Marktplatz leerte sich, die abendliche Betglocke bimmelte, nicht einmal mehr Neugierige näherten sich. Die Bäuerin am Nebentisch räumte ihre Sachen zusammen. »Nehmt’s nicht so schwer, Rehnikelin«, brummte sie. »Manchen Tag ist das eben so.«
Magdalene dankte und schluckte. Jakob hatte es vorhergesagt, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Spezereien passen nicht auf einen Marktplatz, sie brauchen Geduld und Ruhe und vor allem ein Dach. Warum musste dieser alte Rechthaber auch immer vorhersehen, was geschah! Sie sah zu, wie die Bäuerinnen einpackten, aber sie konnte das noch nicht. Sie würde als letzte gehen, um sich nicht die kleinste Möglichkeit entgehen zu lassen.
Von fern sah sie eine füllige kleine Frau näherkommen, deren dunkles Habit die Jüdin verriet. Esther? War das Esther Wolf?
Esther hielt auf sie zu und lächelte. Ihre buschigen, dunklen Brauen hüpften. In ihrer mit jiddischem Klang versetzten Sprache sagte sie: »Ich grüße Euch, Witwe Rehnikel. Wie geht es Euch, habt Ihr gut verkauft?«
Magdalene schüttelte den Kopf. Esther musste sie nichts vormachen. »Fünf Pfennige. Das war alles. Für einen ganzen Tag von morgens an.«
Esther schüttelte den Kopf, ihr Doppelkinn wackelte. »Fünf Pfennige! Wie furchtbar! Das tut mir leid. Aber für Spezereien ist ein Marktplatz nicht das Richtige. Ihr erweckt sonst den Eindruck des Gewöhnlichen, dabei sind Spezereien doch etwas Besonderes.« Esthers Sprache merkte man an, dass sie kaum einmal Deutsch redete. Sonst benutzten die Frauen und Mädchen der Juden untereinander ihre eigene Sprache, und Magdalene war froh, dass Esther sich die Erlaubnis zum Deutschlernen von ihrem Mann ertrotzt hatte. Kleinlaut antwortete sie: »Ja, genau das hat mein Geselle auch gesagt. Aber was soll ich machen? Die Leute kommen nicht in den Laden.«
»Nun …«, Esther zögerte, »es könnte sein, ihnen fehlt das Vertrauen, seit Euer Mann nicht mehr unter uns ist.«
»Aber ich … mir gehört jetzt der Spezereienhandel. Ich führe ihn weiter.«
Esther blieb ernst, ihr Doppelkinn stand still. »Ihr seid nicht Mitglied der Innung. Mein Mann sagt, dass sie sich dort beinahe überworfen haben nach Eurem Antrag.«
»Ich habe den Bescheid mit der Ablehnung bekommen, aber ich werde widersprechen. Heute, spätestens morgen schreibe ich den Brief an die Innung. Mein Onkel ist Jurist, der hat mir versichert, dass dies aufschiebende Wirkung hat. Solange sie darauf nicht antworten, darf ich den Handel weiterführen.«
»Sie werden wieder ablehnen. Dann gibt es keinen Aufschub mehr.«
»Nein! Das dürfen sie nicht! Wovon soll ich sonst leben? Und meine Kinder?«
»Ihr vermietet doch Kammern. Das bringt sicher ein paar Taler.«
»Ja, zwei Studenten habe ich im Logis.« Magdalene wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Davon leben wir jetzt. Der Handel bringt kaum noch etwas ein.«
»Na also. Ihr werdet immer einen Weg finden, so habe ich Euch kennen gelernt.«
Magdalene atmete tief ein. »Meine Situation hat sich also schon bis zu Euch herumgesprochen?«
Die Jüdin legte ihr die Hand auf den Arm. »Das ist doch kein Wunder. Halle ist klein und mein Mann muss immer wissen, mit wem er sich einlässt.«
»Aber er kann es nicht verstehen, und auch die Innungsmeister nicht. Es sind Männer. Wäre ich auch einer, hätten sie mich längst in die Innung aufgenommen. All das Elend nur, weil ich eine Frau bin!«
»Grämt Euch nicht. Auch Frauen können erfolgreich handeln. Meine Tante Glikl zum Beispiel ist eine großartige Händlerin. Sie hat es geschafft.«
Magdalene sah sich um. Rings um sie waren jetzt alle Tische fort, kaum noch Menschen spazierten über den Markt. Dunkle Wolken hingen über der Marktkirche.
»Würdet Ihr mich begleiten? In meiner Küche kann ich Euch mehr erzählen.«
Esthers Blick wanderte unruhig. »Ich weiß nicht … aber andererseits … man hat uns sowieso zusammen gesehen. Ihr wisst doch, bei uns hat man es nicht gern, wenn wir mit den Einheimischen Umgang pflegen.«
»Ich denke, Euer Mann muss im Bilde sein, was in der Stadt passiert?« Magdalene zwinkerte Esther zu.
So kam es, dass eine halbe Stunde später in Rehnikels Küche eine Fremde am Tisch saß, von den Kindern neugierig beäugt. Jakob ließ sich nicht blicken. Vor Esther stand ein Kamillensud. »Lange kann ich nicht bleiben, es ist Zeit für das Abendgebet, aber die Geschichte meiner Tante soll Euch trösten. Sie ist die berühmteste Edelsteinhändlerin von Hamburg. Also hört.«
Esther sprach, ihre dunklen Brauen hüpften, und Magdalene hörte zu.
Glikl – Magdalene musste sich erst an den seltsamen Namen gewöhnen – war eine Base von Esthers Mutter, und unter den Juden hielt man enge Verbindung selbst über große Entfernung hinweg. So hatte sich Glikls Schicksal auch nach Halle herumgesprochen. »Tante Glikl hat eine gute Ehe geführt mit Chaim, ihrem Mann. Er hat sich bei ihr in seinen Geschäften Rat geholt. Er war Edelsteinhändler und musste oft nach Amsterdam reisen, und Tante Glikl hat viele Kinder bekommen. Trotzdem hatte sie immer ein offenes Ohr für seine Angelegenheiten. Als Chaim starb – das war vor elf Jahren – sah sie zum ersten Mal die Bücher, und sie erkannte, dass sie über und über verschuldet waren, denn Chaim hatte viele Außenstände, und die Leute glaubten, seine Witwe um die ihr zustehenden Zahlungen betrügen zu können. Es geht die Rede von 20.000 Talern, und das ist so viel, dass andere sich deshalb einen Strick genommen hätten. Freunde waren auf einmal keine mehr, sie meinten, die Familie sei verarmt. Tante Glikl hat sich davon nicht abschrecken lassen. Sie hat eine Auktion bekanntgegeben und all ihren Besitz verkauft, und das brachte ihr genug Bargeld, dass sie sämtliche Schulden tilgen und davon einen neuen Handel anfangen konnte. Mit ihrem Söhnen zusammen hat sie eine Strumpfwirkerei gegründet und den Edelsteinhandel weitergeführt, den Onkel Chaim begründet hat. Sie reist zu Messen, handelt erfolgreich und führt ein wohlhabendes Haus.«
»Eure Tante könnte wahrhaftig ein gutes Vorbild für mich sein, besonders, nachdem sie bewiesen hat, dass sie gut alleine leben und einen Handel führen kann.«
Esther lächelte nachsichtig. »Tante Glikl ist jetzt Mitte fünfzig. Sie schreibt, das Reisen falle ihr schwerer als früher und die dauernde Gefahr von Rückschlägen zermürbe sie. Es kann sein, dass sie eines Tages auch Ruhe sucht und sich wieder einen Mann nimmt.«
»Das kann ich verstehen. Aber heiraten möchte ich nicht, bloß um meine Ruhe zu haben. Ich möchte aus Liebe heiraten, wenn ich es noch einmal tue.«
Esther lächelte. »Liebe? Ich würde nicht darauf bestehen. Gefühle wandeln sich. Jedoch mit Weisheit geschlossen, kann eine Ehe Euch weiterbringen.«
Gottfried Gutenbrunner räusperte sich und schlug die Augen nieder. Er faltete die Hände, machte eine kunstvolle Pause wie jedes Mal und sagte: »Vater, segne diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise.«
»Amen«, murmelte Magdalene Rehnikel. Jakob, die Kinder und Caspar Ostenhöfer begannen sofort zu löffeln, aber Gottfried schien das Gebet im Stillen zu verlängern. Er nahm die Hände erst auseinander, als alle anderen schon die halbe Schüssel geleert hatten, griff nach dem Löffel und aß gemessen den ersten Happen.
»Gutenbrunner, aus dir werde ich nicht schlau«, sagte Caspar.
»Wieso?« Gottfried hielt inne.
»Hast du keinen Hunger?«
»Doch, ich habe großen Hunger, aber ich kann das Essen erst genießen, wenn ich dem Herrn ausreichend gedankt habe.«
Caspar verdrehte die Augen. Er strich sich mit der Linken das dunkelbraune Haar aus der Stirn, das schon wieder zu lang gewachsen war. Magdalene beobachtete, wie er der kleinen Grete zuzwinkerte, bevor er in einem gespielt naiven Tonfall zu Gottfried sagte: »Ist es nützlich für den Glauben, wenn man ein bisschen länger hungert?«
Er sprach mit dem anziehenden Dialekt Königsbergs, wo sein Vater Professor der Philosophie, Konsistorialrat, Doktor der Theologie und Pfarr-Adjunkt war. Dort sprachen sie »ein bisschen« aus wie »ejn bäsjen«. Magdalene erinnerte sich an seinen Vater, der seine Sätze oft begann mit: »Mein Sohn Caspar«, aber in seiner Sprache hieß das: »Mejn Sohn, wos de Caspar is«, und Grete kicherte dazu. Caspars Stimme klang dunkel und ruhig, und seinem Reden nach hätte man ihn für Mitte Zwanzig halten können. Dabei war er nicht älter als achtzehn.
»Ihr sollt Gottfried nicht provozieren.« Magdalene war gezwungen einzugreifen, wenn Caspar es zu arg trieb. Als Quartierherrin musste sie auf Moral und Anstand ihrer Studenten achten, also auch darauf, dass sie sich untereinander vertrugen. »Gottfried versteht vom Gotteslob mehr als wir alle zusammen. Also lasst ihn tun, was er für richtig hält.«
Caspar hob den Kopf und grinste. »Aber ja doch, Witwe Rehnikel. Mach ich. Ich werde doch keinen Theologiestudenten belehren, wie er zu beten hat.«
Gottfried spitzte die Lippen. »Du könntest stattdessen ein paar Lehren von mir annehmen. Einem Jurastudenten steht es auch gut zu Gesicht, wenn er Gottes Wort kennt. Meinst du nicht, du könntest es für dein künftiges Leben gut gebrauchen?«
Magdalene atmete tief ein und wieder aus. Es gab keinen größeren Gegensatz als den zwischen diesen beiden, die sie ins Logis zu sich genommen hatte. Gottfried war blass und zart, hatte blonde, zerfranste Haare und ein kleines Bärtchen über der Oberlippe. Bärte waren unmodern, aber erstens scherte ihn die Mode nicht und zweitens hatte er Angst vorm Rasieren, bei dem er sich schrecklich ungeschickt anstellte. Er besaß die schrille, abgehackte Stimme eines Sperlings, seine dünnen Glieder schlackerten in jeder Kleidung. Er verweigerte das Waschen am Brunnen, aber er würde auch zu keiner Zeit ins Schwitzen kommen. Er putzte sich nicht auf wie Caspar, suchte keinerlei Zerstreuung und trank niemals Bier. Essen konnte er wie ein Bauer, und Magdalene war es ein Rätsel, wohin er die Mengen schaufelte. Auf seinen Rippen saß kein Gramm Speck.
Caspar dagegen war kräftig und trug die geckenhaftesten Kleider, die Magdalene kannte: eine vor der Brust gebundene Schleife, Jabot genannt, aus feinem weißen Stoff mit Spitzen, dazu lange Rüschen an den Ärmeln des Hemdes. Caspar konnte laut und grölend singen, während Gottfried seine Stimme kaum über ein mahnendes Zischen hinaus erhob. Beider Zukunft lag klar vor ihnen: Gottfried würde Pfarrer in irgendeiner Landgemeinde werden, Caspar strebte einen Posten bei Hof an, wo sein Vater an der Karriere seines Sohnes arbeitete, seit der Junge geboren war.
Das tägliche Geplänkel der beiden war eine Prüfung für die Geduld eines jeden Christenmenschen, aber manchmal, wie an diesem Tag, war es kaum zu ertragen. Seit Gottfried und Caspar an Ostern des vergangenen Jahres zu ihr ins Logis gekommen waren, saßen am Tisch zwei Personen mehr beim Essen, aber es waren zwei, die Aufregung für zehn machten. Von der ersten Stunde an war offensichtlich gewesen, dass sie einander nicht mochten. Caspar Ostenhöfer, im zweiten Semester der Juristerei, blieb von morgens bis abends dem Frohsinn aufgeschlossen, während Gottfried der ernsthafteste Mensch war, den Magdalene kannte.
Studenten brachten ein willkommenes Zubrot für jeden, der ein Haus mit Zimmern zur Vermietung besaß, seit die Universität wuchs und wuchs. Jeder wollte einen oder zwei Studenten unterbringen und bekochen, weil das die Haushaltskassen füllte. Magdalene brauchte das Geld dringend, und sie brauchte die gutsituierten Studenten, die am meisten zahlten. Deshalb musste es bei ihnen feiner zugehen als anderswo. Sie hielt die Tischgebete ein, putzte täglich das Geschirr und benutzte sogar Gabeln beim Essen. Magdalene hoffte, das genügte den Ansprüchen der feinen Herrschaften.
Sie hob den kleinen Albrecht von ihrem Schoß. Albrecht war ihr jüngstes Kind, konnte schon flink laufen und schlief tagsüber kaum noch ein halbes Stündchen. Der Kleine stellte sich auf seine Füße und hangelte sich an der Bank entlang zu seiner Schwester Grete. Grete legte den Löffel weg und griff nach Albrechts Hand. Mochten die beiden spielen gehen. Mit ihren sechs Jahren sollte Grete nicht die Schüsseln abräumen müssen, sondern ein bisschen Zeit für sich haben, noch dazu, wo sie ein schönes Mädchen zu werden versprach. Ihr kastanienbraunes Haar lockte sich bis über ihre Schultern, wenn sie sich kämmte, und ihre großen grauen Augen leuchteten. Hans, der Älteste von Magdalenes drei Kindern, war zehn. Sein dunkler Blick flog meist verträumt aus dem Fenster, aus dem er sich fortwünschte, wohin, das mochte der Himmel wissen.
Es war ein heller Abend. Bis zum Sonnenuntergang blieb mehr als eine Stunde, und Hans würde hoffen, nach dem Essen noch einmal hinausgehen zu können, aber daraus würde nichts werden. Zu viel war unerledigt geblieben. Der Junge würde sich um den Destillierapparat kümmern müssen, was er nach der Schule versäumt hatte. Der wichtigste Apparat in ihrem Labor musste jeden Tag geputzt werden, und Hans als künftiger Lehrling sollte diese Arbeit so gut beherrschen wie kein anderer. Jakob hatte im Laden so viel zu tun, dass jede Hilfe gebraucht wurde, also auch die des künftigen Spezereienhändlers Hans Rehnikel, selbst wenn es noch Jahre dauerte, bis er den Handel übernahm.
Caspar stand auf. »Ich geh dann mal, Witwe Rehnikel«, sagte er und grinste. Er grinste stets. Magdalene fiel es schwer, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Sie raffte sich auf und rief: »Aber kommt nicht wieder betrunken heim. Das nächste Mal schleppe ich Euch nicht die Treppe hinauf, dann schlaft Ihr in der Küche auf der Bank.« Caspar lachte, riss sein Jabot von der Stuhllehne und band es sich um. Im Gehen antwortete er: »Wie werd’ ich denn«, und schon klappte die Tür hinter ihm.
Gottfried schüttelte den Kopf. Magdalene konnte sich nicht erklären, warum sie dem blassen Kerl dafür am liebsten eine Ohrfeige versetzt hätte, weil er eigentlich recht hatte. Als er dann noch sagte: »Caspar ist ein schwerer Sünder«, platzte ihr der Kragen. »Meint Ihr nicht, lieber Gottfried, dass es Hochmut ist, wenn man sich selbst für sündenfrei hält?«
Gottfried senkte den Blick. »Nein, in meinem Fall nicht. Ich werde niemals der Trunkenheit verfallen.« Da wünschte sich Magdalene fast, Caspar könnte dem Kerl das Gegenteil beweisen.
Hans stand auf und fragte: »Darf ich …?« Aber Magdalene hatte keine Lust, irgendein Zugeständnis zu machen. »Nein!«, sagte sie scharf. »Du darfst nicht. Du gehst ins Labor und putzt den Destillierapparat.« Hans ließ den Kopf hängen und verschwand in Richtung Laden, hinter dem das Labor lag.
»Ich hätte das auch machen können, Frau Magdalene«, sagte Jakob leise. Er hielt den haarlosen Kopf gesenkt, und seine Ohren hingen herab. Der Geselle war fünfundfünfzig, doppelt so alt wie seine Herrin und der Einzige, der noch im Spezereienhandel arbeitete, seit sie Witwe geworden war. »Frau Magdalene« nannte er sie, distanziert genug, aber persönlicher als es einem Dienstmann zustand. »Lasst doch den Jungen spielen, er ist noch ein Kind.«
Sie senkte die Stimme und näherte sich ihm bis auf eine Elle, damit sie ruhig sprechen konnte. »Dieses Urteil steht Euch nicht zu, Jakob. Er ist mein ältester Sohn und wird eines Tages mit Euch zusammen im Laden stehen. Also überlegt Euch gut, ob Ihr den Jungen davon abhalten wollt, die Spezereien kennenzulernen.«
Caspar Ostenhöfer lachte. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Das ist …«, er japste nach Luft, »das ist der beste Witz, den ich seit langem gehört habe.«
Sein Kommilitone schlug ihm auf die Schulter und schob den Humpen quer über den Tisch auf Caspar zu. »Nein, ehrlich, das ist kein Witz. Gottfried hat behauptet, niemand könne ihn dazu bringen, Bier zu trinken.«
»Der dumme Kerl will sich doch nicht etwa mit mir anlegen?«
»Das hat er nicht deinetwegen gesagt. Ich habe gehört, wie er es einem Theologen sagte, den er beim Biertrinken erwischt hat. Dem hat er die Leviten gelesen, dann fragte der andere, ob er denn nie Bier trinkt, und Gottfried hat gesagt, nein, nie.«
Caspar lachte noch einmal. »Ich weiß warum. Der hat Angst! Der verträgt kein Bier und will sich nicht blamieren. Der fällt ja schon von einem lauten Wort um, geschweige denn von einem starken Getränk.«
Von der anderen Seite rief einer: »Du willst doch nicht sagen, das Bier hier wäre stark?«
»Das nicht.« Caspar grinste. »Aber zu stark für Gottfried allemal. Da braucht es nicht viel mehr als Wasser, und schon fällt dieser Angsthase in Ohnmacht. Wetten, dass ich ihn betrunken machen kann?«
Der andere winkte ab. »Das ist eine blöde Wette. Du kennst Gottfried besser als wir, du bist mit ihm im Quartier. Da ist es keine Kunst.«
»Aber ein schöner Spaß wäre es. Was meint ihr, wenn unsere Quartierwirtin den Gottfried betrunken sieht? Was wird sie sagen? Gottfried, ausgerechnet von dir hätte ich das nicht gedacht! Böser Gottfried!«
»Bist du nicht bei Witwe Rehnikel im Quartier? Die ist nicht so, die hilft dem Gottfried noch die Treppe rauf statt zu schimpfen.«
Caspar grinste und nickte. »Spaß würde es trotzdem machen, Gottfried auf allen vieren zu sehen.« Er hob den Humpen und leerte ihn auf einen Zug, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und ergänzte: »Morgen Abend bringe ich ihn mit. Ihr werdet schon sehen, wie ich das mache. Brigitta!« Er drehte sich um und hob den Humpen hoch. »Brigitta, machst du mir noch eins?«
Brigitta ließ vom Wirt hinter dem Tresen ein Bier zapfen und brachte es zum Tisch. Sie stellte den schweren Krug ab und strich ihre blonden Haare zurück unter die Haube. Caspar schlang seinen Arm um die Taille des Mädchens. »Gib mir einen Kuss, Brigittchen.«
Brigitta schlug nach seinem Arm, aber das brachte Caspar nur dazu, fester anzupacken. »Lass mich los«, rief sie ärgerlich. Sie war eine der Töchter des Wirts und noch keine zwanzig. Ihre rosigen Wangen, ihre leuchtend blauen Augen und ihre glatte weiße Haut hatten dem Wirt schon eine Menge Umsatz gebracht. Er wusste genau, welche seiner Töchter er die Gäste bedienen ließ und welche nicht, denn es gab noch genug Arbeit in der Küche und auf dem Hof. Nicht zuletzt ihretwegen traf sich Caspar mit seinen Kommilitonen ausgerechnet im Goldenen Löwen von Neumarkt.
Brigitta warf einen flehenden Blick zu ihrem Vater, der ungerührt weiter Bier zapfte. Der Mann gab vor, die Szene nicht zu bemerken, und Caspar packte noch einmal an die Brust des Mädchens, bevor er sie losließ. Brigitta rannte zum Tresen zurück. »Vater«, klagte sie.
»Jetzt hab dich nicht so, Mädchen«, hörte Caspar den Wirt brummen.
Caspar grinste. Die beiden anderen zwinkerten ihm zu. »Die hast du bald im Sack«, flüsterte der eine.
»Neidisch?«
»Ach was«, log der.
Das Mädchen verließ die Schankstube, obwohl ihr Vater schimpfte. Caspar stand auf. »Um was wetten wir, dass ich Gottfried morgen betrunken mache? Hier im Goldenen Löwen? Um die Zeche für den ganzen Abend, ja?«
»Um die Zeche, gut. Du bringst Gottfried mit, und wenn er nicht kommt oder nüchtern bleibt, zahlst du den Abend.«
»Morgen Abend, bei Einbruch der Dunkelheit im Goldenen Löwen. Ihr zahlt die Zeche, wenn er betrunken unter dem Tisch liegt.«
Die Hände schlugen ein.
Gottfried faltete die Hände. Er spürte die harten Kiesel unter seinen Knien und rückte ein Stück vor, damit sie ihn mehr piekten. Je mehr es wehtat, umso besser war es für die Läuterung. Das war seine Mission: Er brachte dem Herrn seine Schmerzen zum Opfer und der würde ihn dafür eines Tages von all seinen Sünden erlösen.
Sünden gab es so viele auf dieser Welt. Am Morgen hatte er wieder den überheblichen Caspar ertragen müssen. Der Kerl schlief bis zum letzten Augenblick, und selbst wenn die Meisterin ihren Sohn zum dritten Mal schickte, ihn zu wecken, drehte er sich wieder um und grunzte bloß. Gottfried hatte die richtige Methode gefunden. Jeden Abend holte er einen Becher kaltes Wasser vom Hof und stellte ihn neben sein Bett, damit er, wenn Caspar nach dem dritten Weckruf immer noch nicht aufgestanden war, den Kerl Mores lehren konnte. Er beendete auch dieses Mal sein Morgengebet in aller Ruhe, ging in die benachbarte Dachkammer und stellte sich vor Caspars Bett. »Ostenhöfer«, sagte er. »Wenn du nicht sofort aufstehst, tue ich es.«
»Lass es«, brummte Caspar.
»Ich tu’s.«
»Wag’s nicht«, kam es drohend zurück.
Fünf Mal hatte Gottfried schon den Becher in Caspars Nacken ausgekippt. Fünf Mal war Caspar langsamer gewesen, weil er erst aus dem Bett springen und die feinen Füße in Pantoffeln stecken musste, bevor er Gottfried nachrennen konnte. Bis er so weit war, saß Gottfried längst unten bei der Meisterin am Küchentisch, wo Caspar sich nicht mehr rächen konnte.
Dieses Mal war Caspar schneller. Als Gottfried den Arm mit dem Becher ausstreckte und sich über Caspar beugen wollte, fuhr dessen Fuß unter der Decke hervor. Der Becher flog aus Gottfrieds Hand, traf sein Gesicht, das Wasser spritzte über sein Hemd und Gottfried heulte auf, weil der Becher seine Lippe getroffen hatte. Er sank gegen die Tür und presste seine Hand auf die schmerzende Stelle.
Caspar stand langsam auf und lachte. »Da staunst du, was, Gutenbrunner? Mich besiegst du nicht. Sieh dich an, dein Hemd ist nass. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.«
»Du bist ein Sünder!«, rief Gottfried. »Dich kann niemand mehr vor dem Fegefeuer retten, so ein Sünder bist du!«
Caspar beugte sich über Gottfried und stemmte links und rechts von dessen Kopf die Handflächen gegen das Türblatt. »Doch, Gottfried, du könntest mich retten«, sagte er, und mit einem Mal klang seine Stimme fremd und freundlich.
»Was?«
»Du könntest mich retten, Gottfried, du allein. Aber du willst nicht.«
»Hör auf mit deinen lästerlichen Reden.«
»Das ist die Wahrheit, Gottfried.« Caspar hob zwei Finger zum Schwur. »Wenn du mir beistehen würdest, könnte ich der Trunksucht widerstehen. Aber so, du weißt doch, in Gesellschaft all der saufenden Juristen, wie soll ich da nicht schwach werden?«
Verwundert blinzelte Gottfried. »Du willst dem Trinken entsagen?«
»Ja, das würde ich«, antwortete Caspar ernst, »wenn du bereit wärst, mir zu helfen. Glaubst du nicht, dass ich eines Tages ein verantwortungsbewusster Beamter unseres Kurfürsten sein möchte? Wie könnte ich da saufen? Irgendwann muss ich das Neinsagen lernen, aber allein schaffe ich es nicht. Hilf mir, Gottfried.«
»Ja, aber …«
»Ein so starker Charakter wie du, Gottfried, kann mich retten. Ein Schwächerer als du könnte es nicht.«
Gottfried schnappte nach Luft. »Wie … wie hast du dir das vorgestellt?«
»Steh mir bei«, flüsterte Caspar, »wenn ich das nächste Mal meine Kommilitonen treffe, heute Abend, dann steh mir bei. Komm mit und lehre mich, wie es ohne Bier den Abend auszuhalten gilt.«
»Dazu wärst du bereit?« Gottfried riss die Augen auf.
Caspar nickte ernst. Er nahm sein Schnupftuch und begann, die nassen Stellen an Gottfrieds Hemd abzutupfen. »Es tut mir leid, das mit dem Becher, Gottfried«, sagte er.
»War doch nur Wasser«, murmelte Gottfried.
Brigitta, drei Bier!«, rief Caspar. Im Goldenen Löwen war es voll, fast jeder Platz auf den Bänken besetzt und in der Tür standen mehrere Fuhrleute. In der Gaststube lag Dunst, Rauch aus einigen Pfeifen drang von einem Tisch in der Ecke hinüber, der Herd in der Küche qualmte. Am Nachbartisch spielten ein paar Männer Karten und grölten bei jedem Trumpf.
Gottfried zog den Kopf ein und legte Caspar die Hand auf den Arm. »Caspar, du wolltest dem Bier widerstehen. Warum hast du drei Bier bestellt?«
»Ach Gottfried, da hat mich schon wieder der Teufel geritten. Ich danke dir, dass du mir hilfst. Beinahe hätte ich einen großen Fehler gemacht und das Bier getrunken.«
Brigitta kam mit drei Humpen und stellte sie auf dem Tisch ab. »Eins kannst du wieder mitnehmen«, flüsterte Gottfried. Er wagte nicht, den Blick zu dem schönen Mädchen zu heben, blieb aber mit den Augen an ihrem Dekolleté hängen. »Was hat er gesagt?«, fragte Brigitta.
»Dass du deine Brust wieder mitnehmen sollst, weil er sonst reinfällt«, sagte einer von Caspars Kommilitonen.
Gottfrieds Gesicht überzog sich mit einer flammenden Röte, und Brigitta verschwand mit Ärger in den Mundwinkeln. Die beiden anderen lachten und begannen zu trinken, und auch Caspar streckte seine Hand aus. »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte Gottfried sanft.
Caspars Blick wirkte beinahe unschuldig. »Oh, diese Versuchung! Ich kann kaum ertragen, das Bier so nahe bei mir zu sehen.«
»Dann gieß es aus, auf den Boden.«
»Bist du verrückt? Gottes Werk vergeuden? Er hat den Hopfen wachsen lassen und den Menschen Kraft gegeben, dass sie ihn ernten und brauen, und ich soll das gute Bier ausgießen? Das ist Gotteslästerung, das bringe ich nicht fertig.«
»Ja, du hast …« Gottfried sammelte sich, »… auf eine gewisse Weise recht.«
»Es ist schrecklich, Gottfried.« Über Caspars Gesicht zuckte ein Lachen, das er sofort herunterschluckte. »Solange diese Versuchung vor mir steht, werde ich nicht lernen, stark zu werden. Du musst mich retten, Gottfried. Opfere dich, ich flehe dich an.«
»Was?« Gottfried sah sich verwirrt um. »Was soll ich?«
Caspars Stimme wurde weich. »Wenn du dich opferst, Gottfried, und diese Versuchung aus meinem Weg räumst, dann habe ich es überstanden. Wenn du das ekelhafte Gesöff für mich vertilgst wie weiland Gott der Herr mit seinen Flammen die sündige Stadt Babel, dann hilfst du mir, meiner Erlösung näherzukommen.« Er legte Gottfried die Hand auf den Arm und rückte näher. »Rette mich mit deinem Opfer, Gottfried.«
Gottfried riss die Augen auf und starrte Caspar an. »Ich soll … ich soll an deiner Stelle, meinst du? Das Opfer? Ich soll …«
»Ja, ich flehe dich an!«
Gottfried schluckte und heftete seinen Blick auf den Krug. Der Schaum auf dem Bier war dünn geworden, es sah beinahe aus wie der Aufguss aus Kräutern, den die Meisterin morgens trank.
Er streckte die Hand aus. »Auf dass der Herr uns die Sünden vergibt und von jedem Unrecht reinigt«, murmelte er. Dass Caspar seinen Kommilitonen zuzwinkerte, sah er nicht. »Rette mich«, murmelte Caspar noch einmal und sah zu, wie Gottfrieds Arm unter dem schweren Krug zitterte.
Gottfried setzte den Humpen an die Lippen und schloss die Augen beim Trinken. Er setzte zwischendurch nicht ab, trank und trank, und an seinen Mundwinkeln liefen zwei dünne Rinnsale von Bier herab.
»Donnerwetter«, flüsterte einer der beiden Kerle, die mit Caspar gekommen waren. »Der hat einen Zug drauf, das könnte ich auch nicht besser.«
Als Gottfried den leeren Humpen absetzte, entfuhr ihm ein lauter Rülpser. Caspar umarmte ihn. »Mein Retter, Gottfried, du bist mein Retter! Eines Tages wirst du zu den Engeln gehören, das weiß ich. Ich danke dir.« Über Gottfrieds Schulter zwinkerte er seinen Freunden ein weiteres Mal zu, und das Grinsen stand noch frecher als zuvor in seinem Gesicht.
Caspar ließ Gottfried los und drehte sich zur Seite, wo gerade Brigitta vorbeiging. Er lachte und zog sie auf seinen Schoß. Das Mädchen quietschte erschrocken, aber er setzte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin so glücklich! Gottfried hat mich gerettet, siehst du?«
Brigitta zappelte, aber er ließ sie nicht los, sondern drückte den zweiten Kuss diesmal auf ihre Lippen. »Du bist ein Engel, genauso einer wie Gottfried. Er rettet mich vor dem Trinken und du mich vor der Lüsternheit. Ich würde sonst mit jedem Mädchen was anfangen, das ich in die Finger kriege, aber seit ich dich kenne, mag ich keine andere mehr anschauen.«
Sie machte sich los und floh zum Tresen, aber ihr Vater murmelte nur wie schon einmal: »Hab dich nicht so, Mädchen. Das ist so in einer Kneipe, da darfst du nicht zimperlich sein.«
»Drei Bier, Brigitta«, rief einer von Caspars Freunden in ihrem Rücken.
Sie zögerte den Auftrag hinaus und brachte erst nach einer Weile die drei Humpen an den Tisch, die ihr Vater ihr mit Nachdruck zugeschoben hatte. Caspar zog sich einen der Krüge heran. »D… das darfst du nicht, Caspar«, murmelte Gottfried.
»Ach, das eine Bier.«
»Tu es nicht, Caspar! Du wolltest standhaft bleiben!«
»Ein einziges, Gottfried.«
»Ich habe mich für dich geopfert. Willst du jetzt aufgeben?«
»Ich habe doch nicht wissen können, dass mein Freund mich noch einmal in Versuchung führen würde.«
»Aber du darfst jetzt nicht aufgeben. Denk daran, ich bin bei dir, damit du nicht aufgibst.«
»Gottfried«, schluchzte Caspar mit einem Mal, und selbst seinen Freunden erschien das Schluchzen echt, »du hast recht! Ich bin so dicht vor meinem Ziel, lass mich jetzt nicht im Stich!«
»Ich bin bei dir, Caspar. Gott wird dich retten.«
»Wenn du dich opferst, Gottfried«, Caspar schob den Krug in Gottfrieds Richtung. Gottfried sagte nichts, sondern schlug den Blick zum Himmel auf und bekreuzigte sich. Dann trank er den zweiten Krug leer, langsamer als beim ersten Mal, aber trotzdem in einem Zug.
Caspar schlug ihm auf die Schulter. »Gottfried, wenn ich gewusst hätte, was für ein Freund du bist, hätte ich dich niemals so schlecht behandelt.«
Gottfried sah Caspar in die Augen. »Hättest du doch, Caspar. Du bist durch und durch verlogen, du hast mich nur hergelockt, um mich betrunken zu machen.«
»Aber nein.« In Caspars Augen traten Tränen. »Nein, was denkst du von mir? Ich bin rechtgläubig erzogen und meinen Eltern würde das Herz brechen, wenn sie hörten, was du von mir denkst, Gottfried. Sie lieben mich über alles und haben mir beigebracht, dass Gottesfurcht das wichtigste Gut im Leben ist.«
»Ist es.« Gottfried nickte, und dabei begann sein Oberkörper zu schwanken. »Deine Eltern werden noch viele Tränen deinetwegen vergießen, du furchtbarer Sünder.«
»Deine nicht«, lockte Caspar, »du bist immer sündenfrei gewesen, nicht wahr, Gottfried?«
Gottfried schüttelte den Kopf. Das Bier musste ihm die Zunge gelockert haben und seine Fistelstimme schraubte sich weiter nach oben als sonst: »Gelitten. Sie haben gelitten. Um meiner Sünden willen. Habe früher ebenso wie andere die Schule geschwänzt und mich der Sünde der Wollust beinahe ergeben. Aber das ist vorbei, ich habe meine Berufung gefunden und hoffe, dass Gott eines Tages mit mir Sünder gnädig ist.«
»Aber Gottfried, die Sünde der Wollust? Du? Das hätte ich niemals gedacht. Brigitta, komm her!«
Brigitta kam durch das Gedränge auf sie zu. »Bier, die Herren Studenten?«
»Nein, du sollst unserem lieben Gottfried nur einmal tief in die Augen sehen. Was siehst du da?«
»Einen besoffenen Kerl«, antwortete Brigitta trocken.
»Nein. Du sollst sagen, ob du einen Sünder oder einen Heiligen siehst.«
»Einen Heiligen, verglichen mit euch Nichtsnutzen.«
Gottfried nickte, ohne den Blick aus ihrem Dekolleté zu nehmen. Caspar, noch vollkommen nüchtern, stand auf, verbeugte sich vor Brigitta und setzte dann ein Knie auf den Boden.
»Fräulein Brigitta, die Heilige seid Ihr! Wollt Ihr meine Frau werden? Ich will nie in meinem Leben mehr ein Bier anrühren, wenn Ihr Ja sagt.«
»Dummer Kerl«, sagte Brigitta und ging einen Schritt rückwärts.
»Du musst den Sünder retten«, murmelte Gottfried. »Ich schaffe es nicht. Brigitta, du musst dich opfern, wenn ich es nicht mehr kann.« Seine Zunge schlug beim Sprechen an die Zähne. Caspars Freunde stießen sich mit den Ellenbogen an. Als Brigitta drei neue Humpen brachte, zog Gottfried den Krug herüber und sagte: »Ich weiß, Caspar. Ich muss mich opfern. Ich tu das und Brigitta auch. Auf deine Sünden!« Er hob den Humpen an und trank.
Brigitta schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich dem Rest der Gaststube zu.
Magdalene Rehnikel zog das Licht näher, nahm das Messerchen aus dem Schubfach unter dem Pult und spitzte die Feder. Dann zog sie den Stopfen aus dem Tintenfass, tauchte die Feder ein und schrieb.
»Hochverehrte und teure Meister der Krämerinnung«, sie setzte die Worte vorsichtig und klemmte die Zunge zwischen den Lippen ein. »Als Witwe des Innungsmeisters Georg Rehnikel bin ich allen in Eurem Kreis gut bekannt. Mein Mann hat vierzehn Jahre lang verschiedene Stellungen in der Innung ausgeübt und war Schatzmeister, Schreiber und Sprecher der Innung. Bis Gott ihn in seinem dreiundfünfzigsten Jahr zu sich gerufen hat, war er unbestechlich und hat ohne Fehl und Tadel seinen Handel geführt. Da ich nun als Witwe meinen Lebensunterhalt selbst verdienen muss, ist mir nichts geblieben als der Spezereienhandel, den mein Mann in allerbestem Zustand hinterlassen hat.«
Magdalene legte die Feder neben den Papierbogen und blies vorsichtig Sand über die Tinte. Den Handel hatte Georg in einem guten Zustand hinterlassen, aber seitdem waren zwei Jahre vergangen, zwei lange, einsame und traurige Jahre. Der allerbeste war für den jetzigen Zustand eine der Umschreibungen, die falscher nicht sein konnte. Ihr Handel war nur noch ein Schatten dessen, was er einmal gewesen war. In den zwei Jahren seit Georgs Tod war es nur bergab gegangen. Der Warenbestand in ihrem Lager war zu wenigen gebräuchlichen Kleinigkeiten geschmolzen, und von der Fülle, die zu Georgs Zeiten hier geherrscht hatte, war kaum etwas geblieben. Würde Jakob nicht immer noch die Seife kochen und die gewöhnlichen Gewürze per Schreiben ordern, hätten sie kaum etwas zu verkaufen. Aber was sollten sie sonst tun? Es war das einzige, wovon sie leben konnten.
»Ich habe vor, meinen ältesten Sohn Hans in unserem Gewerbe ausbilden zu lassen. Mein erfahrener Geselle Jakob Lichtenberg verfügt über das nötige Wissen. Außerdem kann mein zweiter Sohn Albrecht später ebenfalls in den Handel gehen. Ich bin sicher, Ihr werdet Eurem verstorbenen Zunftgenossen Georg Rehnikel diese Ehre erweisen und seiner Witwe und seinen Kindern den Lebensunterhalt nicht entziehen.«
Sie schluckte. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. So lange hatte sie die Herren der Innung schon hinhalten können.
»Weil ich verstehe, dass Ihr meinem Handel den weiteren Betrieb nur erlauben könnt, wenn ein Mitglied der Innung ihn führt, bitte ich Euch, mir als Vormund meines Sohnes Hans bis zu dessen Volljährigkeit die Mitgliedschaft in der Innung zu erlauben. Ich verspreche, lediglich als Vormund aufzutreten und mich demütig und gottesfürchtig den Beschlüssen der Innungsmeister zu unterwerfen.«
Magdalene dachte an einige der Innungsmeister, denen die Weisheit so fern war wie eine Schneeflocke dem Feuer. Amaranth Kohl zum Beispiel hatte einen Schädel, durch den man eine Kerze im Rücken des Mannes leuchten sehen konnte. Dann war da Vitus Seckenhauer, der vor zwei Jahren versucht hatte, sie zu heiraten, und sich bei seiner Werbung von ihr hatte ein Märchen auftischen lassen. Weisheit war ein seltenes Gut in der Krämerinnung, aber das durfte sie nicht sagen. Sie durfte es nicht einmal denken. Sie musste hoffen, dass die Meister ihren Antrag wohlwollend bedachten.
Auf der Treppe klangen Schritte. Magdalene runzelte ärgerlich ihre Stirn. Es gab nur einen, der um diese Zeit störte. Die Kinder lagen längst im Bett, die Studenten waren ausgegangen, dieses Mal sogar Gottfried. Nur Jakob kam mit diesem weichen Schritt hinauf, der sie schon aufregte, bevor der Geselle in der Tür stand.
Er trug das Licht vor sich her und stellte es auf dem Tisch im Erkerzimmer ab, bevor er zu ihr ins Kontor trat. Sein Blick war demütig wie immer; sie mochte ihn nicht ansehen. Eigentlich war Jakob ein netter Kerl, wenn er nur nicht immer die falschen Sachen sagen würde.
»Frau Magdalene«, sagte er, und schon das regte sie auf. Konnte er sie nicht Frau Meisterin nennen wie alle? Sie mochte ihn nicht darauf ansprechen, weil er dann sagen würde: Wieso soll ich Euch Meisterin nennen? Wir haben keinen Meister mehr, und Ihr seid Witwe, Frau Magdalene, und nicht Mitglied der Innung.
Aber das wollte sie nicht hören. Darum sagte sie nichts und ertrug die ungebührliche Anrede. Sie würde schon irgendwie in die Innung kommen. Sie musste. Sie würde die Innungsmeister irgendwie davon überzeugen, dass sie es dem verstorbenen Georg schuldig waren.
»Frau Magdalene, ich sehe, Ihr schreibt an die Innung.« Jakob hatte gute Augen. Er musste die Schrift auf dem Blatt gelesen haben, obwohl er einen Schritt von ihr entfernt stand. Sie griff nach dem Öllämpchen und stellte es zur Seite, damit der Lichtschein nicht mehr auf das Papier fiel. »Ja, das tue ich, Jakob. Habt Ihr etwas dagegen?«
»Nein, nein. Ich frage mich nur, was Ihr der Innung anbieten wollt, damit sie Euch aufnehmen.«
Woher wollte er wissen, worum es in ihrem Brief ging? Nun ja, er war nicht auf den Kopf gefallen. Die Innung hatte ihr letzte Woche den Bescheid geschickt. Sie solle den Laden schließen, weil er seit dem Tod des Meisters nicht mehr in der Innung vertreten war. Es war keine Kunst, zu erraten, warum sie schrieb.
»Ich werde sie an ihre Christenpflicht erinnern, dass sie der Witwe eines Innungsmeisters schuldig sind, die Zeit bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes zu überbrücken.«
Jakob schlug die Augen zu ihr auf. »Das werden sie ablehnen. Sie lassen keine Frau in die Innung.«
»Dann werde ich selbst hingehen, wenn sie ihre Sitzung haben. Ich werde ihr Gewissen aufrühren.«
»Sie werden Euch nicht hereinlassen, Frau Magdalene. Vor der Tür stehen Wächter. Selbst wenn es Euch gelingt, hineinzukommen, werden sie nicht zulassen, dass Ihr sprecht.«
Magdalene schlug die flache Hand auf das Pult. »Ich will das nicht hören, Jakob! Wenn Ihr so ein Miesepeter seid, warum seid Ihr noch hier? Sucht Euch etwas anderes, dann habe ich wenigstens jemanden, der daran schuld ist, wenn wir alle verhungern.«
Jakob legte seine Hand auf ihre. »Ihr wisst, dass ich das nicht tun werde. Versucht wenigstens, Herrn Vogeler die Situation zu schildern. Es ist zwei Jahre her, vielleicht ist er inzwischen in einer besseren Lage und kann Euch heiraten.« Sie zog die Hand weg. »Oder ich reite nach Leipzig und spreche mit ihm«, fuhr Jakob fort. »Er kann nicht wissen, dass es bei uns ums Ganze geht.« Magdalene schüttelte stumm den Kopf. »Er würde Euch nicht im Stich lassen, das weiß ich. Er schreibt Euch immer noch regelmäßig, Frau Magdalene. Antwortet ihm wenigstens einmal.«
Magdalene schüttelte erneut den Kopf. »Er hat mich schon zwei Mal im Stich gelassen, Jakob. Ich denke nicht daran, ihm zu schreiben, und Ihr werdet nicht zu ihm reiten. Soll er denken, was er will, ich krieche nicht vor ihm zu Kreuze.«
»Frau Magdalene, wollt Ihr unsere Existenz Eurem Stolz opfern?«
»Schluss«, fauchte sie, »raus mit Euch. Ich will nichts mehr davon hören.«
Sie sahen sich einen Moment in die Augen, dann drehte sich Jakob um und nahm sein Licht auf, das von der Bewegung flackerte. Sie hörte ihn die Treppe hinabgehen, und der Kegel des Lichtscheins aus seiner Lampe entfernte sich mit ihm.
Als er weg war, schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Daniel. Daniel Vogeler. Sie sah seine lachenden grauen Augen vor sich, sein strubbeliges kastanienbraunes Haar. Er war der fröhlichste Mensch, den sie kannte, und der schönste. Sie wäre mit Freuden seine Frau geworden, aber Daniel hatte abgelehnt. Er wusste nicht einmal, dass er nach ihrem ersten gemeinsamen Kind Grete nun auch einen Sohn hatte, Albrecht. Die Leute hielten zum Glück Georg für den Vater ihrer Kinder, aber sie, Magdalene, wusste die Wahrheit, und nur sie.
Daniel hatte sie im Stich gelassen, obwohl er Georg an seinem Sterbebett etwas anderes versprochen hatte. Nein, sie würde nicht vor Daniel auf die Knie gehen und ihn bitten, sie zu heiraten, nur, damit das Geschäft wieder einen Meister bekam. Dafür war sie tatsächlich zu stolz. Lieber ging sie betteln, als sich so zu erniedrigen und ausgerechnet vor diesem Mann ihre Schwäche zuzugeben.
Brigitta erschrak. An ihrer Tür kratzte etwas. Sie kroch tiefer in ihre Kissen. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock des Gasthauses. Es war eine Kammer, die zur Vermietung nicht taugte, und ihr Vater hatte sie ihr nur deswegen gegeben. Brigitta hatte sich von ihren albernen Schwestern fernhalten wollen, die noch dazu wegen der Arbeit in der Schankstube eifersüchtig tuschelten. Für die Gastwirtschaft mochte es von Vorteil sein, dass sie schneller bei der Arbeit war und besser auf die Gäste hören konnte, wenn einer von ihnen Lärm machte oder nach etwas rief. Sie war dafür verantwortlich, dass hier alles ruhig blieb.
Ihr Vater hasste unnötigen Lärm. Vielleicht kam es daher, weil es in einer Gaststube immer Lärm gab, das Grölen Betrunkener zumeist, aber auch Brummtöpfe, Fiedeln und Trommeln, weinseligen Gesang oder Schreie, wenn sich welche stritten oder gar schlugen. Wenn Gäste im selben Haus schlafen wollten, musste es spätestens zur Nachtruhe vorbei sein mit dem Krach. Ihr Vater sagte immer: Wenn man eine Kammer vermieten will, muss man dafür sorgen, dass sich die Leute darin wohlfühlen. Das sah Brigitta ein. Sie musste jeden Morgen, bevor die Schankstube öffnete, die Kammern putzen, in denen in der Nacht zuvor Leute geschlafen hatten. Das waren meist Fuhrleute oder reisende Händler, Leute, die abends nicht mehr zum Stadttor hineinkamen oder solche, die in Neumarkt etwas zu tun hatten, Männer, denen am nächsten Tag eine Reise bevorstand, meist allein oder zu zweit, selten in Begleitung einer Frau.
Deshalb war Brigitta besonders empfindlich für Geräusche, die hier nichts zu suchen hatten. Das Kratzen an ihrer Tür war falsch. Der Hund war draußen angekettet, Katzen durften nicht ins Haus, Mäuse kratzten nicht an Türen. Es kratzte deutlicher. Das war ein Mensch. Jemand war an ihrer Tür.