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Lasst die Spiele beginnen! Seit die 16-jährige Ara ihre Schwester durch die Spiele der Unsterblichen verloren hat, sinnt sie auf Rache. Mit dem aufgehenden Blutmond stehen nun die nächsten Spiele kurz bevor – ein Kampf ums Überleben für die ausgewählten Menschen, reines Vergnügen für die Götter des Olymps. Ara hofft, für Zeus antreten zu dürfen, doch das Schicksal hat seine eigenen Pläne. Sie wird von Hades erwählt, der ganz anders ist als erwartet. Unzählige gefährliche Prüfungen warten nun auf Ara, während der Gott der Unterwelt sie immer stärker in seinen Bann zieht … Griechische Mythologie trifft auf Slow-Burn-Romance in diesem fesselnden Fantasy-Stand-Alone Die Tribute von Panem trifft auf Percy Jackson in dieser mitreißenden Jugendfantasy rund um griechische Götter, tödliche Spiele und eine starke Protagonistin, die nach Rache sinnt. Die Spiele der Unsterblichen von Annaliese Avery begeistert mit einer Slow-Burn-Romance, mythologischen Kreaturen und einer bewegenden Geschichte über Verlust, Familie, Selbstfindung und Liebe. Für alle Leser*innen ab 13 Jahren.
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Linda Rosemary Spendlove,
»Einen Mann misst man daran,
INHALT
1DER MORGEN DES BLUTMONDS
2GESCHENKE FÜR DIE GOTTHEITEN
3DER GOTT DES VERBORGENEN
4DER ÜBUNGSPLATZ
5DIE VORBEREITUNGEN
6DIE WETTE
7DER BLUTMOND
8HADES’ SCHICKSAL
9DIE SPIELERIN DES HADES
10DIE ERSTE PRÜFUNG
11DIE GOTTHEITEN UND IHRE SPIELFIGUREN
12DIE AUFGABE
13DER WÜRFEL FÄLLT
14DIE SÜMPFE DER TRAURIGKEIT
15DAS ORAKEL
16DER GOTT DER TRAUMZEIT
17DIE STYMPHALIDEN
18DER KNOTEN VERHÄRTET SICH
19DIE BEZWINGERIN DER SCHWINGEN
20DER SCHWUR
21DAS WELTENGESPINST
22DIE PSAMMOPHIS-HYDRAS
23DIE PTERIPPOI
24DIE BRUDERSCHAFT DER GÖTTER
25DER FLUG NACH GYTHION
26DIE GÖTTLICHE NATUR
27DER VERRAT
28FURCHT
29DIE NAVIS
30DER EINZIGE
31DIE RUHE IM STURM
32DIE SEESCHLANGE
33DIE VERGESSENEN INSELN
34DER TEMPEL DES ZODIAKOS
35DER WEG ALLER SEELEN
36DER SPIELSAAL
DER MORGEN DES BLUTMONDS
Still und kalt fühlt sich die Villa im Morgengrauen an, allerdings nicht so still und kalt wie das Bett neben mir. Mit starrem Blick betrachte ich das unbenutzte Kissen und die unangetastete Decke.
Fünf Jahre sind vergangen, seit meine Schwester zuletzt neben mir geschlafen hat, und trotzdem stockt mir jeden Morgen aufs Neue der Atem. Noch immer muss ich all meinen Mut zusammennehmen, um mich der Leere zu stellen. Und an diesem Morgen, an diesem Tag, wiegt ihre Abwesenheit noch schwerer als sonst.
Entschlossen setze ich mich auf und schwinge die Beine aus dem Bett, stelle die Füße auf die kühlen Terrakottafliesen. Schnell schlüpfe ich aus meinem Nachthemd und lasse es zu Boden fallen, bevor ich an den Stuhl neben meiner Kommode trete und die Tunika anziehe, die dort für mich bereitliegt. Ida, unsere Haushälterin, muss sie hingelegt haben, als ich noch geschlafen habe. Ich lege mir den Ledergürtel um und flechte mir mit fliegenden Fingern die Haare, die ich mit einem Riemen zubinde. Dann schnappe ich mir den kleinen Tonkrug, den ich gestern auf die Kommode gestellt habe. Er ist die perfekte Opfergabe. Das rote Wachssiegel verschließt den kräftigen Wein, den ich vor dem Zubettgehen abgefüllt habe. Nachdem ich den Krug in den Falten meines Gewands verstaut habe, ziehe ich meine Sandalen unter dem Stuhl hervor, schleiche barfuß zur Tür und schlüpfe hinaus.
Flink überquere ich das Mosaik im Flur und husche Richtung Haustür. Als meine Hand bereits auf dem Türknauf liegt, höre ich meinen Vater rufen: »Ara!«
Eine Sekunde lang zögere ich, dann laufe ich in den Empfangsraum der Villa. Die Türen zur Veranda stehen offen und das trübe Morgenlicht taucht alles in graue Schatten – auch meinen Vater, der hinter seinem Schreibtisch sitzt und Papiere durchgeht, die von einer Öllampe in einen warmen bernsteinfarbenen Schein getaucht werden. Sollte das Licht auch nur das geringste bisschen Wärme verströmen, erreicht jedoch nichts davon sein Gesicht.
»Bist du bereit?« Er blickt nicht einmal auf, und auch ohne nachfragen zu müssen, weiß ich, was er meint.
Wie ich so vor seinem Tisch stehe und die nackten Zehen gegen den harten Boden drücke, die Sandalen in der Hand, überkommt mich ein Schaudern. Plötzlich fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind von sechs Jahren, nicht wie eine junge Frau von sechzehn.
»Ich bin bereit. Ich wollte nur noch schnell eine Runde laufen und eine Opfergabe in den Tempel bringen.«
Unverwandt ruht der Blick meines Vaters auf seiner Arbeit, obwohl ich mich frage, ob er die Papiere überhaupt wahrnimmt – und ob er mich je wirklich wahrnimmt.
»Gut. Eine Opfergabe ist den Gottheiten immer willkommen und das Training wird dir helfen, in Form zu bleiben. Ich weiß wirklich nicht, warum die Ausbilder den Tag des Blutmondes so beharrlich zum Ruhetag erklären. Gerade heute ist es doch wichtig, sich vorzubereiten.«
»Ja, Vater.« Was soll ich sonst sagen? »Ich treffe mich mit Theron auf dem Übungsplatz. Wir wollen die Zeit nutzen, bevor alles für das Fest vorbereitet wird.« Als ich den hoffnungsvollen Ton in meiner Stimme bemerke, verziehe ich das Gesicht – denn was soll diese Hoffnung, dass er mich loben, mir Beachtung schenken wird.
Im flackernden Schein der Lampe mustere ich sein Gesicht. In den fünf Jahren, die vergangen sind, seit Estella uns genommen wurde, ist aus mir eine junge Frau und aus meinem Vater ein alter Mann geworden. Sein Bart umrahmt einen Mund, der allzu viel für Wein übrighat, und sein einst braunes Haar ist ergraut von Sorgen, die für zwei Leben gereicht hätten.
»Theron ist ein guter Kämpfer und er genießt die Gunst der Gottheiten. Von ihm kannst du dir einiges abschauen, Ara.« Ich beeile mich, meinem Vater zuzustimmen, der endlich aufblickt, auch wenn er dabei durch mich hindurchzuschauen scheint. »Es ist Therons letzte Chance, nicht wahr? Es wäre eine Schande, wenn die Gottheiten ihn nicht erwählen – ein junger Mann wie er würde Oropusa stolz machen.« Seine Worte versetzen mir einen Stich. »Eines Tages wird er einen guten Gemahl abgeben, und wenn die Gerüchte über seine Abstammung wahr sind, könnte eure Freundschaft sich als äußerst nützlich erweisen.« In diesem Moment sieht er mich tatsächlich an, wenn auch nur kurz, und Hitze steigt in meine Wangen. Ich bemühe mich stets so sehr, Theron eben nicht auf genau diese Weise zu sehen, weiß aber leider nur zu gut, dass mein Vater in mir nur diesen einen einzigen Wert erkennt.
Gleich darauf widmet er sich erneut seinen Papieren und ich verharre abwartend in der Stille des Raums, während die Leere mich umfängt. Ich ermahne mich dazu, mich zu entspannen, mich damit abzufinden. Seit Estellas Tod lebe ich im Schatten. So langsam sollte ich mich damit abgefunden haben und eigentlich habe ich das auch, doch heute … Heute dachte ich, es könnte sich vielleicht etwas ändern. Aber dieser kleine Hoffnungsfunke verbrennt mich, noch während er zu flackern beginnt und erlischt.
Mein Vater schweigt, also tue ich es ihm gleich. Irgendwann wende ich mich von ihm und dem spärlichen Licht im Zimmer ab, trete in den Gang hinaus und schließe wenig später leise hinter mir die Haustür. Tief atme ich die Morgenluft ein, fülle meine Lunge und halte den Atem an, bis es brennt und sich kleine Sternchen in den anbrechenden Tag mischen. Dann erst stoße ich die Luft wieder aus und atme normal weiter, während ich meine Sandalen schnüre und dann losrenne.
Ich beginne mit einem Sprint. Anfangs geht es bestens, weil mein Körper noch gar nicht begriffen hat, was passiert. Allerdings ändert sich das bald. Trotzdem gebe ich nicht nach und zwinge meine Beine, weiterzumachen und das straffe Tempo zu halten. Energie durchflutet mich und vermittelt mir ein Gefühl von Lebendigkeit, während Felder, Äcker und Getreide an mir vorbeifliegen – als dumpfes Grau in der Dämmerung. Doch nicht lange und es mischt sich Grün darunter, als ich auf die Baumreihe zulaufe, die eine natürliche Grenze um den Acker und den Bach bildet, der das Land meines Vaters so saftig und fruchtbar macht.
Am Horizont streckt Apollo seine Finger aus. Rosa Schlieren durchziehen den sich blau färbenden Himmel, an dem hoch oben ein großer Adler langsam seine Kreise zieht – ein Bote des Zeus. Ob er mich beobachtet? Ich hoffe es.
Wie selbstverständlich werde ich langsamer, als ich mich dem Bach nähere und dann am geschwungenen Ufer entlanglaufe, wo ich mit ungleichmäßigen Schritten Steinen und Pflanzen ausweiche. Die aufgehende Sonne verschwindet hinter den hohen Bäumen, deren Äste wohltuende Kühle spenden, was guttut, weil mir der Schweiß den Körper hinabrinnt und meine Tunika durchtränkt.
Dort, wo der Bach sich in einen Teich ergießt, bleibe ich stehen, knie mich ans Ufer und tauche die Hände ins herrlich kalte Wasser, um mir das Gesicht zu waschen. Tropfen fallen von meinem Kinn in den Teich und kräuseln die Oberfläche. Gebannt wie Narziss schaue ich hinein. Natürlich erscheint auch mir mein Spiegelbild, jedoch bin ich im Gegensatz zu ihm davon nicht hingerissen. Es zeigt mir all das, was ich mit Estella gemeinsam habe, und auch all das, was mich schon immer von ihr unterschieden hat. Unsere Wangenknochen und die Kinnpartie sind gleich, anders als meine Nase, die allein mir gehört, die voller ist und runder an der Spitze. Ihre hingegen war perfekt, gerade und klein, und ihre Augen, vom sanften Braun einer alten Eiche, waren zierlich und wohlgeformt. Meine Augen scheinen irgendwie zu groß für mein Gesicht zu sein, nur die Farbe, die mochte ich schon immer – ein sattes Kastanienbraun, das mich an den Herbst erinnert.
Anders als ich trug Estella auch keine Narbe auf der Wange. Mit dem Finger fahre ich die schmale silbrigweiße Linie nach, die sich im Wasserspiegel überdeutlich auf meiner Haut abzeichnet, weil sie nie von der Sonne geküsst wird. Leicht erhaben fühlt sie sich an. Sie stammt aus meiner ersten Trainingswoche – wenige Tage, nachdem die Gottheiten Estella ermordet hatten.
Mein Vater ist ein stoischer Mann. Er weiß, dass das Training mir keine Sicherheit garantiert, aber zumindest könnte es mir eine gewisse Chance verschaffen – eine Chance, die Estella nicht hatte.
Meine Mutter war damals schon zu niedergeschlagen und taub für meine tränenreichen Proteste. Denn ein Spaziergang war das Training nicht. Schließlich wurden die Ausbilder nicht dafür bezahlt, dass sie uns gut behandelten. Ihr Training war hart, weil sie uns abhärten sollten – in den vergangenen fünf Jahren bin ich so unnachgiebig geworden wie der Marmor des Tempels, in dem der tote Körper meiner Schwester liegt.
An den ersten Tag erinnere ich mich noch gut. Wir mussten über ein Feld voller Hindernisse laufen, ich und all die anderen Kinder, deren Eltern den Blutmond und die Bedrohung, die von ihm ausgeht, ernst nahmen. Damals konnte ich nicht rennen, ohne schnell außer Puste zu geraten oder über meine eigenen Füße zu stolpern. Ungeschickt strauchelte ich über den Parcours und hatte ich die Hürden endlich erreicht, schaffte ich es kaum, sie zu überwinden. Gleich bei der ersten stürzte ich herunter – es war ein einfacher Schwebebalken aus einem Baumstamm. Über denselben Stamm und sämtliche andere setze ich inzwischen mit einem Salto hinweg. Vor fünf Jahren besaß ich praktisch weder Balance noch Körperspannung. Doch auch wenn mir anfangs das Blut über die Wange lief, mir vom Kinn tropfte und sich mit meinen Tränen vermischte, kam aufgeben nicht infrage. Schon damals war ich trotzig. Meine Muskeln brannten und alles tat mir so weh, dass ich die ganze Strecke heulte, doch ich hielt durch. Ich dachte an Estella. Sie war nicht vorbereitet gewesen, als die Gottheiten sie für ihre Spiele auserwählten. Das würde mir nicht passieren. Ich würde vorbereitet sein und ich würde stark sein, bereit für die Gottheiten, bereit für Zeus.
Meiner Familie und mir war das Undenkbare zugestoßen. Estella war dazu bestimmt worden, bei den Spielen der Unsterblichen anzutreten, und nie wieder zu uns zurückgekehrt, zumindest nicht heil, nicht lebendig. Und genau wie mein Vater weigerte ich mich, die Moiren auch über mein Schicksal bestimmen zu lassen, ohne ein Wörtchen mitzureden.
Immer wieder gibt es Spekulationen darüber, warum die Spiele überhaupt stattfinden. Manche glauben, es sei zu Ehren der Stärksten unter uns. Und dafür spricht einiges, denn jene, die gewinnen und überleben, werden wie Halbgottheiten behandelt. Andere wiederum sind der Meinung, dass die Gottheiten uns auf diese Art nur ihre Macht demonstrieren und verdeutlichen wollen, dass sie über jeden und jede von uns verfügen können, jederzeit.
Bevor Estella am Abend des Blutmondes erwählt wurde, war in unserem Dorf nur eine Handvoll Kinder von ihren Familien zur Ausbildung geschickt worden. Es war so viel Zeit vergangen, seit die Gottheiten zuletzt jemanden aus Oropusa für die Spiele ausgesucht hatten, dass wir vergessen hatten, uns zu fürchten: vor der Mondfinsternis und davor, dass die Gottheiten uns nicht nur beobachten, sondern unter uns wandeln, um einen oder eine von uns mitzunehmen, sobald der Mond sich rot färbt. Das war ein Fehler gewesen, der panisch korrigiert wurde, dann jedoch erneut in Vergessenheit geriet.
Als die Jahre verstrichen und die Blutmonde kamen und gingen, ohne dass bei uns Jugendliche von den Gottheiten erwählt wurden, fiel die Anspannung ab; wenn auch nicht von allen – definitiv nicht von mir oder meiner Familie –, so doch von ausreichend vielen, sodass derzeit immer weniger am Training teilnehmen.
Normalerweise drillen uns die Ausbilder vom frühen Tagesanbruch bis zum Sonnenuntergang, manchmal sogar länger. Einige von uns haben noch andere Verpflichtungen, müssen daher zu bestimmten Zeiten anderswo sein und trainieren, wann immer es ihnen möglich ist. Ich gelte als eine der Glücklichen, deren Leben allein den Vorbereitungen gewidmet ist. Jeden Tag stehe ich auf, trainiere, esse, schlafe, wieder und wieder, und all das nur, um möglichst gute Überlebenschancen zu haben. Um eine reelle Chance zu haben, sollte ich ausgesucht werden.
Ich erhebe mich vom Ufer und klopfe mir die trockene Erde von den Händen, während ich durch den heller werdenden Morgen zum Übungsgelände laufe. Außer Theron wird vermutlich niemand dort sein. Theron ist immer da; er war schon dort, bevor Estella von den Gottheiten geholt wurde, trainiert jeden Tag, in der Hoffnung, sich hervorzutun und auserkoren zu werden.
Therons Mutter ist eine wunderschöne Frau, die schönste in ganz Oropusa. Angeblich hat Aphrodite selbst sie bei ihrer Geburt gesegnet. Außerdem erzählt man sich, ein König habe ihr den Hof gemacht und sie verführt, sich dann aber geweigert, sie zu heiraten. Stattdessen habe er sie aus seinem Reich verbannt, als sie mit Theron schwanger war.
Theron ist genauso gesegnet wie seine Mutter, was das Aussehen betrifft, und so selbstsicher, dass es leichtfällt, die Gerüchte über seine königliche Abstammung zu glauben. Doch auf gewisse Weise gleichen wir uns, er und ich – wir wollen beide, dass die Gottheiten uns bemerken. Für die Spiele ausgewählt zu werden, ist für ihn ein Weg, sich vor seinem abwesenden Vater zu beweisen. Mir gibt es die Gelegenheit, meine Schwester zu rächen.
Doch anders als für Theron ist heute nicht mein letzter Blutmond. Ich habe danach noch zwei Mal die Chance auf die Gunst der Gottheiten. Ein Gedanke, der mir ein höhnisches Schnauben entlockt.
Auf einmal weht mir ein leichter, süßer Geruch in die Nase. Als ich ihm folge, stoße ich schon bald auf wild wuchernde Pfingstrosen, die ihre Stängel durch das dichte Grün der Sträucher am Bach schieben.
Ich halte an und inhaliere tief ihren Duft, bevor ich die Finger um einen der Stängel schließe und eine wunderschöne Blüte abbreche.
Behutsam verstaue ich sie zwischen den Falten meiner Tunika, auf der Seite, auf der die Opfergabe für Zeus nicht ist.
GESCHENKE FÜR DIE GOTTHEITEN
Auf dem Übungsplatz sehe ich Theron. Er steht mit dem Rücken zu mir und kämpft mit dem stumpfen Schwert gegen eine Holzpuppe. Von einer sanften Brise getragen, dringen das dumpfe Scheppern von Metall und Therons angestrengtes Ächzen zu mir. Ich flüchte mich in den Schatten des Tempels und beobachte aus der Deckung einer Säule, wie mühelos er mit gestreckten Schultern und sicherem Stand seinen Körper einsetzt. Bei jedem Schlag spannen sich seine Arme an. Er ist stark, stärker als ich, dafür bin ich flink und geschickt.
Lächelnd muss ich daran denken, dass ich ihn ein paar Mal im Kampf besiegt habe. Mich hat das immer sehr überrascht, auch wenn ich versucht habe, es mir nicht anmerken zu lassen. Theron hat behauptet, er habe mich absichtlich gewinnen lassen, aber dafür ist es in letzter Zeit fast ein bisschen zu oft passiert.
Theron hält inne und fährt sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. Als würde er spüren, dass ich ihn beobachte, dreht er sich zum Tempel um. Schnell drücke ich mich gegen die Säule und stelle mir vor, wie er geblendet in meine Richtung blinzelt und die Augen gegen die Sonne abschirmt, während dieser typische fragende Blick über sein Gesicht huscht, der mir so vertraut ist.
Von alters her hat der Tempel des Zodiakos zwölf Seiten, von denen jede ein Tierkreiszeichen symbolisiert. Flink husche ich von Theron fort um das Gebäude herum und bleibe erst stehen, als ich die gewundenen Säulen erreiche, die mit einer Schar Skorpione geschmückt sind. Auf zwei Pfeilern ruht hier ein dreieckiges Vordach, das mit dem Wort SKORPION beschriftet ist. Darüber ist die Konstellation meines Sternbilds in den Stein gemeißelt. Ich steige die Stufen hinauf und betrete die dreieckige Kammer. Wie immer wird mein Blick von dem Bodenmosaik angezogen. Auf tiefblauem Hintergrund ist hier ein Skorpion zu sehen sowie das dazugehörige Sternbild, das aus weißen Fliesen gestaltet ist. In die geschwungenen Wände sind kleine Nischen eingelassen, von denen die meisten bereits voller Opfergaben für die Gottheiten sind. Heute Abend werden der gesamte Boden der Kammer und die Treppe damit bedeckt sein.
Über den glatten Stein nähere ich mich dem Torbogen, der ins Innere des Tempels führt. Einmal noch bleibe ich stehen und stecke die Hand in die rechte Tasche. Der mit rotem Wachs versiegelte Krug fühlt sich warm an. Ich habe meinen Namen eingeritzt, direkt neben den des Gottes, von dem ich hoffe, dass er mich erwählt. Mit festem Griff umklammere ich den gebrannten Ton.
Während ich die Opfergabe in eine Wandnische stelle, sage ich laut: »Erhöre mich, Zeus, Gott aller Gottheiten. Als bescheidene Dienerin und würdige Wettkämpferin trete ich vor dich, bereit, von dir auserkoren zu werden, um für dich bei den Spielen anzutreten und zu gewinnen.«
Seit Langem schon bin ich überzeugt, dass die Gottheiten die Gedanken der Sterblichen nicht lesen können – andernfalls hätte mich in der Nacht, in der meine Schwester heimkehrte, der Blitz treffen müssen. Und auch jetzt, hier im Tempel, während ich den Mächtigsten von ihnen allen anrufe, bin ich dankbar für diesen kleinen Vorteil. Dankbar, dass niemand, außer mir selbst, mein wahres Vorhaben kennt.
Ich frage mich, ob meine Opfergabe ausreicht, um sein Interesse zu wecken, ob ich genüge, und bekomme Gänsehaut: Was, wenn es so ist?
Durch den Torbogen schlüpfe ich in die runde innere Halle. Mittags fällt das Licht direkt durch die kreisförmige Aussparung im Dach, sodass es nicht nur den gesamten Raum hier oben, sondern auch die darunterliegende Krypta ausfüllt. Doch noch steht die Sonne nicht hoch genug, weshalb ich nach einer der Kerzen greife, die an der Wand des Gewölbes aufgestellt sind, und sie an einer der bereits brennenden Opfergaben entzünde. Anschließend mache ich mich auf den Weg die gewundene Treppe hinab ins Herz des Gebäudes.
In der Krypta ist es kühl. Fröstelnd laufe ich über Schotter und Erde, die unter meinen Sandalen knirschen. Hier unten befinden sich fünf Sarkophage, die Ruhestätten jener jungen Menschen aus Oropusa, die bisher von den Gottheiten dazu auserkoren waren, sie bei den Spielen der Unsterblichen zu vertreten. Fünf Teenager, von denen vier nicht siegreich waren. Nur eine ging als Siegerin hervor und ihr wurde ein langes Leben zuteil. Als sie starb, war ich sechs Jahre alt. Ich erinnere mich noch an die Festlichkeiten, die man abhielt, als ihr Körper im Tempel bei den übrigen Wettkämpferinnen und Wettkämpfern beigesetzt wurde.
Als man Estella hierherbrachte, verlief alles ganz anders. Ihre Bestattung war eine düstere Angelegenheit, abgehalten in einer Dunkelheit, in der nur die Sterne des Tierkreises über sie wachten. Mutter war auf der Treppe der Zwillinge-Pforte zusammengebrochen und Ida war bei ihr geblieben, nachdem sie mich ermutigt hatte, meinem Vater in die Krypta zu folgen. Ich erinnere mich, wie die Zwillinge vom Mosaikboden zu mir aufblickten, als ich darübereilte. Wie gut konnte ich die Trauer um Kastor nachfühlen und verstand, warum sein Bruder seine Göttlichkeit für ihn aufgegeben hatte. Damals wusste ich es noch nicht, aber jetzt, als ich vor Estellas Sarkophag stehe, begreife ich, dass ich bereitwillig ein ganz ähnliches Opfer gebracht habe: Seit jenem Augenblick hat mein Leben nur noch ein einziges Ziel, nämlich eine Möglichkeit zu finden, meiner Schwester Ehre zu erweisen.
Ihr Sarkophag ist aus Stein gemeißelt. Obenauf liegt das kalte, harte Marmorabbild Estellas, das angeblich von den Gottheiten gestiftet und von Hephaistos persönlich angefertigt worden ist. Die Darstellung verblüfft mich jedes Mal aufs Neue. Estella sieht darin genauso aus wie an dem Morgen, an dem sie ausgewählt wurde – ihr wahres Ebenbild, für alle Zeit in Stein verewigt. Sie war so schön, das schönste Mädchen in ganz Oropusa, darin waren sich alle einig. Offenbar waren die Götter derselben Meinung. Manche Leute glauben, dass sie allein ihrer Schönheit wegen ausgesucht wurde – ein Gedanke, der sich auch mir aufdrängt, als ich ihr schönes Gesicht betrachte. Ich fahre mit dem Finger eine starre weiße Marmorlocke nach, die früher einmal weich und dunkel war und nach Rosen duftete. Gut erinnere ich mich an das sanfte, warme Lächeln, das jederzeit auf ihren Lippen tanzte, ein Lächeln, das ausgelöscht war, als man sie uns wiederbrachte.
Aus der linken Tasche meiner Tunika friemele ich die zarte Blume vom Bachufer. Als ich sie zu Estellas Füßen niederlege, streift mein Blick wie so oft die vertraute Inschrift: ESTELLA, SPIELERIN DES ZEUS.
Ich werde ihm heimzahlen, was er dir angetan hat, schwöre ich ihr tief in meinem Herzen, spreche es aber nicht aus. Falls die Gottheiten zusehen und lauschen, bleiben ihnen zumindest meine Pläne verborgen, auch wenn ich selbst ihnen ausgeliefert bin.
DER GOTT DES VERBORGENEN
Hades steht auf der Treppe, die aus der Unterwelt hinauf zum Berg Olymp führt.
»Du kannst nicht mit«, sagt er zu Kerberos, während er einen der Köpfe des Hundes streichelt. Kerberos blickt zu ihm auf, ein Gesicht erwartungsvoll, eines traurig – das dritte schaut weg und tut so, als wäre es ihm egal, dass sein junger Herr ihn zurücklässt.
»Hier unten hast du es viel besser«, sagt Hades mit vollem Ernst. Kerberos schleckt ihm die Hand ab, während ihn ein anderes Gesicht anstupst, um seine Zuneigung einzufordern.
Hades lässt sich in die Hocke sinken, sodass sich die langen dunklen Stoffbahnen seines Gewands um seine Füße bauschen, und streichelt Kerberos, bevor er jedem der drei Köpfe einen Kuss aufdrückt.
»Ich bin bald zurück.« Hades lächelt. »Und jetzt lauf, geh nach Hause.« Er steht auf, doch der Hund bleibt am Fuß der Treppe sitzen und legt seufzend einen Kopf auf die unterste Stufe. Ein anderer blickt Hades mit großen, von Flammen erfüllten Augen an.
Trotzdem macht sich Hades auf den Weg. Es ist ein langer Aufstieg und er ist ohnehin spät dran.
Kerberos, der mit dem Schwanz wedelt, peitscht dabei so heftig den Boden, dass die gesamte Unterwelt von dem Geräusch widerhallt. Ein letztes Mal noch blickt sich der Gott der Toten nach ihm um, bevor er sich endgültig abwendet und seinen Weg fortsetzt.
Der Olymp, das Zuhause seines Bruders Zeus, liegt weit entfernt in schwindelnder Höhe. Doch immerhin ermöglicht ihm der lange Fußmarsch, sich auf den Pomp, die politischen Machtspielchen und die törichten Allüren seiner göttlichen Familie einzustellen. Während der Spiele wird er tun, was er immer tut: seine menschliche Spielfigur wählen, ihr, soweit es sich mit seinem Gewissen vereinbaren lässt, unter die Arme greifen und sich schließlich all jener Wettstreitenden annehmen, die auf ihrer Mission scheitern und in seinem Reich enden. Wie jedes Mal, wenn die Gottheiten die Spiele der Unsterblichen abhalten. Selbst Hades erscheint das unregelmäßige Heraufbeschwören des Blutmondes wie eine göttliche Laune, obwohl er weiß, dass es durchaus einem kosmischen Rhythmus folgt, einem Muster am Firmament, das weit vor seiner Zeit von Gottheiten geschmiedet wurde, die längst in Vergessenheit geraten sind.
Hades fährt sich mit der Hand durchs nachtschwarze Haar. Immer öfter muss er blinzeln, während er sich dem strahlend leuchtenden Olymp allmählich nähert. Das Bauwerk verströmt ein Licht, das dem der sterblichen Erde in nichts gleicht, nicht einmal dem goldenen Glanz der Himmel von Elysion – der Insel der Seligen tief in der Unterwelt, auf die all jene Seelen geschickt werden, die als würdig erachtet werden, dort ihr Leben nach dem Tod zu führen und langsam zu vergessen, dass sie jemals ein anderes besessen haben.
Für Hades’ Geschmack ist das Licht des Olymps viel zu hell, zu weiß und zu künstlich. Es hat keinen festen Ursprung, sondern kommt von überall zugleich und bringt alles, was es berührt, zum Strahlen, selbst ihn.
In diesem Licht wirkt seine blasse Haut nahezu durchscheinend und sein schwarzes Haar fast so dunkel wie die Beweggründe mancher Gottheiten. Innerlich ringt er um Fassung, während er mit jedem Schritt etwas mehr von der Sicherheit und Ruhe verliert, die ihm die Dunkelheit der Unterwelt schenkt, und sich stattdessen Beklommenheit und Sorge Platz verschaffen. Wie immer, wenn er zu den Spielen gerufen wird.
Sie sind meine Familie, ruft er sich in Erinnerung, so schwer es ihm auch fällt, denn er hat mittlerweile so wenig mit ihnen gemeinsam. Im Lauf der Äonen gab es immer weniger, was er an ihnen respektierte oder mochte. Nein, das ist ungerecht, weist er sich hastig zurecht – einige von ihnen sind gar nicht so übel.
Unbemerkt schleicht sich Hades in die Pracht der göttlichen Gefilde. Er hat ein Talent dafür, sich unauffällig zu verhalten, was er sehr zu schätzen weiß. Von dem lärmenden Pulk an Gottheiten in der Mitte des gewaltigen Raums hält er sich fern – jenem Raum, in dem bald gespielt wird. Jenseits der Säulen, die das Dach tragen, ist nichts als offener Himmel, und weit darunter liegt das Reich der Sterblichen. Ihre Welt ist auf der großen Tafel in der Halle abgebildet, die von zwölf Sockeln mit darauf ruhenden Marmorplatten eingerahmt ist. Der flüssige Marmor dieses Spieltischs kann sich auf göttliches Geheiß hin verwandeln; in Sekundenbruchteilen erheben sich Berge und Städte, um jene Gegenden nachzubilden, die von Interesse sind, nur um durch eine einzige Handbewegung abermals ersetzt zu werden. An diesem Tisch finden sie statt, die Spiele; hier werden die Steine gesetzt, hier werden die Würfel fallen. Was auch immer auf diesem Tisch geschieht, wirkt sich direkt auf die Welt der Sterblichen aus.
Reglos und schweigsam sieht Hades an eine Säule gelehnt zu, wie die schöne Hera sich dem Spieltisch nähert. Sie lächelt Poseidon zu, der gerade mit einer Hand über die Marmorplatte fährt, worauf sich die Wellen des Meeres zu kräuseln beginnen und sich eine Inselkette emporschiebt. Interessiert beugt sich Poseidon über eine der kleineren Inseln, die anschwillt und sich ausbreitet, bis sie den ganzen Tisch einnimmt. An der nun vergrößerten Küste holt eine Gruppe Männer und Frauen gerade ein Fangnetz aus dem Ozean ein. Die Boote auf dem wogenden Marmor schaukeln ebenso wie jene auf den saphirblauen Wellen der Erde.
Hera beugt sich zu Poseidon, sagt etwas zu ihm und deutet dabei auf den Tisch, bevor sie ihm leichthin die Hand auf den Arm legt und über seine Antwort lacht. Dann wirft sie einen prüfenden Blick in den Raum, zweifellos um nach ihrem Gatten Ausschau zu halten, doch Zeus ist noch nicht eingetroffen. Sie lässt ihre Hand wieder fallen und tuschelt weiter mit Poseidon.
Unwillkürlich stößt Hades ein tiefes Seufzen aus, das so schwer wiegt wie der letzte Wunsch eines Sterbenden. Das angespannte Verhältnis zwischen seinen Brüdern, Poseidon und Zeus, ist Hades – und zweifellos auch Hera – stets mehr als bewusst. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, nutzt Hera diesen Umstand zu ihrem Vorteil. Auch göttliche Macht kennt ihre Grenzen und manchmal ist ein gewisser Einfallsreichtum gefragt.
Hades aber sind die Ambitionen seiner Brüder schon lange ein Graus. Oft kommt es ihm so vor, als erinnere nur er allein sich noch an den letzten Krieg, den sie gegen die Titanen, gegen ihren Vater, geführt haben. Bis heute hat Hades mit den Folgen ihrer Taten zu tun.
Schließlich nähert er sich den Feiernden doch, nimmt einen Becher Ambrosia und nippt an dem süßen Nektar, obwohl auch das den bitteren Geschmack in seinem Mund nicht vertreiben kann.
Bereitwillig hat er sich Zeus angeschlossen, als sein Bruder sie alle zur Schlacht gerufen hatte; hat zu gerne seine Rüstung angelegt, nach seiner Tarnkappe, dem Helm der Dunkelheit, gegriffen und seinen flammenden Zweizack gezückt. Keine Frage: Am Ausgang der Dinge trägt er ebenso viel Schuld wie die anderen Gottheiten, vielleicht sogar mehr.
Seufzend denkt er an die Verwüstung, an das fortwährende Muster an Zerstörung, das seinem Geschlecht so selbstverständlich zu sein scheint.
Heute Abend wird der Mond bluten … und wenig später werden es auch die Wettstreitenden tun.
DER ÜBUNGSPLATZ
Blinzelnd verlasse ich den Tempel und hebe schützend die Hand vor die Augen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt haben. Apollo ist auf seinem Weg vorangekommen. Theron ist mittlerweile nicht mehr mit der hölzernen Trainingspuppe beschäftigt, er sitzt zwei Säulen weiter auf den Stufen und bringt den Sternen des Steinbocks eine Opfergabe dar.
Als ich die Treppe hinabsteige und Richtung Übungsplatz laufe, schließt er sich mir schweigend an. Im Gleichschritt steuern wir den Kampfring an.
»Schwerter oder Stöcke?«, fragt er, als wir uns dem Kreis aus Erde nähern.
»Schwerter«, antworte ich. »Zur Feier des Tages.«
Er lacht und schenkt mir ein breites Grinsen, das allerdings mehr als hölzern wirkt. Ich kenne ihn gut genug, um seine draufgängerisch wirkende Fassade zu durchschauen; weiß, was heute Abend für ihn auf dem Spiel steht.
Entschieden greife ich nach einem Schwert, wäge das Gewicht in der Hand und nehme mir dann einen Schild.
»Oh, wir machen also Ernst?«, fragt er und sucht sich ebenfalls einen Schild aus.
»Heute spielen nur die Gottheiten«, entgegne ich.
Wir wählen unsere Position im Ring. Ich nehme einen festen Stand ein, so wie die Trainer es mir beigebracht haben, dann lockere ich die Muskeln und dehne Arme und Beine unter dem Gewicht von Schwert und Schild, bevor ich beides anhebe.
Geduldig warte ich darauf, dass Theron mich angreift. Er macht immer den ersten Schritt, weil er die konzentrierte Anspannung einfach nicht erträgt und nicht allzu lange stillhalten kann. Die Art, wie er die rechte Schulter senkt, verrät mir, wohin sein Schwert zielen wird, also hebe ich meines bereits, um seinen Schlag zu parieren, während er ausholt und vortritt. Auch sein zweiter Schritt ist mir vorab klar. Wieder blocke ich ab, diesmal mit dem Schild, während ich mit dem Schwert einen Treffer auf seinem Unterarm lande.
Die Klingen sind stumpf, doch ein blauer Fleck wird bleiben.
»Langsam, Ara, ich will heute Abend nicht mit einer Verletzung antreten.« Er weicht zurück und schüttelt den Arm aus.
»Mit den Schwertern geht man aufs Ganze, das weißt du«, zitiere ich unsere Ausbilder mit neunmalklugem Blick. »Entfessle die Macht der Klinge!«
»Ich hätte auf Stöcke bestehen sollen!«, sagt Theron, nun wieder gut gelaunt, während er ein letztes Mal seinen Arm ausschüttelt.
Geduldig warte ich seine Attacke ab, diesmal ein Schlag nach rechts. Allmählich verfallen wir in einen Rhythmus: Schwerter, Schilder, Ausweichen, Nachgreifen, Zustoßen. Ich schaffe es dicht genug an ihn heran, um mein Bein unter seins zu schieben und ihn zum Stolpern zu bringen. Noch im Fall verhakt er seinen Schild mit meinem und reißt mich mit sich. Lautstark keucht er auf, als er zwischen dem Boden und unseren Schilden, auf denen außerdem ich liege, eingeklemmt wird. Mit einer flinken Bewegung rolle ich mich herunter und lande kampfbereit auf den Füßen, während er liegen bleibt. Als ich ihm hochhelfen will, ergreift er meine Hand, aber nur, um mich erneut nach unten zu ziehen.
»Unfair.« Ich boxe ihn gegen die Schulter, kaum ein Knuff, doch er tut schwer verletzt.
Wieder sieht er mich so an, genau wie vor ein paar Tagen, als es regnete und die Ausbilder uns auf einen Querfeldeinlauf geschickt hatten, uns beide allein. Genau wie damals rücke ich auch jetzt näher an ihn. Doch dann halte ich inne – genau wie beim Schwertkampf kann ich warten. Ich rechne damit, dass er die letzte Lücke zwischen uns schließt, zuerst angreift, doch stattdessen beißt er sich auf die Lippe und lehnt sich kopfschüttelnd zurück.
Ich stoße mich von ihm ab und setze mich aufrecht hin. Um uns verstreut liegen unsere Schilde und Schwerter.
»Was meinst du, wie die Aufgabe lautet?«, fragt er auf einmal.
Diese Frage stellt er mir jeden Blutmond und für gewöhnlich führt sie zu einer langen Diskussion, bei der wir darüber spekulieren, welche Gottheit wohl diesmal die Mission für die Spiele der Unsterblichen vorbereitet und welchen Herausforderungen sich die zwölf Auserwählten stellen müssen. Doch dieses Jahr zucke ich nur mit den Schultern. »Spielt es eine Rolle? Es ist doch eh immer dasselbe – Unterhaltung für die Gottheiten und absolute Qual für uns. Das Klügste wäre wohl, sich einfach auf das Schlimmste einzustellen, und was wäre das?« Wieder zucke ich mit den Schultern. »Für uns vermutlich, gar nicht erst erwählt zu werden.«
Mit einem breiten, selbstsicheren Lächeln wiegt er den Kopf. »Kann sein, dass du nicht erwählt wirst, aber für mich ist es so weit. Das spüre ich. Heute Abend werde ich zum Wettkämpfer ernannt.« Er klingt gefasst und ernst.
Die Hände in die Hüfte gestemmt, stehe ich auf und blicke auf ihn herab. »Ach ja? Woher willst du das wissen?«
Er nimmt die Hand von den Augen, als ich die blendende Sonne samt dem hellen wolkenlosen Himmel verstelle und mein Schatten auf ihn fällt. »Ich weiß es einfach. Seit ein paar Tagen schon habe ich so ein Gefühl, und als ich heute Morgen aufgewacht bin, war ich mir sicher.«
»Du weißt es oder du hoffst es?«, hake ich nach, während ich überlege, wie ich mich fühle. Nervös natürlich, entschlossen und gespannt, aber dieser Ausdruck von Gewissheit auf Therons Gesicht – der fehlt mir.
»Ich weiß es«, bekräftigt er und stemmt sich auf den Ellbogen hoch und schenkt mir erneut einen intensiven Blick. »Heute Nacht ist der letzte Blutmond, bevor ich neunzehn werde. Sie haben sich Zeit gelassen, aber ich werde meine Chance bekommen, mich zu beweisen, vor allem vor meinem Vater.« Er wendet den Blick ab und ich setze mich, diesmal dicht neben ihn, während er noch immer ausgestreckt auf der Erde liegt.
Wir haben schon so viele Blutmonde zusammen durchgestanden, aber so hat er noch nie geredet – voller Hoffnung, ja, aber nicht mit Überzeugung. Ich versuche, mich an den Tag zu erinnern, an dem Estella ausgewählt wurde, und überlege, ob sie sich damals irgendwie anders fühlte, wusste, dass man sie ernennen würde. Falls ja, hat sie es zumindest nicht gesagt.
»Aber woher weißt du es?«, frage ich mit hoher Stimme. Ich muss wissen, wie es sich anfühlt. Ich muss wissen, warum ich mich nicht genauso fühle wie er.
Er lächelt mich an. »Ich weiß es einfach, Ara. Ich bin ruhig und bereit und … Ich kann es nicht erklären, ich bin mir einfach sicher, tief in meinem Innern, tief in meiner Seele. Als würde man mich rufen.«
»Sicher, dass du dir nicht gerade nur mächtig den Kopf gestoßen hast, als ich dich auf deinen Hintern befördert habe?«, frage ich.
Lächelnd setzt er sich auf, um seine Finger zwischen meine zu schieben. Sofort überzieht ein wohliges Schaudern meinen Arm.
»Es wird nichts passieren. Mir wird nichts passieren«, murmelt er wie ein Mantra.
»Ja, klar, das weiß ich.« Seine betroffene Miene verrät mir, dass er offenbar dachte, ich hätte ihn nicht aus Neugier, sondern aus Besorgnis gefragt. »Immerhin hast du mit der Besten trainiert«, füge ich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen hinzu und schon lächelt er wieder auf die ihm typische, gelassene Art.
Sein Blick macht mich gleichzeitig nervös und kribblig. Als wäre ich in diesem endlosen Moment gespannter Erwartung gefangen – zum ersten Mal kann ich nachfühlen, warum Theron im Kampf nicht abwarten kann; verstehe, wie es ist, von der Anspannung überwältigt zu werden und nicht mehr stillhalten zu können.
Wie von der Tarantel gestochen stehe ich auf. »Dann bis heute Abend«, rufe ich über die Schulter, während ich vom Übungsplatz sprinte. Auch ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass Theron mir nachrennt. Nur bin ich schneller.
Als ich höre, wie er schlitternd zum Stehen kommt, und doch noch einmal zurückschaue, schüttelt er lachend den Kopf und ruft: »Bis heute Abend!«
Ungebremst renne ich weiter, bis ich den Bach erreiche.
»Eigentlich bin ich dran! Du sollst mich auswählen!«, brülle ich zum Himmel hinauf.
Ein Weinkrampf schüttelt mich, als mir klar wird, dass meine Chancen schwinden. Und mehr noch: Wenn Theron recht hat, könnte ich ihn ebenso verlieren, wie ich Estella verloren habe. Dann hätte ich bald zwei Leben zu rächen und einen weiteren Gott zu töten.
DIE VORBEREITUNGEN
Als ich ins Wasser steige, ist es bereits wieder kalt. Kurz schaudere ich, bevor ich mich fange, die Knie anziehe und mich am kühlen Metall der kleinen Wanne hinabgleiten lasse, bis mein Kopf unter Wasser ist.
Durch den zarten Farbschleier, den das Lavendelöl auf der Oberfläche bildet, wirkt alles wie verzerrt. Mit angehaltenem Atem fange ich an zu zählen. Trotz meiner Gänsehaut verharre ich so lange es geht unter Wasser, auch dann noch, als meine Sicht verschwimmt, vor meinen Augen kleine Sterne zu tanzen beginnen und mir die nächste Zahl nicht einfallen will. Meine Lunge brennt, dennoch widerstehe ich dem Drang aufzutauchen.
Noch zwei, sage ich mir und zähle langsam eins, zwei. Dann erst schieße ich in die Höhe und schnappe gierig nach Luft, kaum dass mein Kopf die Oberfläche durchbricht. Wie eine zweite Haut klebt das Öl an mir, von dem das Wasser nun abperlt, als könne es mir nichts anhaben.
Drei tiefe Züge sind notwendig, damit meine Atmung sich normalisiert. Auf die harte Tour habe ich gelernt, dass es fast genauso wichtig ist, sich zu erholen, wie sich anzutreiben. Im entscheidenden Moment die Beine in die Hand zu nehmen und wegrennen zu können, bedeutet unter Umständen den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage – oder, im Hinblick auf die Spiele der Unsterblichen, zwischen Leben und Tod.
Ich überlege, ob ich mich noch einmal ins eiskalte Wasser sinken lassen soll, bemerke dann aber, dass ich eigentlich längst angezogen und auf dem Weg zum Tempel sein sollte.
Also schnappe ich mir den Lappen und die Seife mit dem Rosenduft und schrubbe mir den Schmutz von der ölbedeckten Haut. Danach schäume ich die Seife mit den Händen auf und verteile den Schaum in meinen Haaren.
Früher war es immer Estella, die mir das Haar gewaschen hat, bevor sie es kämmte, Locken drehte, Zöpfe flocht und alles feststeckte. Als sie zu den Spielen antreten musste, war sie ein Jahr jünger als ich jetzt. Ich habe immer zu ihr aufgeblickt und sie hat mir den richtigen Weg gezeigt. Aber nach ihrem Tod habe ich nicht länger versucht, ihrem Beispiel zu folgen. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich schlicht nicht wusste, wie. Der Blutmond ist der einzige Anlass, an dem ich Wert auf mein Äußeres lege – und geradezu hören kann, wie Estella mir einschärft, aufrecht zu sitzen, freundlich zu lächeln und mir die Haare zu bürsten.
Normalerweise konzentriere ich mich allein darauf, wie stark oder schwach ich bin, wie viele Verletzungen ich vom Training davongetragen, welchen körperlichen Fortschritt ich gemacht habe; es kommt kaum vor, dass ich mir Gedanken über mein Äußeres mache, es sei denn, ich überlege, was daran mich mit Estella verbindet.
Ich steige aus der Wanne und greife nach der Strigilis, um mir mit schnellen, geübten Handgriffen die Wasserperlen vom Körper zu schaben, bevor ich meine Haut so weit trocknen lasse, dass ich Lavendel- und Rosenöl einmassieren kann. Einen Spritzer davon gebe ich außerdem in mein Haar, das ich anschließend mit den Fingern durchkämme, bevor ich es ordentlich bürste. Meine Haare sind von Natur aus gewellt, doch um mein Gesicht mehr zu betonen, drehe ich einzelne Strähnen fest ein – genau wie Estella es getan hätte. Anschließend mache ich mich daran, den Rest zu flechten und zu so etwas wie einer eleganten Kaskade aufzustecken. Als ich fertig bin, werfe ich einen prüfenden Blick in den Spiegel – im Halbdunkel könnte meine Frisur vielleicht als hübsch durchgehen.
Als mein Blick auf den weichen grünen Chiton über der Rückenlehne des Stuhls fällt, seufze ich. Auf dem Übungsplatz stehe ich in andauerndem Wettstreit: mit Jungen, die doppelt so groß sind wie ich, mit Mädchen, die mir die Ohren abbeißen würden, wenn ich ihnen Gelegenheit dazu gäbe, und dennoch erfüllt mich nichts davon mit so viel Furcht wie dieses Stück Stoff.
Den Chiton anzuziehen, kostet mich unendlich viel Überwindung. Überrascht muss ich jedoch feststellen, wie angenehm er über meinen sonnengebräunten Körper fällt, wie die Öle die Farbe meiner Haut mit ihrem Glanz zur Geltung bringen, sodass sie neben dem Blassgrün des Kleidungsstücks regelrecht strahlt. An der Kommode betrachte ich die Halskette und die Armreifen, die für mich bereitliegen. Ich überlege, ob meine Mutter wohl dabei geholfen hat, sie auszusuchen, weiß aber, dass es höchstwahrscheinlich Ida war. Nichts davon rühre ich an, sondern öffne die Kassette, die ich auf der Kommode aufbewahre, und nehme eine goldene Kette mit einem kleinen runden Anhänger heraus. Während ich sie durch die Finger gleiten lasse, spiegelt sich das Licht auf der Gravur, dem Sternbild der Zwillinge, und der dazugehörenden Inschrift: ESTELLA, SPIELERIN DES ZEUS. Kalt fällt das Metall auf meine Brust, als ich die Kette umlege. Seit sie schlaff um Estellas Hals hing, als man meine Schwester zu uns zurückbrachte, trage ich sie zu jedem Blutmond.
Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken.
Ohne meine Antwort abzuwarten, eilt Ida mit strammem Schritt herein. »Das Fest beginnt bald. Deine Mutter will nicht hin und dein Vater will nicht, dass sie hierbleibt.« Die plötzliche Hektik und Lautstärke, die sie verbreitet, machen mich schwindelig. Doch als Ida mich ansieht, verstummt sie abrupt. Kurz flackert in ihrem Gesicht etwas auf und ich frage mich, ob sie an Estella denkt. Ihre Miene ist freundlich, doch ich erkenne darin auch einen Anflug von Mitleid, was mich einigermaßen ratlos macht. Ida führt mich zum Stuhl, fordert mich auf, Platz zu nehmen, zieht mir die goldenen Nadeln aus dem Haar und öffnet die unordentlichen Flechten, arbeitet mit flinken Fingern, während sie beherzt zu den ihr zur Verfügung stehenden Waffen greift – Waffen, mit denen ich ganz offensichtlich nicht umzugehen weiß.
Ida kämmt meine Locken aus und gießt Öl auf die Stellen, die beim Trocknen spröde geworden sind. Dann summt sie ein Wiegenlied, eines, das sie schon meiner Mutter als Baby vorgesungen hat und später dann, als sie unser Kindermädchen wurde, Estella und mir. Manchmal höre ich, wie sie es meiner Mutter selbst jetzt noch vorsingt, in jenen Nächten, wenn die Erinnerung an Estella sie uns entreißt.
Ich summe mit, und fast ohne es zu merken, singen wir auf einmal gemeinsam, während mir Tränen über die Wangen kullern. Als Ida mit meinem Haar fertig ist und nach den Schmuckstücken greift, die auf der Kommode liegen, bin ich überzeugt, dass allein sie es war, die meine Kleidung, die Ketten und die Reifen ausgesucht hat. Meine Stimme bricht, als sie mein Gesicht in ihre Hände nimmt und die Tränen fortwischt, bevor sie mir einen Kuss auf die Wange drückt und nach einem Topf Puder greift.
»Schließ die Augen«, sagt sie und ich gehorche. Ihre Finger tanzen über meine Lider. Es tut so gut, mich ihrer Fürsorge hinzugeben, zu wissen, dass sie für mich da ist. So lange schon hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass sich jemand wirklich um mich kümmert. Mutter ist tief in ihrer Trauer gefangen und Vater wurde mir von seiner entrissen.
Zumindest in diesem kurzen Moment muss ich mir eingestehen, dass auch ich von meiner Trauer überwältigt bin – geblendet, einzig und allein angetrieben von der Idee, Estella zu rächen. Niemand hat mir diese Richtung gewiesen, in der ich mich eigentlich wie verloren fühle. Niemand hat mir aufgetragen, Zeus zu töten. Doch als ich damals erwachte und Estella neben mir fand – mit dem Anhänger um den Hals, der nun meinen ziert –, konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass Zeus sie mir weggenommen hatte. Und als mir immer mehr geraubt wurde – meine Mutter, die Zuneigung meines Vaters, das Leben, das ich mit meiner Schwester geteilt hatte –, da wusste ich, dass ich es ihm heimzahlen muss.
Ich merke, dass meine Stimmung umschlägt, und gebe mir Mühe, nicht erneut in Tränen auszubrechen, weil ich nicht will, dass Ida sich umsonst so viel Mühe mit meinem Gesicht gegeben hat.
»Du kannst die Augen wieder öffnen«, sagt sie jetzt, während sie einen Topf mit dem leuchtendsten Rot holt, das ich je gesehen habe. Erst tupft sie es mir auf die Wangen und anschließend auf die Lippen.
Dann tritt sie einen Schritt zurück und legt nachdenklich den Kopf schief, bevor sie lächelt. »Na also.« Sie deutet in Richtung Spiegel.
Etwas zögerlich stehe ich auf, doch sie nickt mir aufmunternd zu.
Obwohl ich weiß, wer die junge Frau vor mir ist, kann ich es kaum glauben. Vielleicht ist sie eine andere Version von mir. Die Ara, die zu sein ich vergessen habe.
Während ich mich von allen Seiten betrachte, muss ich mir eingestehen, dass mir dieses andere Ich im Spiegel gefällt. Das Mädchen, das ich dort sehe, strahlt. Mit ihren klaren leuchtenden Augen sieht sie so glücklich aus, als wäre ihr Leben erfüllt von Freude. Einen Moment lang gestatte ich mir, so zu tun, als wäre ich wirklich sie, was mich beinahe erneut zu Tränen rührt.
»Du siehst wunderschön aus, Ara.« Nun ist es Ida, die weint.
Voller Zuneigung umarme ich sie. »Danke.« Meine Stimme klingt erstickt. »Nicht nur für das hier, sondern für alles. All deine Fürsorge für Mutter und für mich.« Mir ist bewusst, dass dies die letzte Gelegenheit sein könnte, mich bei ihr zu bedanken, sollte ich heute Abend tatsächlich erwählt werden.
Dabei muss ich an meine Eltern denken und frage, wo sie sind.
»Dein Vater ist bereits zum Tempel aufgebrochen und deine Mutter ist in ihrem Zimmer.«
Ich lege Ida eine Hand auf den Arm. »Ich rede mit ihr, aber wenn sie wirklich nicht hinwill, wollen wir sie nicht zwingen. Ich werde das Vater erklären.«
Ich weiß, wie es mir während der Blutmonde geht, und ich will mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie schrecklich es für meine Mutter oder meinen Vater sein muss.
Ida nickt und verlässt mein Zimmer, während ich mir meine alten Sandalen greife und dafür jene, die sie mir ausgesucht hat, stehen lasse.
An der Tür meiner Mutter lege ich das Ohr ans Holz und lausche. Im Zimmer ist alles ruhig. Manchmal fürchte ich die Stille mehr als die Momente, in denen sie heult und tobt, wenn sie die Götter aufgelöst anruft, um sie kurz darauf zu verfluchen, wenn sie alles kurz und klein schlägt, was sie in die Finger bekommt, es zu Boden schleudert und auf den Trümmern herumtrampelt, bis die Verwüstung von ihrem Blut befleckt ist. Sie wird nie wieder heil sein, das weiß ich. Wir alle wissen es, vor allem sie selbst, und ich glaube, das macht es für sie umso schwerer zu ertragen.
Behutsam schiebe ich die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfe in die finstere Kühle des Zimmers. Sämtliche Fensterläden sind geschlossen, um die aufziehende Nacht auszusperren.
Der Raum ist sauber und ordentlich, die Kleidung, die Ida für Mutter bereitgelegt hat, unangetastet, das Badewasser kalt und klar. Ihre trostlose Gestalt entdecke ich im Bett, unter der Decke, eingehüllt wie von einem Leichentuch. Lautlos schleiche ich näher. Mutters Augen sind geschlossen und ihr Haar liegt wirr um ihren Kopf. Als ich es ihr aus dem Gesicht streiche, seufzt sie schwer. Ich hoffe, sie träumt von glücklicheren Tagen als heute, und küsse sie auf die Wange, wobei ich die salzigen Tränen schmecke, die sie vor ihrem Schlummer vergossen hat. Kurz überlege ich, ob sie sie meinetwegen geweint hat, wegen dem, was heute Abend geschehen könnte. Doch im Grunde weiß ich, wem die Tränen galten.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, breche ich auf.
Die Sonne ist gerade erst untergegangen und die Luft ist noch warm. Doch Artemis war heute Abend schnell. Rund und erwartungsvoll steht der Mond bereits am Horizont, das bleiche Gesicht zu einem Schrei verzogen, angesichts des zu erwartenden Grauens, mit dem die Spiele der Unsterblichen aufwarten.
Ich komme schnell voran, meine alten Sandalen haben guten Griff auf dem Boden.
Plötzlich nehme ich hinter mir eine Bewegung wahr. Es ist Ida, die sich beeilt, zu mir aufzuschließen. »Heb deine Röcke, sonst werden sie ganz staubig«, sagt sie.
Kurz zögere ich. Ich will nicht, dass sie meine alten Sandalen entdeckt, weiß aber, dass sie nur selbst nach dem Saum fassen und den Stoff hochraffen wird, wenn ich es nicht tue. Als sie sieht, für welches Paar ich mich entschieden habe, schüttelt sie amüsiert den Kopf.
»Für den Fall, dass ich antrete, sind die alten Schuhe besser«, erkläre ich und höre, wie Ida nach Luft schnappt. »In diesen hier kann ich gut rennen. Wenn es sein muss, kann ich tagelang darin gehen, ohne dass sie einschneiden oder ich mir Blasen laufe.« So nüchtern und gefasst ich mich auch anhöre: Ich zittere innerlich, während ich den Blick fest auf den Mond hefte.
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