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Eine Reise mit schicksalhaften Wendungen Paisleys Bruder Dax ist entführt worden! Ohne zu zögern, bricht Paisley in die nördlichen Gefilde auf, um ihn zu finden. Im Gepäck hat sie das Drachenei aus dem Verlies ihrer Familie – und das wächst und wächst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis daraus ein mächtiges Wesen schlüpfen wird. Doch nicht nur das beunruhigt Paisley: Die Dunkle Drachenhüterin scheint ihr dicht auf den Fersen zu sein … Band 2 der spannenden Drachenfantasy In der actionreichen und abenteuerlichen Fantasy-Reihe tauchen Kinder ab 10 Jahren ein in eine Welt voller mächtiger Drachen und geheimnisvoller Sterne. Die mutige Heldin erinnert an Katniss Everdeen und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Überraschende Wendungen und ein gelungener Weltenaufbau in einem fiktiven London und den mysteriösen Nördlichen Gefilden machen die Kinderbuchreihe zu einem wahren Page Turner. Der Titel ist bei Antolin gelistet.
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Seitenzahl: 423
Für Jason,der mit mir das Verstreichen der Zeit und das Erleben von Unendlichkeit in einem Moment geteilt hat.
Quam bene vivas refert non quam diu.Entscheidend ist, wie gut du lebst, nicht, wie lange.
Seneca der Jüngere
Die Sprache der Trauer
Endlich zu Hause
Ein dunkler Streif am Horizont
Drachenrührei
Der König
Der runde Saal
Das Versprechen des Königs
King Star Station
In den dunklen Tiefen Londons
Kupferich und Verrat
Ein unvorhergesehener Halt
Sicher wie ein Lagerhaus
Die Drakadore
Verschattete Gedanken
Die zweiten Sterne der Paisley Fitzwilliam
Unerwartete Sterne
König auf der Flucht
Die Kunst, den Schleier zu bändigen
Helin
Die Sterne des Krieges
Die Ritter rücken an
In Reichweite
Die Aristarchus
Befreiung
Die Schmiede von Ord
Zweierlei Frühstück
Freundschaft schmieden
Naess
Abschied von Corbett
Inverness
Was man nicht alles aus Liebe tut
Dóm-Fyr
Hinter dem Horizont
Die Nördlichen Gefilde
Drachen, Diskussionen und Dr. Mickle Michaelson
Die Armee von Albion
Etwas Großes steht bevor
Die Schlacht um die Königsburg
Das Geheimnis des Dräufeuers
Das Geschenk der Dunklen Drachenhüterin
Die Trauer sprach zu Paisley Fitzwilliam. Sie rief tief aus ihrem Inneren nach ihr, während sie Odelia und den anderen durch die knisternd kalten Straßen Lower Londons vorauslief. Im Schutz der Schatten kamen sie zügig voran.
»Geht es dir gut, Paisley?«, erkundigte sich Corbett.
Odelia schnalzte hörbar mit der Zunge. »Natürlich nicht. Glaubst du, dir würde es gut gehen, wenn soeben deine Mutter gestorben und dein Bruder von drachenreitenden Krigaren in die eisigen Nördlichen Gefilde entführt worden wäre?«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, räumte Corbett mit gedämpfter Stimme ein. »Aber das sagt man halt so, oder? ›Geht es dir gut?‹, nicht ›Möchtest du über deinen Schmerz und Verlust reden?‹«
Paisley wandte sich schweigend ab und blickte zu Hal hinüber. Odelia hielt ihn mit einer Hand am Oberarm fest und führte ihn dicht neben sich her durch die Stadt. Er steckte noch immer in seiner Krigare-Uniform: eine dunkle Drachenlederhose mit Schuppenmuster und eine Soldatentunika. Wenn man auf einem Drachen durch die Lüfte glitt, konnte es schnell kalt werden und das Leder schützte sowohl vor den Elementen als auch vor feindlichen Waffen. Es gab nicht viel, das Drachenhaut durchdringen konnte.
Hal lächelte traurig. Sein verbliebenes Auge glänzte im Licht der Morgensonne, während die feuerrote Narbe, die von seinem Scheitel unter der Augenklappe hindurch bis zu seinem Kinn reichte, sich in der Kälte zusammenzuziehen schien. »Wenn wir in den Nördlichen Gefilden einen geliebten Menschen verlieren, feiern wir sein Leben. Wir erinnern uns daran, wie er war, und erzählen von seinen Taten – denselben Taten, die in seinen Krigare-Malen festgehalten sind.« Er deutete auf die eisblauen Tätowierungen, die von seinem Hals bis zu seinen rasierten Schläfen hinaufreichten. Das straßenköterblonde Haar oben auf seinem Kopf war lang und auf ähnliche Weise geflochten wie bei den älteren Drachenmeisterinnen, die Paisley im Drachengewölbe von Kensington Above gesehen hatte.
Paisley trat auf ihn zu. »Du hast mir nicht zu sagen, wie ich trauern soll. Mein Bruder ist nicht hier, weil er von deinen Leuten verschleppt worden ist! Ich lasse nicht zu, dass er zu einem weiteren blauen Mal auf dem Körper von irgendwem wird. Du, Hal Nordmann, wirst mir helfen, meinen Bruder zurückzuholen – ich bin mir sicher, dass ich ihn gegen dich eintauschen kann. Aber solltest du irgendetwas tun, das meine Chancen, Dax wiederzubekommen, gefährdet, nehmen wir dich nicht mit in den Norden. Wenn du meine Trauer auf irgendeine Weise noch schlimmer machst, lassen wir dich hier und du kannst zusehen, wie du mit den Männern des Königs klarkommst.«
Hal lächelte nicht mehr. Er setzte eine entschlossene, beinahe feierliche Miene auf und sah Paisley an.
»Klingt vernünftig. Würde ich an deiner Stelle auch so handhaben.«
Paisley kehrte ihm und den anderen den Rücken zu und schloss die Augen. Ihr Kopf füllte sich mit Bildern aus der vergangenen Nacht: der Kampf im Greenwich-Observatorium, der Apparat ihrer Mutter, das Experiment. Die Dunkle Drachenhüterin und wie sie Paisley mitten ins Herz gestochen hatte.
Sie erinnerte sich daran, wie es sich auf der anderen Seite des Schleiers angefühlt hatte – abgeschnitten vom Rest der Welt und unendlich. Sie dachte daran, wie sie ihrem Vater begegnet war und er sie zurückgeschickt hatte. Wie sie es mit der Dunklen Drachenhüterin aufgenommen hatte, nur um miterleben zu müssen, wie ihre Mutter starb und Dax entführt wurde. Wie sie begreifen musste, dass Onkel Hector sie alle hintergangen hatte.
Sie sah ihre Mutter wieder vor sich, leblos zwischen all dem Schutt, die Augen für immer geschlossen, doch sie fühlte nichts dabei, noch nicht. Es kam ihr vor, als sei das alles einer anderen Paisley passiert: vielleicht der Paisley, die sie war, bevor sie hinter den Schleier getreten war. Diese Distanz hatte etwas Tröstliches und sie fürchtete sich davor, was geschehen würde, wenn sie anfing, ihren Verlust zu spüren.
Die bitterkalten Straßen Lower Londons schienen sie von allen Seiten zu bedrängen. Ihre Mutter war tot, Dax war fort und sie fühlte sich leer. Als ob die dunklen Schwaden des Schleiers in ihr Inneres gelangt wären und einen Teil von ihr mitgenommen hätten, so wie sie es mit dem Arm der Dunklen Drachenhüterin getan hatten. Zurückgeblieben war nur ein klebriges Häuflein Nichts.
»Paisley?« Corbett berührte sie an der Schulter.
Aufgebracht drehte sie sich zu ihm um. »Es geht mir nicht gut, Corbett. Ich meine, ist das nicht offensichtlich? Meine Mutter …« Sie holte bebend Luft und atmete langsam aus. In der eisigen Morgenluft sah es aus, als würde Drachenrauch aus ihrem Mund strömen. »Aber Dax braucht mich und ich brauche ihn.« Sie hörte, wie ihre Stimme dabei brach, und hustete, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Also konzentriere ich mich jetzt einzig und allein darauf, Dax wiederzufinden.«
Sie warf Hal einen finsteren Blick zu. Alle Welt wusste, dass die Menschen aus den Nördlichen Gefilden ungebildete Barbaren waren, denen nicht zu trauen war. Die Geschichte war voll von Beispielen ihres verräterischen Verhaltens gegenüber dem Reich Albion und dem Obersten Gestalter. Und nun hatten sie Dax in ihren Fängen.
Paisley spürte, wie es in ihr brodelte, während ihr Blick nach oben wanderte. Das schwebende Viertel Kensington Above glitzerte über ihnen am klaren blauen Winterhimmel wie eine riesige Schneekugel. Seit sie es verlassen hatten, war so viel geschehen. Wie wäre ihr Lebensweg verlaufen, wenn Dax und sie nie das Drachengewölbe aufgesucht, sich nie in den Kopf gesetzt hätten, ihre Mutter zu retten? Wäre ihre Mutter dann noch am Leben? Wäre Dax trotzdem entführt worden? Paisley seufzte. Man konnte seinem Schicksal nicht entkommen. Was auch immer sie getan hätte: Früher oder später hätten die Rädchen des Himmelsmechanismus sie hierher an diesen Punkt gebracht.
»Wo sollen wir jetzt hin?«, fragte Odelia. Sie wirkte angespannt und lockerte den Griff, mit dem sie den Krigaren festhielt, nicht. Paisley sah erst ihn, dann sie an und erkannte, dass die Straßen von Lower London für beide gleichermaßen unsicher waren.
»Es ist nicht weit bis nach Hause«, sagte sie.
»Hältst du das wirklich für klug?«, wandte Odelia ein. »Die Dunkle Drachenhüterin könnte versuchen, dich dort aufzuspüren.«
»Mag sein. Aber etwas anderes fällt mir gerade nicht ein. Außerdem sollten wir lieber nicht hier draußen rumlaufen, wo uns die Männer des Königs jederzeit entdecken könnten …«
»Ich finde, Paisley hat recht.« Corbett blickte von ihr zu Hal und Odelia. »Und wir können uns ja erst mal vergewissern, ob die Luft rein ist, bevor wir reingehen.«
»Und sobald wir in Sicherheit sind, können wir uns einen Plan überlegen, wie wir Dax und dich wieder zusammenbringen«, ergänzte Odelia.
Paisley schenkte Corbett und Odelia ein kleines Lächeln. Sie wusste, dass in ihr ein riesiges Loch klaffte, das ihre Mutter dort hinterlassen hatte, wenngleich sie es im Moment nicht spürte. Doch sie wusste auch, dass die beiden für sie da sein würden, wenn sie drohte, darin zu versinken.
Sie hielt Abstand zu Hal, während sie ihren Weg fortsetzten. Dabei ließ Paisley ihn nicht aus den Augen, um sicherzugehen, dass er sie nicht alle in Gefahr brachte.
»Wonach guckst du?«, fragte sie Corbett, als sie bemerkte, wie er zum Himmel hinaufsah. Er trug den Mantel, den Roach nach dem Kampf im Observatorium zurückgelassen hatte und der an seinem schmächtigen Körper übergroß und klobig wirkte. Der Kragen war hochgeschlagen und Corbetts Gesicht himmelwärts gewandt, während er mit den Händen die zahlreichen Taschen durchwühlte, bis er ein kleines Fernglas hervorzauberte und es sich vor die Augen hielt.
»Was ist?«, fragte Paisley.
Corbett hob den Arm und zeigte nach oben. »Siehst du den Stern da?« Paisley nickte. »Tja, das ist aber kein Stern!«
»Ist das der Wolstenholme-Komet?« Paisley spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Brustkorb, als sie an den Kometen dachte, den der Apparat ihrer Mutter gerade näher an die Erde herangelenkt hatte.
»Nein, auch kein Komet. Es ist ein Planet und der sollte dort nicht sein.«
»Was? Wie ist das möglich? Wo sollte er denn normalerweise sein?«
Aber Corbett antwortete nicht. Er war so ins Fernglas vertieft, dass er nicht mitbekam, wie Odelia vor ihm an einer Kreuzung abrupt stehen blieb. Sie drehte sich behände zur Seite, bevor er mit ihr zusammenprallen konnte. Dabei ließ sie Hal los. Corbett hatte allerdings so viel Schwung drauf, dass er nicht mehr rechtzeitig vor dem Bordstein abbremsen konnte und ins Straucheln geriet. Um sich abzufangen, streckte er die Arme aus, doch er fiel nicht. Hal hatte ihn am Mantel gepackt und hielt ihn über der Fahrbahn in der Schwebe. Paisley drehte zeitgleich mit Corbett den Kopf, nur um festzustellen, dass ein Omnibus geradewegs auf ihn zukam. Corbett stieß einen Schrei aus und sie sprang vor, um ihm zu helfen, aber Hal hatte alles unter Kontrolle. Blitzschnell zog er Corbett rückwärts und brachte ihn vor dem herannahenden Fahrzeug in Sicherheit. Im nächsten Moment brauste der Omnibus wie ein verschwommener Farbklecks an ihnen vorbei.
»Das war knapp!«, keuchte Paisley und legte Corbett eine Hand auf den Arm. Mit klopfendem Herzen sah sie dem davonfahrenden Omnibus hinterher. »Geht es euch gut?«, fragte sie Corbett und Odelia. Wenn einem von beiden etwas passiert wäre, wäre sie jetzt in noch viel größeren Schwierigkeiten. Sie brauchte sie. Und nicht nur, um Dax zurückzubekommen, wurde ihr gerade klar.
»Du hast mich gerettet!« Corbett starrte Hal ungläubig an.
»Ja, vielen Dank, Krigare«, sagte Odelia. Sie nickte Hal anerkennend zu und drehte sich dann sofort wieder zur anderen Straßenseite um.
Nun erkannte Paisley auch, was Odelia hatte stocken lassen: Zwei Yardwächter in ihren schwarz-roten Uniformen waren auf ihre kleine Gruppe aufmerksam geworden. Sie hatten Hal ins Visier genommen, dessen eisblaue Krigare-Male und Drachenlederkleidung ihn auf den morgendlich ruhigen Straßen zu einem gut erkennbaren Ziel werden ließen.
Odelia stellte sich vor ihn, schüttelte sich den Umhang von den Schultern und griff nach ihren Krummschwertern.
»Im Namen des Königs, bleibt, wo ihr seid!«, riefen die Yardwächter.
»Lauft!«, schrie Odelia. Die vier machten kehrt und rannten in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Ihre Füße trommelten über das Pflaster von Lower London, während die Yardwächter hinter ihnen in ihre Trillerpfeifen bliesen, um Verstärkung herbeizurufen.
Im Nu hatte Odelia die anderen überholt und setzte sich an die Spitze der Gruppe, um sie aus der Gefahrenzone zu lotsen. Paisley war nicht überrascht, Corbett dicht hinter der Drachenmeisterin zu finden. Die Angst machte ihm offensichtlich Beine. Paisley blieb hinter Hal, um sicherzustellen, dass er nicht auf die Idee kam, die Gelegenheit zu nutzen und die Flucht zu ergreifen. So leicht würde sie ihn nicht davonkommen lassen.
Sie warf einen schnellen Blick zurück: Die Yardwächter waren ihnen immer noch auf den Fersen. Unterdessen hielt Odelia geradewegs auf eine überdachte Markthalle zu, in der die Händler gerade ihre Waren aufbauten.
Paisleys Umhängetasche schleuderte herum und traf einen Passanten, der sie erbost anschrie. Paisley packte die Tasche und presste sie an sich. Sie merkte, wie stark und wendig sich ihr Körper anfühlte, fast wie neu. Nein, besser als neu. Die schmerzenden Wunden der vergangenen Nacht waren nur noch eine entfernte Erinnerung, und wenn sie gewollt hätte, hätte sie Odelia wahrscheinlich mühelos einholen und sogar abhängen können.
Sie blickte sich erneut um und stellte fest, dass der Mann, den sie mit ihrer Tasche erwischt hatte, den Yardwächtern vor die Füße gestolpert war und sie aufhielt.
»Haltet die jungen Leute dort auf! Es sind Krigaren!«, brüllte einer der Yardwächter.
Die Marktleute stürmten herbei und Paisley erkannte, dass Hal und sie von Odelia und Corbett getrennt worden waren, die bereits auf den Ausgang am anderen Ende der Halle zurannten. Sie wurden von einem Mann mit Baguette und einem in einer Fleischerschürze gejagt.
Hal blieb stehen und sah sich um. Paisley zog ihn mit sich, zwischen zwei Marktständen hindurch, um der Gruppe vor ihnen auszuweichen. Sie hatte es auf den kleineren Seitenausgang abgesehen. Hal folgte dicht hinter ihr. Paisley hüpfte auf einen Wagen und drehte sich um, um Hal zu helfen. Er sprang zu ihr hoch und sie liefen am angrenzenden Marktstand vorbei, bevor sie auf der anderen Seite wieder runtersprangen.
Paisley nahm einen seltsamen Anstieg von Elektrika-Spannung in der Luft wahr, als würden sich die Angst und Beklemmung in ihr ausdehnen, während Hal und sie auf die offene Seitentür zusprinteten. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, glitt die Tür plötzlich zu und sie saßen in der Falle. Paisley sah Hal an. Sein Atem ging schnell und sein blonder Zopf flog hin und her, während er sich umblickte, das eine unversehrte Auge lauernd zusammengekniffen. Er ging leicht in die Hocke und breitete die Arme aus, um sich für den bevorstehenden Kampf zu wappnen. Dann richtete er sich auf, seine Gesichtszüge erschlafften und sein Auge weitete sich.
Paisley wirbelte herum. Zwischen ihnen beiden und den Leuten, die hinter ihnen her waren, klaffte ein tiefschwarzer Riss. Es war ein Stück des Schleiers, das hoch und bedrohlich emporragte und sämtliches Licht in sich aufsaugte.
Paisley wich zurück. Sie spürte die Tür in ihrem Rücken und Hal an ihrer Seite.
»Sieht aus wie die Dinger im Observatorium. Glaubst du, es ist uns gefolgt?«, fragte Hal.
Paisley beobachtete das Geschehen ungläubig. »Weiß ich nicht. Ich meine, kann sein. Bis gestern habe ich so etwas noch nie gesehen. Ich glaube, das könnte der Schleier sein – nicht der ganze natürlich, sondern einzelne Stücke, kleine Tröpfchen, die irgendwie in unserer Welt gelandet sind … oder so.«
Paisley erinnerte sich, dass sie die Stimme ihres Vaters in einer der finsteren Wolken gehört hatte, als diese im Observatorium auf Onkel Hector zugeglitten war. Die Stimme ihres Vaters, der vor vier Jahren gestorben war und den sie gesehen hatte, als sie hinter den Schleier getreten war.
Unwillkürlich hob sie die Hand an die Brust und tastete nach der Stelle, wo sie die Klinge der Dunklen Drachenhüterin durchbohrt hatte.
Sie sah die Furcht in den Gesichtern der Menschen auf der anderen Seite des schwarzen Risses, als dieser weiter anwuchs und sich in zwei Stücke teilte. Etwas darin übte einen unwiderstehlichen Sog auf sie aus.
Sie begriff, dass sie in irgendeiner Form damit verbunden war. Wie genau, war ihr nicht ganz klar und vielleicht konnte sie es auch gar nicht verstehen. Aber sie wusste, dass es stimmte, so wie sie wusste, dass Wasser nass war und Liebe manchmal schmerzte. Ihre Augen wurden groß, als eine der Wolken auf die Menge zuschoss. Die Leute stoben auseinander und gingen hinter den Marktständen in Deckung, während sich der andere Teil des Risses in Paisleys Richtung wandte. Paisley stand vollkommen still da, als die Wolke aus scheinbar unendlicher Schwärze geschmeidig und unaufhaltsam auf sie zuglitt.
Dann stürzte sich Hal auf sie und stieß sie zu Boden. Der Schleier schwebte dicht über ihren Kopf hinweg. Paisley konnte ein leises Summen wie von einer Elektrika-Lampe hören. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen sah sie, wie der Riss auf die Tür hinter ihnen traf und alles, was er berührte, verschlang. Es knackte und knisterte wie Elektrika-Funken, als die Materie auseinandergerissen und in die finstere Schwärze gesogen wurde. Dann verschwand das Summen und mit ihm der Riss. Zurück blieb ein großes Loch in der Holztür. Die Ränder waren glatt und ebenmäßig, als wäre diese Lücke in der Welt schon immer da gewesen.
Sofort war Hal wieder auf den Beinen und zog Paisley durch das Loch. Sie erstarrte und beobachtete voller Grauen, wie der andere Riss weiter anwuchs und sich leise vorwärtsschob. Die Leute auf dem Markt, Händler und Einkaufende gleichermaßen, rannten panisch davon, während der Riss alles verschluckte, was ihm in die Quere kam, bis er sich schließlich genauso schnell auflöste, wie er erschienen war.
Außerhalb des Marktes herrschte das reinste Chaos. Menschen flohen rufend und schreiend vom Ort des Geschehens.
»Komm, wir müssen hier weg! Hier werden bald noch mehr von euren Yardwächtern auftauchen.« Hal zerrte Paisley eine angrenzende Straße entlang, dann noch eine und noch eine. Schließlich duckten sie sich in eine schmale Seitengasse, um wieder zu Atem zu kommen. Paisley stützte keuchend die Hände auf die Knie, wodurch ihr die feuerroten Locken ins Gesicht fielen.
»Diese Dinger, was glaubst du, was sie sind? Portale in den Schleier?«, fragte Hal. Seine Augenbraue rutschte über der Augenklappe in die Höhe.
»Ja … nein, keine Portale … Ich glaube nicht, dass man sie betreten sollte; du hast ja gesehen, was mit der Tür passiert ist. Mein Gefühl sagt mir, dass da nichts Gutes drinsteckt«, antwortete Paisley. »Wenn meine Mutter noch hier wäre, würde sie jetzt irgendwelche Experimente durchführen, um rauszufinden, woraus sie bestehen und wie sie funktionieren.« Paisley griff sich erneut ans Herz, als sie daran dachte, welchen Sog der Riss auf sie ausgeübt hatte und wie verbunden sie sich ihm gefühlt hatte.
In dem Moment schwebte Odelia mit Corbett in den Armen vom Himmel herab. Paisley war erleichtert, die beiden sicher und wohlbehalten zu sehen.
Odelia setzte Corbett ab und er trat verlegen beiseite, während sie ihre prachtvollen Drachenschwingen anlegte und wieder unter ihrem Umhang verbarg.
»Hier.« Sie warf Hal ein großes moosgrünes Tuch zu. Er nahm es und wickelte es sich wie eine Kapuze um den Kopf, sodass seine Krigare-Male darunter verschwanden. Das Tuch reichte ihm bis zu den Knien und verbarg damit auch den Großteil seiner Drachenleder-Uniform. »Was ist passiert? Warum sind alle aus der Markthalle geflüchtet?«, erkundigte sich Odelia.
Paisley sah Hal an und schüttelte den Kopf. »Die Schleierstücke, die aus dem Observatorium … sie waren hier.«
Odelia bedachte Paisley mit einem ernsten Blick. »Merkwürdig«, sagte sie. »Die Yardwächter sind gerade abgelenkt. Wir sollten die Gelegenheit nutzen.«
Paisley übernahm wieder die Führung, doch diesmal hielt sie sich an die abgelegeneren Straßen und verwinkelten Gassen. So huschten sie von Schatten zu Schatten zu ihr nach Hause.
Obwohl die Wege menschenleer waren, blickte Paisley sich in einem fort um – nicht wegen der Yardwächter, sondern um rechtzeitig gewarnt zu sein, falls irgendwo weitere schwarze Risse auftauchten. Sie dachte daran, wie verbunden sie sich ihnen gefühlt hatte, und schauderte bei der Erinnerung, wie sie alles auslöschten, was sie berührten. Restlos, spurlos, so als wäre dort nie etwas gewesen. Zurück blieb das gleiche klaffende Loch in der Welt, das ihre Mutter hinterlassen hatte.
Die Tür war offen, als Paisley die Vortreppe zu ihrem Haus hinaufstieg.
»Hallo … Mrs Keen?«, rief sie, während sie die Tür weiter aufschob. »Dax?« Die Stille, die ihr entgegenschlug, beantwortete ihre hoffnungsvolle Frage. Sie kam sich albern vor.
Odelia streckte eine Hand aus und hielt sie zurück. Dann zog sie eines ihrer Krummschwerter und gab es Corbett.
»Bewach den Krigaren«, sagte sie, während sie nach dem anderen Schwert griff und über die Türschwelle trat.
»Moment, warum brauche ich ein Schwert?«, fragte Corbett.
»Wie willst du ihn sonst aufhalten, wenn er zu fliehen versucht? Mit deiner überragenden Kampfkunst?«
Unbeholfen richtete Corbett das Schwert auf Hal.
Der grinste schief und hob die Hände. »Das ist wirklich nicht nötig. Ich kann eh nirgendwohin und überraschenderweise fühle ich mich bei euch sicherer als irgendwo da draußen. Dort könnte ich jederzeit von den Yardwächtern erwischt werden.« Er warf Paisley einen eindringlichen Blick zu.
Paisley ignorierte ihn und folgte Odelia ins Haus. Hal blieb dicht hinter ihr. Corbett bildete die Nachhut, wobei er das Schwert auf den Rücken des Krigaren gerichtet hielt.
Odelia durchstreifte die Räume im Erdgeschoss und nickte Paisley zu, um zu signalisieren, dass die Luft rein war. Dann setzte sie ihre Überprüfung im ersten Stock fort.
Währenddessen ging Paisley in die Bibliothek. Das letzte Mal war sie mit Dax hier drin gewesen: Er hatte die Karten des Königreichs Albion vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und die der Nördlichen Gefilde und der Östlichen Reiche drum herum platziert. Nun war der Tisch leer.
Die Tür zum Arbeitszimmer ihrer Mutter war angelehnt und Paisley stockte der Atem, als sie sah, wie sich darin etwas bewegte. Mit schnellen Schritten durchquerte sie die Bibliothek und riss die Tür auf. Im Zimmer war niemand, aber ein Fenster stand offen und eine eisige Brise ließ die Vorhänge flattern.
Paisley eilte zum Fenster und sah hinaus. Im Garten war der Schnee aufgewühlt und sie kämpfte gegen den Impuls an, hinauszuspringen und die Person aufzuspüren, die die Spuren hinterlassen hatte. Stattdessen knallte sie das Fenster zu und schaute sich im Zimmer um.
»Was ist los?« Corbett stand im Türrahmen. Hal hatte die Schwelle überschritten und betrachtete das Arbeitszimmer interessiert.
»Jemand war hier«, sagte sie und ließ den Blick über die Regale schweifen, um festzustellen, ob sich der Eindringling daran zu schaffen gemacht hatte.
Das Zimmer ihrer Mutter war so sauber und ordentlich, wie sie es zurückgelassen hatte, bevor sie von der Dunklen Drachenhüterin entführt worden war. Paisley ging auf eins der Regale zu und strich bedächtig mit den Fingern über die Buchrücken. Sie schloss für einen Moment die Augen, als der Schmerz des Verlustes wie eine Welle über sie hinwegrollte.
Corbett nahm den Raum ebenfalls in Augenschein. Als Lehrling ihrer Mutter war ihm das Zimmer so vertraut, dass er jede noch so kleine Veränderung sofort bemerken würde. Hal fing an herumzugehen und sah sich neugierig um. Als er Violettas Schreibtisch erreichte, hob er ein kleines, in Drachenleder gebundenes Büchlein auf.
»Das Tagebuch meiner Mutter«, sagte Paisley mit leichtem Zittern in der Stimme und streckte die Hand danach aus. Er hielt es ihr hin, zog es jedoch schnell wieder weg, als sie danach greifen wollte.
Paisley war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Gib her«, verlangte sie.
»Entschuldige, war nur Spaß. Das hätte ich nicht tun sollen«, antwortete Hal und legte ihr das Büchlein in die Hand.
Paisley drehte es um und strich mit den Fingern über die samtig weichen Schuppen des Drachenleders.
»Aber hatte deine Mutter ihr Tagebuch nicht dabei, als sie von der Dunklen Drachenhüterin entführt wurde? Wie kann es dann sein, dass es jetzt hier ist?«, fragte Corbett. Paisley stürmte zurück zum Fenster, riss es auf und lehnte sich hinaus.
»Roach!«, brüllte sie. Die Welt blieb still. Zweifelsohne war er längst verschwunden. Mit Tränen in den Augen schlug sie das Fenster wieder zu. Wie konnte er es nur wagen, hierherzukommen? Sie drückte das Büchlein an sich. Das Haus fühlte sich nicht länger wie ein Zuhause an: Wie totes Nachtsilber hatte es seine ganze Wärme verloren.
Odelia kam herein und stellte sich neben Corbett. »Alles sauber«, verkündete sie.
»Es war aber jemand hier.« Paisley wedelte mit dem Tagebuch. Sie schlug es auf und landete auf einer Seite, die nicht nur mit der eleganten Handschrift ihrer Mutter bedeckt war, sondern auch eine Bleistiftzeichnung enthielt. Sie zeigte den Herzstein, der sich im Inneren der Nachtsilberuhr verborgen hatte.
Zwischen den Seiten steckte ein fester weißer Umschlag mit dem Siegel der Mechanisten. Als Paisley ihn umdrehte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass auf der Vorderseite ihr Name in altkeltischer Schrift stand.
Ihr Mund wurde trocken.
»Was ist?«, fragte Odelia.
Paisleys Herz raste. Sie brach das Siegel, zog den Brief heraus und fing an, vorzulesen:
Paisley Fitzwilliam,
uns ist zur Kenntnis gekommen, dass der Oberste Gestalter beschlossen hat, dir ein zweites Mal deine Sterne zuzuweisen. Deine Wiedergeburt hat einen neuen Lebenspfad erschaffen und neue Sterne werden deinen Weg bestimmen. Dies ist höchst ungewöhnlich und hat sich nach unserem Wissen noch nie zuvor ereignet. Die Absichten des Obersten Gestalters sind jedoch stets wahrhaftig und klar, so wie es auch dein Lebensweg ist; möge er dich den Sternen gemäß leiten.Uns Mechanisten kommt die Aufgabe zu, dafür Sorge zu tragen, dass die Sterne jedem seinen vom Schicksal bestimmten Weg weisen. Weder richten noch urteilen wir, doch wir bieten jedem, der darum bittet, Erleuchtung.Bitte suche die nächstgelegene Mechanistenkapelle auf, sobald es dir möglich ist, um deine neuen Sterne zu erhalten. Wie es in den Heiligen Schriften der Blaupausen steht: »Alle Lebenswege führen zum Ziel und alle Sterne weisen den Weg.«
Unbeschwerte Wenden,Astrom Fe Stern
Paisleys Gedanken kreisten wie die Bahnen des Himmelsmechanismus umeinander. Fast vierzehn Wenden hatte sie ohne leitende Sterne gelebt, ohne Schicksal, auf das sie zustrebte, ohne festgelegten Pfad, dem es zu folgen galt. Sie war sternenlos, ohne bestimmten Lebensweg durch die Welt gegangen. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, ihre Sterne zu bekommen und so zu sein wie alle anderen.
Vor ein paar Tagen hatte es schließlich einen flüchtigen Moment gegeben, in dem dieser Traum in Erfüllung zu gehen schien. Der Oberste Gestalter hatte ihr endlich ihre Sterne verliehen. Sie hatte sich wie ein vollwertiger Teil des Königreichs gefühlt.
Doch dann hatten ihr die Sterne so viel genommen und ihr im Gegenzug nichts als Ärger eingebracht. Was, wenn ihre neuen Sterne etwas Ähnliches für sie bereithielten? Sie war sich nicht sicher, ob sie noch mehr ertragen konnte.
»Ein zweiter Satz Sterne! Das habe ich ja noch nie gehört«, sagte Corbett.
»Du kanntest aber auch noch niemanden, der länger gelebt hat als von den Sternen vorgesehen. Wer ist denn schon hinter den Schleier getreten und wieder zurückgekehrt?«, entgegnete Odelia mit hochgezogener Augenbraue.
Paisley fühlte sich, als wäre ein Beben durch ihren Lebensweg gegangen. Von dem Moment an, in dem sie ihre Hand in die Schematika gelegt hatte, um sich – wie alle Untertanen des Königs – ihr Schicksal tätowieren zu lassen, war ihre Welt ins Schleudern geraten. Deine Sterne sagen, dass du scheitern wirst. Paisley Fitzwilliam, noch vor dem Ablauf deiner vierzehnten Wende wird dein Rädchen zum Stehen kommen. Dein Weg wird enden und du wirst sterben. Das hatten ihre Sterne verkündet und sie hatten recht behalten.
Die Dunkle Drachenhüterin hatte sie erstochen und sie war gestorben. Doch dann war sie zurückgekehrt.
Paisley wurde ganz heiß. Sie versuchte, nicht an ihre Verbindung zum Schleier zu denken oder daran, dass ihre ersten Sterne ihr überhaupt erst den Weg dorthin gewiesen hatten. Während sie das Pergament zusammenfaltete und die Kante glatt strich, fragte sie sich, ob sie auch gestorben und zurückgekehrt wäre, wenn sie ihre Sterne nie erhalten hätte. Sie steckte den Brief in den Umschlag. Die kleine Kupferscheibe darin schien ihr zuzuzwinkern. In ihr kochte eine plötzliche Wut über ihre neuen Sterne hoch. Es fühlte sich an, als würden sie sie verspotten mit diesem Schicksal, über das sie keine Kontrolle hatte, über das sie nicht mitbestimmen durfte und das sie am Ende womöglich genauso ins Unglück führen würde wie ihre ersten Sterne. Sie dachte an das letzte Mal, als sie ihre Mutter gesehen hatte, und knüllte das Schreiben zusammen.
»Du wirst dir doch deine zweiten Sterne holen, oder?« Corbett sah sie mit großen Augen an.
Paisley zögerte einen Moment. »Nein, das werde ich nicht. Was hat es mir beim ersten Mal gebracht?«, fragte sie, wütend auf ihre Sterne und auf den Obersten Gestalter, der sie ihr mitgegeben hatte. »Meine letzten Sterne haben prophezeit, dass ich sterben würde, und, na ja … wir wissen alle, wie das ausgegangen ist. Ich bin fast mein ganzes Leben bestens ohne meine Sterne ausgekommen und das werde ich jetzt garantiert auch.«
Hal stieß ein leises Ha aus und lehnte sich gegen das Bücherregal. Paisley warf ihm einen bohrenden Blick zu.
»So leben wir auch in den Nördlichen Gefilden«, erklärte er. »Ohne Sterne, die uns leiten, ohne Mechanisten, die uns darlegen, wie unser Lebensweg aussieht. Wir schmieden unser eigenes Schicksal durch die Entscheidungen, die wir treffen, so wie unsere Vorfahren in der Zeit vor dem Mechanismus.«
Paisley trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass es zwischen ihrem Entschluss, auf ihre Sterne zu verzichten, und der Lebensweise der Barbaren im Norden Parallelen geben könnte. Den Großteil ihres Lebens hatte sie sich irgendwie richtungslos gefühlt. Die Vorstellung, keinen klaren Pfad zu haben, an dem sie sich orientieren konnte, verstärkte diese Empfindung noch, selbst nach allem, was passiert war. Sie konnte das einfach nicht noch einmal durchstehen.
»Möchtest du denn nicht wissen, was auf deinem Weg auf dich wartet?«, fragte Corbett.
Paisley schüttelte den Kopf, doch Odelia warf ein: »Deine Sterne könnten wichtige Informationen enthalten. Sie könnten uns einen Einblick geben, was uns bevorsteht, wie wir Dax zurückbekommen oder wie wir die Dunkle Drachenhüterin besiegen können.«
Paisley drückte den Brief noch einmal und fühlte die harte Kupferscheibe in ihrer Handfläche. Vielleicht hatte Odelia recht. Aber was, wenn ihre Sterne wieder nur Unheil verhießen? Wenn sie prophezeiten, dass sie Dax nie wiedersehen würde? Dieses Wissen könnte sie nicht ertragen.
»Aye, oder irgendwelche Informationen über den Kometen und was mit dem Himmelsmechanismus geschieht«, sagte Corbett, machte dann auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Arbeitszimmer zurück in die Bibliothek. Im Vorbeigehen gab er Odelia ihr Schwert zurück. Die anderen folgten ihm rasch. Er strebte geradewegs auf ein Regal zu und zog einen Band aus der Sammlung mit astrologischen Aufzeichnungen heraus. Krachend ließ er den Wälzer auf den Tisch fallen und fing an, darin zu blättern, bis er eine Doppelseite voller Zahlen und mathematischer Berechnungen gefunden hatte. Er strich die Seiten glatt. »Ich brauche was zum Schreiben«, sagte er und begann, in der Tasche von Roachs Mantel zu wühlen. Er förderte jedoch nur ein Metalldöschen, ein Stück Bindfaden und das Photogramm eines kleinen Mädchens mit lockigen Haaren und breitem Lächeln zutage. Dann steckte er alles wieder zurück und wandte sich an Paisley: »Hast du ein Blatt Papier und einen Stift?«
Sie besorgte ihm beides und er fing augenblicklich an, eine Abfolge von Zahlen aus dem Buch abzuschreiben und mehrere komplizierte Gleichungen aufzustellen.
»Geht es um den Planeten, den du vorhin gesehen hast? Du meintest, er sollte nicht an dieser Stelle sein.« Paisley blickte über seine Schulter und betrachtete die aufgeschlagene Seite mit den fein säuberlich aufgelisteten Koordinaten. Jede von ihnen stand für die Position eines Himmelskörpers an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit. Corbett sah auf und Paisley konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass etwas nicht stimmte. »Ich muss mit jemandem darüber reden. Ich brauche mehr Daten darüber, was dort draußen im Mechanismus vorgeht.«
»Was glaubst du denn, was dort vorgeht?« Odelia verschränkte die Arme vor der Brust.
Corbett holte tief Luft. »Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf Paisley und lächelte betrübt. »Deine Mutter hätte es sicher erkannt, aber ich bin noch in der Ausbildung und fange gerade erst an, die Abläufe im Inneren des Mechanismus zu verstehen.«
»Aber du glaubst, dass etwas mit dem Mechanismus nicht stimmt?«, hakte Odelia nach.
»Aye. Heute früh habe ich einen der wandernden Planeten gesehen, der sich auf der völlig falschen Bahn bewegte – das bestätigen auch meine Berechnungen. Ich hoffe inständig, dass ich mich irre. Allerdings glaube ich, dass wir mehr als nur den Wolstenholme-Kometen in Bewegung versetzt haben, als die Dunkle Drachenhüterin uns gezwungen hat, ihn in unsere Richtung zu lenken. Ich habe dafür nämlich die Koordinaten der vorangegangenen Nacht verwendet. Professorin Fitzwilliam hat den Apparat entwickelt, um den Kometen von seiner Umlaufbahn auf eine andere zu ziehen. Ich dachte, wenn ich die veralteten Koordinaten nutze und den Apparat nicht direkt auf den Kometen richte, sondern auf den Punkt, an dem er eine Nacht zuvor war, würde die Wirkung einfach verpuffen. Aber dabei habe ich eines nicht bedacht: Der Apparat wurde von zwei Stücken des Herzsteins angetrieben, nicht bloß von einem. Ihre vereinte Energie ist … gewaltig und die Auswirkungen sind deutlich größer, als zu erwarten war. Ich fürchte, statt bloß den Kometen zu versetzen, haben wir irgendwie den Himmelsmechanismus verändert.«
Hal stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Eure Mechanisten werden begeistert sein!«, sagte er mit einem verschlagenen Grinsen.
»Was bedeutet das?«, fragte Paisley. »Haben … haben wir den Mechanismus zerstört?« Ihre Augen waren riesig und ihr Gesicht kreidebleich.
»Um Himmels willen, ich hoffe nicht«, sagte Corbett mit hörbarer Angst in der Stimme. »Aber irgendwas haben wir definitiv verändert. In den Blaupausen steht, dass der Oberste Gestalter den Himmelsmechanismus erschaffen hat, um uns alle zu schützen. Er brachte Ordnung in das Chaos, das zuvor herrschte.«
Hal schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den großen Bibliothekstisch. »Es war kein Chaos. Unsere Leute, die Leute aus den Nördlichen Gefilden, halten die Geschichten aus der Vergangenheit lebendig. Wir wissen, wie viel freier die Welt, das Universum, ja, alle Universen damals waren. Bevor der Oberste Gestalter seinen Himmelsmechanismus erschuf und versuchte, uns alle in ein von den Sternen vorherbestimmtes Schicksal zu zwingen. Der Himmel war bereits in Bewegung, nur eben anders. Es war eher ein Auf und Ab wie zwischen Ebbe und Flut, eine Art Tanz und wir tanzten alle mit.«
Corbett schüttelte den Kopf. »Wie kannst du so etwas sagen! All unsere historischen Überlieferungen beweisen, dass das Chaos für niemanden gut war. Himmelsphysiker haben nachgewiesen, dass der chaotische Kosmos vor allem zerstörerisch wirkte, und prämechanische Historiker können das anhand detaillierter Aufzeichnungen belegen. Der Himmelsmechanismus hat Ordnung geschaffen und nachdem König George die Großen Drachen vertrieben hatte, konnte sich jeder Lebensweg auf seinem vorherbestimmten Pfad entwickeln. Sollten wir den Mechanismus tatsächlich beschädigt haben, könnten die Lebenswege aller unterbrochen werden und das Chaos zurückkehren.«
»Gut«, sagten Hal und Odelia wie aus einem Mund und wechselten daraufhin einen Blick.
Paisley musterte Hal mit zusammengekniffenen Augen, dann sah sie Odelia überrascht an. Schließlich wandte sie sich wieder an Corbett. »Was sollen wir jetzt tun? Wie können wir ihn reparieren?«, fragte sie.
Corbett rieb sich die Stirn. »Erst mal müssen wir rauskriegen, womit wir es überhaupt zu tun haben. Die Himmelsphysiker in Greenwich Overhead dürften alle nötigen Informationen haben und hoffentlich auch das Wissen, wie man den Himmelsmechanismus reparieren kann. Dafür müssen sie erfahren, dass die Dunkle Drachenhüterin den Apparat deiner Mutter gestohlen und uns gezwungen hat, das Experiment mit einer deutlich stärkeren Energiequelle zu wiederholen. Selbst wenn sie von sich aus merken, dass etwas nicht stimmt, werden sie wohl kaum verstehen, warum, wenn wir es ihnen nicht sagen. Und wenn sie nicht wissen, wie es dazu gekommen ist, können sie es wahrscheinlich auch nicht wieder in Ordnung bringen.« Corbett rückte seine Brille zurecht und sah Paisley an. »Und selbst wenn sie es wissen, gibt es keine Garantie, dass sie es hinbekommen.«
Paisley schluckte. Ihre Kehle war ganz trocken: Der Gedanke, sie könnten den Lauf des Universums verändert haben, war Furcht einflößend.
»Wir haben keine Zeit, nach Greenwich Overhead zu gehen«, sagte Odelia. »Wir müssen erst mal hier weg. Die Yardwächter sind mit Sicherheit hinter dem Krigaren her.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Hal. »Die Dunkle Drachenhüterin hat es auf uns alle abgesehen und wir müssen schnellstens zum Herrscher der Drachen – er muss um jeden Preis beschützt werden. Ich würde mich mindestens genauso sehr freuen, den Mechanismus versagen zu sehen, wie der Krigare, aber es steht geschrieben, dass alles, was geschieht, dem Pfad der Unbekannten Entwicklung folgen muss, der seinerzeit von der Mächtigen Drachenmutter Anu in die unsichtbaren Bahnen des Mechanismus geschmiedet wurde. Und Dax wird seine Rolle dabei spielen. Unsere oberste Priorität ist es, zu ihm zu gelangen, nicht, den Himmelsmechanismus zu reparieren!«
»Dax ist der Herrscher der Drachen?!« Hal zog die Braue über seiner Augenklappe hoch.
Paisley ignorierte ihn. »Odelia hat recht. Dax zurückzubekommen, ist das Wichtigste. Wir dürfen keine Zeit verschwenden.«
Corbett schlug das Buch zu. »Wir brauchen doch sowieso erst mal Vorräte und einen Plan, bevor wir in den Norden aufbrechen können, um Dax zu holen, oder?« Paisley nickte. »Prima. In der Zeit kann ich nach Greenwich Overhead fahren und mit den Himmelsphysikern sprechen. Von King Star Station fährt stündlich ein Maglektrika-Zug dorthin. Den nehme ich immer, wenn ich nach Hause zu meiner Familie fahre. Wir können den Fünf-Uhr-Zug nach Inverness nehmen, dann sind wir am späten Abend bei meinen Eltern und können dort noch etwas essen. Dadurch sind wir Dax auch schon ein Stück näher. Bis dahin treffe ich mich mit den Himmelsphysikern in Greenwich Overhead, während ihr Vorräte organisiert und euch ein bisschen ausruht.« Er sah Odelia an und warf dann einen vielsagenden Blick auf Paisley. Die beiden waren offensichtlich besorgt um sie.
Paisley schaute auf die Uhr an der Wand. Es war noch immer früh am Morgen und somit viel Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Zeit, in der sie längst auf der Suche nach ihrem Bruder sein könnte. Unter der Uhr hing ein Photogramm ihres Vaters, das kurz vor seinem Tod entstanden war. Es zeigte ihn in seiner vollen ritterlichen Aufmachung. Links am Revers prangte ein einzelner Nachtsilberstern, der ihn als einen der Ritter von Albion kennzeichnete: der Erste Ritter seines Ordens und einer der dreizehn Berater des Königs. Auf dem Photogramm sah Edmund Fitzwilliam genauso aus wie bei seiner Begegnung mit Paisley hinter dem Schleier. Sie dachte daran, was er immer gesagt hatte, bevor er mit seinen Rittern zu einer Expedition aufgebrochen war: »Vorbereitung ist der Schlüssel zum Erfolg. Wer sich nicht richtig vorbereitet, bleibt besser gleich zu Hause.«
»In Ordnung, Corbett. Du gehst nach Greenwich Overhead und sprichst mit den Himmelsphysikern. Wir besorgen die nötige Ausrüstung und Verpflegung für unsere Reise in den Norden und treffen uns dann pünktlich zur Abfahrt des Zuges am Bahnhof.«
Roach war aus dem Fenster von Violettas Arbeitszimmer gesprungen, als er gehört hatte, wie Paisley in die Bibliothek gekommen war. Durch die halb offene Tür hatte er dabei noch einen kurzen Blick auf sie, Corbett Grubbins und Hal Nordmann erhascht.
Während er zur Vorderseite des Hauses schlich, dachte er daran, wie er den Krigaren zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war er in den Nördlichen Gefilden unterwegs gewesen, um das Seelenfeuer zu stehlen. Der riesige Feuerdiamant hatte die gesamte Gegend mit seiner Elektrika-Energie versorgt.
Dabei war das Seelenfeuer nicht wirklich ein Feuerdiamant: Tatsächlich handelte es sich um ein Viertel des Herzsteins, der einer Legende zufolge einmal das Herz der Großen Drachenmutter Anu gewesen war. Von ihr stammten alle Drachen ab und sie hatte mit ihrem Atem die unsichtbaren Bahnen des Himmelsmechanismus nach den Anweisungen des Obersten Gestalters geschmiedet.
Roach hatte keine Ahnung, wie viel Wahrheit in diesen Mythen steckte, aber er wusste, dass zumindest ein Teil stimmen musste, denn sonst gäbe es die Dunkle Drachenhüterin nicht. Sie war Tausende Jahre alt und früher eine der vier Seelenschwestern gewesen. Sie hatten die Aufgabe, den Herzstein zu beschützen, der die Essenz der Seele der Großen Drachenmutter Anu enthielt. Nachdem sie versucht hatte, ihre Schwestern zu hintergehen und den Herzstein in ihren alleinigen Besitz zu bringen, war er in vier Teile zerbrochen und über die ganze Welt verteilt worden. Seitdem war sie auf der Suche danach. Die Dunkle Drachenhüterin war es gewesen, die Roach den Auftrag erteilt hatte, das Seelenfeuer aus den Nördlichen Gefilden zu stehlen, wo er zum ersten Mal auf den Krigaren Hal Nordmann getroffen war.
Roach war sich sicher, dass zwischen ihnen beiden noch eine Rechnung zu begleichen war. Zu dem Zeitpunkt, als Roach das Seelenfeuer entwendet hatte, hatte der Krigare sein Auge zwar bereits verloren, aber noch nicht seinen Drachen. Hal war der Anführer der Krigaren gewesen, als Roach ihm das Seelenfeuer, das unter seiner Bewachung stand, gestohlen hatte. Dann hatte eine Wendung im Mechanismus der Dunklen Drachenhüterin ein zweites Stück des Herzsteins beschert, das sich bis dahin im Besitz von Violetta Fitzwilliam befunden hatte.
Als Roach die Vorderseite des Hauses erreichte, hörte er, wie Paisley seinen Namen rief. Kurz hielt er inne und stellte sich vor, wie ihre feuerroten Locken dabei tanzten.
Er schüttelte den Kopf und ging davon. Paisley musste das Tagebuch ihrer Mutter gefunden haben und darin die Kupferscheibe, die der Meister der Sterne auf Geheiß der Dunklen Drachenhüterin angefertigt hatte.
Anfangs hatte dieser sich noch gesträubt. Neue Sterne zu erhalten, sei höchst ungewöhnlich, hatte der alte Mechanist beharrt. Doch am Ende hatte die Dunkle Drachenhüterin wie immer ihren Willen durchgesetzt.
Roach rückte den Kragen seines eleganten Mantels zurecht, dessen Stoff im Nacken unangenehm kratzte. Dann holte er eine kleine Dose aus der Tasche und öffnete sie. Darin befanden sich ein Schwarm schlummernder Raderlaken und ein kleines Elektrika-Display, auf dem ein einzelner unbewegter Punkt zu erkennen war.
Am Ende der Straße blieb Roach stehen und nahm das gegenüberliegende Haus ins Visier, während er die Dose in der Hand hielt und seinen Auftrag aussandte. Er hatte festgestellt, dass die Raderlaken besser reagierten, wenn er einen klaren Kopf hatte und sich ganz auf das konzentrierte, was er von ihnen wollte. Er malte sich aus, wie er sich fühlen würde, wenn die Raderlaken seinen Befehl ausgeführt hatten. Nach wenigen Augenblicken löste sich ein kleiner, leuchtender Punkt von dem einen unbewegten Punkt auf dem Display und entfernte sich. Roach wusste, dass der ruhende Punkt zu seinen anderen Raderlaken gehörte. Sie befanden sich tief in den Taschen seines zweiten Mantels, den Corbett Grubbins nun trug. Der wandernde Punkt hatte sich unterdessen noch mal geteilt; beide zeigten die Position der Raderlaken an, die soeben zum Leben erwacht waren.
Er hörte das leise Surren ihrer elektrikabetriebenen Flügel, bevor er die Raderlaken mit ihrer Beute sah: das Photogramm seiner Schwester Clara.
Roach wartete, bis sie in der Dose gelandet waren, dann nahm er das Photogramm, strich sanft darüber und verstaute es in seiner Innentasche. Inzwischen waren auf dem Display vier Punkte zu sehen. Jeder davon stand für eine Raderlake, der er einen Auftrag gegeben hatte. Von nun an würden sie alles tun, um bei Paisley, Odelia, Hal und Corbett zu bleiben. Roach beobachtete die Punkte noch einen Moment, dann klappte er die Dose zu und machte sich auf den Weg.
Er hatte einen Termin und der König war niemand, den man warten ließ.
***
Im Haus zeigte Paisley Hal und Corbett unterdessen die Garderobe ihres Vaters. Odelia drückte Corbett wieder ihr Krummschwert in die Hand.
»Tu dem Krigaren weh, wenn er zu fliehen versucht«, sagte sie.
Corbett hantierte unbeholfen damit herum, bevor er es schließlich in die ungefähre Richtung des Krigaren streckte. Paisley sah, wie Hal das Schwert musterte und dann mit einem belustigten Lächeln den Kopf schüttelte. Doch er hob brav die Hände und ließ sich von Corbett mit der Waffe in den angrenzenden Raum führen. Paisley nahm Odelia mit in ihr eigenes Zimmer.
»Du bist ein bisschen größer als ich«, überlegte sie. »Vielleicht finden wir in Mums Kleiderschrank eher was für dich?«
Odelia hatte das Zimmer bereits durchquert und die Türen von Paisleys Schrank aufgerissen. Nun durchstöberte sie den Inhalt, indem sie Kleider und Röcke rausholte und sich prüfend vor den Körper hielt.
»Ich glaube, das sollte passen«, sagte sie und hob einen grauen Rock hoch, der bei Paisley bis zu den Stiefeln reichte, bei Odelia aber nur knapp über die Knie ging.
Paisley förderte eine dazu passende rosafarbene Seidenbluse zutage, stockte jedoch, als Odelia den Mantel abnahm und ihre Schwingen ausbreitete.
»Halt sie an den Schultern hoch«, wies Odelia sie an, während sie ihr Schwert zog. Sie fuhr damit zweimal präzise durch die Luft und im nächsten Moment klafften in der Rückseite der Bluse zwei senkrechte Schnitte.
Paisley half Odelia, die Bluse anzuziehen und dabei vor allem ihre Flügel durch die Löcher zu bugsieren. Dann begab sie sich auf die Suche nach frischer Kleidung für sich selbst.
»Odelia«, sagte Paisley, als sie ein wenig verlegen anfing, ihre eigene Bluse aufzuknöpfen. Getrocknetes Blut löste sich von ihrer Haut und rieselte zu Boden. Der ehemals hellrote Fleck hatte einen dunklen, gedämpften Braunton angenommen. Paisleys Hände zitterten, als sie sie ausstreckte, um die rostfarbenen Flecken darauf zu betrachten.
Odelia trat näher. »Hast du Angst vor dem, was du vielleicht gleich zu sehen bekommst?«
Durch den Stoff konnte Paisley die Wunde spüren, die der Dolch der Dunklen Drachenhüterin dort hinterlassen hatte. Sie legte die Hände auf ihr Herz – es war keine offene Wunde mehr, aber verheilt war sie auch noch nicht. Ebenso wenig wie der klaffende Riss in ihrem Rücken, den ihr die Kralle der Drachenmeisterin zugefügt hatte, mit der sie im Natural History Museum gekämpft hatte. Wenn sie die Schulterblätter zusammenzog, konnte sie dort etwas fühlen. Etwas, das den Riss füllte und tief in sie hineinreichte, genau wie bei der Wunde in ihrem Herzen.
»Ich … ich glaube, als ich … als ich hinter den Schleier getreten bin, ist irgendwas mit mir passiert.« Paisley erinnerte sich an die Begegnung mit ihrem Vater. Er hatte die Hand nach dem Licht ausgestreckt, etwas davon genommen und es durch die Wunde in ihrer Brust und in sie hineingeleitet.
»Und ich glaube, ich habe einen Teil vom Schleier mit hierhergebracht, als ich zurückgekommen bin. Ich kann es in mir spüren. Und … die Risse, die sich auf dem Markt gebildet haben, waren genau wie die im Observatorium, aber diesmal habe ich mehr davon mitbekommen. Obwohl ich Angst hatte, konnte ich fühlen, dass sie irgendwie mit mir verbunden waren.« Mit Tränen in den Augen sah Paisley Odelia erwartungsvoll an.
Odelia kam auf sie zu und umarmte sie, hüllte sie zusätzlich mit ihren Flügeln ein und hielt sie ganz fest.
»Ich weiß noch, wie es war, als meine Drachengabe zum ersten Mal erwacht ist. Ich war sechs, hatte schreckliche Angst und war vollkommen allein damit. Es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Meine Familie glaubte mit fanatischem Eifer an den König und die Vision des Obersten Gestalters. Aber du bist nicht allein, Paisley. Du hast mich und Corbett und bald auch wieder Dax. Was auch immer das ist, wir stehen das gemeinsam durch.« Odelia drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und ließ sie los.
Paisley wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Odelia hatte recht, sie war nicht allein. Sie schenkte ihr ein verheultes Lächeln und spürte, wie ihr vor lauter Liebe und Zuneigung ganz warm ums Herz wurde. Dank Odelia fühlte sie sich mutiger, als sie selbst es jemals für möglich gehalten hätte.
Paisley streifte ihre Bluse ab und drehte sich so, dass sie ihren Rücken im Spiegel betrachten konnte. Eine schwarze Narbe durchzog ihre Haut, so als hätte die Essenz des Schleiers die Wunde verschlossen. Sie sah beinahe flüssig aus – unvorstellbar schwarz, aber mit einem sanften Schimmer – und schien sich in ihr zu bewegen. Bei dem Anblick wurde es Paisley ganz flau im Magen.
Odelia streckte einen Finger nach der Narbe aus.
Paisley zuckte zurück. »Warte.« Sie nahm ihre Haarbürste vom Frisiertisch. »Versuch es erst mal hiermit. Nicht dass das Gleiche passiert wie mit den Rissen aus dem Schleier.«
Odelia nahm die Bürste und strich mit dem Griff behutsam über die harte, zerfurchte Narbe. Dann streckte sie erneut den Finger aus und berührte sie. Ein sanfter Schimmer glitt über die Oberfläche, als würde ein Windhauch einen tiefen dunklen See streifen. Paisley konnte spüren, wie sich die Bewegung in ihrem Inneren fortsetzte. Es war nicht unangenehm, aber doch so seltsam und ungewohnt, dass sie sich irgendwie unwohl dabei fühlte.
Schnell fischte sie ein frisches Kleid aus dem Schrank und zog es an.
»So etwas habe ich noch nie gesehen oder auch nur davon gehört.« In Odelias Stimme schwang ein ehrfürchtiges Staunen mit.
Paisley ging es damit ganz anders. Sie fürchtete sich vor dem Schleier in ihr und davor, wozu er imstande war.
»Ach, das ist bestimmt gar nichts. Außerdem haben wir gerade ganz andere Sorgen«, sagte sie schroff, während sie den Gürtel ihres Kleides schloss. »Wir müssen unsere Reise in den Norden vorbereiten. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Dax zurückzubekommen. All das hier« – sie deutete auf sich – »kann warten.«
Odelia nickte, wirkte allerdings nicht besonders überzeugt.
»Wie denken die Menschen im Norden über die Drachengabe?«, fragte Paisley. »Alles, was ich weiß, ist, dass sie Barbaren ohne bestimmten Lebensweg sind, die ihre Sterne und den Obersten Gestalter ablehnen.«
Odelia musterte sie einen Moment nachdenklich. »Hast du Angst, dass sie Dax’ Drachenbein entdecken?«, fragte sie nüchtern. »Zwischen uns Drachenmeisterinnen und den Menschen in den Nördlichen Gefilden herrscht schon immer eine Art angespannter Waffenstillstand – wir bekämpfen einander nicht, sind aber auch keine Verbündeten. Dort werden Menschen mit Drachengabe zwar nicht wie hier im Königreich verfolgt, aber so richtig vertraut man ihnen auch nicht. Ohne die Drachenmutter Anu wäre der Oberste Gestalter schließlich nie in der Lage gewesen, den Himmelsmechanismus zu erschaffen – und darum betrachten sie Anu als die Ursache all ihrer Probleme. Und diese Abneigung übertragen sie auf uns Drachenmeisterinnen, denn wir sind die Töchter von Anu. Wir wandeln geduldig auf den Pfaden des Himmelsmechanismus, bis endlich die Unbekannte Entwicklung eintritt.«
Paisley konnte nicht nachvollziehen, was die Menschen in den Nördlichen Gefilden gegen den Himmelsmechanismus hatten. Sie war sich jedoch sicher, dass sie Dax für ihre Zwecke benutzen würden, wenn sie herausfanden, dass er der Junge mit der Drachengabe war. Selbst dort oben im Norden mussten sie von der Prophezeiung wissen. Laut dieser würde der Junge mit der Drachengabe die Großen Drachen auf die Erde zurückbringen. Und diese besaßen die Macht, die Bahnen des Himmelsmechanismus nach Belieben zu erschaffen und zu zerstören – und damit alles, was das Schicksal der Welt bestimmte. Sollten die Nordmannen also von Dax’ Drachengabe erfahren, würden sie ihn nicht etwa töten. Ganz im Gegenteil: Sie würden ihn benutzen, um das Ende all dessen herbeizuführen, was der Oberste Gestalter erschaffen hatte. Und irgendwie fand Paisley diesen Gedanken seltsam beruhigend.
Paisley folgte ihrer Nase und ihrem knurrenden Magen nach unten in die Küche.
»Mrs Keen«, rief sie beim Eintreten.
Anstelle der fröhlichen Haushälterin fand sie Hal allein am Herd vor.
»Wo ist Corbett?«, fragte Paisley.
Hal drehte sich lächelnd zu ihr um. Er trug eine Schürze und legte Würstchen in eine Pfanne. Nebenbei mischte er in einer großen Schüssel Rührei an.
»Der ist gerade gegangen. Ich hab ihm noch was zu essen gemacht. Er meinte, er müsse los und ich solle dir das hier geben.« Hal griff in die Schürzentasche und zog einen kleinen Brief hervor. »Ach, und das hier ist für die Drachenmeisterin.« Mit einem demonstrativen Zwinkern überreichte er ihr Odelias Krummschwert.
»Er hat dich allein gelassen«, stellte sie fest, wobei sie Hal misstrauisch beäugte.
»Na ja, ihm ist wohl klar geworden, dass ich nirgendwo anders hinkann und mir bewusst ist, dass das hier der sicherste Ort für mich ist. Damit hat er ja auch irgendwie recht.«
Paisley starrte ihn bloß an, als er anfing, die kleinen Gläschen in Mrs Keens Gewürzregal eines nach dem anderen zu öffnen und daran zu schnuppern.
Dann brach sie das Siegel an Corbetts Brief und las:
Paisley,