Die Spur der Mädchen / Die Macht des Täters / Mit den Augen des Opfers – Drei »Mörderfinder«-Thriller in einem Band - Arno Strobel - E-Book

Die Spur der Mädchen / Die Macht des Täters / Mit den Augen des Opfers – Drei »Mörderfinder«-Thriller in einem Band E-Book

Arno Strobel

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Beschreibung

Die Bestsellerserie von Nr. 1-Autor Arno Strobel – Fallanalytiker und »Mörderfinder« Max Bischoff ermittelt in drei Fällen Mörderfinder – Die Spur der Mädchen: Seine Zeit beim KK 11 in Düsseldorf ist Geschichte. Jetzt fängt Fallanalytiker Max Bischoff neu an. Gibt sein Wissen an der Polizeihochschule weiter, bildet die aus, die so gut werden wollen wie er. Aber die Fälle finden ihn trotzdem. Als ihn der Vater der seit sechs Jahren verschwundenen Leni Benz um Hilfe bittet, will Max sofort ablehnen. Aber er merkt, dass er es nicht kann. Zu viele Fragen sind ungeklärt im Fall der Grundschülerin, die auf dem Schulweg verschwand und nie mehr gesehen wurde. Doch wieso taucht jetzt Lenis Ranzen wieder auf, steht an seinem Platz in ihrem Elternhaus, als sei nichts geschehen? Wie kann das sein, nach all der Zeit? Und vor allem: Weshalb gibt es so viele Parallelen zu einem aktuellen Fall? Max begibt sich auf die Spur des Täters ... Mörderfinder – Die Macht des Täters: Der Anruf kam unerwartet. Eine Ex-Kollegin bittet Fallanalytiker Max Bischoff um Hilfe. Ihr Neffe wurde des Mordes beschuldigt und hat sich daraufhin das Leben genommen. Mit 22. Ein Schuldeingeständnis? Oder die Tat eines Verzweifelten? Max sichtet die Fakten, die Beweislast ist erdrückend, aber nichts passt zusammen. Kein Motiv, vollkommene Willkür. Und dann die vage Verbindung zu einem anderen Fall. Irgendetwas ist da, das kann Max beinahe körperlich spüren. Aber der Kopf des Mörders bleibt ihm verschlossen. Hat er sich verrannt? Oder versagt die Fallanalyse und damit Max zum ersten Mal in seiner gesamten Laufbahn?  Mörderfinder – Mit den Augen des Opfers: Damit hat Fallanalytiker Max Bischoff nicht gerechnet. Keine andere als die Leiterin des KK 11 in Düsseldorf, Polizeirätin Eslem Keskin, die bislang kein gutes Haar an ihm gelassen hat, bittet Max um Hilfe. Er soll in dem kleinen Weinort Klotten an der Mosel inoffziell in einem nie gelösten Vermisstenfall ermitteln. Keskin ist in ihrem privaten Umfeld auf neue Hinweise zu dem über zwanzig Jahre alten Fall gestoßen und hofft, dass es Max gelingt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch kaum vor Ort ereignet sich ein Mord. Max ist bald an etwas dran, aber ignoriert alle Warnungen. Eine Entscheidung, die ihn das Leben kosten könnte …

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Arno Strobel

Die Spur der Mädchen / Die Macht des Täters / Mit den Augen des Opfers

Drei »Mörderfinder«-Thriller in einem Band

Sammelband

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Bestsellerserie von Nr. 1-Autor Arno Strobel – Fallanalytiker und »Mörderfinder« Max Bischoff ermittelt in drei Fällen

Mörderfinder – Die Spur der Mädchen: Seine Zeit beim KK 11 in Düsseldorf ist Geschichte. Jetzt fängt Fallanalytiker Max Bischoff neu an.

Gibt sein Wissen an der Polizeihochschule weiter, bildet die aus, die so gut werden wollen wie er. Aber die Fälle finden ihn trotzdem.

Als ihn der Vater der seit sechs Jahren verschwundenen Leni Benz um Hilfe bittet, will Max sofort ablehnen. Aber er merkt, dass er es nicht kann. Zu viele Fragen sind ungeklärt im Fall der Grundschülerin, die auf dem Schulweg verschwand und nie mehr gesehen wurde.

Doch wieso taucht jetzt Lenis Ranzen wieder auf, steht an seinem Platz in ihrem Elternhaus, als sei nichts geschehen? Wie kann das sein, nach all der Zeit? Und vor allem: Weshalb gibt es so viele Parallelen zu einem aktuellen Fall? Max begibt sich auf die Spur des Täters ...

Mörderfinder – Die Macht des Täters: Der Anruf kam unerwartet. Eine Ex-Kollegin bittet Fallanalytiker Max Bischoff um Hilfe. Ihr Neffe wurde des Mordes beschuldigt und hat sich daraufhin das Leben genommen. Mit 22. Ein Schuldeingeständnis? Oder die Tat eines Verzweifelten? Max sichtet die Fakten, die Beweislast ist erdrückend, aber nichts passt zusammen. Kein Motiv, vollkommene Willkür. Und dann die vage Verbindung zu einem anderen Fall. Irgendetwas ist da, das kann Max beinahe körperlich spüren. Aber der Kopf des Mörders bleibt ihm verschlossen. Hat er sich verrannt? Oder versagt die Fallanalyse und damit Max zum ersten Mal in seiner gesamten Laufbahn? 

Mörderfinder – Mit den Augen des Opfers: Damit hat Fallanalytiker Max Bischoff nicht gerechnet. Keine andere als die Leiterin des KK 11 in Düsseldorf, Polizeirätin Eslem Keskin, die bislang kein gutes Haar an ihm gelassen hat, bittet Max um Hilfe. Er soll in dem kleinen Weinort Klotten an der Mosel inoffziell in einem nie gelösten Vermisstenfall ermitteln. Keskin ist in ihrem privaten Umfeld auf neue Hinweise zu dem über zwanzig Jahre alten Fall gestoßen und hofft, dass es Max gelingt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch kaum vor Ort ereignet sich ein Mord. Max ist bald an etwas dran, aber ignoriert alle Warnungen. Eine Entscheidung, die ihn das Leben kosten könnte …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Leserinnen und Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt.

Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller, standen wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.

Arno Strobel lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.

 

www.arno-strobel.de

www.facebook.com/arnostrobel.de

@arno.strobel

 

Außerdem bei FISCHER Taschenbuch erschienen:

 

»Der Trakt«, »Das Wesen«, »Das Skript«, »Der Sarg«, »Das Rachespiel«,» Das Dorf«, »Die Flut«, »Im Kopf des Mörders – Tiefe Narbe«, »Im Kopf des Mörders – Kalte Angst«, »Im Kopf des Mörders – Toter Schrei«, »Offline«, »Die App«, »Sharing«, »Fake«, »Der Trip«, »Mörderfinder – Stimme der Angst«, »Stalker«

Inhalt

Buch 1 Die Spur der Mädchen

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1

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Buch 2 Die Macht des Täters

[Widmung]

[Motto]

Prolog

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MAX

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Buch 3 Mit den Augen des Opfers

[Motto]

Prolog

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Arno Strobel

 

MÖRDERFINDER

Die Spur der Mädchen

Für alle, die Max vermisst haben

1

Er hat die Haustür hinter sich geschlossen und will gerade den Schlüssel in den Schlüsselkasten hängen, als er ihn entdeckt.

Der Rucksack steht auf dem Boden vor der Garderobe, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Das war es auch einmal. Vor vielen Jahren. Jetzt aber erstarrt er bei dem Anblick mitten in der Bewegung und hat das Gefühl, sein Herz müsse stehen bleiben.

Eine Weile verharrt er so, den Schlüssel noch in der ausgestreckten Hand, den Blick unverwandt auf den bunten Schulrucksack gerichtet, zu keiner Bewegung fähig. Nicht einmal zu einem Gedanken.

Irgendwann – er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist – setzen sein Denken und seine Bewegungsfähigkeit wieder ein. Er öffnet die Hand, und der Schlüssel fällt klirrend zu Boden. Es ist ihm egal. »Leni«, flüstert er.

Er macht vorsichtig einen Schritt auf den Rucksack zu, noch einen, als könnte eine zu schnelle Bewegung dazu führen, dass er plötzlich wieder verschwindet.

Er braucht sich nicht zu bücken, um ihn sich näher anzusehen. Es ist nicht nötig, ihn hochzuheben, er weiß, wem dieser Schulrucksack gehört. Dennoch streckt er zögernd die Hand aus, um sich davon zu überzeugen, dass es keine Halluzination ist. Diesmal nicht.

Es ist schon eine ganze Weile her, seit er zum letzten Mal geglaubt hat, seine Tochter vor sich zu sehen.

Und jetzt steht da ihr Rucksack in der Diele, auf demselben Platz, auf dem er immer gestanden hat, wenn sie aus der Schule gekommen ist.

Seine Hand berührt das feste Material. Er streicht darüber, spürt die glatte Oberfläche unter seinen Fingerspitzen. Nein, das ist keine Halluzination. Vorsichtig, als könnte er unter seinen Händen zu Staub zerfallen, dreht er den Rucksack ein wenig, so dass er die Rückseite sehen kann, und starrt auf den unregelmäßigen Fleck, der sich fast über die gesamte Fläche des Rückenteils zieht. Der Abdruck eines Autoreifens. Seines Autoreifens. Er hatte nicht gesehen, dass Leni den Rucksack hinter dem Auto abgestellt hatte, und war darübergefahren. Keine Zweifel mehr.

Mit einem Ruck richtet er sich auf und wirbelt herum. »Leni!«, ruft er, und noch einmal, lauter: »Leni?«

Das ist unmöglich, mahnt eine Stimme in ihm, doch er ignoriert sie.

»Leni!« Er stößt die Tür zur Küche auf, sein Blick fällt auf die Eckbank gegenüber, wo sie immer gesessen hat, wenn sie Stephanie beim Kochen zugesehen hat. Er stöhnt auf, muss sich am Türrahmen abstützen.

Der Tisch ist gedeckt. Für drei Personen.

An Lenis Platz, neben ihrem Teller, liegt die kleine, gehäkelte Puppe, die seine Mutter für ihre Enkeltochter gemacht und sie ihr am Nikolaustag geschenkt hat. Sie hat sie dabeigehabt, als sie vor sechs Jahren …

»O mein Gott«, hört er sich sagen, während ihm die Tränen über die Wangen rinnen. Er wischt sie weg, presst sich die Hand auf den Mund, schüttelt fassungslos den Kopf. Dann reißt er seinen Blick von der Puppe los, wendet sich um und hat mit ein paar schnellen Schritten den Eingang zum Wohnzimmer erreicht. »Leni!« Der große Raum ist leer, und es gibt auch nichts, was auf ihre Anwesenheit hindeuten würde. Er wendet sich ab, durchquert die Diele und starrt den Schulrucksack an, bis er die Holztreppe nach oben erreicht hat. Entweder spielen ihm gerade seine Sinne und sein Verstand einen üblen Streich, oder … Er wagt es nicht, weiterzudenken.

Sein Herz wummert gegen die Rippen, das Blut rauscht durch seinen Körper, während er Stufe um Stufe nimmt. Dann ist er oben, richtet den Blick auf die geschlossene Tür am Ende des kleinen Flurs, auf das Blatt Papier, das in Brusthöhe schief mit Klebestreifen auf das weiße Holzfurnier geklebt ist, während er darauf zugeht.

Einhornland

Er hat alles genauso gelassen, wie es an dem letzten Tag gewesen ist … Die ersten Wochen danach hat er fast ausschließlich in Lenis Zimmer verbracht, hat auf ihrem Bett gesessen, auf ihrem Schreibtischstuhl, auf dem Boden, und stundenlang auf die Dinge gestarrt, die dort herumlagen, während er darauf wartete, dass ein Wunder geschehen würde und alles wieder wie früher wäre. Immer wieder hatte er die Dinge berührt, die sie in den Händen gehalten, die sie gebastelt oder geschrieben hat …

Er erreicht die Tür und schüttelt diese Gedanken von sich ab, streckt die Hand aus, legt sie auf die Klinke. Vielleicht …

Er öffnet die Tür, macht einen Schritt in Lenis Zimmer und erfasst mit einem Blick, dass sie nicht da ist. Aber er sieht auch die türkisfarbene Strickjacke, die sie so geliebt und an jenem Tag getragen hat. Sie liegt auf dem Bett, hingeworfen, wie zehnjährige Mädchen das so tun.

Sie ist nicht mehr zehn, souffliert ihm eine innere Stimme. Das war sie, als du sie zuletzt gesehen hast. Das ist sechs Jahre her. Leni ist jetzt sechzehn.

Sechzehn … Sein Verstand weigert sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Ein Kind ist so alt, wie es war, als man es zuletzt gesehen hat. Das ist ein Naturgesetz, denn man sieht seine Kinder – jedenfalls solange sie klein sind – täglich. Oder zumindest so häufig, dass sie nicht von einem zum anderen Mal plötzlich um sechs Jahre älter sind.

Er schüttelt den Kopf. Was denkt er in dieser Situation über solch unsinnige Dinge nach? Alles deutet darauf hin, dass Leni wieder da ist, wie auch immer das möglich ist. Er muss sie nur finden. Wahrscheinlich ist sie vollkommen verstört und hat sich irgendwo versteckt. Wer kann schon ahnen, was ihr in den vergangenen sechs Jahren widerfahren ist? Vielleicht hat sie sogar Angst vor ihm, ihrem Vater?

»Leni?« Er wendet sich ab, wirft einen Blick in den Raum neben Lenis Zimmer. Es war das Gästezimmer gewesen. Früher, als noch Gäste kamen. Heute ist das kleine Zimmer vollgestellt mit Kisten und Kartons.

Er geht weiter, öffnet jede Tür, blickt in jedes Zimmer und ruft immer wieder ihren Namen. Dann läuft er erneut nach unten, danach in den Keller.

Der große Raum mit der Tischtennisplatte … Die Deckenlampe flammt auf, wirft ihr kaltes Licht auf die grüne Platte inmitten des kahlen Raums. Auf einer Seite liegt schräg auf einem kleinen weißen Ball ein Tischtennisschläger, als hätte gerade noch jemand damit gespielt. Ein billiges Teil aus Sperrholz, an dem sich die Gummierung teilweise gelöst hat. Er dürfte nicht da liegen. Er selbst hat ihn damals in die Kiste unter der Platte gesteckt.

Es ist ihr Schläger.

Er sinkt gegen die kalte Wand, starrt auf den Schläger. Sein Mund öffnet sich, und er flüstert: »Leni.«

2

»In Deutschland gibt es lediglich rund einhundert offizielle Fallanalytikerinnen und -analytiker, die vor allem in den Medien gern als Profiler bezeichnet werden. Sie werden aber feststellen, dass der Begriff Fallanalytiker zutreffender ist, denn eine Profilerstellung erfolgt immer auf der Grundlage einer Fallanalyse. Ein verschwindend geringer Teil dieser einhundert Spezialisten sind Psychologen, der Rest sind Polizistinnen und Polizisten mit einer entsprechenden Zusatzausbildung.«

Max Bischoff machte eine rhetorische Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ließ dabei seinen Blick durch den Hörsaal schweifen, bevor er ihn wieder auf die Polizeischülerin richtete, die die Frage gestellt hatte.

»Wenn Sie Fallanalytikerin werden möchten, sind Sie als Polizistin also schon mal auf dem richtigen Weg, müssen sich aber klarmachen, dass es sehr lange dauert und schwierig werden wird, an eine offizielle Planstelle zu kommen.«

Erneut ließ er einige Sekunden verstreichen, bevor er grinsend hinzufügte: »Aber wer sagt, dass Sie sich nicht auch als normale Ermittlerin mit der Fallanalyse beschäftigen können?

Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Nachmittag und hoffe, wir sehen uns am kommenden Montag wieder.«

Sofort brandete Gemurmel auf, und die meisten der rund vierzig angehenden Polizistinnen und Polizisten erhoben sich und verließen den Hörsaal.

Max war damit beschäftigt, seine Unterlagen in der Ledertasche zu verstauen, als die junge Frau, deren Frage er gerade beantwortet hatte, vor ihm stehen blieb und ihn anlächelte, während sie sich eine Strähne ihrer schulterlangen blonden Haare zurückstrich. Max schätzte sie auf Anfang zwanzig. »Sie haben das selbst genau so gemacht, wie Sie es gerade gesagt haben, nicht wahr? Sie waren als Ermittler bei der Kripo Düsseldorf und haben mit den Techniken der Fallanalyse gearbeitet.«

Ein roter Schimmer überzog ihre Wangen, als sie hinzufügte: »Sie wundern sich vielleicht, dass ich das weiß … Ich bin ein großer Fan von Ihnen. Ich habe alles über Sie gelesen, Herr Bischoff.«

Max erwiderte ihr Lächeln, während er seine Tasche zuklappte. »Na ja, viel wurde ja Gott sei Dank bisher nicht über mich geschrieben, aber trotzdem – danke schön. Wie ich eben schon sagte, spricht nichts dagegen, wenn Sie das genauso angehen, Frau … Entschuldigen Sie bitte, ich brauche immer zwei, drei Vorlesungen, bis ich mir die Namen meiner Studentinnen und Studenten gemerkt habe.«

»Brosius. Jana Brosius.«

Max legte sich den Trageriemen der Tasche über die Schulter. »Der Besuch meiner Vorlesungen ist freiwillig, Jana, und die Tatsache, dass Sie hier sind, ist doch schon mal ein guter Anfang.«

»Ja, das finde ich auch.« Sie streckte Max die Hand entgegen und strahlte ihn dabei an. »Danke.«

Er ergriff die Hand. »Danke wofür?«

»Dass wir von Ihrer Erfahrung lernen dürfen.« Damit wandte sie sich ab und verließ den Raum.

Max blickte noch eine Weile auf die geöffnete Tür und wünschte Jana Brosius, nicht alle Erfahrungen machen zu müssen, die er hinter sich hatte.

Als er kurz darauf ebenfalls den Hörsaal verlassen wollte, stieß er an der Tür fast mit einem Mann zusammen, der gerade im Begriff war, den Raum zu betreten.

Er mochte Mitte vierzig sein, war schlank und hatte kurze rotblonde Haare. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, als hätte er längere Zeit nicht geschlafen.

»Tut mir leid«, stieß der Mann aus und hob entschuldigend eine Hand. »Ich habe nicht gesehen, dass Sie … Ich wollte …« Er atmete tief durch und schloss dabei für einen Moment die Augen. »Sind Sie Max Bischoff?«

»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Benz. Robert Benz.« Er reichte Max eine Visitenkarte, die er schon in der Hand gehalten haben musste.

Max nahm sie und steckte sie nach einem kurzen Blick darauf in die Gesäßtasche seiner Jeans. »Und wo wollten Sie hin, Herr Benz?«

»Zu Ihnen.« Robert Benz blickte sich um, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich unwohl fühlte. »Ich habe hier vor der Tür gewartet, bis Ihre Vorlesung vorbei war und die Studenten den Raum verlassen haben, damit ich mit Ihnen reden kann.«

Max zuckte mit den Schultern. »Hier bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich … ich brauche Ihre Hilfe.«

»Wobei?«

Erneut blickte Robert Benz sich um, bevor er antwortete. Mittlerweile war der Flur fast menschenleer. Nur noch einige wenige Studierende verließen ihre Hörsäle und machten sich auf den Weg nach draußen. »Sie waren doch Polizist, und wenn es stimmt, was ich gehört habe, waren Sie ein sehr guter Ermittler. So was wie ein Profiler, der die Fälle …«

»Ich war Kriminalbeamter, ja, aber das ist vorbei, jetzt bin ich Privatdozent hier an der Uni«, fiel Max dem Mann ins Wort. Das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht gefiel.

»Ja, das weiß ich. Und Sie wissen sicher, dass im Raum Köln in den letzten zwei Wochen zwei Mädchen verschwunden sind.«

»Ich habe davon gehört. Aber noch einmal, ich …«

»Genauso wie vor sechs Jahren. Damals waren es drei Kinder, die nie wieder aufgetaucht sind. Der Täter ist nicht gefasst worden.« Benz sprach nun sehr schnell, als befürchtete er, Max würde das Gespräch beenden, bevor er alles gehört hatte, was er ihm sagen wollte.

»Ich erinnere mich«, sagte Max und dachte tatsächlich daran, das Gespräch zu beenden. »Und ich bin ganz sicher, die Polizei wird alles tun, um den Täter zu fassen. Allerdings verstehe ich nicht, was Sie von mir wollen.«

»Ich … würde Sie gern engagieren.«

»Mich engagieren?« Max schüttelte humorlos lächelnd den Kopf. »Wozu? Und wie kommen Sie überhaupt auf diese Idee? Ich bin doch kein Privatdetektiv.«

Benz ließ den Kopf sinken, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Es … geht um meine Tochter. Leni. Sie gehörte zu den drei Mädchen, die damals verschwunden sind. Da war sie zehn Jahre alt.«

Max hatte das Gefühl, sein Magen würde von zwei Fäusten zusammengequetscht, so wie er es in den letzten neun Monaten, seit er den Polizeidienst quittiert hatte, immer wieder spürte, wenn er irgendwo über die Schicksale von Verbrechensopfern und ihren Angehörigen las. Oder wenn er daran dachte, wie er alles darangesetzt hatte, Ermittler zu werden und diejenigen dingfest zu machen, die anderen grausame Dinge antaten, aus Profitgier oder um ihre niedersten Instinkte zu befriedigen. Und er dachte auch daran, was dieser Beruf mit ihm gemacht hatte. All die Schmerzen. Die Albträume. Der Verlust …

»Das tut mir sehr leid, Herr Benz. Aber noch einmal: Die Polizei wird mit Sicherheit alles in ihrer Macht Stehende tun, um diese Taten aufzuklären.«

»Aber das ist zu wenig. Meine Tochter ist vor sechs Jahren verschwunden, und die Polizei hat bis heute noch keine Spur von ihr gefunden. Können Sie nicht verstehen, dass ich verzweifelt bin?«

»Doch, das kann ich, sehr gut sogar, aber ich bin trotzdem der falsche Ansprechpartner.«

»Wovor haben Sie nur solche Angst?«

»Was soll das?«, entgegnete Max gereizt. »Wie kommen Sie auf die Idee, ich hätte Angst?«

»Warum sonst quittiert ein überaus erfolgreicher und scharfsinniger Ermittler den Dienst, bevor seine Karriere richtig begonnen hat?«

»Das …« Das geht Sie nichts an, wollte er dem Mann entgegenschleudern, verkniff es sich aber angesichts des furchtbaren Verlustes, den dieser erlitten hatte.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, tut mir leid.«

Max wandte sich ab und wollte gerade an Robert Benz vorbeigehen, als der sagte: »Es sieht so aus, als wäre sie wieder da.«

Max blieb stehen und wandte sich Benz erneut zu. »Was? Wie soll ich das verstehen?«

Benz wartete, bis eine Studentin an ihnen vorbeigegangen und außer Hörweite war. »Als ich vor vier Tagen nach Hause kam, stand ihr Schulrucksack im Flur. Genau an der Stelle, an der sie ihn immer abgestellt hatte, wenn sie von der Schule nach Hause kam. In der Küche war der Tisch für drei Personen gedeckt, auf ihrem Platz lag eine Puppe, die meine Mutter für sie gehäkelt hat. Im Keller lag ihr Schläger auf der Tischtennisplatte, als hätte sie gerade gespielt. Alles war so wie zu der Zeit, bevor sie verschwunden ist. Nur Leni selbst konnte ich nicht finden.«

»Das ist ja wirklich seltsam«, murmelte Max nachdenklich. »Das dritte Gedeck war für Ihre Frau?«

»Ja, allerdings sind wir mittlerweile geschieden. Unsere Ehe hat den Verlust unseres Kindes nicht verkraftet. Ich lebe allein. Aber das kann Leni ja nicht wissen.«

Max nickte. »Verstehe. Und Sie sind sicher, dass es der Rucksack und die Puppe Ihrer Tochter waren, die da lagen? Könnte es nicht sein, dass jemand …«

Benz schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Ich bin damals aus Versehen mit dem Auto über den Rucksack gefahren. Die Spuren davon sind immer noch sichtbar. Und die Puppe hat meine Mutter gehäkelt. Ich habe sie sofort wiedererkannt, sie ist ein Unikat.«

»Haben Sie der Polizei davon erzählt? Und Ihrer Frau?«

»Nein.«

»Nein? Aber warum nicht?«

Die Mundwinkel des Mannes zuckten, und Max sah ihm an, dass er um Beherrschung rang.

»Was meine Frau betrifft – davon abgesehen, dass die Trennung unschön war und wir beide nicht den Wunsch haben, jemals wieder voneinander zu hören, wüsste ich nicht einmal, wo ich sie erreichen könnte. Sie ist irgendwann mit ihrem neuen Freund nach Andalusien gezogen. Um Abstand zu all dem zu bekommen, wie sie in unserem letzten Telefonat sagte.

Und die Polizei … Es gibt aus meiner Sicht nur zwei Erklärungen für das alles: Entweder ist Leni wirklich zurück – was ich mir mehr wünsche als alles andere –, oder der Täter spielt ein abartiges Spiel mit mir, das an Grausamkeit kaum noch zu überbieten ist. So oder so muss ich wissen, was dahintersteckt, glaube aber nicht, dass die Polizei, die in sechs Jahren nicht die kleinste Spur gefunden hat, mir jetzt weiterhelfen wird. Aber Sie können das.« Robert Benz atmete tief durch. »Bitte helfen Sie mir herauszufinden, was mit meinem Kind passiert ist. Und ob es noch lebt. Ich habe etwas Geld gespart und bin bereit, Sie gut dafür zu bezahlen.«

Max richtete den Blick an Benz vorbei, während Bilder aus der Vergangenheit in seinem Kopf aufblitzten und Wunden, die gerade erst mit dem zarten Schorf der Zeit zu verheilen begonnen hatten, erneut aufbrachen. Alles in ihm bäumte sich auf und stemmte sich gegen dieses Gefühl, das er seit einem Dreivierteljahr erfolgreich unterdrückt hatte und das sich plötzlich wieder in ihm regte.

Dieser Wunsch … dieser Drang, die Mistkerle aus dem Verkehr zu ziehen, die solche Dinge taten.

Nach einer Weile, in der sich Gedanken und Erinnerungen in Max’ Kopf überschlugen, machte Benz einen kleinen Schritt auf ihn zu, so dass nun nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen. Max sah überdeutlich die Träne, die sich aus seinem Augenwinkel löste. »Überlegen Sie es sich noch einmal. Bitte.«

3

Sie kauert sich hinter dem Busch zusammen, als er das Universitätsgelände verlässt. Er darf sie auf keinen Fall sehen. Während er auf den Parkplatz zugeht, verfolgt ihr Blick ihn durch eine Lücke zwischen den Zweigen, als wäre er an seinem Hinterkopf festgeheftet. Sie horcht dabei in sich hinein und sucht nach aufbrandenden Gefühlen, doch sie findet nur die gewohnte, kalte Leere.

Sie verlässt ihr Versteck, setzt den Helm mit dem dunkel getönten Visier auf und schwingt sich auf die 125er, die sie direkt vor dem Busch abgestellt hat.

Sie beobachtet, wie er die Autotür öffnet und einsteigt. Sekunden später wird der Motor gestartet. Als der Wagen den Parkplatz verlässt, folgt sie ihm.

Während sie darauf achtet, dass sich im dichten Verkehr der Kölner Innenstadt immer zwei, drei Autos zwischen ihnen befinden, kreisen ihre Gedanken wieder um die vergangenen Jahre. Sie hat es schon lange aufgegeben, sich dagegen zu wehren oder sich den Kopf darüber zu zermartern, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn nicht geschehen wäre, was geschehen ist. Diese Gedanken hat sie ausgetauscht gegen die wohltuende Kälte, die alle Gefühle in ihr erstarren ließ. Und diese Kälte hat noch etwas anderes mitgebracht: Ihren glasklaren Verstand, der nicht getrübt ist von Emotionen.

Seitdem kann sie über das Geschehene nachdenken wie über einen Film, den sie vor langer Zeit gesehen hat. Und das tut sie. Jeden Tag.

Sie fahren auf eine der unzähligen Ampeln zu. Sie springt auf Gelb, als er gerade daran vorbeifährt.

Das Auto vor ihr bremst und zwingt sie, ebenfalls anzuhalten. Sie sieht noch für ein paar Sekunden das Heck seines Wagens, dann verschwindet er hinter einer Biegung.

Sie hat ihn verloren. Erneut horcht sie in sich hinein.

Es lässt sie kalt.

4

In seiner Wohnung in Düsseldorf-Unterbilk warf Max den Schlüssel in die Holzschale, die auf der kleinen Kommode im Flur stand, stellte seine Tasche auf dem Boden ab und ging in die Küche. Dort nahm er sich ein Glas aus dem Schrank und griff nach der Weinflasche, die auf der Arbeitsplatte neben dem Herd stand. Marchesi di Barolo, Jahrgang 2015. Er hatte sie am Vorabend geöffnet und erst ein Glas davon getrunken.

Der frühe Nachmittag war definitiv nicht die Zeit, zu der er normalerweise Wein trank, aber Max hatte das Gefühl, dass ihm ein Schluck jetzt guttun würde.

Er füllte das Glas zu einem Viertel, ging damit ins Wohnzimmer und stellte es auf dem niedrigen Tisch ab, bevor er sich auf die Couch fallen ließ.

Auch wenn er sich nicht von ihm hatte engagieren lassen, ging ihm dieser Robert Benz mit seiner Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Max konnte sich nicht vorstellen, dass ein Täter, der ein kleines Mädchen entführt und vielleicht getötet hatte, sechs Jahre danach damit begann, ein grausames Spiel mit dem Vater des Kindes zu treiben. Das wäre gegen jedes Verhaltensmuster von Triebtätern und Pädophilen. Deren Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf ihre Opfer und nicht gegen Familienangehörige.

Dass das Mädchen nach so langer Zeit allerdings zurückkehrte und so deutliche Hinweise im Haus hinterließ, dann aber wieder verschwand, war mindestens ebenso unwahrscheinlich.

Mit einer fast mechanischen Bewegung zog er sein Smartphone aus der Tasche, tippte im Adressbuch auf die Favoriten und dort auf einen Namen und hielt sich das Gerät dann ans Ohr.

»Böhmer, was gibt’s?«, ertönte nach zweimaligem Läuten die schlechtgelaunt klingende Stimme seines ehemaligen Partners, was Max sehr wunderte. Böhmer war nicht gerade für seine höfliche und freundliche Art bekannt, aber seit Max nicht mehr bei der Polizei war und sie sich nur noch selten sahen, hatte er sich noch immer über einen Anruf gefreut.

»Oha! Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Bereust du es gerade mal wieder, doch nicht in den vorzeitigen Ruhestand gegangen zu sein?«

»Max?« Das klang schon ganz anders. »Entschuldige, dein Name wird nicht angezeigt. Dieses blödsinnige Scheißhandy …«

Max lachte kurz auf. »Was ist denn damit?«

»Es ist neu. Das ist damit. Irgendjemand im Präsidium hat beschlossen, dass wir neue Telefone bekommen sollen. Unsere Dienstwaffen sind so veraltet, dass wir besser damit nach Tätern werfen, als auf sie zu schießen, aber Hauptsache, wir bekommen neue Handys. Dieses moderne Mistding wehrt sich mit allen Mitteln dagegen, mein Adressbuch zu übernehmen. Wenn das so weitergeht, fliegt es irgendwann gegen die Wand. Aber schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?«

»Ganz gut so weit.«

»Das freut mich zu hören. Und Kirsten?«

»Die Therapie hilft ihr sehr, sie hat die Sache schon erstaunlich gut überwunden. Zumindest nach außen hin. Wie es tief in ihrem Inneren aussieht, kann ich nicht sagen. Ich habe das Gefühl, da gibt es eine Mauer, die ich nicht durchdringen kann. Aber ich kann mich auch irren.«

»Kein Wunder. Bei dem, was der Kerl ihr angetan hat …«

»Sag mal«, wechselte Max das Thema. »Kannst du mir etwas zu den vermissten Kindern im Raum Köln sagen?«

Böhmer stieß einen Zischlaut aus. »Außer, dass ich diesem Dreckschwein, das dafür verantwortlich ist, die Pest an den Hals wünsche, meinst du? Nicht viel. Da müsstest du dich schon an eine Kollegin oder einen Kollegen aus Köln wenden. Aber warum fragst du? Ich dachte, du hast mit der Polizeiarbeit abgeschlossen?«

»Das habe ich auch. Grundsätzlich. Aber in der Uni hat mich heute ein Mann angesprochen, dessen Tochter vor sechs Jahren entführt worden ist.«

»Das ist ja seltsam. Es deutet vieles darauf hin, dass der Täter derselbe Mistkerl ist wie damals. Aber das hast du ja sicher auch schon in den Zeitungen gelesen.«

»Ja.«

»Und? Was wollte er von dir?«

»Er wollte mich engagieren.«

»Was?« Böhmer stieß ein bellendes Lachen aus. »Und was genau erwartet er von dir? Sollst du nach sechs Jahren nach seiner Tochter suchen? Glaubt der wirklich, dass sie noch lebt?«

»Ja, das hält er für möglich. Eine ziemlich verrückte Geschichte. Er sagt, in seiner Wohnung stand plötzlich ihre Schultasche, als er nach Hause kam. Der Tisch in der Küche war für sie mitgedeckt, außerdem lag darauf eine Puppe, die sie dabeihatte, als sie damals verschwand.«

»Vielleicht erlaubt sich jemand einen ganz üblen Scherz mit ihm?«

»Aber wie sollte derjenige an ihre Sachen kommen? Er sagt, auf dem Schulrucksack sind ganz bestimmte Flecken. Er hat ihn sofort wiedererkannt.«

»Und warum kommt er damit zu dir und geht nicht zur Polizei?«

»Vielleicht, weil er befürchtet, dass die Kollegen genauso lachen wie du gerade?« Verblüfft stellte Max fest, dass er Robert Benz’ Entschluss, ihn zu engagieren, verteidigte.

»Lachen wird sicher niemand von den Kollegen, wenn er die Geschichte hört«, erklärte Böhmer nachdenklich, »aber ich denke, ich verstehe trotzdem, warum er zu dir gekommen ist.«

»Ach ja? Und? Erzählst du es mir?«

»Keines der damals entführten Kinder ist wieder aufgetaucht. Weder lebend noch als Leiche. Dieser Mann möchte nach sechs Jahren endlich wissen, was mit seinem Kind passiert ist und ob es vielleicht tatsächlich noch lebt, und um das herauszufinden, geht er zu dem Besten, den er finden kann.«

»Es gibt andere gute Ermittler, die noch im Dienst sind.«

»Ja, aber keiner von ihnen hat dein Gespür, und …«

»Und was?«, hakte Max nach, als Böhmer nicht weitersprach.

»Und ich kenne niemanden, der so verbissen an einem Fall dranbleibt wie du.«

»Ach, komm, ich …«

»Wirst du der Sache nachgehen?«

»Nein«, antwortete Max, allerdings erst nach einer kurzen Pause.

»Das klingt nicht sehr überzeugt.« Damit hatte Böhmer wohl recht, wie Max sich eingestehen musste. »Ich denke, dein Jagdinstinkt ist bei dieser Geschichte wieder erwacht.«

»Jagdinstinkt … wie das klingt.«

Böhmer schnaufte. »Vielleicht solltest du annehmen.«

»Danke für deine Meinung, aber das werde ich nicht tun. Genau deswegen habe ich doch aufgehört! Um eben nichts mehr mit solchen Irren zu tun zu haben, die sich sogar an meiner Familie vergreifen, weil sie sich an mir rächen wollen. Und da werde ich jetzt ganz sicher nicht privat wieder damit anfangen.«

»Manchmal wünschte ich, ich würde privat ermitteln. Wenn so ein Dreckskerl mir ins Gesicht lacht, zum Beispiel, weil ich mich an die scheiß Dienstvorschriften halten muss und ihm deswegen nichts nachweisen kann.«

»Ich muss jetzt auflegen«, sagte Max, und es fühlte sich für ihn selbst an wie eine Flucht vor dem, was sein Expartner vielleicht noch sagen könnte.

»Max?«

»Ja?«

»Du weißt, dass er – unabhängig davon, ob du ihm hilfst oder nicht – den Vorfall mit den wiederaufgetauchten Sachen des Kindes trotzdem den Kölner Kollegen melden muss.«

»Ja. Du hörst von mir.«

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, beendete Max das Gespräch.

Er legte das Smartphone auf dem Tisch ab, trank einen Schluck Wein und ließ sich dann gegen das Rückenpolster der Couch fallen. Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Es dauerte nicht lange, bis ein Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte. Ein bösartiger Geist, den er eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte und von dem er geglaubt hatte, ihn endgültig losgeworden zu sein. Das Gesicht gehörte der Person, die seine Schwester Kirsten entführt und gequält hatte, und es war zu einem teuflischen Grinsen verzerrt, das ihn verhöhnte. Nach einer Weile verblasste es, stattdessen sah er eine dunkle Silhouette vor sich, nur die Konturen waren deutlich erkennbar wie bei einem Scherenschnitt, und doch wusste er, dass es das Abbild eines Kindes war. Ein Mädchen mit einem Zopf. Die schwarzen, zweidimensional wirkenden Arme hoben sich und reckten sich ihm entgegen. Hilfesuchend. Verzweifelt.

Max riss die Augen auf und schüttelte den Kopf, um sich von den Bildern zu befreien. Er beugte sich nach vorn, griff nach dem Weinglas, stellte es aber wieder ab und nahm stattdessen sein Smartphone in die Hand. Sekunden später hörte er die vertraute Stimme seiner Schwester.

»Max? Schön, dass du anrufst. Ich bin gerade beim Einkaufen. Können wir später telefonieren? Du weißt ja, einkaufen und telefonieren gleichzeitig ist im Rollstuhl schwierig.«

»Ja, sicher, kein Problem. Ich wollte nur mal hören, ob es dir gut geht.«

»Das ist lieb von dir. Ja, es geht mir gut. Und dir? Du klingst irgendwie … bedrückt?«

»Nein, es ist nichts«, log er. »Nun bring du mal deinen Einkauf hinter dich. Ich melde mich dann später noch mal.«

Nachdem er aufgelegt hatte, rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht, als könnte er damit die Beklemmung wegwischen, die mehr und mehr von ihm Besitz ergriff. Und die aufkeimende Wut darüber, dass es wieder ein Täter geschafft hatte, dass er sich gedanklich mit ihm beschäftigte. Beschäftigen musste, ob er wollte oder nicht.

Einer dieser Irren, die anderen Menschen unendliches Leid zufügten und allzu oft nicht gefasst wurden. Und selbst wenn man einen von ihnen hinter Gitter bringen konnte, kamen wie bei den Köpfen der Hydra dafür zwei neue nach. Böhmers Worte hallten in ihm wider. Manchmal wünschte ich, ich würde privat ermitteln. Wenn so ein Dreckskerl mir ins Gesicht lacht, zum Beispiel, weil ich mich an die Dienstvorschriften halten muss und ihm deswegen nichts nachweisen kann.

Natürlich hatte er schon vor Robert Benz’ Besuch in der Uni mitbekommen, dass wieder zwei kleine Mädchen in Köln verschwunden waren, aber er hatte es geschafft, das nicht an sich heranzulassen, nicht darüber nachzudenken.

Nun aber gab es einen Vater und einen Namen. Leni, die Tochter von Robert Benz, die seit sechs Jahren verschwunden war. Und damit rückte auch der Fall der beiden seit kurzem vermissten Mädchen näher an ihn heran. Wie die Kinder damals waren sie nach der Schule nicht nach Hause gekommen.

Max beugte sich zur Seite, zog die Visitenkarte aus der Hosentasche und starrte eine Weile darauf. Dann legte er sie auf dem Tisch ab und vergrub das Gesicht in den Händen.

5

Das Läuten seines Telefons riss Max aus dem Schlaf.

Er hatte sich auf die Couch gelegt, um für ein paar Minuten entspannt die Augen zu schließen, und musste eingeschlafen sein. Noch halb benommen registrierte er, dass es im Wohnzimmer fast dunkel war. Er tastete nach dem Telefon und warf einen Blick auf das Display, bevor er das Gespräch annahm. Es war Kirsten.

»Hallo, Schwesterherz«, sagte er mit krächzender Stimme und räusperte sich.

»Hast du geschlafen? Das tut mir leid.«

»Nein, kein Problem. Ich hatte mich nur ein wenig hingelegt und wollte gar nicht schlafen. Wie spät ist es?«

»Es ist zwanzig vor acht. Schläfst du nachts immer noch so schlecht?« Ihre Stimme hatte mit einem Mal die weiche Klangfarbe einer Mutter, die sich Sorgen um ihr Kind machte. Obwohl sie ja diejenige war, die dieses furchtbare Erlebnis gehabt hatte.

»Es geht. Ich werde öfter wach, und dann fällt es mir schwer, wieder einzuschlafen.«

»Du denkst noch oft an deinen Job bei der Polizei, nicht wahr?«

»Wie kommst du jetzt darauf? Nein, normalerweise so gut wie gar nicht.«

»Normalerweise? Max? Ich höre doch an deiner Stimme, dass irgendetwas nicht stimmt.«

Er stieß ein kurzes, angedeutetes Lachen aus. »Wie gut du mich doch kennst.«

»Du bist mein Bruder.«

»Ich hatte heute eine eigenartige Begegnung, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht.«

Er erzählte ihr von seinem Gespräch mit Robert Benz und davon, wie sehr es ihn aufwühlte.

»Bereust du gerade, den Polizeidienst quittiert zu haben?«

»Nein. Ich würde auf keinen Fall wieder als Polizist arbeiten wollen. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe … die auch du machen musstest, reichen mir völlig. Es gibt zu viele Irre da draußen.«

»Aber wenn niemand mehr den Job machen möchte, werden es noch mehr. Was da passiert ist, war schrecklich, und ich möchte so etwas nie wieder erleben, aber du hast während deiner kurzen Zeit als Ermittler einige dieser Verbrecher aus dem Verkehr gezogen und damit wahrscheinlich viele Menschen gerettet. Und jetzt läuft da so ein Kerl herum und entführt kleine Mädchen. Ich möchte gar nicht daran denken, was er ihnen alles antut.

Versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht dazu drängen, zur Polizei zurückzugehen, aber ich kenne dich und bin mir sicher, dass dir genau diese Dinge durch den Kopf gehen. Und der Gedanke, dass du aus Angst um mich den Job aufgegeben hast, von dem du schon als Junge geträumt hast, ist für mich nur schwer zu ertragen.«

»Wir hatten diese Diskussion doch schon ein paarmal, Kirsten. Und du weißt, dass es nicht nur darum geht. In der Summe ist man als Polizist chancenlos, weil die Bedingungen nicht vergleichbar sind. Während die, hinter denen man her ist, tun und lassen, was sie wollen, und sich einen Dreck um Gesetze scheren, ist man als Polizist an die Dienstvorschriften gebunden und muss bei jedem Schritt, den man tut, damit rechnen, dass irgendjemand eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreicht oder – noch schlimmer – dass einem intern vom eigenen Vorgesetzten auf die Füße getreten wird, weil der Angst vor einem Shitstorm im Internet oder um seine Karriere hat.

So ein Schwein steht da und spuckt einem lächelnd ins Gesicht, und man kann so gut wie nichts dagegen tun, ohne ein Disziplinarverfahren befürchten zu müssen. Die zielen auf einen, Kirsten, und bis man darüber nachgegrübelt hat, ob und wie man darauf nach Dienstvorschrift angemessen reagieren darf, haben sie schon jemanden erschossen.

Und selbst wenn man es schafft, ein paar dieser Typen zu fassen, lässt irgendein übersozial eingestellter Richter sie entweder mit einer lächerlichen Strafe davonkommen, oder er spricht sie gleich wieder frei. Weil sie eine schwere Kindheit hatten. Oder bei der Tat sturzbesoffen waren.

Die Sorge um die Täter lässt bei manchen dieser fürsorglichen Juristen die Schicksale der Opfer vollkommen in Vergessenheit geraten. Dieser Kampf ist einfach nicht fair, und als Polizist kann man ihn letztendlich nur verlieren.«

Es entstand eine Pause, in der Max seinem eigenen schnellen Atem zuhörte.

»Ach Max.« Kirsten seufzte. »Du hast recht, wir hatten die Diskussion schon einige Male, und jedes Mal stelle ich fest, mit wie viel Herzblut du noch immer an diesem Beruf hängst, in den du aber auf keinen Fall zurück möchtest. Wäre da das Angebot von diesem Mann nicht etwas, über das du zumindest nachdenken solltest? Du könntest dabei helfen, diesen Kerl zu schnappen, ohne dich mit den Dienstvorschriften herumärgern zu müssen.«

»Schlägst du mir gerade vor, ich soll als Privatdetektiv arbeiten?«

»Ich schlage dir vor, dass du deinem Herzen folgen sollst, Max.«

Als er darauf nicht antwortete, weil er nicht wusste, was er dazu sagen und wie er die Gedanken ordnen sollte, die wie ein Bienenschwarm durch seinen Kopf surrten, fügte Kirsten mit fester Stimme hinzu: »Du solltest es tun.«

»Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich muss nachdenken. Morgen Vormittag habe ich noch in der Uni zu tun. Danach komme ich zu dir, und wir kochen was Leckeres zusammen, was hältst du davon?«

»Das ist eine tolle Idee. Ich freue mich. Also bis morgen.«

»Bis dann.«

Max legte das Telefon zur Seite und stand auf. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, begann er, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Er fühlte sich so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Robert Benz hatte ihn mit seiner Geschichte und seinem Angebot in eine Zwickmühle zwischen zwei extremen Gefühlswelten gebracht.

Da war einerseits die Wut darüber, dass er wieder über Dinge nachdenken musste, die er gerade im Begriff gewesen war, erfolgreich zu verdrängen.

Andererseits fühlte es sich mit einem Mal an, als würde frische Energie durch seinen Körper fließen, als wäre eine Trägheit von ihm abgefallen, die in den letzten Monaten wie eine nasse Decke auf seinen Schultern gelegen hatte. Auch das war ein Resultat seiner Begegnung mit Benz.

Sein Blick fiel auf das Notebook, das zugeklappt auf dem Esstisch lag. Mit zwei entschlossenen Schritten hatte er den Tisch erreicht, setzte sich und klappte den Monitor hoch.

Als das Gerät bereit war, öffnete er Google und tippte ein:

vermisste mädchen in köln

Die Ergebnisliste war lang und beinhaltete überwiegend Links zu Online-Zeitungsberichten, die – mal reißerisch und mal sachlich – über die verschwundenen Mädchen berichteten.

Nach wenigen Minuten stand Max auf, nahm sich einen Notizblock und einen Stift aus der obersten Schublade der Kommode und setzte sich wieder. Dann begann er mit seiner Recherche.

Artikel nach Artikel las er durch, erfuhr meist die immer gleichen Dinge und machte sich Notizen, wenn er irgendwo Informationen fand, die er noch nicht kannte.

Die beiden Mädchen waren sieben und neun Jahre alt und im Abstand von zehn Tagen nach der Schule verschwunden. Beide gingen in unterschiedliche Grundschulen. Da das Verschwinden der Kinder an die Fälle sechs Jahre zuvor erinnerte, hatte die Staatsanwaltschaft entschieden, für die Suche die Fotos im Internet zu veröffentlichen. Die Jüngere der beiden, Lea, hatte schulterlange blonde Haare und eine Stupsnase, die ebenso wie die Haut unter den grünen Augen mit Sommersprossen übersät war.

Die neunjährige Sofia war ein eher dunkler Typ mit langen schwarzen Haaren und fast schwarzen Augen. Max überlegte, dass ihre Familie vielleicht aus einem südlichen Land wie Italien oder Spanien stammen konnte. Weder Freundinnen noch Lehrer konnten hilfreiche Angaben machen. Es gab keine Zeugen und niemanden, der in der Nähe der Schulwege etwas Ungewöhnliches beobachtet hatte. Weder im familiären Umfeld noch in der Nachbarschaft der Mädchen gab es Anhaltspunkte oder auffällige Personen. Lea und Sofia waren einfach spurlos verschwunden.

Max ließ den Stift fallen, lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen.

Du möchtest ein Kind entführen. Ein Mädchen. Du tust das nicht zum ersten Mal, du verlässt dich nicht auf den Zufall. Tagelang hast du um die Mittagszeit, wenn die Schule für die meisten Kinder zu Ende ist, die Gegend beobachtet. Du hast dich nicht an eine Stelle gestellt, das könnte jemand sehen und sich anschließend an dich erinnern. Nein, du spazierst einfach herum. Vielleicht in einer Nebenstraße oder einer schmalen Gasse in der Nähe der Schule. Dort kommen zwar nicht so viele Kinder vorbei, aber dort wird auch niemand bemerken, wenn du … Nein, stopp, keine schmale Gasse. Es muss eine Straße sein, wo du dein Auto parken kannst. Kinder in dem Alter kann man heute nicht mehr einfach mit Schokolade oder einem Lolli dazu bringen mitzugehen. Schon gar nicht, nachdem du nach sechs Jahren entschieden hast, wieder in deinem alten Revier zu jagen. Es muss schnell gehen. Du musst sie mit einer Frage an dein Auto locken, dann muss alles innerhalb weniger Sekunden geschehen. Also eine Nebenstraße.

Warum entscheidest du dich für Lea? Hat sie bestimmte Merkmale, die sie für dich interessant macht? Hast du sie schon vorher beobachtet und ausgesucht, oder trifft es sie, weil sie in einem für dich günstigen Moment vorbeikommt?

Max beugte sich nach vorn und betrachtete erneut eingehend die Fotos der beiden Kinder, nachdem er sie in zwei Fenstern nebeneinander auf dem Monitor platziert hatte. Die Mädchen waren vollkommen unterschiedlich.

Max sah am Monitor vorbei in die Ferne.

Du hast Lea in deinem Auto. Wahrscheinlich hast du sie betäubt, damit sie dir während der Fahrt keine Schwierigkeiten macht. Wo fährst du mit ihr hin? Zu dir nach Hause? In den Wald? In ein Versteck? Und dann die Frage aller Fragen: Was machst du mit ihr? Und was tust du danach?

Max’ Blick richtete sich wieder auf den Monitor, auf die Gesichter der beiden kleinen Mädchen, und erneut formulierte er die Worte in seinem Kopf: Was machst du mit ihr?

Max stand auf, ging zum Couchtisch und griff nach seinem Handy und der Visitenkarte von Robert Benz.

6

Er sitzt auf dem Küchenstuhl und starrt die Puppe an, die noch immer auf dem Tisch liegt. Einzelheiten kann er mittlerweile nicht mehr erkennen, denn die Dämmerung ist schon weit fortgeschritten. Es kommt ihm nicht in den Sinn aufzustehen, um das Licht anzuschalten.

Das Geschirr hat er abgeräumt, aber die Puppe hat er nicht angefasst. Alles in ihm hat sich dagegen gesträubt. Zum wiederholten Mal löst sich sein Blick von der kleinen, gehäkelten Figur mit den blonden Wollhaaren, um sich auf den Rucksack zu heften, den er auf die Bank neben sich gestellt hat. Auf Lenis Platz. Daneben liegt ihre Strickjacke. Und wie schon hundertmal in der letzten Stunde fragt er sich, wie es möglich sein kann, dass die Gegenstände in seinem Haus aufgetaucht sind. Nach so langer Zeit. Diese persönlichen Dinge, die Leni dabeihatte, damals.

Kann es wirklich sein, dass sie wieder da ist? Aber falls das tatsächlich wahr sein sollte – wo ist sie? Und warum stellt sie ihren Rucksack im Flur ab, legt die Puppe auf den Tisch und verschwindet dann wieder?

Beim Läuten des Telefons schreckt er auf. Warum erscheinen Töne in der Dunkelheit lauter und greller?

Das Gerät liegt mit dem Display nach unten auf der Arbeitsplatte neben dem Herd, zeichnet sich als schwarzer Fleck im schummrigen Restlicht ab. Er steht auf und greift danach, nimmt das Gespräch an und sagt: »Benz?«

Er bekommt keine Antwort, hört nur kurze, schnelle Atemgeräusche. »Hallo? Wer ist da?« Erneut wartet er auf eine Reaktion. Sie kommt, als er gerade auflegen möchte. Die hohe Stimme klingt wie die eines kleinen Mädchens. Nein, korrigiert er sich selbst, sie klingt wie jemand, der ein kleines Mädchen imitiert. Schaurig, fast irre. Und sie singt.

»Finster, finster, finster, finster,

nur der Glühwurm glüht im Ginster

und der Uhu ruft im Grunde,

Geisterstunde.

Schwarze Raben krächzen

und Gespenster ächzen:

ui, ui, uii.«

Die Haare auf seinem Unterarm richten sich auf, während gleichzeitig ein eiskalter Schauer über seine Wirbelsäule kriecht.

»Leni?« Seine Stimme klingt dünn. Statt einer Antwort hört er wieder das stakkatoartige Atmen.

»Leni, wenn du das bist, dann sag doch bitte etwas.«

»Finster, finster, finster, finster«, wiederholt die simulierte Kleinmädchenstimme schrill, dann wird aufgelegt.

Langsam lässt er seine Hand mit dem Hörer sinken und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte.

Finster, finster, finster … Ein Kinderlied, das seine Mutter immer mit Leni gesungen hat. Vor langer Zeit. Er hat es nie gemocht. Wie in Trance geht er zum Stuhl zurück, lässt sich auf die Sitzfläche sinken und starrt auf die Puppe.

7

Max hätte nicht sagen können, wie lange er dagesessen hatte, die Augen auf die Visitenkarte, den Blick jedoch in die Ferne gerichtet. Er machte sich selbst vor, einen inneren Kampf auszutragen, der aber – und das wusste er eigentlich bereits – schon entschieden war.

Mit einer mechanisch anmutenden Bewegung griff Max nach dem Smartphone, entsperrte das Display und tippte die Zahlen ein, die er von der Visitenkarte ablas. Dann hielt er sich das Telefon ans Ohr.

»Benz«, hörte er nach viermaligem Klingeln eine Stimme, die ihn nur entfernt an die des Mannes erinnerte, der ihn Stunden zuvor engagieren wollte. Sie klang müde und dünn.

»Max Bischoff hier. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

Es entstand eine kurze Pause, bevor der Mann antwortete.

»Ich verstehe Ihre Frage nicht, Herr Bischoff. Ich habe Ihnen doch erzählt, warum ich Sie engagieren möchte. Wie kann da alles in Ordnung sein?«

»Sie klingen sehr müde, deshalb die Frage«, entgegnete Max, der keine Lust auf solche Spitzfindigkeiten hatte.

»Tut mir leid. Ich bin ziemlich durch den Wind. Gut, dass Sie anrufen. Werden Sie mir helfen?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Das ist schon mal besser als das kategorische Nein in der Universität.«

»Ich würde gern mehr über die Umstände erfahren, unter denen Ihre Tochter vor sechs Jahren verschwunden ist.«

»Gut. Was wollen Sie wissen?«

»Nicht am Telefon. Ich möchte auch Lenis Sachen sehen, die wieder bei Ihnen aufgetaucht sind.« Das stimmte, war aber nur die halbe Wahrheit. Max interessierte auch, wo und wie Robert Benz lebte. »Am besten wird es sein, wenn ich zu Ihnen komme.«

»Ähm, ja, sicher …«, antwortete Benz, offenbar von Max’ Vorschlag überrascht. »Wann?«

Max dachte daran, dass er am nächsten Tag nach der Uni mit Kirsten verabredet war.

»Ich hätte jetzt Zeit.«

»Jetzt? Es ist doch sicher schon nach acht …«

»Herr Benz, soll ich mir Ihre Geschichte anhören oder nicht?«

»Ja, natürlich, also … gut. Dann jetzt gleich.«

»Wie lautet die Adresse?«

Benz nannte ihm eine Adresse in Köln-Brück, einem rechtsrheinischen Stadtteil im Bezirk Kalk. Max zog den Notizblock und den Stift zu sich, die immer am Rand des Tisches lagen, und notierte Straße und Hausnummer. »Ich bin in etwa einer Dreiviertelstunde bei Ihnen. Bis dann.«

Nachdem er das Telefon zur Seite gelegt hatte, blieb er noch einen Moment sitzen und dachte darüber nach, ob er womöglich im Begriff war, einen Fehler zu begehen. Dann sah er wieder die Fotos von Lea und Sofia vor sich. Kleine Mädchen, deren Leben noch aus Spielen und unbekümmertem Lachen bestehen sollte und die nun entweder vollkommen verängstigt, verletzt oder vielleicht sogar schon tot waren. So oder so hatte ihr Leben sich auf brutale Weise verändert, war ihre unbeschwerte Kindheit erbarmungslos beendet worden. Weil irgendein Dreckskerl das so beschlossen hatte.

Mit einem Ruck stand Max auf. Er konnte nicht länger so tun, als ginge ihn das, was um ihn herum geschah, seit der Rückgabe seines Dienstausweises nichts mehr an.

Für die Strecke von seiner Wohnung in Unterbilk bis zu der Adresse in Brück brauchte Max knappe vierzig Minuten, in denen er die letzten Zweifel an dem, was er gerade im Begriff war zu tun, beiseitewischte und sich auf das bevorstehende Gespräch mit dem Mann konzentrierte, der glaubte, seine sechs Jahre zuvor verschwundene Tochter sei plötzlich wieder aufgetaucht. Für Max ein mehr als unwahrscheinliches Szenario, falls Leni damals Opfer desselben Täters geworden war, der auch die anderen Mädchen entführt hatte. Nach allem, was er zum Thema Täterprofile und Fallanalyse wusste, sprach die Tatsache, dass in all den Jahren von keinem der verschwundenen Kinder eine Leiche gefunden worden war, kaum bis gar nicht dafür, dass sie noch lebten, sondern eher für die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter die toten Körper besonders gewissenhaft entsorgt hatte, weil er wusste, dass ansonsten die Chance bestand, an einem Opfer Spuren von ihm zu finden.

Nachdem Max den Wagen am Straßenrand der angegebenen Adresse abgestellt hatte, stieg er aus und betrachtete das anderthalbgeschossige Einfamilienhaus. Es wirkte gepflegt, auch wenn der schmutzig gelben Fassade ein frischer Anstrich gutgetan hätte. Der kleine, mit Büschen bewachsene Vorgarten wurde durch einen Weg aus Steinplatten geteilt und endete vor zwei Treppenstufen, die zur dunklen Holzhaustür führten.

Hatte das alles schon so ausgesehen, als die kleine Leni zum letzten Mal das Haus verlassen hatte? War ihr Entführer ihr zuvor schon einmal hierher gefolgt?

Manchen Tätern gab es einen zusätzlichen Kick, wenn sie ihr künftiges Opfer vor der Tat in seiner normalen Umgebung beobachteten, mit eigenen Augen die Menschen sahen, denen sie bald das Kind entreißen und über die sie unendliches Leid bringen würden. Das verstärkte das Gefühl der Macht, die sie über andere Menschen hatten.

Max setzte sich in Bewegung, ging durch das offenstehende, hüfthohe Gartentor und stand kurz darauf vor der Haustür. Familie Benz war auf dem schon recht verblassten Klingelschild zu lesen.

Nur Sekunden, nachdem Max den Knopf gedrückt hatte, wurde die Tür geöffnet, und Robert Benz stand ihm mit einem unsicheren Lächeln gegenüber.

»Das ging ja wirklich schnell«, sagte er, beugte sich ein Stück nach vorn und warf einen Blick nach rechts und links, bevor er zur Seite trat. »Bitte, kommen Sie doch herein.«

Der Flur war hell erleuchtet, das frische Weiß der Raufasertapete ließ darauf schließen, dass sie – anders als die Fassade – vor kurzem gestrichen worden war. Max’ Blick wanderte durch den Flur, wobei er sich in Gedanken vorsagte, was er sah, eine Gewohnheit aus seiner aktiven Zeit. So konnte er sich Einzelheiten besser merken.

Rechts der Treppenaufgang zur oberen Etage, daneben ein Schlüsselkasten, auf der anderen Seite eine Garderobe, bestehend aus vier dunklen Holzbrettern mit schmiedeeisernen Haken, direkt daneben ein kleines Tischchen mit einer Schale darauf, in der sich allerlei Kleinkram befand. Standardausstattung eines gutbürgerlichen Eingangsbereiches.

»Bitte, hier.« Benz deutete zu einer halb geöffneten Tür auf der linken Seite. Das Wohn- und Esszimmer dahinter war überraschend geräumig und spartanisch, aber freundlich eingerichtet. Auch hier schien vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden zu sein.

»Es wirkt vielleicht noch ein bisschen leer hier drin«, sagte Benz und deutete auf die moderne cognacfarbene Couch auf der rechten Seite. »Ich habe erst vor einiger Zeit damit begonnen, alles umzugestalten. Die alten Möbel, die Bilder und Accessoires … sie haben mich täglich erinnert.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Max und setzte sich. »Sie leben allein hier?«

»Ja. Ich habe es noch nicht geschafft, eine neue Bindung einzugehen. Nicht wegen meiner Exfrau, sondern wegen Leni. Ich kann nicht erklären, warum, aber es käme mir wie ein Verrat an ihr vor. Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke. Lassen Sie uns reden.«

Auch Benz setzte sich und zeigte wieder das unsichere Lächeln. »Ja, gut. Dafür sind Sie ja auch den ganzen Weg hierhergekommen. Also – was möchten Sie wissen?«

»Als Erstes: Gab es außer diesen Sachen, die plötzlich aufgetaucht sind, sonst noch irgendetwas Merkwürdiges?«

Max hatte das unbestimmte Gefühl, dass Benz bei der Frage zusammengezuckt war, doch dann schüttelte der Mann den Kopf. »Nein.«

»Also keine weiteren Gegenstände, die plötzlich aufgetaucht sind und ihr gehört haben, keine Nachricht auf irgendeine Art, nichts.«

»Genau.«

»Gut. Ist Leni eigentlich eine Abkürzung?«

»Abkürzung ist vielleicht das falsche Wort. Eigentlich heißt sie Lena, aber aus irgendwelchen Gründen haben alle sie von Anfang an Leni genannt.«

»Okay. Dann erzählen Sie mir jetzt bitte von dem Tag, als Leni verschwand.«

Benz senkte den Blick und starrte einen Moment vor sich hin, bevor er nickte. »Ja, also … Leni hat an dem Morgen wie immer das Haus verlassen, das war so gegen sieben Uhr dreißig.« Nun hob er wieder den Kopf und sah Max an. »Zur Schule ist es nicht weit, und normalerweise wäre noch ausreichend Zeit gewesen, wenn sie zehn Minuten später losgegangen wäre, aber sie trödelte gern herum und ist deswegen anfangs ein paarmal zu spät gekommen. Deshalb haben wir sie immer schon etwas früher losgeschickt.«

Er machte eine Pause. »Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«

»Sie waren also zu Hause. Ich habe auf Ihrer Visitenkarte gesehen, dass Sie Versicherungsmakler sind, ist das richtig?«

»Ja, ich habe gemeinsam mit einem Partner in der Innenstadt ein Maklerbüro. Deswegen war es kein Problem, wenn ich immer erst losgefahren bin, nachdem Leni das Haus verlassen hat.«

»Und Ihre Frau?«

»Meine Exfrau. Sie blieb nach Lenis Geburt zu Hause. Wir waren uns einig, dass wir unser Kind nicht von einer fremden Person erziehen lassen wollten.«

Max griff in die Innentasche seines Freizeitsakkos und zog einen Notizblock mit einem daran festgeklemmten Kugelschreiber heraus. Noch so eine Angewohnheit, die er sich von seiner Dienstzeit bewahrt hatte.

»Und obwohl Ihre Frau zu Hause war, haben Sie Ihre Tochter jeden Morgen selbst verabschiedet?«

»Ja.« Benz machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: »Haben Sie Kinder, Herr Bischoff?«

Max sah von dem Notizblock auf. »Nein.«

Benz nickte. »Das erklärt Ihre Frage. Diese wenigen Jahre der Kindheit, in denen Sie als Elternteil mit Liebe und Aufmerksamkeit dafür sorgen können, dass Ihr Kind sich geborgen fühlt, in denen Sie sein weiteres Leben prägen können, sind so unglaublich schnell vorbei. Ich wollte keine Minute davon verpassen. Das Schicksal hat gezeigt, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist.«

Max sah, dass die Augen des Mannes glasig wurden. »Wann und wie haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?«

»Stephanie, meine Exfrau, rief mich an, als ich gerade zu einem Kunden unterwegs war. Das war eine halbe Stunde nach der Zeit, zu der Leni eigentlich hätte zu Hause sein sollen. Ich habe sie zuerst beruhigt und ihr gesagt, dass sie doch weiß, dass unsere Tochter manchmal beim Herumtrödeln alles um sich herum vergisst. Sie hat die Mutter von Lenis bester Freundin angerufen, von der sie dann erfahren hat, dass Leni an dem Tag gar nicht in der Schule gewesen war.«

»Ach, sie war gar nicht … Ich dachte, sie ist erst auf dem Nachhauseweg verschwunden. Wenn ich richtig informiert bin, war es bei allen anderen Kindern so. Und auch jetzt bei den beiden … Das ist ja seltsam.«

Benz zuckte mit den Schultern. »Ja, das hat der leitende Ermittler damals auch gemeint. Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass der Täter Leni nicht … Ich meine, wenn die Entführung anders gelaufen ist als bei allen anderen, dann war es vielleicht auch ein anderer Täter, und vielleicht lebt sie wirklich noch und ist nun wieder zurückgekommen.«

»Wissen Sie noch, wie dieser leitende Ermittler hieß?«, fragte Max, um ihn von diesem Gedanken abzulenken.

»Den vergesse ich sicher nicht. Er ist ein Grund dafür, dass ich mich jetzt nicht an die Polizei gewandt habe, sondern an Sie. Er war mir gegenüber teilweise recht … ruppig.«

»Und? Wie ist sein Name?«, hakte Max nach und hatte dabei schon eine gewisse Ahnung.

»Menkhoff hieß er. Hauptkommissar Bernd Menkhoff von der Kripo Köln.«

8

Max versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass der Name ihm bekannt war und was er in ihm auslöste. Bernd Menkhoff … Er war in Köln der Vorgesetzte von Max’ ehemaliger Kollegin Verena Hilger gewesen und auch der Grund, warum die attraktive Oberkommissarin sich – sehr zur Freude von Horst Böhmer – nach Düsseldorf hatte versetzen lassen. Nach allem, was Max gehört und bei einem Seminar auch selbst erlebt hatte, war Menkhoff ein brillanter Ermittler, aber ein knallharter Faktenmensch und auf zwischenmenschlicher Ebene geradezu eine Katastrophe.

Max’ Gedanken wollten zu Verena abwandern, doch er wehrte sich mit aller Kraft dagegen und schaffte es schließlich, sich wieder auf seinen Gesprächspartner zu konzentrieren.

»Kennen Sie Hauptkommissar Menkhoff?« Offenbar war es Benz nicht verborgen geblieben, dass der Name etwas in Max ausgelöst hatte.

»Ja, flüchtig. Genug, um zu wissen, was Sie meinen. Kann ich jetzt bitte die Sachen Ihrer Tochter sehen, von denen Sie gesprochen haben? Die, die plötzlich wieder aufgetaucht sind?«

»Ja, sicher.«

»Ach, und ein Foto Ihrer Tochter wäre auch hilfreich.«

»Aber auf den Fotos, die ich habe, ist sie doch erst zehn. Mittlerweile sieht sie bestimmt ganz anders aus.«

»Ja, aber mit entsprechender Software kann man zumindest ungefähr ihr heutiges Aussehen darstellen.«

»Ja, dann … gut.«

Benz erhob sich und verließ den Raum, um kurz darauf mit einem bunt gemusterten Rucksack in der einen und einer türkisfarbenen Strickjacke sowie einer Puppe mit voluminösen gelben Wollhaaren in der anderen Hand zurückzukommen. Max sparte sich den Hinweis darauf, dass Benz eventuell auf den Gegenständen vorhandene Spuren zerstörte. Das war gegebenenfalls längst geschehen.

Benz arrangierte die Sachen vor Max auf den Tisch, legte eine Fotografie daneben, die er aus der Gesäßtasche gezogen hatte, und setzte sich wieder, wobei sein Blick auf die Puppe gerichtet blieb.

Max griff als Erstes nach dem Foto. Das Mädchen darauf hatte schulterlange blonde Haare. Es stand vor einem weißen Gebäude und blickte direkt in die Kamera. Leni war hübsch, doch in ihren Augen glaubte Max trotz ihres kindlichen Alters schon einen Ausdruck von Melancholie erkennen zu können.

Er steckte das Foto ein und widmete sich dem Rucksack. An einem der Trageriemen zog er ihn zu sich heran und betrachtete ihn von allen Seiten. Bis auf einige typische Verschleißerscheinungen an der Unterseite und den Trageriemen war er noch recht gut erhalten. Quer über die Rückseite, die anders als der Rest des Rucksacks unifarben in Türkis gehalten war, zog sich ein verblasstes dunkles Muster, das deutlich als Reifenprofil erkennbar war. Max deutete darauf. »Das sind also die Flecken, von denen Sie gesprochen haben?«

Benz nickte geistesabwesend. »Ja. Das sind die Reifenspuren von meinem Auto.«

»Wie lange vor Lenis Verschwinden ist das passiert?«

»Etwa ein Jahr. Erst habe ich versucht, die Flecken zu entfernen. Als das nicht funktionierte, wollte ich ihr einen neuen Rucksack kaufen, aber Leni hat darauf bestanden, diesen zu behalten.«

»Und Sie sind sicher, dass das genau dieselben Flecken sind?«

Benz betrachtete den Rucksack mit gerunzelter Stirn. »Ja, ich bin absolut sicher. Das ist Lenis Rucksack. Es sind auch ihre Sachen drin.«

Max öffnete vorsichtig die beiden Schnappschlösser, fasste das Oberteil des Rucksacks mit zwei Fingern am Rand an und klappte es auf. Der Inhalt bestand aus zwei Büchern, ein paar Heften, auf denen »Lena Benz, 4b« stand, einem Mäppchen und einer leeren Brotdose aus türkisfarbenem Kunststoff. Offenbar war das die Lieblingsfarbe des Mädchens.