Die Spuren der Stadt - Lars Saabye Christensen - E-Book

Die Spuren der Stadt E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Was hören wir, wenn wir der Stadt lauschen? Welche Spuren hinterlässt sie in uns? Wer ist am anderen Ende, wenn wir telefonieren? Kennen wir die, die an der Straßenecke stehen, verzaubert von den Lichtern und Geräuschen der Stadt? Lars Saabye Christensens Roman spielt im Oslo der Nachkriegszeit - er erzählt darin auf berührende, süchtig machende Weise von den Sehnsüchten und Nöten seiner Bewohner, deren Schicksal unauslöschlich mit der Stadt und den Straßen, in denen sie leben, verwoben ist.

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Seitenzahl: 624

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Zum Buch

Was hören wir, wenn wir der Stadt lauschen? Welche Spuren hinterlässt sie in uns? Wer ist am anderen Ende, wenn wir telefonieren? Kennen wir die, die an der Straßenecke stehen, verzaubert von den Lichtern und Geräuschen der Stadt? Lars Saabye Christensens Roman spielt im Oslo der Nachkriegszeit - er erzählt darin auf berührende, süchtig machende Weise von den Sehnsüchten und Nöten seiner Bewohner, deren Schicksal unauslöschlich mit der Stadt und den Straßen, in denen sie leben, verwoben ist.

Zum Autor

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.

LARS SAABYE CHRISTENSEN

DIE SPUREN DER STADT

Aus dem Norwegischenvon Christel Hildebrandt

Die norwegische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Byens spor« bei Cappelen Damm, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.Der Verlag bedankt sich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Cappelen Damm AS, Oslo

Copyright © der deutschen Ausgabe 2019 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkterstraße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Semper Smile, München

Umschlagmotiv: Alette Bertelsen

Karte im Vor- und Nachsatz: Ukjent fotograf / Oslo museum

Redaktion: Frauke Brodd / write and read

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23116-3V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

PROLOG

Der Kirkeveien beginnt am Frogner plass, genau da, wo die Straßenbahn nach Osten zum Elisenberg und nach Solli abbiegt, natürlich nur, wenn man in diese Richtung geht und weg will aus Fagerborg, aus Majorstua, weg aus dieser Stadt, die ich trotz allem liebe, in guten wie in schlechten Zeiten. Gut: Ihre Größe und die Anzahl ihrer Bäume passen zu meiner Stimmung. Schlecht: Ihr Wille, immer größer zu werden, rüttelt genau an dieser Stimmung. Eine Stadt muss sich zu ihrem Alter bekennen. Ansonsten ähnelt sie einem Kind im Smoking oder einem Greis im Matrosenanzug, und das erzeugt nur Gelächter und kein Heimweh. Der Junge, nein, der junge Mann, denn er ist dabei, ein Mann zu werden, der in der Straßenbahn sitzt, der Junge, den du an diesem frühen Morgen im Vorbeifahren siehst, während alle zu der traurigsten Nachricht aufwachen, die einer von Dankbarkeit erfüllten Bevölkerung beschieden sein kann, er will weg, weg aus Fagerborg, weg aus der Stadt, weg von allem, einfach nur weg. Er heißt Jesper Kristoffersen und hat eine vollgepackte Tasche auf dem Sitz neben sich stehen. Beachte seinen Blick, wenn du es schaffst: leer und offen zugleich. Er sieht und wird gesehen, übrigens hängt unter dem linken Auge ein blauer Schatten, eine Erinnerung. Früher einmal erhielt er die Diagnose sensibel. Wir gehen in die andere Richtung auf der linken Seite des Kirkeveien, entlang des Frognerparks mit der großartigen, oder, wie einige meinen, übertriebenen Vigelandanlage, die im Herbst, so wie jetzt, an große Gärten in Russland um die Jahrhundertwende erinnert; verlassene, melancholische und nicht zuletzt sonderbare Ansammlungen von Skulpturen, die die Wolkenwand auf dem Rücken tragen. Wohingegen im Frühling und Sommer hier zu einem anderen Tanz geladen wird. Die Mütter sonnen sich auf den Bänken, lassen dabei aber die Kinder, die auf den Rasenflächen spielen, nicht aus den Augen. Jugendliche füttern die Schwäne, das aber nur, um ihre wahren Absichten zu vertuschen, denn ehrlich gesagt wollen sie nur flirten. Die Brotkrümel, die sie in den Teich werfen, sind der feine Staub des Verliebtseins. Und in den beiden Restaurants, Broen und Herregårdskroen, sitzen die Väter in weißen Hemden und trinken Bier aus kühlen, überschäumenden Gläsern. Alles ist unbekümmert und langsam. Alles ist sorglos und vorübergehend. Alles ist ewig, blauer Himmel, der sich in dem glänzenden Licht des Teichs spiegelt. Hier setzt man nicht die Kunst an erste Stelle, sondern das Leben. Im Winter ist das anders. Da rückt das Leben in den Hintergrund, und die Skulpturen treten hervor, Kolonnen aus Granit, mit Raureif bedeckt, eine erstarrte Armee, und man könnte fast glauben, der Park wäre ein gotisches Schlachtfeld oder aber die Verlängerung des Friedhofs Vestre Gravlund, der gleich daneben liegt mit seinen düsteren Krematorien und schwarzen, spitzen Zypressen. Überhaupt macht der Winter diese Stadt bedürftig und drückend, obwohl wir doch in erster Linie an den Winter gewöhnt sind. Der Winter sperrt uns zwischen Schneeverwehungen, Schneewällen an den Straßenrändern und mageren Träumen ein. Wie gesagt, jetzt ist September, und zwar nicht irgendein September: Es ist in diesem Jahr der traurigste Septembertag aller Zeiten. Die Blätter fallen wie gelbe Tränen. Ja, ich sage es laut: Die Blätter fallen wie gelbe Tränen. Ein Zeitungsbote kommt mit der Extraausgabe der Aftenposten in seinem Leiterwagen angelaufen. Ist der Grund für diese Stimmung, dass Jesper Kristoffersen auf der M/S Bergensfjord anheuern will? Wohl kaum. Jungs und Männer, ja, sogar ein paar Mädchen, brechen jeden Tag auf, um zur See zu fahren, ohne dass jemand sonderlich Notiz davon nimmt, abgesehen von einer Mutter vielleicht, einer Schwester, einer Liebsten. Und so soll es sein. Man reißt sich los, ganz gleich, wie weh das tut. Auf den Tennisplätzen sind die Netze abgebaut worden. Ein weißer Ball liegt auf dem Kies, wie der Punkt nach dem letzten Aufschlag des Sommers. Doch im Frogner-Stadion gegenüber den Werkstätten von Sørensen & Balchen in der Middelthuns gate, da herrscht immer Saison: Langlauf, Eiskunstlauf, Eishockey, Leichtathletik und Fußball, das ganze Jahr über ein gut gefüllter Sportkalender. Die Frauen in der Stadt werden sich sicher ganz besonders an Sonia Henies Auftritt im Flutlicht erinnern: Wie sie unter stürmischem Jubel wie ein Engel übers Eis glitt, rückwärts, die Arme wie Flügel ausgebreitet, es fehlte nicht viel, und sie hätte abgehoben. Die Männer werden sich wahrscheinlich eher daran erinnern, wie Oscar Mathisen den überschätzten und großspurigen Bobby McLean hier schlug, weshalb das Frogner Stadion auch das Waterloo des Amerikaners genannt wurde. Was den norwegischen Weltmeister angeht, so verlor er in der letzten Kurve auf dem Bogstadveien, als das Eis unter ihm schmolz. Er erschoss zuerst seine Frau und nahm sich dann das Leben. Ich frage mich oft: Konnten nicht einmal die Medaillen ihn trösten? Oder lag es daran, dass man umso tiefer fällt, je höher man aufsteigt? Im Übrigen läuft da drinnen im Stadion gerade jemand anderes eine Runde nach der anderen auf dem schweren Kies, gekleidet in Wollpullover und blauer kurzer Hose, über der langen Unterhose. Das ist, wie alle wissen, Dr. Lund, Facharzt fürs Allgemeine, wie er sich gerne nennt. Er ahnt noch nichts von den Ereignissen der letzten Nacht. Und hätte er es gewusst, wäre er wahrscheinlich doppelt so lange gelaufen, das heißt: fünfzig Runden, zwanzig Kilometer. Übrigens war es Dr. Lund, der Jepser Kristoffersen als sensibel bezeichnete, ihn aber später gesundschrieb: Der Junge ist bei guter Gesundheit und für jegliche Arbeit geeignet. Aber ziehen wir weiter, nein, eilig haben wir es nicht, ganz im Gegenteil, wir haben viel Zeit. Doch wer uns folgen will, möge so gut sein, und sich unserem Tempo anpassen. Das ist hier so üblich. Bei Maries gate bleiben wir sowieso stehen und werfen einen Blick auf die Majorstua-Schule, wo sich der Hausmeister, der frühere Klassenlehrer Løkke, auch Lehrer Uløkke genannt, was fast wie ulykke klingt, also Unglück, einen dunklen Anzug angezogen hat und die norwegische Flagge über den leeren Schulhof trägt. Uns fällt auf, dass er die Flagge trägt, als halte er ein totes oder verletztes Kind im Arm. Dann gelangen wir zu den Räumen der Heilsarmee. Die Eingangstür ist geschmückt mit dem Spruch: Blut und Feuer. Eigentlich ist es schon merkwürdig, dass diese ängstlichen, höflichen und unbewaffneten Soldaten, die niemals sterben, sondern für alle Ewigkeiten in die Todesanzeigen der Aftenposten befördert werden, ein so krasses Motto haben. Und das Heft, mit dem sie auf der Straße stehen, um es zu verkaufen, besonders gern auf dem Valkyrien, heißt Der Kriegsruf, oder zumindest hieß es zu dieser Zeit so. Nicht immer stimmen Form und Inhalt überein. Und damit sind wir endlich in Majorstua, überqueren den Platz, der gern Kirkeveiens Petersplatz genannt wird. Hier wenden die Straßenbahnen und Busse. Von hier aus kann man die Holmenkollbanen unterirdisch bis zum Nationaltheatret nehmen, hinunter in die eigentliche Stadt. Und von hier kann man in die Nordmarka hinaufbefördert werden, die für viele der endgültige Beweis der Existenz Gottes ist: Das ewige Leben ist zwischen Tryvann und Kikut zu finden, wo man hartgesottenen, abgemagerten Männern mit einem Tropfen an der Nase und einem Glorienschein, aus Schweiß, Kleister und Tannennadeln geflochten, begegnen kann. Man sollte auch erwähnen, dass dieselbe Nordmarka als Drohung verzweifelter Eltern benutzt wird, wenn die faulen Jugendlichen am Sonntag lieber länger ausschlafen wollen. Kommst du nicht vor 10 Uhr in die Marka, bist du bereits auf die schiefe Bahn geraten. Und dann kann es sein, dass du auf Bastøy landest, der Gefängnisinsel im Oslofjord, wo unmündige Mörder und andere einfältige Jungs Disziplin und Gottesfurcht durch die Eiserne Jungfrau lernen, das Bett, in dem man als Kind einschläft und als verprügelter Greis aufwacht. Übrigens nehmen wir den Vergleich mit dem Petersplatz zurück, sagen lieber, dass die Kreuzung von Majorstua der Times Square des Kirkeveiens ist. Hier gibt es eine Bank, einen Optiker, eine Apotheke, einen Delikatessenladen, einen Kiosk, einen Friseur, eine Parfümerie, eine Telefonzelle, ein Geschäft für Damendessous, ein Reisebüro und einen Warteraum mit einer eigenen Personenwaage, die dir auf kleinen Visitenkarten deine Zukunft vorhersagt. Im gleichen Atemzug müssen die Reklameschilder auf den Dächern genannt werden: In der dunklen Jahreszeit kann man die Bibel im Licht von Blue Master und Frisco lesen. Zwei Kinos gehören selbstverständlich auch dazu, das Colosseum mit seiner gewaltigen Kuppel und das Verdenstheatret, das mit seinen Säulen eher einem griechischen Tempel ähnelt. Jetzt weiß ich es: Majorstua ist die Akropolis des Kirkeveien. Die Wasserlöcher, wie sie im Volksmund genannt werden, sind auch leicht zu finden: Gamla, Valka, Larsen, Vinkelkafeen und Tråkka. Es sollte nie ein Problem sein, den Durst auf Majorstua zu löschen. Und dabei haben wir noch gar nicht die Bäckereien erwähnt. Nirgends gibt es mehr Bäckereien als auf Majorstua, Samson, Møllhausen, Hansen und ein wenig weiter, in der Industrigata, kann man die kleine Manfreds bakeri besuchen. Morgens liegt der Duft nach frisch gebackenem Brot über dem Stadtteil. Die Vögel werden schon satt, wenn sie nur mit offenem Schnabel fliegen. Doch nicht an diesem Tag. Heute gibt es kein frisches Brot. Heute werden die Reklameschilder nicht eingeschaltet. Heute herrscht Dunkelheit. Als wir den langen, leicht geneigten Hügel hinuntergehen wollen, der an der Vestre Aker kirke endet, die bereits 1856 dieser Straße ihren Namen gab und in der Fridtjof Nansens Mutter zu ihrer Zeit eine Allee pflanzte, sehen wir auf den Stufen zum Majorstuhuset etwas, von dem wir zunächst glauben, es sei Laub, was sich bei näherem Hinschauen jedoch als Lose vom Roten Kreuz erweist. Sie müssen vom Herbstbasar stammen. Wer nichts gewonnen hatte, warf sie einfach weg. Uns wird schwer ums Herz: eine Stadt voller Nieten. Wir wechseln die Straßenseite und beginnen schließlich mit dem Anstieg, den viele, besonders Fahrradboten und Neuankömmlinge, unterschätzen. Nicht nur, dass dieser Teil des Kirkeveien lang ist, man muss auch mit dem Wind rechnen, der sich hinter den Gletschern auf Spitzbergen bildet, die salzige Meeresluft von der Finnmarkküste mit sich nimmt, durch Nordnorwegen und Trøndelag braust, über dem Dovre-Gebirge an Fahrt zunimmt und bis auf den Grund des Tryvann schlägt, bevor er mit Eisenhörnern die Suhms gate kreuzt. Da hat man übrigens bereits den Garderobe- & Sålingseksperten und Prestenes kirke passiert, ein bescheidenes, robustes Gotteshaus, ein Geschenk norwegischer Pfarrer und Pfarrgeschlechter an die Hauptstadt des Landes. Böse Zungen behaupten, dass mehr Menschen das Licht bei dem Garderobe- & Sålingseksperten als bei den Gottesdiensten gesehen haben – und noch mehr bei Valka. Aber das wollen wir nicht vertiefen. Lichter werden entzündet, und Lichter werden gelöscht. Wobei wir hoffen, dass es sich die Waage hält. Denn uns liegt jetzt das Schaufenster von Schlachter Melsom am Herzen: Der Schlachter selbst beugt sich über den Tresen, nimmt selbst das Bild seines Sohns Jostein herunter, der im Norsk Dameblad für die Hautcreme Valcrema Reklame gemacht hat, und stellt dafür das Portrait von König Haakon mit Trauerflor hin. Draußen steht seine Ehefrau mit geröteten Augen und dirigiert ihren Mann, pass auf, die schwarze Seide darf nicht an den Schinken kommen. Das Portrait muss noch näher an die Tür, stopp, nicht so nah, am besten, der Schinken wird gegen ein wenig Petersilie und Entrecôte ausgetauscht. Wir lassen die beiden machen und gehen weiter, vorbei an Marienlyst, Fagerborgs Grenze im Westen. Dort, zurückgezogen wie ein Schloss, liegt Norsk Rikskringkasting, der Rundfunksender, der den restlichen Tag des Königs gedenken und Trauermusik spielen wird. Jemand behauptet, das sei der Grund, warum Jesper Kristoffersen genau an diesem Morgen in See gestochen ist, er erträgt nämlich all diese dunklen, schweren Melodien nicht mehr. Vermutlich stimmt das nicht. Wie schon gesagt, er ist nicht mehr sensibel. Dann sind wir auf Jessenløkken angekommen, der als Fagerborgs Versailles bezeichnet werden kann: die großen, rechteckigen Wohnblocks, mit sonnigen Hinterhöfen in der Mitte und Fassaden zum Kirkeveien, zur Jonas Reins gate, Jacob Aalls gate und der Gørbitz gate. Sie wurden gezeichnet von Harald Hals, gebaut zwischen 1916 und 1920 und sind die ersten Exemplare moderner Stadtplanung in Norwegen, inspiriert von dem Wiener Architekten Camillo Sitte. Ein für dieses Viertel, in dem so gut wie alles auf Tradition beruht, sehr ungewöhnlicher Gedanke: Der soziale Modernismus begann in Fagerborg. Wir waren die Ersten! Auch die Wohnungen waren ihrer Zeit voraus, mit all den modernen Errungenschaften vor Ort, Doppelverglasung, Waschküche, Balkon und Anrichtezimmer, und dann gab es da noch einen geheimen Raum, von dem natürlich jeder wusste: das Vestibül. Das Vestibül ist ein Raum ohne Fenster. Das Vestibül ist völlig überflüssig und vollkommen dunkel. Im besten Fall ist es ein Warteraum. Die Architekten meinten, das Vestibül verleihe den Wohnungen einen Anstrich von Vornehmheit, sozusagen eine bourgeoise Raffinesse, die dem Wohnraum zusätzlich eine gewisse Würde verpasse. Dieses Vestibül, im ersten Stock im Kirkeveien 127, war bis jetzt Jesper Kristoffersens Zimmer gewesen, sein Warteraum, jener Jesper Kristoffersen, der wie gesagt vor nicht allzu langer Zeit die Straßenbahn von Majorstua hinunter zum Rådhusplassen genommen hat, um von dort zum Vippetangen zu gehen und auf der M/S Bergensfjord, die zu Den Norske Amerikalinje gehört, anzuheuern. Auf dem kleinen Balkon stehen immer noch Maj Kristoffersen, seine Mutter, und die kleine Schwester Stine und schauen ihm, der fortgegangen ist, nach. Für wen sie mehr Tränen vergießen, für König Haakon oder Jesper, ist nicht schwer zu erraten. Sagen wir mal so: Man ist nicht sich selbst der Nächste. Man ist den Seinen der Nächste. Aber wir haben noch ein Stück zu gehen, bevor wir mit dem Kirkeveien fertig sind. Gravlunden unterhalb der Vestre Aker kirke ist steiler als die Landebahn am Holmenkollbakken. Wenn man in Fagerborg stirbt, darf man keine Höhenangst haben. Aber inzwischen wollen die meisten auf dem Vestre Gravlund begraben liegen, auch wenn der etwas weiter entfernt ist, aber dort ist es immerhin flach, und er ist übersichtlich, und man bekommt nur selten unerwarteten Besuch. Wir atmen den fast betäubenden Duft nach Benzin und Öl an der Esso-Tankstelle an der Ecke ein und überqueren die Straßenbahnschienen, die hinunter zum Bislett führen und in gewisser Weise Fagerborgs Grenze nach Osten hin bilden. Auch am Ullevål-Krankenhaus, das zu seiner Zeit Europas größtes war, ist halbmast geflaggt. Wahrscheinlich wird die Anzahl der Toten an diesem Tag noch steigen. Einen König zu verlieren, das zehrt. Wenn man einen König verliert, verliert man Zeit. Und auch wenn wir jetzt außerhalb Fagerborgs absoluten Grenzen sind, gehen wir dennoch ein Stück weiter, vorbei an noch einem Friedhof, dem Nordre Gravlund, und kommen zum Geitmyrsveien, und dort, auf der anderen Seite, liegt der Schulgarten. Den wollte ich Ihnen zeigen. Die Apfelbäume stehen in Reih und Glied, die Beerenbüsche ebenso. Der kleine Acker ist mit schönen, geraden Furchen gepflügt, dunkle, fruchtbare Wellen. Im Schuppen hängen die Geräte: Spaten, Forken, Harken. Übrigens hat jemand ein Paar Handschuhe vergessen. Es sieht fast so aus, als wühlten sie weiterhin in der weichen, fügsamen Erde. Ich wollte Ihnen diesen gepflegten Schulgarten zeigen, damit wir nicht vergessen, woher wir kommen, ganz gleich, wie modern das meiste geworden ist, mit Foodmastern, Farbfilmen, Kugelschreibern, Sputniks, elektronischer Musik und Testbildern im Fernsehen: Alle in Fagerborg kommen vom Land.

TEIL I

Ein kurzes Resümee des ersten Arbeitsjahres 1947

Um die Arbeitslast zu verringern und besser zu verteilen, hat das Norwegische Rote Kreuz in Oslo die Stadt kartiert und in Verbände eingeteilt, jeder unter eigener Leitung. Im Juni 1947 wurde ein Verband für Fagerborg eingerichtet. Wir suchten im Kirchenbüro die Mitglieder heraus, die zu unserem neugegründeten Distrikt gehören. Unsere erste Aufgabe war im September das Anwerben neuer Mitglieder. Wir haben ca. 500 eingeschrieben, ein Teil davon mit einer Mitgliedschaft auf Lebenzeit.

Auf dem Basar am 12.–19. Sept. nahmen wir 1.264,80 Kronen ein. Die Mitgliedsbeiträge belaufen sich auf 595,00 Kr., so dass die Gesamteinnahme 1.623,87 Kronen beträgt. Als Startkapital wurden uns von dem Hauptvorstand 650,00 Kronen versprochen.

Ende November und Anfang Dezember waren Mitglieder aus Fagerborg beim Sortieren und Verpacken der Kleidung für die Europahilfe gut repräsentiert. Unser konstanter Beitrag betrug 200,00 Kronen.

Außerdem wurde uns ein Kontingent an Wolle zugeteilt, das wir weiterverteilt und so verschiedene Strickinitiativen ins Leben gerufen haben: Strümpfe, Handschuhe, Schals, Mützen, Hosen usw. Diese Arbeiten sollen wohl überlegt an Bewohner unseres Distrikts verteilt werden oder an den Orten im ganzen Land, wo sofortige Unterstützung vonnöten ist. So wurde zum Beispiel ein gut gefülltes Paket nach Tromsø geschickt, wo eine Familie durch ein Feuer obdachlos wurde.

Im Mai bekam der Verband eine Anfrage von Frau Fougner (Vorsitzende in der Syforeningen von 1907), ob wir beim Säumen von Leinentüchern und dem Kennzeichnen von Decken für Noteinsätze helfen könnten, genauer gesagt für ein kommunales Feld-Lazarett. Außerdem bekam der Ortsverband Fagerborg die Bitte vom Arbeitskomitee, sich um 47 jüdische Kinder zu kümmern, die für 2 Monate in Norwegen bleiben sollten, und sie zu verpflegen. Auch bei ihrer Abreise kümmerte sich unsere Abteilung um die Kinder, eine vergnügliche, interessante Arbeit.

Im August beriefen wir unsere erste Mitgliederversammlung im Haus unserer Vorsitzenden ein, die als sehr enttäuschend bezeichnet werden muss. Von 15 Personen, die versprochen hatten zu kommen, waren nur 3 anwesend. Wir hatten im Vorfeld beschlossen, eine Puppe mit Aussteuer als Lotteriepreis zu verschenken, und diese Arbeiten verteilten wir dann auf die drei ergebenen Mitglieder und die Leitung.

In der Rote-Kreuz-Woche vom 18.–26. September führten wir den Autokorso mit einem blumengeschmückten Wagen und Kindern in Rote-Kreuz-Uniformen an. Die Ausbeute des Umzugs war mager und wird laut Arbeidskomiteen nicht verteilt werden.

Die Mitgliederwerbung verlief leider schleppend. Der Beitrag wurde bekanntlich in diesem Jahr von 2,00 auf 4,00 Kronen für Jahresmitglieder erhöht und von 20,00 Kronen auf 50,00 Kronen für eine Mitgliedschaft auf Lebenszeit. Diese Beiträge sind offensichtlich zu hoch.

Der Basar brachte einen Ertrag von: 1.874,05 Kronen

Verkauf der Rote-Kreuz-Abzeichen: 206,10 Kronen

Für diese Mittel soll noch in diesem Monat ein Budgetvorschlag aufgestellt werden.

INDIAN SUMMER

Maj Kristoffersen steht im Schatten auf dem kleinen Balkon, der zum Hinterhof im Kirkeveien 127 hinausgeht, und betrachtet all die dort unten spielenden Kinder. Es wimmelt nur so von ihnen. Es ist die Kriegsgeneration. Es sind die Kinder des Friedens. Ihr Junge, Jesper, war ein Jahr alt, als Filipstad explodierte, und viele glaubten, dass in dem Moment die ganze Stadt in die Luft flog; sogar in Faberborg zitterten noch die Fenster. Die Erschütterungen wurden Teil der Kriegserinnerungen, die Risse in der Decke und den Wänden, zerplatzte Trommelfelle, schief hängende Kronleuchter, alles, was hätte repariert werden sollen, sobald der Frieden kommt, wozu man dann aber doch keine Zeit hatte und es auf den nächsten Tag verschob, denn der Frieden hat viel zu tun, im Gegensatz zu dem langsamen, beschäftigungslosen Krieg, abgesehen von dem Moment, als es in Filipstad knallte. Jesper sitzt hinten in der Ecke, er hebt die Hand und winkt seiner Mutter zu, vielleicht ist er auch nur wieder rastlos und unruhig. Es kann auch sein, dass sein Pullover zu dick ist, dass er juckt, dass er versucht, sich im Nacken zu kratzen. Es ist der erste Samstag im Oktober, 1948. Aber die Luft ist immer noch mild. Die Sonne wärmt immer noch. Sie hängt über den Häuserdächern und setzt den wilden Wein zwischen den Fenstern in Brand. Die Meteorologen nennen das indian summer. Maj Kristoffersen genießt das. Sie tritt ins Licht. Sie zieht sich die Jacke aus und könnte sich eine Zigarette anzünden, wenn sie eine hätte. Wenn es doch so bliebe. Doch einen Monat später ist höchstwahrscheinlich bereits bestes Skiwetter. Plötzlich sieht sie Jesper nicht mehr, nicht neben dem Müllschuppen, nicht bei der Schaukel, nicht auf der Bank. Sie gerät in Panik. Sie weiß, er kann nicht weit fort sein. Das Tor zur Jonas Reins gate ist immer verschlossen. Trotzdem wird sie von Panik ergriffen. In den Keller kommt er nicht hinein, in die Waschküche. Vielleicht ist er hoch auf den Trockenboden gegangen. Gefahren lauern überall. Sie will nach ihm rufen. Sie will sich von dem verspäteten Sommer losreißen. Da öffnet Margrethe Vik das Fenster über ihr und lehnt sich heraus.

»Telefon für Sie.«

»Ist es Ewald?«

»Danach habe ich nicht gefragt. Aber es ist eine Dame.«

Maj Kristoffersen wirft einen letzten Blick auf den Hofplatz, kann aber Jesper immer noch nicht entdecken. Dann geht sie zur Küchentreppe und läuft hoch zu Frau Vik, die ihr zum Wohnungseingang folgt, wo der schwarze Hörer auf der Anrichte wartet. Maj Kristoffersen wendet sich Frau Vik zu.

»Könnten Sie so lange nach Jesper sehen?«

Frau Vik wirft den Kopf leicht nach hinten und trocknet sich die Hände an der Schürze ab.

»Ja, ja. Ich will ja nicht stören.«

»So war das nicht gemeint. Aber ich weiß nicht, wo Jesper hingegangen …«

»Eigentlich war ich gerade mitten im Kochen.«

»Ja, es duftet wunderbar.«

»Nun nehmen Sie schon den Hörer, bevor aufgelegt wird.«

Frau Vik geht hinaus und schließt die Küchentür gut hörbar hinter sich.

Maj Kristoffersen nimmt den Hörer hoch und meldet sich mit ihrem Namen. Am Apparat ist eine Frau Lund aus dem Ullevålsveien, die gern mit ihr sprechen möchte. Sie ruft im Namen des Roten Kreuzes an, und einen Moment lang glaubt Maj Kristoffersen, dass Jesper der Grund ist, warum die Frau mit ihr sprechen will, dass er etwas angestellt hat, so dass sogar das Rote Kreuz sich einmischt. Sie bekommt eine Riesenangst und wird wütend. Das geht diese Leute doch überhaupt nichts an. Es geht niemanden etwas an! Sie schafft das allein! Doch das sagt sie nicht, sie denkt es nur. Oder ist ein Unglück geschehen? Ist Ewald etwas passiert? Hat Jesper es geschafft, sich in der kurzen Zeit, die er außer Sichtweite war, zu verletzen? Aber Frau Lund hat etwas ganz anderes auf dem Herzen. Sie fragt, ob Maj Kristoffersen bereit wäre, dem Vorstand des Ortsverbands Fagerborg, einer Untergruppe des Osloer Kreises des Norwegischen Roten Kreuzes, beizutreten, eventuell als Stellvertreterin. Sie benötigten neue Damen. Außerdem sei ihr zu Ohren gekommen, dass Maj Kristoffersen äußerst tüchtig sei, was Buchhaltung angehe. Maj holt vor Erleichterung tief Luft und möchte am liebsten laut Ja rufen, besinnt sich dann aber eines Besseren.

»Das muss ich erst mit meinem Mann besprechen«, sagt sie.

Wofür Frau Lund volles Verständnis hat. Ein Ehrenamt beim Roten Kreuz ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Es betrifft die ganze Familie. Sie gibt Maj Kristoffersen ihre Telefonnummer und sagt, sie möge sie doch anrufen, wenn sie eine Entscheidung getroffen habe, möglichst im Laufe des Wochenendes, denn die nächste Vorstandssitzung ist bereits am kommenden Mittwoch. Beide legen auf. Maj Kristoffersen hört, dass Frau Vik zurück ist. Wasser läuft ins Spülbecken. Jesper schreit. Dann herrscht Stille. Sie geht zu den beiden in die Küche.

»Er stand hinter der Birke«, sagt Frau Vik.

Jesper schaut seine Mutter an, und wie üblich kann man unmöglich erkennen, ob er kurz davor ist, zu weinen oder zu lachen.

»Da hat er sich also versteckt.«

»Er hat gepinkelt.«

»Gepinkelt? Meine Güte …«

»Aber er hat sich gerade wenigstens schon mal die Hände gewaschen.«

Jesper fängt an zu weinen. Immerhin. Lachen wäre in diesem Moment, in Frau Viks Gegenwart, sehr viel schlimmer gewesen. Maj zieht ihren Sohn zu sich. Wie üblich sträubt er sich und ist doch gleichzeitig willig. Sie begreift nicht, wie so etwas möglich sein kann, aber er ist wie eine undenkbare Saite, gleichzeitig schlaff und angespannt.

»Entschuldigen Sie die Umstände«, sagt sie.

Frau Vik öffnet die Küchentür für sie und gibt Jesper einen Mariekjeks, den er sofort in den Mund stecken will, ohne Umschweife, doch im letzten Moment entscheidet er sich anders, hört auf zu weinen und schiebt den Keks schnell in die Tasche. Maj fasst ihn fest im Nacken.

»Danke«, murmelt Jesper.

Frau Vik tätschelt ihm den Kopf, während sie sich zu Maj umdreht.

»Vielleicht kann ja das Rote Kreuz Ihnen helfen, ein Telefon zu bekommen.«

»Und haben Sie denen vielleicht gesagt, dass ich äußerst tüchtig sei, was Buchhaltung angehe?«

Frau Vik lächelt.

»Das sagt zumindest Ihr Mann.«

Statuten des Ortsverbands Fagerborg des Roten Kreuzes

Der Ortsverband Fagerborg des Osloer Kreises des Norwegischen Roten Kreuzes ist als eine selbstständige Gruppe mit dem Arbeitskomitee des Osloer Kreises des Norwegischen Roten Kreuzes verknüpft.

Die Abteilung wird von einem Vorstand geleitet, bestehend aus bis zu 5 Mitgliedern sowie Stellvertretern. Der Vorstand wird von der Generalversammlung jeweils für 2 Jahre gewählt.

Die Generalversammlung wird jedes Jahr im März abgehalten. Die Einladung dazu wird von dem Vorsitzenden des Vorstands mindestens 8 Tage vorher aufgesetzt und durch Information an die stimmberechtigten Mitglieder oder durch Bekanntgabe in einer Osloer Zeitung veröffentlicht.

Der Ortsverband wird im Arbeitskomitee durch einen Repräsentanten vertreten.

Der Ortsverband Fagerborg hat als Ziel, die Interessen des Roten Kreuzes in der Fagerborger Gemeinde zu vertreten.

INTER ARMA CARITAS

Die vier Herren, die am Bartresen des Bristols stehen, sind laut, protzig und rechthaberisch. Sie heißen Ravn, Johnsen, Strøm und Kristoffersen. Sie meinen es gut. Als der Barkeeper Ulfsen sie bittet, ein bisschen leiser zu sein, spricht er das nicht laut aus, sondern hebt nur eine Augenbraue, und dann ist es für einen Moment still, und man kann den Unterhaltungspianisten hören, der das Rondo amoroso spielt, vermutlich zu Ehren der alten Damen, die am anderen Ende, hinten bei der Treppe, ihr Sandwich essen. Dann bestellen die Männer eine weitere Runde Gin Tonic, bis auf Ewald Kristoffersen, der lieber Bier trinkt, sich aber an diesem Tag einen kleinen Aquavit genehmigt hat, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie alle sind angestellt bei Dek-Rek, zwei als Zeichner, zwei als Dekorateure, und sie haben allen Grund zum Feiern. Die Gemeinde Oslo hat dem Büro den Auftrag gegeben, die Ausstellungen in Verbindung mit dem 900-Jahre-Jubiläum der Stadt auszurichten. 1950 wird es soweit sein, also noch zwei Jahre. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Sie haben bereits Ideen. Sie sehen es schon vor sich. Sie können die Zukunft sehen. Die Zukunft nähert sich. Aber zunächst müssen sie austrinken und dann etwas mehr Schwung in die Musik bringen. Ewald Kristoffersen wird zum Flügel geschickt. Er wartet, bis der Pianist das Stück beendet hat. Was so seine Zeit dauert. Der Pianist spielt in Schleifen. Das liegt in der Natur der Barmusik. So ist Hintergrundmusik nun mal. Schließlich legt Ewald Kristoffersen dem Pianisten die Hand auf die Schulter.

»Meine Freunde würden gern etwas Lebhafteres hören«, sagt er.

Enzo Zanetti, fest angestellter Pianist im Bris, hebt den Kopf, spielt weiter, lächelt, doch sein Blick ist müde, und die Spitzen seines Hemdkragens, die von Weitem tadellos aussahen, sind bereits stumpf geworden. Er spricht leise und betont:

»Lebhaft? Irgendwelche Vorschläge?«

»Ob ich einen Vorschlag habe? Nein, das überlasse ich ganz Ihnen. Aber vielleicht etwas von Ludwig Armstark?«

»Ludwig?«

»Oder Herzog Ellingsen? Hauptsache Swing.«

Ewald Kristoffersen fürchtet, sich nicht klar genug ausgedrückt zu haben, aber auf dem Weg zurück zum Bartresen hört er, wie der Pianist das Repertoire wechselt und In der Halle des Bergkönigs spielt. Das muss genügen. Die Kollegen applaudieren. Sie prosten einander zu. Mit lauten Trinksprüchen. Bald brechen sie auf. Da wartet jemand. Wir sehen uns Montag, wenn du nicht mehr blau bist oder blaumachst. Ewald Kristoffersen bleibt stehen. Er ist dran, die Rechnung zu übernehmen. Er hat das Gefühl, als sei er immer dran. Er zieht den länglichen braunen Umschlag mit dem Lohn für seine Mühen heraus und legt einen Fünfziger auf den Tresen. Jetzt versteht er, warum Barkeeper Zauberkünstler genannt werden. Der Schein ist weg, bevor er auch nur seufzen kann. Und fünfzig sind noch nicht genug. Das ging schnell. Ewald Kristoffersen muss noch einen Zehner beisteuern, aber für das Wechselgeld kann er sich zumindest noch einen Drink, ein Bier und einen Portwein kaufen. Plötzlich überfällt ihn ein schlechtes Gewissen, und er leert schnell beide Gläser. Dann muss er runter zum Cirkus Neunmann und Wasser lassen. Das dauert seine Zeit. Ewald Kristoffersen denkt: Pissen ist Freiheit. Ein guter Spruch. Aber wofür? Für das Leben? Er kann immer noch In der Halle des Bergkönigs hören. Als er sich die Hände wäscht, entdeckt er sein Gesicht im Spiegel. Ewald Kristoffersen ist eigentlich verblüfft darüber, dass eine Frau ihn tatsächlich lieben kann. Er legt eine Krone auf den Tisch der Toilettenfrau, die ihm dafür ein kleines, eingewickeltes Seifenstück gibt, von der Marke Sterilan. Als er wieder oben ist, steckt er Enzo Zanetti einen Fünfer zu, dieser nickt kaum merkbar, sagt etwas auf Italienisch und spielt Mood Indigo, vor allem für die Damen, die jetzt beim Kaffee-Gedeck angekommen sind. Dann holt Ewald Kristoffersen Mantel und Hut aus der Garderobe, gibt der Mantelfee fünfzig Öre, geht hinaus und spürt den sanften, unerwarteten Wind, der die Rosenkrantz gate hinuntertreibt. Fast könnte man eine Gerade auf der Karl Johan laufen. Nein, er muss nach Hause. Er beschließt, dennoch kein Taxi zu nehmen. Gespartes Geld ist trotz allem verdientes Geld. Er folgt der Kristian Augusts gate, vorbei an der Nasjonalgalleriet und Tullinløkka, dem Grund der Stadt. Von den Anhöhen in Nord, Ost und West fließt alles hierher. Statt Grotten zu umrunden, nimmt er einen Umweg durch den Slottsparken. Die Bäume scheinen verwirrt zu sein von dieser fünften Jahreszeit, dem indian summer. Das Licht lässt sie wieder jung aussehen, zumindest so lange es anhält. So lange es anhält, ist manchmal schon genug. Er geht weiter zum Bislett, wo die graue Mündung der Thereses gate sich in den Bögen des Stadions öffnet. Auf Norabakken, der steiler ist, als er es in Erinnerung hat, muss er eine Pause machen, aber die macht er erst am Pissoir unterhalb der Fagerborg kirke. Dort riecht es streng, nicht wie im Bristol, aber Pissen fühlt sich hier genauso gut an. Hier gibt es keine Toilettenfrau. Hier kommen die Männer allein zurecht. Nach beendeter Aktion setzt er sich auf eine Bank im Stensparken, wischt sich den Schweiß von der Stirn und betrachtet die Wolken, die den Ekebergåsen bereits in Schatten legen. Als würde die Stadt schrumpfen. Wie kann man am besten zeigen, dass diese Stadt 900 Jahre alt ist? Sie ist 900 Jahre alt und immer noch nicht erwachsen. Irgendwo muss man anfangen. Ewald Kristoffersen weiß noch nicht, wo. Er weiß nur, warum er ein schlechtes Gewissen hat. Das liegt an Jesper. Jesper ist eine Plage. Nicht in seiner Nähe zu sein ist eine Befreiung. Jesper ist kein Friedenskind. Er stammt aus dem Krieg. Ewald Kristoffersen steht auf und geht das letzte Stück. Er ist ein schlechter Vater. Ihm ist elend. Jetzt friert er. Er sollte Jesper etwas mitbringen. Er sollte eine Blume für Maj dabeihaben. Die beiden sitzen in der Küche und warten. Maj hört, dass er endlich kommt. Er poltert im Eingang. Er zieht sich im Schlafzimmer um. Lange Zeit bleibt er im Bad. Er nimmt sich seine Zeit. Dieses Mal ist sie nicht gnädig. Er ist zwei Stunden zu spät. Jesper schaut zu Boden und ballt die Fäuste. Doch als Ewald Kristoffersen sein rundes Gesicht in der Türöffnung zeigt und die Hosenträger knallen lässt, so dass der Bauch über den Gürtel rutscht, gibt Maj sich trotz allem zufrieden. Selbst Jesper entspannt sich für einen Augenblick und steckt eine Hand in die Tasche. Der Vater des Hauses nimmt am Tisch Platz.

»Der Eintopf ist kalt«, sagt Maj.

»Wir haben den Auftrag von der Osloer Kommune gekriegt.«

»Dann habt ihr wohl ein wenig gefeiert, oder?«

»Nur einen kleinen Umtrunk im Bris.«

Ewald legt Maj den Umschlag hin. Sie öffnet ihn, zählt mit flinken Fingern und sieht ihn wieder an.

»Einen Umtrunk?«

»Ich war mit Bezahlen dran.«

»Warst du das nicht letzten Samstag auch schon?«

»Ich möchte nicht knauserig wirken.«

»Knauserig? Sag, wie es ist, Ewald!«

»Als geizig.«

»Nein, den Geiz kannst du ja mir überlassen. Und du spielst währenddessen den dicken Mann.«

Ewald Kristoffersen befestigt die Serviette zwischen den obersten Hemdenknöpfen.

»Außerdem ist kalter Eintopf mein Leibgericht«, sagt er. Er isst das, was noch übrig ist, auf, kratzt zum Schluss den tiefen Teller leer und leckt den Löffel ab. Da zieht Jesper die Hand aus der Tasche und legt etwas auf den Tisch. Es ist ein Mariekjeks. Ewald schaut seinen Sohn an.

»Für mich?«

Jesper nickt.

Ewald Kristoffersen treten die Tränen in die Augen. Er war schon immer schnell gerührt. Im Grunde seines Herzens ist Jesper ein guter Junge. Ewald Kristoffersen läuft schnell zurück auf den Flur und kommt doch noch mit etwas in den Händen zurück. Er gibt Jesper das kleine Seifenstück, das dieser auspackt und in den Mund stecken will. Maj kann ihn noch im letzten Moment aufhalten und wirft Ewald einen Blick zu.

»Warst du auch noch in der Parfümerie?«

»Ich habe nur kurz im Cirkus Neunmann vorbeigeschaut.«

Jesper fängt an zu weinen. Sein ganzer Körper zittert. Das Gesicht verzerrt sich. Die Hände schlagen in die Luft. Das Weinen wird zu einem feinen Heulen, als der Mund mit einem Schlag zusammenklappt. Maj muss ihn in den Arm nehmen. Sie muss ihn ganz fest im Arm halten. Ewald schaut woanders hin. Jesper kommt langsam wieder zur Ruhe. Es hält nie lange an. Aber lange genug. Ewald wendet sich langsam wieder seinem Sohn zu, der auf dem Schoß der Mutter sitzt, blass und schlaff.

»Ich war nicht im Zirkus, das musst du mir glauben. Ich war nur auf dem Klo.«

Ewald lacht und Jesper hebt den Kopf und versucht zu lächeln.

»Cirkus Neunmann ist ein Ort, an dem Männer wie du und ich pinkeln. Und warum heißt es Cirkus Neunmann? Ja, ganz einfach, weil da genau für neun Mann Platz ist. Eines Tages nehme ich dich mit dorthin, Jesper.«

Anschließend waschen sie zusammen ab, alle drei. Jesper darf die Löffel abtrocknen. Er schafft es, ohne dass sie auf den Boden fallen. Ewald isst den Mariekjeks, als er in der Stube sitzt und Kaffee trinkt. Jesper geht früh ins Bett und schläft zum Glück bald ein. Sein Bett steht in dem kleinen Vestibül zwischen Badezimmer und Eingang, in dem Zimmer ohne Fenster. Maj geht zu Ewald und setzt sich aufs Sofa. Als Nachrichten, die die beiden erreichen, entweder durchs Radio, dem Ewald lauscht, oder durch die Aftenposten, in der Maj jetzt blättert, kommen in Frage: Die letzte Hinrichtung wegen Landesverrat, der damit als abgeschlossen angesehen wird, wurde vollzogen. Der frühere Minister Ragnar Skancke wurde erschossen. Obwohl sie pro Stück 25 Kronen kosten, werden Kugelschreiber immer beliebter in Norwegen. Außerdem wird berichtet, dass das Nobelkomitee dieses Jahr keinen Friedenspreis verleiht. Es ist Frieden, aber dafür kann man niemandem einen Preis geben. Tatsächlich ist Fußballtoto ein ausgesprochener Erfolg, mal abgesehen davon, dass an vielen Arbeitsplätzen jeden Mittwoch die Effektivität um ein Viertel sinkt, wenn die Wettscheine abgegeben werden müssen.

»Hast du gesagt, dass ich gut in Buchführung bin?«, fragt Maj.

Ewald schaltet das Radio aus.

»Schon möglich. Wieso?«

»Das Rote Kreuz hat mich angerufen. Frau Lund möchte mich im Vorstand haben.«

»Und was hast du gesagt?«

»Dass ich das mit meinem Mann besprechen muss.«

Ewald muss schmunzeln.

»Na, ich denke, du hast dich schon entschieden.«

»Vielleicht brauche ich mal eine andere Betätigung.«

Eine Weile sind beide still und lauschen. Aus dem Vestibül kommt kein Geräusch. Sie hören nur den Regen, der fällt.

»Aber hast du Zeit dafür?«, fragt Ewald leise.

Jetzt ist es Maj, die lacht:

»Zeit? Davon habe ich weiß Gott genug.«

»Und was ist mit Jesper?«

»Wenn es mal eng wird, kann Frau Vik auf ihn aufpassen. Ach, und noch etwas.«

»Ja?«

»Vielleicht kann das Rote Kreuz uns dabei helfen, ein Telefon zu kriegen, damit wir nicht immer …«

Ewald Kristoffersen, der sich normalerweise nicht so schnell aufregt, weil er eher zu Melancholie und Leichtsinn neigt, schlägt mit der Hand auf den Tisch.

»Wir brauchen keine Almosen!«

»Jetzt hast du Jesper aufgeweckt.«

Maj geht hinaus in das Vestibül. Ewald hört sie singen. Er selbst wird schläfrig davon. Eine Weile lang weint Jesper noch. Dann scheint es, als wären im ganzen Haus sämtliche Geräusche ausgeschaltet worden.

Als Maj und Ewald auch ins Bett gegangen sind, können sie trotzdem nicht schlafen. Sie lauschen der Unruhe des anderen.

»Ich bin eine schlechte Mutter«, flüstert Maj.

Ewald setzt sich im Bett auf.

»Wie kannst du nur so etwas sagen? Du bist …«

»Ich war auf dem Balkon und habe Jesper aus den Augen verloren. Aber statt nach ihm zu suchen, bin ich zu Frau Vik hoch und ans Telefon gegangen.«

»Vielleicht täte ihm ein Bruder gut. Oder eine Schwester.«

Ewald beugt sich vorsichtig über Maj, doch sie schiebt ihn von sich.

»Weck Jesper nicht noch einmal auf.«

»Wir könnten doch jetzt gleich ein bisschen Spaß haben, was meinst du?«

»Hab mit dir selber Spaß. Lass uns lieber einschlafen, bevor er uns erneut aufweckt.«

Jeder liegt auf seiner Seite, und sie wissen nicht, wer von ihnen beiden zuerst einschläft. Ein Krankenwagen fährt den Kirkeveien hinunter und wirft ein blaues flackerndes Licht durch die Gardinen. Das Geräusch der Reifen auf dem nassen Asphalt lässt die Zeit in der Wohnung stillstehen.

Budgetvorschlag für 1948/1949

Die Ortsverbände schicken dem Arbeitskomitee im Laufe des Monats November einen Budgetvorschlag und geben darin an, wie die Leitung die eingegangenen Mittel zu disponieren plant. Außerdem wird den Ortsverbänden vorgeschlagen, eine Leihstelle für Patientenbedarf einzurichten, sofern sie noch keine haben. Ebenso wird das Sammeln von Säuglingskleidung und -verpflegung empfohlen. Gern auch die Anschaffung von Verbandsmaterial in Verbindung mit der Ausleihstelle und 1 St. Hilfsausrüstung als Reserve für den Krisenfall. Die meisten Ortsverbände haben ihre Ausrüstung bei der Gemeindeschwester deponiert, oder privat, wenn das besser passt, dann möglichst bei einem Mitarbeiter im Krankenhaus. Ausleihe entweder gratis oder gegen eine feste Gebühr pro Woche. Allen Berichten nach wird die meiste Ware bei der Firma Plesner bestellt. Ist die Ausrüstung angekommen, wird das im Gemeindeblatt oder mit einer Notiz in der Tagespresse bekanntgegeben.

Vom Dänischen Roten Kreuz wurde das Modell eines Säuglingsbetts in weiß gestrichenem Metall ausgeliehen, ausgestattet mit abnehmbarem Lederbezug. Das Arbeitskomitee sollte Preisangebote dafür einholen. Es wurde vorgeschlagen, das Babybett jeweils für 6 Monate auszuleihen. Nach Antrag auf Unterstützung und bei eventueller Ausleihe von Material bei dem Ortsverband sollten Informationen über die Betreffenden im Osloer Fürsorgeregister eingeholt werden. Ich persönlich schlage vor, in Fagerborg eine Kinderkrippe einzurichten.

Momentane Osloer Aktionen:

Erste-Hilfe-Kursus beginnt am 9. Nov. im Rikshospitalet,Kurse in Häuslicher Krankenpflege werden in der Riis Schule für 150 Pers. gegeben,Patientenbesucher: Besuche im Krankenhaus, Vorlesen für Patienten, Bibliotheksarbeit und Ähnliches,Private Unternehmungen: Ausflüge, Bridge, lokale Verlosungen.

Für den Ortsverband Fagerborg wird ein Kurs für Hilfskrankenschwestern an der Klinik Wergelandsvn. angeboten. Pro Kurs 7 Pers., eine für jeden Wochentag. Persönlich schlage ich 2, Minimum 1 Hilfskrankenschwester als Ersatz im Krankheitsfall, bei Urlaub und Ähnlichem vor. Die Dienstzeiten sollen 2 Mon. bei der Medizin, anschließend 3 Mon. in der Chirurgie betragen, bzw., wie es für das Krankenhaus passt.

Oslo, 9.11.48

Frau Lund

NEUSCHNEE

Es schneit auf dem Vestre Gravlund. Die Spuren von Frau Vik werden schnell ausgelöscht. Jeder einzelne ihrer Schritte, den sie macht, ist immer wieder ihr erster. Es ist so still. Das macht den Verlust nur größer. Die Stille öffnet einen Raum in ihrem Inneren, den sie möglichst verschlossen halten möchte. Sie bleibt an dem letzten Grab unter den Silbertannen stehen, das auch ausgelöscht wird, geht in die Hocke und bürstet den Stein mit einem Handfeger ab, den sie in der Tasche hatte. Die Buchstaben sind immer noch weiß, sie muss den festen Schnee herauskratzen, der im Relief ihres Mannes festsitzt: Veterinär Halfdan Vik 18.3.1890 – 2.6.1945. Darunter ist genügend Platz für Frau Vik. Sie nimmt ja sowieso nicht viel Platz ein. Wann wird ihre letzte Zahl sein? Im Sommer ist sie 52 geworden. Vielleicht hat sie ja noch dreißig weitere Jahre vor sich. Dann wäre 1978. Oder vierzig: 1988. Kaum vorstellbar. Und dazu kommt noch, dass sie eine Tante hat, die 102 geworden ist. Wenn Frau Vik so lange durchhält, wirft sie einen Blick ins nächste Jahrtausend. Was sie möglichst umgehen möchte. Unter ihr wird niemand stehen. Sie zieht einen Handschuh aus und berührt den Namen ihres Mannes. Du Idiot, flüstert sie und richtet sich auf. In dem Moment beginnen die Glocken in der Kapelle zu läuten. Der Schnee bleibt in der Luft hängen. Eine Truppe kommt auf die Vortreppe heraus. Ganz vorn steht ein gebeugter Mann, der viel zu dünn angezogen ist. Ein junger Bursche legt ihm einen Mantel über die Schultern. Hinter ihnen wartet ein großes Gefolge. Dann setzt der Schneefall wieder ein. Frau Vik geht an ihnen vorbei und erreicht noch ihre Bahn an der Station Borgen. Als die Türen sich wieder schließen wollen, steigt noch der trauernde Mann ein und hält sie auf, damit der Rest des Gefolges auch in den Waggon kann. Schließlich setzt sich die Bahn in Richtung Volvat in Gang. Frau Vik zeigt ihre Fahrkarte dem Schaffner. Sie gilt für die Hin- und Rückfahrt. Doch der Schaffner schüttelt den Kopf und sagt, sie müsse einen neuen Fahrschein kaufen. Ihrer sei schon mehr als eine Stunde alt. Frau Vik ist ganz bestürzt. Das kann nicht stimmen. Hat sie die Zeit vergessen? Hat sie so lange am Grab ihres Mannes gestanden? Sie guckt auf den Stempel. 12:58. Sie schaut auf ihre eigene Uhr. Die zeigt 2 Uhr. Wie peinlich. Sie schaut zu Boden, beschämt, und murmelte etwas, während sie nach Geld in ihrer Tasche sucht, das war keine Absicht, das war keine Absicht, das war. Das Portemonnaie liegt unter dem Handfeger. Sie bekommt es nicht zu fassen. Der Zug bleibt im Tunnel von Volvat stehen. Mehrere Fahrgäste steigen zu. Es bildet sich eine Schlange. Beinahe fällt ihr noch die Tasche hinunter, aber schließlich kann sie ein paar Münzen greifen, die sie dem Schaffner gibt, der ihr endlich eine gültige Fahrkarte aushändigt. Frau Vik setzt sich auf den ersten freien Platz und schaut zu Boden, um den Blicken der anderen Fahrgäste auszuweichen. Vielleicht denken die, sie wollte sich die Fahrt erschleichen. Wie peinlich. Stumm wiederholt sie die Worte, wie peinlich, die ganze Fahrt bis Majorstua, wo sie schnell aussteigt. Der viel zu dünn angezogene, trauernde Mann schaut ihr nach. Dann geht er zum Sørkedalsveien, biegt rechts ab und öffnet die Tür zum Restaurant Larsen, um den Rest der Gesellschaft eintreten zu lassen. Gemeinsam gehen sie hoch zu den Räumen im ersten Stock, wo ein Tisch mit Broten bereitsteht, mit Krabben, Roastbeef, Lachs und Camembert. Zwei Kellner schenken Weißwein ein. Anfangs kommen die Gespräche nur schwer in Gang. Aber bald hört man das erste Lachen. Zum Kaffee gibt es Apfeltorte mit Schlagsahne. Olaf Hall steht auf und lässt seinen Blick über die Gäste schweifen. Es sind Freunde und Kollegen, nicht seine, sondern Ragnhilds. Sie trinken weiterhin Weißwein, obwohl viele von ihnen in nur wenigen Stunden auf der Bühne stehen müssen. Sie wenden sich ihm zu. Er kennt sie nicht. Er richtet seinen Blick auf Bjørn, Ragnhilds Sohn, seinen Stiefsohn. Wo ist dessen Trauer? Er ist erwachsen genug, dass die Trauer zum Vorschein kommen sollte. Olaf Hall kann sie nicht entdecken. Er trinkt einen Schluck Wasser und beginnt zu sprechen:

»Auf dem Weg hierher ist mir eine Dame aufgefallen. Ihre Fahrkarte war abgelaufen. Sie glaubte, derselbe Fahrschein gelte für die Hin- und Rückfahrt. Doch das ging nicht. Und da dachte ich: Ist das Leben nicht genauso? Es gibt keine Fahrkarte, mit der man umsteigen kann. Und das sollten wir im Kopf haben, solange wir leben.«

Olaf Hall hebt sein Glas. Es ist vollkommen still geworden, die Art von Stille, die man im Theater die Rastlose nennt. Dann hebt einer der älteren Schauspieler auch sein Glas und ruft: Bravo! Das Leben ist wie die Holmenkollbahn. Zwei Klassen und Stehplätze! Einige können sich das Lachen nicht verkneifen. Doch das macht nichts. Anschließend geht Olaf Hall zu Bjørn und fragt ihn, ob sie zusammen nach Hause gehen wollen. Der Sohn sieht ihn nicht an. Er hat eine andere Verabredung. Olaf Hall will etwas sagen. Eine andere Verabredung an dem Tag, an dem seine Mutter beigesetzt wurde? Doch er lässt es sein. Als er auf die Straße tritt, hat es aufgehört zu schneien. Im gefallenen Schnee sieht man noch lange Fußspuren.

Die Vorstandssitzung fand statt am 10.11.48. Die Schriftführerin war leider verhindert und konnte nicht kommen. Aber eine neue Dame erschien probehalber, Maj Kristoffersen, die auf uns alle einen guten Eindruck machte.

Zur Diskussion lagen die Themen vor, die beim Treffen des Arbeitskomitees am 20. Okt. behandelt worden waren. Es wurde beschlossen, dass Fagerborg den Hilfskrankenschwesterdienst in der Klinik Wergelandsveien übernimmt. Bezüglich der Einsammlung der Mitgliederbeiträge wurde beschlossen, sie auf Provisionsbasis (10 % des Betrags) abzurechnen. Die Vorsitzende informierte darüber, dass die Abteilung 20,00 Kronen für die Blumen bei der Beisetzung der Schauspielerin Ragnhild Hall beigetragen hat. Schließlich ist sie mehrere Male bei uns aufgetreten. Ansonsten diskutierten wir den Budgetvorschlag, der beim nächsten Treffen wieder auf der Tagesordnung stehen wird.

Wir haben einen Brief von Herrn Henry Karlsen, Grønnegt. 19, erhalten, mit der Bitte um eine Wolldecke. Das Rote Kreuz hat einige Wolldecken zum Preis von 25,00 Kronen zu verkaufen und wird versuchen, Herrn Karlsen so eine Decke zukommen zu lassen, vorausgesetzt, die Nachfrage beim Osloer Fürsorgebüro zeigt, dass ihm diese Hilfe zusteht.

KINDERMÄDCHEN

Maj Kristoffersen klingelt bei Frau Vik. Es dauert eine Weile, bis ihre Nachbarin öffnet, und Maj Kristoffersen hat es eilig. Jepser steht stramm und stumm neben ihr. Plötzlich schiebt er die Hand durch die Briefklappe. Maj Kristoffersen packt seinen Arm und zieht. Die Hand sitzt fest. Sie rührt sich nicht. Oder liegt das nur daran, dass er eine Faust ballt? Sie ist kurz davor loszuweinen. Sie stampft mit dem Fuß auf. Es ist fünf nach sieben. Um sieben Uhr hat es angefangen. Fast hätte sie dem Jungen eine Ohrfeige verpasst. Endlich hört sie Frau Vik auf dem Flur. Eine Weile bleibt es ganz still. Dann zieht Jesper die Hand aus der Briefklappe zurück und steckt einen braunen Kuchen in die Tasche. Frau Vik öffnet und schaut Jesper an, der wieder ebenso stramm und stumm dasteht, die Hände auf dem Rücken.

»Ist das der Briefträger?«, fragt sie.

Jesper antwortet nicht.

Maj schiebt ihren Sohn vor sich.

»Könnte er für ein paar Stunden bei Ihnen bleiben?«

»Ist etwas passiert?«

»Eine Sitzung der Roten Kreuzes. Und Ewald musste noch mal ins Büro.«

»So spät?«

»Er hat viel zu tun mit dem Stadtjubiläum.«

»Jesper kann gern bei mir bleiben. Wenn er will.«

»Haben Sie schon mit der Weihnachtsbäckerei angefangen?«

»Ich mag es nicht, wenn die Zeit zu knapp wird.«

»Ich auch nicht! Vielen Dank!«

Maj Kristoffersen läuft die Treppe hinunter.

Frau Vik geht mit Jesper hinein und schließt die Tür. Sie setzen sich in die Küche. Dort fühlt sie sich am wohlsten. Der Rest der Wohnung ist zu groß geworden. Sie macht ihm Saft. Er sagt nichts, rührt auch das Glas nicht an. Sie betrachtet ihn. Man könnte meinen, der Junge sei sehr schüchtern oder aber sehr bockig. Auf jeden Fall ist Jesper gereizt. Sein Blick flackert. Er kommt nie zur Ruhe. Frau Vik glaubt, er suche nach einem Ausweg. Gefällt es ihm hier nicht? Hat er Angst?

»Freust du dich auf Weihnachten?«, fragt sie.

Jesper gibt keine Antwort.

»Was wünschst du dir?«

Auch darauf antwortet er nicht.

»Hast du Hunger?«

Dieses Mal wartet sie nicht auf eine Antwort. Sie wärmt ein paar Reste in der Pfanne auf und legt sie auf den Teller, den sie vor Jesper gestellt hat. Der Junge isst nicht.

»Was ist los mit dir?«

War das ein Lächeln? Nein, eher eine Grimasse, eine Windböe im Gesicht. Frau Vik stellt die Ellenbogen auf den Tisch, um sich näher zu ihm hinzubeugen.

»Du erinnerst dich sicher nicht mehr an Herrn Vik, meinen Mann? Nein, das tust du sicher nicht. Er war dumm genug, genau dann zu sterben, als der Frieden kam. Stell dir das mal vor. Er fiel der Länge nach im Kirkeveien um, und Schluss. Übrigens war er Veterinär. Also ein Arzt für Tiere. Aber während des Krieges musste er auch Menschen operieren. Ganz im Geheimen. Was wollte ich sagen? Du weißt doch, wo die Veterinärhochschule liegt? Das ist nicht weit von hier. Herr Vik hat dort gearbeitet. Und weißt du, was die in ihren Kühlräumen haben? Tote Tiere. Ab und zu hat er davon etwas mit nach Hause genommen. Ich habe immer noch so meine Vorräte. Was du da auf dem Teller hast, das sind Reste von einem Kalb.«

Jesper rührt mit dem Zeigefinger in den Resten herum.

»Ich falle auch«, sagt er.

»Du fällst?«

»Nachts.«

»Stehst du auf und läufst herum?«

»Nein.«

»Aber wie kannst du dann fallen? Aus dem Bett?«

»Wenn ich schlafe.«

Jesper fängt an zu essen. Er isst, bis der Teller leer ist, dann leert er auch noch das Glas.

Anschließend ziehen die beiden sich warm an und gehen hinunter auf den Hof. Drei Jungs von Nr. 123 b bauen beim Wäscheständer, dessen Schnüre in schweren weißen Bögen herabhängen, einen Schneemann. Frau Vik will mit Jesper zu ihnen hingehen, doch er wehrt sich. Er ist stärker als sie. Sie spürt seinen Widerwillen in jeder Faser seines Körpers. Sie gehen wieder ins Haus, nach oben. Dort setzen sie sich ins Wohnzimmer, das düster ist. Die Möbel sind braun und grün. An den Wänden hängen Bilder, denen auch Licht fehlt. Das große Kissen auf dem Sofa jedoch ist gelb und hat vier Quasten, eine in jeder Ecke. Jesper sitzt daneben. Seine Füße ragen waagerecht in die Luft. Der eine Strumpf, der linke, hat ein Loch auf der Hacke. Frau Vik überlegt, was aus ihrem Leben hätte werden können. Dann schiebt sie diese Gedanken beiseite, holt ein Paar Socken ihres Mannes und zieht sie Jesper über dessen Strümpfe.

»Wollen wir etwas spielen? Würfeln?«

Jesper schüttelt den Kopf.

»Wir könnten auch eine Patience legen?«

Jesper ballt die Fäuste und schaut weg.

Frau Vik setzt sich in den Ohrensessel, der immer noch nach Tabak riecht, ein Geruch, der wahrscheinlich für alle Zeiten daran haften bleiben wird, auch wenn sie den Sessel wegwirft und einen neuen kauft, einen modernen Sessel, der leichter sauber zu halten ist, aber in dem man vielleicht nicht so gemütlich sitzen kann. Ach, was soll’s, sie wird den Ohrensessel ja doch behalten. Sie vermisst die Flamme, die plötzlich aus dem Pfeifenkopf auflodern konnte. So geistert der Veterinär hier immer noch herum, als Geruch, als Rauch, als Fleck. Dann muss sie einmal austreten. Und nutzt die Chance außerdem, um sich etwas zu entspannen. Jesper kann eine anstrengende Gesellschaft sein, auch wenn er nur dasitzt und vor sich hin starrt. Als sie zurück ins Wohnzimmer kommt, hat Jesper ein Buch gefunden, in dem er langsam blättert. Frau Vik tritt näher zu ihm. Es ist Francis Harbitz’ Lehrbuch der Rechtsmedizin, mit achtzig Illustrationen und vier Grafiken. Jesper sieht sich genau das Bild eines Jungen mit geschlossenen Augen, offenem Mund und Reifenspuren im Gesicht an. Er verzieht keine Miene. Er ist so wortkarg wie immer. Frau Vik nimmt ihm das Buch aus den Händen und stellt es zurück an seinen Platz im Regal. Dann schaltet sie das Radio ein. Zuerst knistert es. Dann ist ein Sausen zwischen den Sendern zu hören, zwischen den Städten, doch bald kommt der Ton glockenklar in die Stube, Klavier, eine einfache Melodie, schwermütig und leicht zugleich. Es hätte ein Clown sein können, der von seiner Trauer spielt. Sie wendet sich Jesper zu. Er hat sich das gelbe Kissen auf den Schoß gelegt und stützt die Ellenbogen darauf. Er fällt zur Ruhe. Er schließt die Augen und fällt zur Ruhe.

Die Vorstandssitzung fand am 15.11. beim Vorstand statt.

Da die stellvertretende Vorsitzende, Fräulein Dagny Schelde, darum gebeten hatte, von ihrem Amt befreit zu werden, rückte Frau Berit Nordklev auf ihre Stelle nach. Die Ersatzperson für die Leitung, Frau Ingrid Arnesen, wurde zum festen Mitglied des Vorstands, und als neue Ersatzperson wurde Fräulein Løvseth benannt. Es herrschte Einigkeit darüber, dass Maj Kristoffersen das Amt der Kassenwartin übernimmt, wozu sie sich auch bereit erklärte. Die Vorsitzende betonte, wie wichtig es sei, pünktlich zu den Treffen zu erscheinen.

Unser Treffen war in erster Linie einberufen worden, um einige der Punkte zu besprechen, die bei der Sitzung im Arbeitskomitee zur Sprache gekommen waren, an erster Stelle der Budgetvorschlag für das nächste Jahr.

Er wurde wie folgt beschlossen:

20 Weihnachtspäckchen à Kr. 20,00

Kr. 400,00

Rücklagen für das Ausleihdepot:

Kr. 500,00

Rücklagen für Säuglingsbedarf:

Kr. 500,00

Rücklagen für Kinderkrippe:

Kr. 500,00

Rücklagen für Reservefonds:

Kr. 1 000,00

Rücklagen für laufende Ausgaben:

Kr. 350,00

Anschließend diskutierte der Vorstand, welche Aufgaben der Verband übernehmen solle, aber vorerst wurde der Beschluss gefasst, weiterhin Geld zur Seite zu legen und irgendwann eine Kinderkrippe für den Kreis einzurichten. Ebenso war man sich einig darüber, einiges an Krankenpflegematerial zum Verleihen einzukaufen.

Außerdem wurde der Ortsverband aufgefordert, 7 Namen von Damen zu nennen, die als Hilfskrankenschwestern in der Wergelandsveiens klinikk ausgebildet werden, und dieses Soll haben wir bereits erfüllt.

Die Vorsitzende informierte darüber, dass ein Teil der gestrickten Sachen und andere Kleidungsstücke zu einer Fischerfamilie in Nordland geschickt wurde, die durch einen Brand ihr gesamtes Hab und Gut verloren hat.

GRATIFIKATIONEN

Dr. Per-Fredrik Lund hat bereits den Oberkellner, die Kellner, die Köche, die Stubenmädchen und den Barkeeper untersucht. Alle, abgesehen vom Barkeeper, der von Nervenschmerzen im linken Unterarm gequält wird, scheinen in guter Verfassung zu sein, zumindest ist keine Gefahr im Verzuge, was heißen soll, dass sie nicht am nächsten Tag sterben werden. Trotzdem hätte Dr. Lund es gern gesehen, wenn sie besser auf sich selbst achteten. Der Krieg trägt seinen Teil Schuld dazu bei. Er sitzt ihnen immer noch in den Gliedern, der letzte, hartnäckige Okkupant. Aber schlechte Verpflegung, schlechte Angewohnheiten und der Tabak sind auch nicht zu übersehen. Der Frieden macht die Leute leichtsinnig, und das haben sie nach fünf mageren Jahren auch verdient. Er will sie nicht verurteilen. Der Glückliche ist leichtsinnig. Der Glückliche nimmt zu. Aber so kann es nicht weitergehen. Der Frieden fordert auch Disziplin. Er selbst ist vor dem Krieg in sieben Länderkämpfen für Norwegen 400 Meter gelaufen, und er trägt das Ehrenabzeichen des NFIF. Dr. Per-Fredrik Lund ist Betriebsarzt im Hotel Bristol, und einmal im Jahr, im Dezember, schaut er sich die Angestellten an. Jetzt fehlt noch der Unterhaltungsmusiker. Er ist neu im Hotel. Er heißt Enzo Zanetti und stammt aus Italien. Ein dunkler, leicht buckliger Mann kommt herein und setzt sich. Er legt Mantel und Hut auf den Schoß und will sich eine Zigarette anzünden. Dr. Lund hebt die Hand, und der Pianist schiebt die Zigarettenpackung zurück in die Jackentasche.

»Tut mir leid.«

»Sie können draußen rauchen.«

»Ich sollte aufhören.«

»Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen.«

»Ich hätte gar nicht erst anfangen sollen.«

»Auch da sind wir einer Meinung. Aber eins nach dem anderen. Erst hören Sie auf, dann achten Sie darauf, dass Sie nicht wieder anfangen.«

Dr. Lund misst den Blutdruck, nimmt den Puls und hört sich den Atem an. Es sieht ganz einfach ziemlich schlecht aus. Das Einzige, was für den Musiker spricht: Er ist nicht übergewichtig. Dafür ist er zu mager. Man kann auf beiden Seiten die Rippen zählen. Auch das ist nicht von Vorteil. Auch das sind Spuren des Kriegs. Frieden ist Mäßigung. Frieden ist der goldene Mittelweg.

»Essen Sie ordentlich, Herr Zanetti?«

»Ich lebe allein.«

»Ich verstehe. Aber Sie sollten trotzdem gesund und regelmäßig essen.«

»Ich esse meistens nur abends etwas.«

Dr. Lund setzt sich und macht sich Notizen.

»Übrigens – wie sind Sie überhaupt in Norwegen gelandet?«

Enzo Zanetti zuckt mit den Schultern und schaut nach draußen:

»Ich war auf Tournee mit einem Jazzorchester. Eigentlich sollten wir nach Amerika. Doch als der Krieg kam, bin ich hier gestrandet, und das Orchester hat sich aufgelöst.«

Er hat einen schönen, schwingenden Akzent, der die einzelnen Worte in den Sätzen steigen und fallen lässt.

»Sie sprechen gut Norwegisch«, sagt Dr. Lund.

»Es ist so, als studiere man ein neues Repertoire ein. Aber ich kann noch nicht alle Noten auswendig.«

»Sie sollten sich mehr bewegen.«

»Sie meinen spazieren gehen?«

»Ja, zum Beispiel. Oder laufen. Sie müssen nicht schnell laufen. Nur so, dass die Atmung gut in Schwung kommt.«

»Ich habe es mit Skilaufen versucht, bin aber die ganze Zeit hingefallen. Ich bin eben nicht mit Skiern an den Füßen geboren.«

»Hauptsache, Sie bleiben in Bewegung. Gibt es sonst noch etwas, das Sie quält?«

»Die Gäste.«

Dr. Lund steht auf und lacht.

»Ja, das kann ich mir vorstellen.«

Sie wünschen einander schöne Weihnachten. Enzo Zanetti nimmt seinen Mantel und Schal und geht hinaus in die weißen Straßen. Dr. Lund schaut ihm durchs Fenster nach. Der Pianist bleibt im Windschatten eines Lastwagens mit Brennholz auf der Ladefläche stehen und zündet sich eine Zigarette an. Er braucht mehrere Streichhölzer, bis er sich Feuer geben kann. Direktor Brun kommt in den Raum und stellt sich neben den Arzt.

»Sind meine Angestellten belastbar?«

»Das kann man wohl so sagen. Aber wenn Sie wünschen, dass ich sie genauer untersuche, dann müssen sie in meine Praxis kommen.«

»Den Termin müssen sie dann aber in ihre Freizeit legen.«

»Wie Sie wollen.«

»Und mein Pianist?«

»Er ist etwas erschöpft.«

»Ich schätze ihn sehr. Er zieht die Leute an.«

»Er ist einsam.«

»Die Diagnose hätte ich auch stellen können. Alle Barmusiker sind einsam.«

Direktor Brun zieht sich Jacke und Hemd aus. Er riecht leicht nach Schweiß. Das Rasierwasser kann das nicht überdecken. Der Bauch hängt ihm über den Gürtel. Dr. Lund lauscht und misst.

»Verbringen Sie die Weihnachtsferien mit Ihrer Familie?«, fragt er.

»Wie haben Sie das genannt? Ferien?«

»Wir sind nicht mehr die Jüngsten.«

Ein plötzlicher Ernst überfällt Direktor Brun.

»Fehlt mir etwas?«

»Alles ist ein bisschen zu hoch, mein Lieber. Blutdruck, Puls, Gewicht. Genau wie im letzten Jahr.«

»Gut! Ich kann also genauso viel von meinen Angestellten verlangen wie ich von mir selbst?«

»Da sind wir wohl nicht so ganz einer Meinung.«

»Inwiefern?«

»Ich bin 400 Meter in 49,9 gelaufen. Ich verlange von meinen Patienten nicht, dass sie es mir gleichtun.«

»Das ist ja nun auch schon einige Jahre her, alter Freund.«

Direktor Brun zieht sich wieder an. Doktor Lund packt seine Utensilien zusammen. Als sie wieder aus dem Fenster schauen, steht Enzo Zanetti immer noch da unten an der Ecke und raucht. Die tief stehende Sonne hüllt ihn in kaltes Licht ein. Die Schatten fallen scharf und dehnen sich bis in die Ferne aus. Leute eilen vorbei, mit vollen Einkaufsnetzen in den Händen und Geschenken unter den Armen. Alles ist bald wieder, wie es war. Ein paar Jugendliche tragen Skier auf den Schultern. Ihr Lachen wird zu einer Wolke, die von den fröhlichen Gesichtern aufsteigt.

»Er träumt oft vor sich hin«, sagt Direktor Brun.

»Vielleicht lernt er so besser Norwegisch.«

»Der Akzent ist wirklich charmant. Außerdem hat er eine Künstlerseele. Im Gegensatz zu uns.«

»Was soll das bedeuten?«

»Er ist tiefsinnig, Per-Fredrik.«