Herman - Lars Saabye Christensen - E-Book

Herman E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Herman findet sein leben soweit ganz in Ordnung. Er mag die rothaarige Ruby, in deren Haar womöglich ein paar Vogelnester versteckt sind. Er mag seine Mutter, die mit ihrem lauten Lachen die Rahausuhr zum Stillstand bringen kann. Und seinen Vater, der als Kranführer bis ans Ende der Welt sieht. Doch dann gerät seine ganze Welt eines Tages ins Wanken: Herman hat eine seltene Krankheit und bekommt innerhalb weniger Tage eine Glatze. Danach ist nichts mehr im Lebe so, wie es vorher war. Schräg - und mitten ins Herz! Ein literarisches Kleinod aus dem hohen Norden - in der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Vom Autor des hochgelobten und vielfach ausgezeichneten Romans "Der Halbbruder"-

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Der Autor:

Lars Saabye Christensen wurde 1953 in Norwegen geboren, wo er auch heute als freier Schriftsteller lebt. Er schreibt seit 1976 Lyrik, Romane, Filmdrehbücher und gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Autoren seines Landes. ›Herman‹, Christensens erstes Jugendbuch, wurde 1991 in die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen und verfilmt.

Lars Saabye Christensen

Herman

 

Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt

 

Lindhardt & Ringhof

Ebook-Kolophon

Lars Saabye Christensen: Herman. Aus dem Norwegischen übertragen von Christel Hildebrandt. Titel der norwegischen Originalausgabe: Herman © 1988 by J.W. Cappelens Forlag a.S, Oslo. Deutsche Erstausgabe: © 2005 by Arena Verlag GmbH, Würzburg. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2014 Lindhardt und Ringhof, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2014. All rights reserved.

ISBN: 978-87-11-33642-7

1. Ebook-Auflage, 2014

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

Lindhardt und Ringhof Verlag, www.lrverlag.de - a part of Egmont, www.egmont.com.

Ein Dankeschön für Sissel Solbjörg Bjugn

Buchkolophon

Titel der norwegischen Originalausgabe: ›Herman‹, 1988 erschienen bei J. W. Cappelens Forlag a. S., Oslo

Ungekürzte Ausgabe

Mai 1994

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© der deutschsprachigen Ausgabe:

1990 Arena Verlag, Würzburg

Umschlaggestaltung: Klaus Meyer

Umschlagbild: Stephan Köhler

Gesetzt aus der Aldus 10/11

Gesamtherstellung: Ebner Ulm

Papier: ›Recycling Book-Paper‹,

Steinbeis Temming Papier GmbH, Glückstadt

Printed in Germany · ISBN 3-423-78051-7

HERBST

Kapitel 1

Herman legt den Kopf in den Nacken und starrt in den Baum hinauf, dessen Blätter golden und rot sind und schon ganz locker sitzen. Zwischen den dünnen, schwarzen Zweigen sieht er den Himmel, an dem die Wolken in alle Richtungen jagen. Ihm wird leicht schwindlig davon, so zu stehen, es ist, als würde er selbst in voller Fahrt davonrasen. Aber gleichzeitig ist das auch ganz angenehm, jedenfalls für eine Weile, wenn er nur nicht mit dem Monolithen1 weiter hinten zusammenstößt. Er schließt die Augen, aber da fällt er immer weiter nach vorn, er öffnet sie schnell wieder und atmet erleichtert auf. Noch immer ist er im Frogner-Park, hat sich nicht mehr als einen Zentimeter fortbewegt.

Und dann sieht er, daß das erste Blatt fällt! Es hängt am Ende eines Astes und wirkt ziemlich wackelig. Der Wind dreht es im Kreis, dann segelt es zum Springbrunnen wie ein Dompfaff, dem die Luft ausgegangen ist. Herman läuft hinterher, wobei er auf den roten, unruhigen Punkt in der Luft starrt. Der Wind hebt und senkt das Blatt, Herman rennt im Zickzack über den Kies und hofft, daß er heute morgen seine Schnürsenkel mit dem doppelten Hexenknoten geknotet hat. Und dann scheint es, als ob das Blatt – oder der Wind – aufgibt, es sinkt müde zu Boden, direkt auf Hermans Füße zu. Der bleibt abrupt stehen, öffnet den Schnabel sperrangelweit, nimmt Anlauf und fängt das Blatt mit dem Mund, gekonnt wie ein hungriger Ameisenbär.

Und genau in dem Moment merkt er, daß ihm jemand nachspioniert; jemand, der hinter einer der Parkstatuen steht, er entdeckt einen rosa Ranzen. Herman bleibt stocksteif stehen, das Blatt im Mund. Es schmeckt nicht gerade großartig, aber er hat schon Schlimmeres erlebt, zum Beispiel die feste Schicht auf dem Schokoladenpudding, Haut auf der Milch, oder die Aale, die Vater beim Bootsanleger fischt. Plötzlich ist der Ranzen wieder verschwunden, aber er weiß, daß dort immer noch jemand steht, hinter der Statue der dicken Frau, der mindestens sechs Kinder in den Haaren hängen. Und während er so dasteht und nicht recht weiß, was er tun soll, schluckt er das Blatt hinunter. Und es ist ganz komisch, sich vorzustellen, daß dasselbe Blatt vor kurzem an einem riesigen Baum hing und jetzt mitten in seinem Magen liegt. Vielleicht braucht er nun kein Gemüse mehr zum Mittag zu essen?

Da kommt der Jemand hinter der Statue hervor. Es ist Ruby, Ruby aus seiner Klasse. Sie hat die ganze Zeit hinter der Statue gestanden. Herman weiß nicht so recht, ob ihm das wirklich gefällt. Ruby hat eine Menge roter Haare, einige behaupten, es seien fünf Vogelnester darin. Sie hält die Hände hinter dem Rücken, als hätte sie ein großes Geheimnis. Sie schaut Herman komisch an, das eine Auge halb geschlossen.

»Ißt du Blätter?« fragt Ruby.

»Manchmal.«

»Du bist der erste, den ich kenne, der Blätter ißt.«

»Dann kennst du nicht viele«, sagt Herman und holt seinen Ranzen von der Parkbank.

Ruby läuft hinterher und schaut ihm direkt ins Gesicht.

»Verfolgst du mich?« fragt Herman.

Ruby lacht laut, und noch mehr Blätter fallen von den Bäumen. »Ich habe meine Ente mit Karotten und Wurst gefüttert. Vielleicht wirst du jetzt krank. Du siehst schon ganz krank aus.«

»Ich bin frisch wie ein Fisch«, sagt Herman. Das pflegt sein Großvater zu sagen, obwohl er in einem Himmelbett im dritten Stock eines Hauses liegt und nicht gehen kann. Aber vielleicht sagt er das gerade deshalb: frisch wie ein Fisch.

»Fische essen keine Blätter«, sagt Ruby.

»Die essen Regenwürmer. Das ist schlimmer.«

Sie gehen zusammen über die Brücke. Ein Stadtstreicher hat unter der Statue des Trotzkopfes geschlafen und schaut genauso wütend drein. Die Becken vom Frogner-Schwimmbad sind leer und grün, und der Zehnersprungturm ragt bis in den Himmel. Bald wird es anfangen zu regnen. Unter der Brücke schwimmen die Enten durcheinander und wissen nicht, wohin. Ein Schwan öffnet seine Flügel, schafft es aber doch nicht ganz und legt sie wieder zusammen. Ruby lehnt sich übers Geländer und zeigt hinunter:

»Da ist meine Ente!«

»Deine Ente?«

»Die ich immer füttere.«

»Wie kannst du die Enten denn unterscheiden?«

Ruby wendet sich Herman zu, schüttelt den Kopf, ihre riesige rote Mähne wippt auf und ab, aber Vögel fliegen jedenfalls nicht heraus.

»Sag’ ich nicht.« Doch dann fügt sie schnell hinzu: »Vielleicht ein andermal.«

Sie gehen weiter zum Parktor, ohne zu reden. Als sie im Kirkeweg stehen, tritt Ruby noch ein wenig näher und starrt Herman lange ins Gesicht. Der wird langsam nervös.

»Sehe ich jetzt krank aus?«

»Deine Augen sind knallgrün. Und deine Nase ist orange!«

Damit läuft sie nach Majorstua hinauf. Bei Oscar Mathiesens Firmenhaus dreht sie sich um und winkt, aber das sieht Herman nicht, er ist bereits auf dem Heimweg nach Skillebekk. Und jetzt fühlt er sich wirklich schlecht. Vielleicht wird er doch krank, vielleicht wachsen seine Arme zu Ästen, und jemand kann sie als Brennholz gebrauchen, wenn der Winter kommt. Er spürt das Blatt dort unten im Magen, es liegt schräg und kitzelt. Seine Arme werden schon steif, er muß sie an den Körper pressen. Er betrachtet sich beim Friseur in der Bygdöy-Allee im Spiegel, das ist so ein Spiegel, in dem er sich auch im Profil sehen kann, wenn er sich vorbeugt und den Kopf dreht. Und jetzt kriegt er wirklich Angst. Er erkennt sich nicht wieder. Die Nase ist ein Tannenzapfen, die Ohren ähneln einem Spechtbau, und sein Haar liegt wie hellgrünes Moos festgewachsen auf der Stirn. Herman läuft weg, bevor der Dicke ihn entdeckt, und versteckt sich in einer Einfahrt. Dort faßt er einen Entschluß – er steckt den Finger in den Hals, genau wie Vater es manchmal sonntags tut. Herman steckt den Finger so tief hinein, daß er fast am Blatt kratzen kann. Und da kommt es in voller Fahrt herauf, zusammen mit dem Schulbrot und zwei Bonbons, die er auf dem Weg zur Schule gefunden hat. Das Blatt ist immer noch rot und riecht schlimmer als Turnschuhe. Eine Windböe fegt es in die Straße, dort rollt es hochkant den Rinnstein entlang, und dann ist das Blatt zwischen den Gitterstäben eines Gullis verschwunden. Herman richtet sich auf und fühlt sich bereits besser. Eigentlich schade um die Bonbons, denkt er und überlegt, ob er sie noch einmal essen soll. Das macht er auch und trottet langsam die Gabelsstraße hinunter.

Es fängt an zu regnen. Trotzdem mag Herman das letzte Stück nicht rennen. Und als er in seine Straße einbiegt, stößt Pfand im Erdgeschoß sein Fenster auf und zeigt sein Gesicht, das ganz rostig und mager aussieht. Es heißt, daß Pfand einmal Hausmeister beim König war, aber er wurde gefeuert, weil er sich in eine belgische Prinzessin, die zu Besuch war, verliebt hatte oder weil der König herausfand, daß er eigentlich ein Ausländer aus Schweden ist. Pfand ist entweder sehr laut oder sehr still. Heute ist er vorwiegend still, das hängt damit zusammen, daß Montag ist.

»Hermanjunge«, flüstert er. »Komm mal her.«

Herman kann es gerade noch hören. Er geht näher heran.

»Kannst du für mich ein paar Pfandflaschen einlösen?«

»Man hat keine Zeit«, flüstert Herman. »Vielleicht morgen.«

»Morgen ist leider auch noch ein Tag«, murmelt Pfand und schließt leise sein Fenster.

Kapitel 2

Herman steht mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und wäscht sich, zusammen mit Vater. Hermans Vater ißt nämlich niemals etwas, ohne sich vorher gründlich zu waschen – nicht nur die Hände, sondern alles oberhalb der Gürtellinie, und vor allem die Achselhöhlen. Selbst wenn Vater nur eine einzige Scheibe Brot beim Radiowunschkonzert in sich hineinmümmeln will, muß er raus, sich den Oberkörper schrubben und das Hemd wechseln. Auf die Dauer ist das ein bißchen anstrengend, aber es ist auch ganz prima, so zusammen mit Vater mit nacktem Oberkörper dazustehen und die Muskeln zu zeigen. Hermans Oberarme sind noch nicht so recht zu gebrauchen, aber das wird schon kommen, wenn er aufhört, Blätter zu essen. Außerdem hängt der Spiegel so hoch, daß er nur seine Haare erspähen kann, während Vater so groß ist, daß er fast bis an die Decke reicht und sich hinunterbeugen muß, wenn er sich die Haare mit dem blanken Metallkamm, auf den er so stolz ist, kämmt. Hermans Vater ist Kranführer.

»Hast du heute irgendwas Dummes gemacht?« fragt Vater, während er gewissenhaft den Kamm betrachtet, bevor er ihn in die Hosentasche steckt.

Herman muß gründlich nachdenken.

»Nicht daß ich wüßte«, sagt er.

»Das kann ich mir denken. Denn sonst hätte ich es ja gesehen, nicht?«

Vater knufft ihn in den Rücken, und beide kichern. Herman lehnt den Kopf zurück und schaut zu Vater hoch, und für einen Augenblick ist es fast wie unter dem Baum im Frogner-Park, aber von Vaters Kopf lösen sich keine Blätter.

»Hast du heute ein paar Engel gesehen?« fragt Herman.

»Auch heute keinen einzigen«, seufzt Vater und schmiert sich unter beide Arme Deodorant. Danach darf Herman es sich ausleihen, es brennt teuflisch, aber das muß vielleicht so sein, wenn es so gut riecht. Und dann können sie hören, daß Mutter einen Teller auf den Boden fallen läßt, und das bedeutet, daß das Mittagessen fertig ist.

Heute ist Montag, und Montag heißt soviel wie Resteessen. Das ist nicht gerade Hermans Lieblingsspeise. Er rätselt immer darüber, woher die Reste eigentlich kommen, denn er kann sich nicht daran erinnern, Samstag oder Sonntag etwas gegessen zu haben, was den Resten ähnelt. Herman hat den bösen Verdacht, daß es Vaters Aal ist, der in den rätselhaften Auflauf geschmuggelt worden ist. Außerdem ist er heute sowieso nicht besonders hungrig. An solchen Montagen pflegt Vater ihn immer zu fragen, ob er krank sei oder ob er nicht mehr wachsen wolle; alles in allem bringt das Resteessen eine Menge Lästiges mit sich.

Herman stochert auf dem Teller herum, und draußen regnet es weiter. Eine schmutzige Taube sitzt auf dem Fensterbrett und gurrt ganz für sich allein, dann fliegt sie über die Straße und landet auf einem Ast. Die Vögel haben es gut, die brauchen keine Regenjacke und keinen Südwesterhut, denkt Herman. Aber wenn es, wie in Afrika, 40 Tage hintereinander regnet, vielleicht brauchen sie dann Schwimmreifen und Schnorchel?

»Bist du krank, Herman? Oder willst du nicht mehr wachsen?«

Vater redet mit vollem Mund und bedient sich zum vierten Mal. Trotzdem ist noch genug Aal im Auflauf.

»Man hat schon gegessen«, sagt Herman.

»Schon gegessen? Wo denn?« fragt Mutter.

»Im Frogner-Park.«

»Du sollst nicht zwischen den Mahlzeiten essen«, sagt Vater. »Dann wächst du nur in die Breite, nicht in die Höhe.«

»Soll nicht wieder vorkommen«, sagt Herman und schaut wieder aus dem Fenster. Die Taube ist jetzt weg, aber der Regen ist noch da, senkrecht vom Himmel. Gott muß gut schwimmen können, denkt Herman, ganz zu schweigen von Jesus, der in seiner Jugend übers Wasser ging.

Herman ist stolz, daß sein Vater Kranführer ist. Eine Weile hat er überlegt, ob er selbst auch diesen Berufsweg einschlagen soll. Aber wenn ihm schon schwindlig wird, sobald er nur auf einem Hügel steht oder in einen Baum guckt – ist es da nicht ziemlich unwahrscheinlich, daß er es schafft, mindestens zehn Kilometer hoch in der Luft zu sitzen, hinunterzugucken und gleichzeitig mit dem Haken ein schweres Kabel hochzuheben und es in eine Nähnadel einzufädeln?

Mutter schiebt die Reste von Hermans Teller auf ihren. Mutter hat immer am meisten Hunger, obwohl sie klein und dünn ist. Sie arbeitet in Jacobsens Kolonialwarengeschäft an der Ecke. Herman geht gerne nach der Schule dorthin, am besten gefällt ihm der Duft der Kaffeemaschine hinter dem Tresen. Es ist komisch, daß etwas, was so schlecht schmeckt, so gut riechen kann.

»Heute hatten wir einen Kunden, der versuchte, die Kasse zu klauen«, erzählt Mutter. »Er warf mit Tomaten und bedrohte uns mit einer Hand Bananen!«

»Das war doch nicht Pfand?« fragt Herman.

»Natürlich war es nicht Pfand! Pfand kommt nicht auf solche Ideen.«

»Wieviel Geld hat er denn genommen?«

»Er rutschte auf einer Bananenschale aus und flüchtete!«

Mutter muß Messer und Gabel hinlegen, während sie lacht. Und wenn Mutter lacht, entgleisen die Züge am Westbahnhof, die Fähre nach Nesodden sinkt, und die Uhr am Rathausturm bleibt stehen. Vater holt langsam Luft und wartet, bis es wieder still ist.

»Das ist nicht ganz wahr so, Mutter«, seufzt er.

»Wahr oder nicht«, sagt sie. »Jacobsen junior rief jedenfalls die Polizei an und meldete einen bewaffneten Überfall. Er dachte, die Tomaten wären Blut.«

»Der eitle Protz von einem Angsthasen! Der läuft doch schon zur Polizei, wenn er einen Kugelschreiber vermißt.«

»Na, er tut sein Bestes.«

»Ja, und das ist Kugelschreiber zählen und sich aufspielen.«

Herman schaut Vater und Mutter an und denkt nach.

»Vielleicht war es Gustav Vigeland2«, sagt er.

Vater legt ebenfalls Messer und Gabel hin und seufzt noch ein paarmal tief auf. Mutter tauscht ihren Teller mit Hermans und beugt sich plötzlich näher zu ihm, genau wie Ruby. Er wird wieder leicht nervös, vielleicht hat er ja doch nicht das ganze Blatt herausgekriegt, vielleicht ist er dabei, ein Baum zu werden, ohne es zu wissen.

»Morgen mußt du dir die Haare schneiden lassen«, sagt sie.

Herman ist erleichtert.

»Geht in Ordnung.«

»Und du hast nicht vergessen, daß du Großvater besuchen sollst?«

Herman schüttelt den Kopf, daß die Locken in alle Richtungen fliegen und ein paar Haare auf den Tisch herabrieseln.

»Man ist nicht so vergeßlich«, sagt er.

Mutter bürstet die Haare weg und schaut Herman wieder an.

»Ich glaube fast, daß du bald ein Haarnetz tragen mußt!« lacht sie.

Herman lacht auch laut, aber nicht so laut wie Mutter, das kann er nicht, während Vater den Tisch abräumt und alles auf einmal hinausträgt, ohne auch nur einen Zahnstocher zu verlieren.

Wenn Herman sagt, daß er Hausaufgaben machen muß, kommt er um den Abwasch herum. Darum sagt er das meistens nach dem Mittagessen. Er geht in sein Zimmer, holt sein Arbeitsheft heraus und schreibt: Der Frogner-Park von Gustav Vigeland. 58 Figuren auf der Brücke. 4 Echsen aus Granit. Der Rosengarten. Das Labyrinth. Das Monolithenplateau. 8 schmiedeeiserne Tore. Der Westplatz. Das Lebensrad. Er grübelt lange über den letzten Satz nach. Er ist etwas unschlüssig, schreibt ihn aber doch auf: Und man war sich einig, daß es ein schöner Tag gewesen war. Danach bleibt er sitzen und schaut aus dem Fenster. Die Dunkelheit ist schon da. Es ist merkwürdig, daß man die Dunkelheit sehen kann, denkt Herman. Aber sein Globus ist nicht dunkel, er leuchtet, er steht auf dem Fensterbrett und wird nie ausgeknipst. Er gibt dem Globus einen Schubs, schließt die Augen und hält ihn mit dem Zeigefinger an. Adapazari! Er radiert den letzten Satz im Heft aus und schreibt statt dessen: Wenn ich erwachsen bin, werde ich Kranführer oder reise nach Adapazari!

Bevor er ins Bett geht, hören sie sich zusammen das Wunschkonzert an. Aber heute abend hat keiner von ihnen Geburtstag, darum erhalten sie keine Grüße. Herman findet, daß die Kirchenlieder traurig klingen, und er hofft, daß niemand darauf kommen wird, für ihn das Kirchenlied »Die große weiße Herde« zu spielen, wenn er dran ist. Während Eddie Calvert für einen Soldaten Trompete spielt, geht Vater ins Bad, und sie wissen, daß er schon wieder Hunger hat.

»Zeit, die Segel zu setzen«, sagt Mutter und schaut von ihren Patience-Karten auf. »Und dazu muß der Kapitän an Bord sein, nicht wahr?«

»Land ahoi!« sagt Herman und marschiert ins Bad, wo Vater mit bloßem Oberkörper steht und sich rasiert. Sein Bart kommt dreimal am Tag zum Vorschein, sonntags sogar fünfmal. Herman klettert auf Vaters Rücken, aber als er die Schultern erreicht und sie beide im Spiegel sehen kann, wird ihm wieder schwindlig, und er rutscht langsam hinunter. Vater lacht und steckt den Kopf unter den Wasserhahn. Herman knickt die Zahnpastatube achtmal um, drückt, so fest er kann, und ein kleiner weißer Klumpen kommt heraus. Es ist eigentlich komisch, daß Zahnpastatuben niemals leer werden.

»Da sagen wir dann gute Nacht«, sagt Herman.

»Gute Nacht«, gurgelt Vater.

Nachdem Herman sich hingelegt hat, kommt Mutter und löscht das Licht, aber der Globus bleibt an. Dann setzt sie sich ans Bett und streicht Herman durchs Haar, zupft etwas daran, und das mag Herman sehr. Das macht sie immer, wenn seine Haare zu lang werden und er zum Friseur muß. Er beschließt, nicht zuviel abschneiden zu lassen, so muß er bald wieder zum Friseur, und Mutter wird ihm durchs Haar streichen, zupfen und laut lachen. Sie schließt leise die Tür, und Herman denkt plötzlich an Ruby, an all ihre roten Haare; es ist nicht völlig unmöglich, daß dort Vögel drin sind – vielleicht ein Dompfaff oder wenigstens ein Kolibri. Und er muß an das Blatt denken, das er verschluckt hat. Das war mit das Merkwürdigste, was er bisher getan hat, er wird es sich gut überlegen, bevor er wieder etwas Ähnliches tut. Dann hört er draußen den Wind, der singt heute abend eine sonderbare Melodie, schleicht sich mit kaputtem Akkordeon und verstopften Trompeten um die Ecken. Aber das Gesicht des Windes hat er nie gesehen. Bald darauf hört er die Eltern im Wohnzimmer, sie haben glücklicherweise Gesichter. Herman denkt auch an die Zeit und daß sie arm dran ist – alle wollen sie haben, und manchmal schlagen sie sie auch noch tot. Dann träumt er manches, kann es sich aber nicht merken. Das ist eigentlich ein wenig ärgerlich.

Kapitel 3

Herman hat ausgerechnet, daß es achthundertzweiundvierzig Schritte bis zur Schule sind. Aber nur, wenn er allein geht, nicht mit geschlossenen Augen und ohne Südwester.

Wenn er mit Vater bis zum Drammensweg geht, braucht er nur achthundertsechzehn Schritte, denn Vater hat außergewöhnlich lange Beine, und Herman muß so weit wie möglich ausholen, um Schritt zu halten.

Mutter steht meistens am Fenster und winkt ihnen mit beiden Armen hinterher, denn Jacobsens Kolonialwaren öffnen nicht vor neun. Und wenn sie schon ein Stück die Straße hinaufgelaufen sind, hören sie sie rufen, und dann wirft sie das Schulbrot hinaus, das Herman immer vergißt. Und Hermans Mutter ist gut im Werfen; einmal hat sie ihm das Schulbrot nachgeworfen, als er nicht weniger als einhundertachtunddreißig Schritte weg war. Herman mußte nur seinen Ranzen öffnen, schon landeten zwei Brote mit Ziegenkäse und zwei mit Cervelatwurst genau zwischen Lineal und Naturkundebuch.

An der Ecke bei Jacobsen halten sie an; Vater muß abbiegen, zur Baustelle in Vika. Herman muß geradeaus weiter. Vater beugt sich über ihn, sein Atem riecht nach Zigaretten und Kaffee.

»Einmal kommst du aber mit auf den Kran«, sagt er.

Herman guckt woanders hin.

»Mmh ja, vielleicht kann ich ja von dort oben bis Amerika sehen?«

»Amerika! Noch weiter! Ich kann so weit gucken, daß ich meinen eigenen Rücken sehen kann!«

»Das ist was«, sagt Herman.

»Das stimmt nicht«, sagt Vater leise. »Bis zur Nesodden-Halbinsel kann ich sehen. Man soll nicht lügen und sich Sachen ausdenken, nicht wahr?«

»Am besten nicht.«

Vater richtet sich plötzlich auf, gräbt in seiner Hosentasche und zieht den Metallkamm hervor.

»Das ist jetzt deiner«, sagt er feierlich. »Paß auf ihn auf.«

Herman nimmt vorsichtig den Kamm entgegen, er schimmert in der Hand, ist schwer und gut zu halten.

»Aber womit willst du dich kämmen?« fragt er.

»Ich stecke meinen Kopf einfach unter den Wasserhahn, und der Wind ist mein Kamm«, sagt Vater, und dann marschiert er mit Riesenschritten los und verschwindet hinter einem Schwarm Tauben, der plötzlich auffliegt.

Vor dem Roten Kreuz steht ein Rettungswagen mit riesigen Spiegeln auf jeder Seite. Herman hält sein Gesicht vor einen der Spiegel und betrachtet es, hier sieht es wieder ganz komisch aus, so, als wäre es nur eine einzige riesige Nase. Aber die ähnelt jedenfalls nicht mehr einem Tannenzapfen. Er fährt sich mit dem Kamm durch das Haar, der Kamm schrammt auf der Kopfhaut und tut ihm ziemlich weh, doch das soll es ja vielleicht, vielleicht muß es weh tun, wenn man einen eleganten Scheitel haben will. Dann, mit einemmal, entdeckt Herman, daß jemand im Rettungswagen liegt: ein uralter Mann mit gläsernen Augen, die überhaupt nicht blinzeln, der Mund ist nur ein offenes Loch ohne Zähne, und die Haut ist blau und stramm wie das Trikot eines Schlittschuhläufers. Herman zuckt zusammen und läuft die Straße ein Stück hinauf, er muß an Großvater in seinem Himmelbett denken. Und jetzt ist er ganz und gar aus dem Zähltakt geraten, da kann er genausogut gleich mit geschlossenen Augen gehen. Sein Rekord sind sechsundzwanzig Schritte, aber dieser Rekord wurde letzten Sommer mitten auf einem Feld aufgestellt. Er schließt die Augen und zählt leise für sich. Acht. Das ging gut. Fünfzehn. Das geht immer noch gut. Doch als er bei zweiundzwanzig ankommt, ist jäh Schluß. Er trifft auf etwas Weiches, das schreit. Herman öffnet die Augen und starrt direkt in die Augen eines Fuchses. Weiter oben ist da etwas mit blauem Haar, das redet.

»Paß doch auf, du Bengel!«

Herman sieht in die entgegengesetzte Richtung und tastet mit den Händen um sich.

»Ich bin kein Bengel. Ich bin blind und habe mich verlaufen.«

Herman wackelt auf die Straße, beide Arme vor sich hingestreckt. Drei Autos machen eine Vollbremsung, und ein Bus landet fast in Möllhausens Konditorei. Herman sprintet um die Ecke und hört aus weiter Ferne, daß es zum Unterricht klingelt.

Der Schulhof ist vollkommen leergefegt, als wären die Eingangstüren riesige Staubsauger. Nicht ein Schulbrot liegt dort. Herman drückt sich am Zaun entlang und überlegt, wras er diesmal sagen soll. Und alles ist sehr still. Vielleicht sind alle tot und wir kriegen frei, denkt Herman. Aber als er auf den Flur kommt, hört er die frommen Lieder aus den Klassenzimmern, und es klingt fast unheimlich. Jedenfalls ist es sehr traurig, fast noch trauriger als im Wunschkonzert, wenn die Leute, die über hundert sind, einen Gruß erhalten. Er hängt seine Jacke an den Haken, wartet, bis sie mit dem Singen fertig sind, dann klopft er an und öffnet die Tür, bevor der Lehrer antworten kann. Tonne steht hinter dem Pult und starrt ihn an, er hat schon jetzt die Stirn voll Kreide und hält den Zeigestock wie einen Degen. In der Fensterreihe sitzt Ruby, es sieht aus, als ob sie kurz davor sei, sich totzulachen. Tonne macht einen Schritt auf ihn zu. Tonne ist groß, der größte Lehrer in der Schule, er ist genauso breit wie lang, und er ist reichlich lang. Es geht das Gerücht, daß er einen Siebtkläßler 40 Minuten lang an einem Ohr aus dem Fenster der obersten Etage gehalten hat, aber das ist sicher viele Jahre her.

»Und was für eine Entschuldigung hast du heute, Herman Fulkt?«

Er kann schlecht sagen, daß er plötzlich blind geworden ist und sich in der Altstadt verlaufen hat, denn das hat er schon einmal gesagt.

»Ich mußte einer alten Dame helfen, die von einem Fuchs überfallen wurde«, sagt Herman.

Tonne kommt noch näher, er hält den Zeigestock jetzt mit beiden Händen fest, es fehlt bestimmt nicht mehr viel, bis der zerbricht. Die Fäuste von Tonne sind groß wie Blumenkohl. Herman möchte gern wissen, was der Junge wohl gemacht hatte, der am Ohr aus dem Fenster hängen mußte. Er kriegt langsam ein unangenehmes Gefühl im Magen.

»Ein Fuchs, so, so. Und wo ist dieser Fuchs aufgetaucht?«

»Direkt in der Bygdöy-Allee ist er aufgetaucht.«

»Ja so. In der Bygdöy-Allee. Vielleicht kannst du uns erzählen, wie du das Untier bezwungen hast?«

Langsam breitet sich Lachen in der Klasse aus, von Bank zu Bank. Ruby schafft es kaum noch, sich zusammenzureißen.

Das wollte Herman schon immer gern wissen, ob Lachen eigentlich eine Krankheit ist, denn Mutter sagt immer, daß Lachen ansteckt.

»Als ich eingriff, war der Fuchs schon tot. Er hing um den Hals der Dame und war vergiftet. Darf ich zur Toilette gehen?«

Jetzt hat das Lachen alle angesteckt, sie sitzen mit großen Öffnungen in den Gesichtern da, aus denen verschiedene Laute kommen. Manche sind so krank, daß sie auf die Tische hämmern müssen. Aber Tonne ist immer noch gesund. Acht waagrechte Falten bilden sich auf seiner Stirn, und der Kreidestaub rieselt ihm die Wangen hinunter.

»Setz dich«, sagt er müde. »Falls du es solange aushältst.«

»Es wird schon gehen«, sagt Herman. »Es klingelt sowieso bald.«

Tonne bekommt noch drei weitere Falten dazu, und Herman beeilt sich, zur Fensterreihe zu gehen. Von dort kann er die Kirche sehen; er hat schon immer überlegt, was wohl höher ist, der Kirchturm mit der leuchtenden Kupferspitze oder Vaters Kran. Er tippt auf den Kran, denn wie hätte man sonst die Kirchturmspitze bauen können? Zwei Tische vor ihm sitzt Ruby, und wenn das Licht von draußen auf ihr Haar fällt, scheint es zu brennen, genau wie wenn die Sonne die Kupferspitze trifft und der ganze Turm glüht. Heute allerdings ist der Himmel so bedeckt, daß selbst die Vögel für einen Sonnenstrahl Schlange stehen müssen. Aber Rubys Haare sind auch so schön. Herman gefällt es, daß sie vor ihm sitzt. Schlechter ist es mit denen, die ganz hinten sitzen, Glenn, Björnar und Karsten. Die haben schon mal einen aus der siebten Klasse verprügelt, das Klo verstopft und eine halbe Pakkung Zigaretten geraucht. Sie hinter sich zu haben, ist nicht sehr sicher, wenn man keine Augen im Nacken hat. Plötzlich dreht Ruby sich zu Herman um und streckt ihm die Zunge raus. Sie sieht fast wie ein rotes Blatt aus. Herman muß laut lachen.

Tonne hat ihn schon im Blick, hebt den Zeigestock, schiebt die Unterlippe vor und bläst sich die Kreide von der Nase.

»An die Tafel!«

Herman geht langsam zwischen den Reihen hindurch. Er überlegt, wonach Tonne wohl heute fragen wird: wie hoch der Monolith im Park ist, wie viele Mägen eine Kuh hat und wozu die gut sind, oder nach dem Weg der Fichte vom Waldbaum bis zum Möbelstück. Herman spürt, daß er immer kleiner wird, bald reicht er nicht mal mehr an seine eigenen Knie, und als er vorne am Lehrerpult steht, ist er so klein, daß er sich im rechten Schuh von Tonne sehen kann, und ihm fällt ein, daß er sich heute die Haare schneiden lassen soll.

Herman bekommt ein Stück Kreide in die Hand, die ist groß wie ein Baumstamm, wie soll er denn oben an die Tafel reichen? Da unten bei den Schuhen von Tonne riecht es nicht besonders gut. Vielleicht muß er ja Afrika zeichnen oder das ganze Gebäude von Eidsvolds, in dem die Verfassung unterschrieben wurde, mit der Flagge obendrauf, oder vielleicht muß er am linken Ohr aus dem Fenster hängen? Es ist auf jeden Fall gut, daß das Klassenzimmer im Erdgeschoß liegt.

»Schreib ein kleines i mit einem Punkt drüber!« sagt Tonne.

Da hat er Glück gehabt. Sofort wächst Herman mindestens einen Meter, trifft die Tafel mit der Kreide, zeichnet einen Strich und schraubt einen kräftigen Punkt darauf.

»Und was soll das sein?«

»Ein kleines i mit einem Punkt drüber«, sagt Herman zufrieden.

»Willst du mich anlügen?«

Herman ist reichlich verwirrt, schaut von der Tafel zum Lehrer und zurück. Tonne beugt sich wie ein überfressenes Fragezeichen über ihn.

»Ich habe dich gebeten, ein kleines i mit einem Punkt darüber zu schreiben. Erinnerst du dich?«

»Man ist nicht so vergeßlich.«

»Bist du auch noch frech!«

»Ich bin Herman Fulkt.«

Tonne gibt langsam auf, nimmt ihm die Kreide ab und lehnt sich schwer gegen die Tafel, an der er noch einen Punkt über das i malt. »Wenn ich euch sage, ihr sollt ein kleines i mit einem Punkt darüber schreiben, müssen es zwei Punkte sein, vergeßt das niemals!«

»Wird gemacht.«

Herman trollt sich zu seinem Platz, aber bevor er so weit kommt, hat Ruby ihm einen Zettel in die Hand gedrückt. Nachdem er sich gesetzt hat, faltet er ihn sorgfältig auseinander und liest unter dem Tisch: »Magst du rotes Haar? Gruß, Ruby.«

Als er einen Antwortbrief schreiben will, klingelt es, und damit ist es zu spät. Ruby hat jetzt Handarbeiten und Herman unten im Keller Papierwerken. So muß er wohl morgen eine Luftpost losschicken oder vielleicht eine Brieftaube, falls er es schafft, eine zu fangen.

Beim Papierwerken riecht es so stark nach Leim, daß es Herman fast schwindlig wird. Der Leim steht in großen Eimern an der Heizung und sieht aus wie verdorbenes Gelee. Herman bastelt gerade ein Herbarium, und er freut sich schon auf den Frühling, dann will er nach Bygdöy raus und Buschwindröschen sammeln, und auf Nesodden findet er vielleicht Glockenblumen und Vergißmeinnicht.

Pappe ist noch nicht aufgetaucht, der kommt immer zu spät zur Stunde, sicher sitzt er in der Garderobe und schmust mit der Putzfrau.

Plötzlich stehen Glenn, Björnar und Karsten um Herman herum. »Warum hast du nicht mit den Mädchen Handarbeiten?« fragt Glenn.

Herman versucht seinen Blick zu heben, aber der ist so unglaublich schwer, er braucht mindestens einen Lastkran, um ihn hochzubekommen.

»Da kannst du Topflappen häkeln und dir den Hintern damit abwischen!« fährt Karsten fort.

»Was stand auf dem Zettel?« fragt Björnar.

»Auf welchem Zettel?«

Herman kann bei so etwas nicht gut lügen. Es ist, als fiele ihm die Unterlippe herunter und würde groß wie ein Einkaufsnetz.

»Dem Zettel von Ruby, du Schlappschwanz!«

»Hab’ keinen Zettel von Ruby gekriegt.«

Seine Unterlippe wird größer und größer, er braucht bald Stützen für sie.

»Tu nicht so«, sagt Glenn und rückt näher. Glenn trägt einen Pony und eine Zahnklammer und behauptet, daß er Glas essen kann.

»Zettel? Ach, der Zettel! ’ne Einkaufsliste für meine Mutter.«

Jetzt ist die Lippe groß wie eine Badewanne, es ist so gut wie unmöglich, sie an ihrem Platz zu halten.

»Wir durchsuchen ihn!« ruft Karsten.

In Null Komma nichts sind alle Taschen umgestülpt. Björnar hält den Metallkamm hoch, Karsten winkt mit einem Fünfer, und Glenn hat den Zettel gefunden.

»Magst du rotes Haar? Gruß, Ruby«, johlt er, und es fehlt nicht viel, daß seine Zahnspange herausspringt.

Und dann ist das Lachen wieder da, alle werden angesteckt und sind für eine ganze Weile krank, und Pappe ist immer noch nicht aufgetaucht. Das Lachen ist schlimmer als Masern und Windpocken zusammen, denkt Herman. Doch plötzlich sind alle wieder gesund. Glenn hält ihn fest am Arm.

»Magst du rotes Haar, Herman?«

Herman schaut auf seine Schuhe und atmet schwer. Björnar drückt ihm den Metallkamm wie eine Pistole zwischen die Augen.

»Magst du rotes Haar?!«

»Das Schlimmste, was ich mir denken kann«, sagt Herman, und die Unterlippe schleift über den Boden, und widerliche Tiere, die er nicht ausspucken kann, klettern in seinen Mund.

»Sag, daß Ruby häßlich ist.«