Yesterday - Lars Saabye Christensen - E-Book

Yesterday E-Book

Lars Saabye Christensen

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Beschreibung

Oslo, Frühling 1965: Die Beatlemania grassiert wie überall in Europa. Gerade ist "I feel fine" erschienen. Die Pilzköpfe aus Liverpool beherrschen das Bild, beeinflussen die Jugend und verstören die Alten. Für Gunnar, Seb, Ola und Kim ändert sich alles. Hausaufgaben und Fußballtraining treten in den Hintergrund. Sie wachsen heran im Zeichen der Beatles. Sie nennen sich Paul und John, Ringo und George. Die neuen Scheiben bestimmen ihr Leben. Die vier überstehen den Erziehungsamoklauf ihrer besorgten Eltern und treiben Herrenfriseure in den Ruin. Sie erfahren den bittersüßen Geschmack der ersten Liebe und nehmen teil am weltweiten Aufbruch der Jugend. Und als die Zeit überschattet wird vom blutigen Ausgang der Pariser Maiunruhen und dem Massaker von My Lai, geht auch das nicht spurlos an ihnen vorüber ...

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Seitenzahl: 912

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Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel »Beatles« bei J. W. Cappelens Forlag, Oslo
Genehmigte Taschenbuchausgabe Dezember 1997. btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, MünchenNeumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © 1984 by J. W. Cappelens Forlag A/S. Oslo Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Popa Verlag. München
Umschlaggestaltung: Design Team München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung: buch bücher dd-ag, Birkach RK Herstellung: Augustin Wiesbeck Printed in Germany
ISBN 978-3-641-14019-9V002
www.btb-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Buch

Oslo, Frühling 1965: Die Beatlemania grassiert wie überall in Europa. Gerade ist >>I feel fine<< erschienen. Die Pilzköpfe aus Liverpool beherrschen das Bild, beeinflussen die Jugend und verstören die Alten. Für Gunnar, Seb, Ola und Kim ändert sich alles. Hausaufgaben und Fußballtraining treten in den Hintergrund. Sie wachsen heran im Zeichen der Beatles. Sie nennen sich Paul und John, Ringo und George. Die neuen Scheiben bestimmen ihr Leben. Die vier überstehen den Erziehungsamoklauf ihrer besorgten Eltern und treiben Herrenfriseure in den Ruin. Sie erfahren den bittersüßen Geschmack der ersten Liebe und nehmen teil am weltweiten Aufbruch der Jugend. Und als die Zeit überschattet wird vom blutigen Ausgang der Pariser Maiunruhen und dem Massaker von My Lai, geht auch das nicht spurlos an ihnen vorüber ...

Autor

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, zählt zu Norwegens interessantesten und vielseitigsten Autoren. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt, Yesterday verkaufte sich allein in Norwegen über eine viertelmillionmal.

Lars Saabye Christensen bei btb

Der Alleinunterhalter. RomanDer eifersüchtige Friseur und andere HeldenDer Halbbruder. RomanDer falsche Tote. RomanWaterloo. Roman

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor1. TEIL
I feel fine - Frühling 1965She’s a woman - Sommer 65Help - Herbst 65Rubber Soul - Winter 65/66Paperback Writer - Frühling 66Yellow Submarine - Sommer 66Revolver - Herbst 66Strawberry Fields forever - Frühling 67A Day in the Life - Sommer 67
2. TEIL
Hello goodbye - Herbst 67Revolution - 68Carry that Weight - 69Let it be - Frühling/Sommer 70Golden Slumbers - Herbst/Winter 70-71
3. TEIL
Come together - Sommer 71Sentimental Journey - Herbst 71Working Class Hero - Herbst 71My sweet Lord - Herbst 71Wild Life - Herbst/Winter 71Revolution 9 - Winter/Frühling/Sommer 72Love me do - Sommer/Herbst 72
Copyright

1. TEIL

I feel fine

Frühling 1965

Ich sitze im Sommerhaus, es ist Herbst. Meine rechte Hand irritiert mich, mit den Narben kreuz und quer, besonders der Zeigefinger. Er ist krumm und schief wie eine Klaue. Ich muß ihn immer wieder ansehen. Er klammert sich an den Kugelschreiber, der rote Buchstaben malt. Es ist ein ungewöhnlich häßlicher Finger. Eine Schande, daß ich kein Linkshänder bin, ich habe mir das mal gewünscht, Linkshänder zu sein und Baßgitarre spielen zu können. Aber ich kann mit der linken Hand spiegelverkehrt schreiben, genau wie Leonardo da Vinci. Trotzdem schreibe ich mit rechts und übe Nachsicht mit der verunstalteten Hand und dem abstoßenden Zeigefinger. Hier drinnen riecht es nach Äpfeln, ein intensiver Apfelduft steigt von dem alten Tisch auf, an dem ich mitten im dunklen Raum sitze. Es ist der erste Tag, an dem es Abend wird, und ich habe nur von einem Fenster die Fensterläden abgenommen. Der Fensterrahmen ist voll von toten Insekten, Fliegen, Mücken, Wespen, mit trockenen, dürren Beinen. Der Geruch nach Früchten macht mich ganz benommen, mein leerer Kopf löst etwas in mir aus; im Licht des Mondes, der jetzt durch das einzige offene Fenster scheint, tanzen Schatten an den Wänden und verwandeln das Zimmer in ein altmodisches Diorama. Und genau wie Olas Vater, der Friseur in Solli, der den Film immer, wenn Geburtstag war, verkehrt in den Vorführapparat legte, so daß wir drei Chaplin-Filme rückwärts sahen, so drehe ich jetzt allem den Rücken zu und begebe mich zurück. Und ohne daß ich mir dessen bewußt bin, stoppt die Filmrolle hinter meinen Augen bei einem bestimmten Bild, ich halte es für ein paar Sekunden fest, friere es ein, dann setze ich es wieder in Bewegung, denn ich bin allmächtig. Ich verleihe ihm Stimmen, Geräusche, Gerüche und Licht. Deutlich kann ich hören, wie der Kies unter den Schuhen knirscht, wenn wir über den Vestkanttorg schleichen, ich kann das berauschende Schwindelgefühl nach einem Lungenzug spüren, und immer noch kann ich Ringos Ellenbogen fühlen, der mich weich in der Seite trifft, und wir vier stehen in Reih und Glied, und John zeigt auf einen schwarzen, blankpolierten Mercedes, der vorm Naranja parkt.

Es war George, der als erster etwas sagte. Und zwar:

»Das ist deiner, Paul.«

Alle wußten, daß ich Spezialist war, wenn es um einen Mercedes ging. Ich brauchte nicht einmal Werkzeug. Man mußte nur den runden Stern dreimal nach links drehen, ihn schnell loslassen und herausziehen, dann war die Befestigung garantiert abgerissen. Wir rannten die Treppe hinauf, und es kribbelte warm unterm Pullover. Wir nahmen die Lage in Augenschein.

»Zu viele Leute«, flüsterte John.

Die anderen waren seiner Meinung. Zwei Männer standen an der Ecke unter den Apfelbäumen, eine alte Dame überquerte dicht daneben die Straße.

»Hat keinen Sinn, es zu v-v-versuchen«, murmelte Ringo.

»Wir haben schon einen Opel und zwei Ford«, sagte George.

»Aber das is’ doch ’n 220 S!« sagte ich.

»Wir hol’n ihn an einem andern Abend«, sagte John.

Es war aber nicht sicher, ob er dort morgen auch noch stehen würde. Und ich spürte diesen Sog in mir. den ich seitdem so oft gefühlt habe, und ich hörte nicht mehr auf die anderen. Ich ging ruhig über die Straße, allein, beugte mich über die Motorhaube, mein Herz schlug immer noch mit schwachem, gleichmütigem Schlag, ein Pärchen kam den Hügel von Berle herab, die beiden Männer unter den Apfelblüten schielten zu mir herüber, die Papageien im Fenster schrien stumm. Da drehte ich das Mercedesgeweih dreimal herum, ließ es schnell los, zog noch mal und schob es vorsichtig unter den Pullover. John, George und Ringo waren bereits weit entfernt, sie sollten irgendwie ganz natürlich gehen, aber von hinten ähnelten sie drei Laternenpfählen mit roten Lampen. John drehte sich um und winkte mir wild, ich grinste und winkte zurück, dann rannten sie los Richtung Urra. Ich stand immer noch am Tatort, sah mich um, aber niemand hatte irgendwie reagiert. Ich begann, hinter den anderen herzugehen, langsam, wie um das Ganze zu verlängern, um deutlich zu spüren, wie es war, ich gab dem Autobesitzer eine Chance, mich zu erwischen. Diese herrliche nervöse Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Und niemand folgte mir. Ich zog den Stern hervor, schwenkte ihn triumphierend in der Luft und lief den anderen nach.

Sie warteten am Kiosk »Der Mann auf der Treppe«, jeder mit seiner Safttüte. »Du bist v-v-verrückt«, sagte Ringo.

»Verdammt, wenn wir eines Tages erwischt werden«, murmelte John. Er sah zu mir hoch, lächelte nicht, wirkte leicht resigniert, fast unglücklich, wie er dasaß, mit der gefrorenen Safttüte und einer zitternden Zigarette.

Es war fast neun Uhr. Wir stellten fest, daß es draußen dunkel geworden war. »Der Mann auf der Treppe« löschte im Geschäft das Licht, und wir huschten den Bondeberg hinunter. Ich gab George den Mercedesstern, denn er versteckte sie unter Zeitschriften in einem Kasten unterm Bett.

»Jetzt haben wir sechs davon«, sagte er.

»Aber keinen 220 S!«

»Da seh’ ich k-k-keinen Unterschied«, meinte Ringo.

»Du mußt es nicht sehen, Hauptsache ist, daß du’s weißt«, sagte ich.

»Wie viele Fiats haben wir, he«, überlegte John.

»Neun«, sagte George. »Neun Fotzen.«

»Mein Bruder hat aus Kopenhagen ein Pornoheft mitgebracht«, sagte John.

Wir blieben abrupt stehen, sahen ihn an.

»Aus Dänemark?« flüsterte Ringo und vergaß ganz zu stottern.

»Hat in Kopenhagen Handball gespielt, verdammt noch mal.«

»Wie... wie is’ es denn?«

»Super«, sagte John— »Ich muß jetzt abhaun.«

»Bring’s morgen mal mit«, sagte George.

»Mach das!« rief Ringo und schwenkte den Schraubenzieher in der Luft.

»Mach das!«

Ich ging mit John. Wir hatten den gleichen Weg, die Løvenskioldsgate hinunter. George und Ringo latschten hinüber zum Solli-Platz. Keiner von uns sagte etwas. Der Streusand vom Winter knirschte unter unseren Schuhen, und der vertrocknete Hundedreck lag in Reih und Glied auf dem Bürgersteig. Das war ein sicheres Zeichen für den Frühling, obwohl es noch ziemlich kalt und dunkel war und wir erst Mitte April hatten. Ich sah auf meine Schuhe und freute mich, denn Mutter hatte mir versprochen, daß ich im Mai neue bekäme, und die, die ich halte, ähnelten eher Wanderstiefeln und waren schwer wie Blei. Johns Schuhe waren auch nicht viel besser, denn er erbte alles, was er trug, von seinem Bruder Stig, und der war zwei Jahre älter als er und 1,85 Meter groß, so daß Johns Schuhe immer so riesig waren, daß er zuerst einen Schritt in ihnen machen mußte, ehe er vorankommen konnte.

»Ich finde, wir haben langsam genug Autozeichen«, sagte John, ohne mich anzusehen.

»Vielleicht sollten wir nur unterschiedliche Zeichen sammeln«, schlug ich vor. »Wir haben genug«, wiederholte er.

»Wir können ja die verkaufen, von denen wir zu viele haben.«

John blieb stehen und faßte mich hart am Arm.

»Da!« rief er und zeigte auf den Bürgersteig.

Ich erstarrte. Vor uns lag eine Schnur. Eine Schnur. Eine weiße Schnur direkt vor uns auf der Erde.

»Der Handgranatenmann«, flüsterte John.

Ich sagte nichts, starrte nur nach vorn.

»Der Granatenmann«, wiederholte John und trat einen Schritt zurück. Ich blieb einen Meter, vielleicht noch weniger, von der Schnur entfernt stehen.

Sie verschwand in einer Hecke und war an den Stäben eines Gullis im Rinnstein festgebunden.

»Bin nicht so sicher, daß das der Granatenmann is’«, sagte ich leise.

»Was sollen wir machen?« stotterte John hinter mir. »Die Bullen holen?«

»Muß nich’ der Granatenmann sein, auch wenn da ’ne Schnur ist«, fuhr ich fort, aber mehr zu mir selbst.

»Die beiden Jungen in Grefsen haben die Bullen geholt«, zischte John. »Wir können in Fetzen gesprengt werden!«

In dem Moment hatte ich das Gefühl zu zerschmelzen. Ich zerfloß und war nirgends. Ich ging einen Schritt vor, beugte mich hinab, hörte John hinter mir schreien, dann zog ich mit aller Kraft.

Es polterte fürchterlich, aber nur, weil an das andere Ende der Schnur sechs Blechdosen festgebunden waren. John war längst auf die andere Straßenseite gelaufen und hatte sich hinter einem Laternenmast verschanzt. Ich zeigte ihm die Beute, und er kam aus dem Schützengraben hervor. Im selben Moment hörten wir hinter der Hecke Gelächter und Kichern. John war weiß im Gesicht, sein Kiefer knackte, und mit einem Satz war er über die Hecke rüber und zog zwei Knirpse ans Licht. Er drückte sie gegen einen Opel, führte eine Leibesvisitation durch, zeigte auf mich und auf die Schnur und sagte:

»Wißt ihr, wie viele Jahre Knast es für so was gibt?«

Die Pygmäen schüttelten den Kopf.

»Fünf Jahre!« rief John. »Fünf Jahre! Ihr werdet nach Jæren gebracht, ihr wißt sicher nicht mal, wo das ist, aber das ist verflucht weit weg, und da werdet ihr hingebracht, um Steine zu klopfen! Fünf Jahre lang. Verstanden?«

Die Rübenköpfe nickten.

Dann packte John sie, band sie mit der Schnur zusammen und jagte sie die Straße hinunter. Sie rannten wie die Wahnsinnigen, alles lief ans Fenster und glaubte, da sei eine Hochzeit. Wir hörten das Scheppern der Blechdosen noch viele Häuserblocks entfernt.

»Warum nehmen sie’s nicht ab?« wunderte John sich und kratzte sich am Ohr.

»Finden das wohl toll«, sagte ich.

»Kann sein.«

Wir trödelten weiter. Nach einer Weile sagte John: »Du bist wahnsinnig! Hättest in die Luft fliegen können!«

»Was für Fotos sind das in dem Heft von deinem Bruder?«

»Riesenfotzen. Doppelt so groß wie im Cocktail.«

Er schwieg abrupt. Ich traute mich nicht, mehr zu fragen, wartete also einfach, daß John den Rest ausspucken würde.

»Da sind keine Haare drauf«, platzte es aus ihm heraus.

»Keine Haare?«

»Nichts. Wegrasiert.«

»Geht’n das?«

»Sieht so aus.«

»Ringos Vater ist Friseur«, sagte ich.

»Man kann alles sehn«, sagte John.

»Alles?«

»Logo.«

Wir trennten uns bei Gimle. John zog die Thomas Heflyesgate hinunter, ich ging weiter nach Skillebekk. Ich konnte diese kahlen Mösen nicht vergessen.

Ich versuchte, sie mir vorzustellen, aber das war einfach unmöglich. Ich kam höchstens bis zum Foto der nackten Frau im Hausarztbuch, aber ich glaube, daß das Foto retuschiert war, jedenfalls war die Möse eine glatte Fläche, es schienen keine Haare drauf zu sein, aber es gab auch keine Ritze dort, eine derartige Dame hätten sie auch nicht gut im Hausarztbuch zeigen können. Als ich in die Svoldergate einbog, begann es zu nieseln, so ein warmer, leichter Regen, den man nicht sieht und von dem man kaum naß wurde. Ich hatte das Gefühl, als ob unzählige Haare mein Gesicht berührten, kleine kurze, dunkle Haare, in der ganzen Straße roch es komisch, ungefähr so wie in der Dusche der Turnhalle, und es war nirgends ein Mensch zu sehen. Ich sprintete das letzte Stück, denn ich war schon eine dreiviertel Stunde zu spät dran.

Aber an den Briefkästen stoppte ich jäh. Dort lag ein brauner Briefumschlag. Daneben hatte der Briefträger einen Zettel mit Suchangaben gelegt. Es gab niemanden an diesem Treppenaufgang, der Nordahl Rolfsen hieß. Ob ihm jemand helfen konnte? Ich konnte. Der Brief war für mich. Ich schob den Umschlag unter mein Hemd, schlich mich hoch und in mein Zimmer. Dort zog ich den Brief vorsichtig heraus, stellte meine Ohren auf größte Reichweite, niemand im Anmarsch. Es stimmte also, was in der Anzeige in »Nå« gestanden hatte. Diskret und gut verpackt. Von »Alles zusammen«. Ein Dutzend »Rubin-Extra«, rosa. 11 Kronen. Aber das mußte ich nicht bezahlen. Niemand wußte, wer Nordahl Rolfsen war. Raffiniert. Ich traute mich nicht, das glatte Paket zu öffnen, hielt es nur in der Hand, hörte den Nieselregen draußen, Haare, die ans Fenster klopften. Dann versteckte ich das ganze Zeug in der dritten Schublade unter Pop-Extra, Beatles-Zeitschriften und einem Conquest-Roman.

Es war an einem Donnerstag, da bin ich mir ganz sicher, denn wir hatten für den folgenden Tag einen Aufsatz auf, den letzten vor der Prüfung, und Aufsätze mußten wir immer freitags abgeben, damit unser Klassenlehrer Mütze sich am Wochenende damit amüsieren konnte. Ich hatte noch kein einziges Wort geschrieben. Mein Plan war eigentlich gewesen, schon abends zu husten, lange, gurgelnde, verzweifelte Huster, die Mutter und Vater bis weit nach Mitternacht wach halten sollten. Und am nächsten Morgen mußte ich mir nur noch die Stirn am Kissen warm reiben, dann würde Mutter 39,5 Fieber feststellen und Daheimbleiben verordnen. Aber ich wollte nicht der letzte sein, der das Pornoheft von Gunnars Bruder zu sehen bekam. Ich entschloß mich, den Aufsatz zu schreiben, nachdem Vater und Mutter ins Bett gegangen waren. Doch plötzlich stand Mutter mit dem Abendbrot und einem Glas Milch in der Tür.

»Du kannst gerne bei uns reingucken, wenn du nach Hause kommst«, sagte sie.

Ich nahm ihr den Teller und das Glas ab.

»Wir sitzen im Wohnzimmer. Das ist nicht so weit weg.«

»Weiß ich«, sagte ich.

»Wo warst du?«

»Auf’m Schulhof.«

»So spät?«

»Wir haben Schlagball gespielt.«

Sie kam einen Schritt näher, und ich wußte, daß es jetzt kommen würde. Und ich wußte genau, was sie sagen würde und was ich antworten müßte, wenn ich schlau sein wollte.

»Müssen all diese scheußlichen Bilder an der Wand kleben?«

»Ich find’ sie schön«, entgegnete ich.

»Sind die schön?« Mutter schrie fast und zeigte auf ein Bild unter der Decke.

»Das sind die Animals«, sagte ich.

Mutter sah mir wieder direkt ins Gesicht.

»Du mußt zum Friseur«, sagte sie. »Das Haar hängt dir fast über die Ohren.«

Ich dachte an Vater, der fast schon eine Glatze hatte, und dabei errötete ich, weil ich plötzlich eine eklige Figur, ein Monster von einem Kopf, so eine wahnsinnige Kreuzung deutlich vor mir sah. Meine Mutter kam näher, fragte, was los sei.

»Was soll sein?« fragte ich heiser.

»Hm, Du warst plötzlich so komisch.«

Jetzt nahm das Gespräch eine völlig überraschende und gefährliche Wendung.

Ich fing demonstrativ an zu essen, aber Mutter blieb einfach stehen, lehnte sich an den Türpfosten.

»Hast du dich heute abend mit einem Mädchen getroffen?« fragte Mutter.

Die Frage war wahnsinnig, falsch gestellt, idiotisch, ins Blaue geschossen, aber statt sie in Grund und Boden zu lachen, wurde ich wütend.

»Ich war mit Gunnar zusammen! Und mit Sebastian und Ola!«

Mutter strich mir über den Kopf.

»Aber ich finde trotzdem, du könntest zum Friseur gehen.«

Trotzdem? Was meinte sie damit? Welche Falle stellte sie mir jetzt? Ich mobilisierte meine letzten Kräfte und brachte das Argument, das immer eine gewisse Wirkung auf meine Mutter hatte, weil sie einmal Schauspielerin werden wollte.

»Rudolf Nurejew hat auch lange Haare!«

Mutter nickte kurz, lächelte über das ganze Gesicht, und dabei legte sie mir auch noch zum zweiten Mal die Hand auf den Kopf.

»Du kannst sie gerne mitbringen.«

Ich war davon überzeugt, daß ich das roteste Bleichgesicht im Westen war, außer Jensenius, dem Opernsänger ein Stockwerk höher, der 30 Export am Tag trank und der sagte, daß das Pfandgeld und die Kunst die Welt in Bewegung halten.

Wie gewöhnlich saß Vater mit der Zeitschrift »Nå«, deren Titelseite ein Foto von Wencke Myhre schmückte, in seinem Sessel vor dem Bücherregal. Er arbeitete intensiv am Kreuzworträtsel. Dann hob er das schmale, bleiche Gesicht und sah mich an.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

»Ja.«

»Welche Chancen hast du bei der Prüfung?«

»Gute. Glaub’ ich.«

»Du sollst nicht glauben. Du sollst es wissen.«

»Ich hab’ gute Chancen.«

»Freust du dich auf die Realschule?«

Ich nickte.

Vater lächelte kurz und vertiefte sich wieder in sein Kreuzworträtsel. Ich sagte gute Nacht, doch als ich mich umdrehte, hörte ich Vaters Stimme wieder.

»Wie heißt der Schlagzeuger bei The Beatles?«

Er sah sehr komisch aus, als er das sagte, und ich glaube fast, daß er ein bißchen rot wurde. Um sich zu rechtfertigen, zeigte er emsig auf die Zeitschrift.

»Ola«, fing ich an, schluckte es aber runter. »Ringo, Ringo Starr. Aber eigentlich heißt er Richard Starkey«, gab ich an,

Vater schrieb eifrig in die Kästchen, nickte und sagte: »Ausgezeichnet. Es stimmt.«

Ich lag im Bett und wartete darauf, daß meine Eltern schlafen gehen würden. Machte ich jetzt das Licht an, würden sie kommen und mich fragen, was los sei, denn sie konnten am Spalt unter der Tür sehen, ob es dunkel bei mir war. Ich hörte es draußen regnen, hörte die Züge nur 100 Meter entfernt zwischen meinem Fenster und der Frognerbucht vorbeirattern. Ich wußte haargenau, wohin sie fuhren, aber schließlich gab es ja nicht so viele verschiedene Strecken. Und auch wenn sie gar nicht so weit fuhren und nur in Norwegen blieben, so ließen sie mich doch jedesmal an fremde Länder denken, wie sie auf der Karte hinter dem Lehrerpult zu sehen waren; wenn ich die Züge hörte, dachte ich auch an die Sterne, an das Weltall. und dann verschwand alles vor meinen Augen, und ich fiel nach hinten, sozusagen in mich selbst hinein, und wenn ich schrie, kamen Mutter und Vater hereingestürzt, sie waren winzige Punkte, weit, weit entfernt, und sie zogen mich vorsichtig wieder hervor. Aber dieses Mal schrie ich nicht. Ich hörte die Züge und die Straßenbahn, die über den Ola Bulls Platz quietschte. Und zwischen all dem hörte ich Mutters und Vaters gedämpfte Stimmen und das Radio, das immer lief, und immer gab es im Radio eine Oper, das hörte sich so einsam an, trauriger als alles andere, sie sangen von einer anderen Welt, einer Welt, die grau war und ohne Bewegung, sie sangen so kalt und tot. Und an den Wänden um mich herum hingen Fotos von Gesichtern, die auch sangen, aber es kam kein Laut hervor, Gitarren und Schlagzeug waren stumm. Rolling Stones, Animals, Dave Clark Five, Hollies, Beatles. Beatles. Fotos der Beatles. Und ich träumte von Ringo und John, von George und Paul. Ich träumte, daß ich einer von ihnen sei, daß ich Paul McCartney sei, daß ich seinen freundlichen, wehmütigen Blick hätte, wegen dem sich alle Mädchen halbtot schrien, ich träumte, daß ich Linkshänder sei und Baßgitarre spielte. Ich setzte mich plötzlich, hellwach, im Bett auf. Aber ich bin doch einer von ihnen, dachte ich laut und lachte. Ich bin einer der Beatles.

Es war halb zwölf, Mutter und Vater waren ins Bett gegangen. Ich schritt zur Tat. Es gab drei Themen. Das erste war ausgeschlossen: Meine Familie. Mein Vater arbeitet in einer Bank und löst Kreuzworträtsel. Meine Mutter wollte Schauspielerin werden, als ich klein war. Ich heiße Kim. Das ging einfach nicht. Das zweite Thema lautete: Ein Tag in der Schule. Ausgeschlossen. Selbst Lügen haben ihre Grenzen, selbst für mich haben Lügen ihre Grenzen. Man kann bis zu einem gewissen Punkt schummeln und bekommt das gut hin, aber darüber hinaus wird es nur noch wahnsinnig. Ich mußte das letzte nehmen: Deine Pläne nach der Volksschule. Ich fand das Aufsatzheft zwischen einem Haufen alter Schulbrote. Für den letzten Aufsatz hatte ich eine Vier bekommen. Aber den hatte Vater geschrieben. Mein Hobby. Er fand, daß ich unbedingt über Briefmarken schreiben müßte, auch wenn ich nur zwei dreieckige von der Elfenbeinküste habe. Vater hatte eine Vier bekommen, nicht ich. Dann nahm ich’s in Angriff. Ich lud den Füller mit einer Patrone und fing gleich mit Tinte an. Kein Weg zurück. Es kribbelte im Rückgrat, die Aufregung ließ mich fast genial werden. Zunächst wollte ich Realschule und Gymnasium beenden. Danach wollte ich Medizin studieren und Arzt in einem armen Land werden, in dem ich für kranke Neger leben und sterben würde. Ich schaffte dreieinhalb Seiten und beendete das Ganze mit irgend etwas über Nansen, bekam aber den Nordpol und die Neger nicht ganz zusammen, und da fiel mir ein, daß es Albert Schweitzer war, den ich hätte anführen sollen, aber da war es zu spät. Ich schlug das Heft zu, ohne es durchzulesen. Anscheinend war die Zeit unglaublich schnell vergangen, denn der letzte Zug nach Drammen donnerte vorbei, und danach wurde die ganze Welt still. Der Regen hatte aufgehört. Die Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Mutter und Vater schliefen. Und ich bin auch kurz vorm Einschlafen, als eine klare Fistelstimme das Zimmer füllt. Sie kommt von oben, aber das ist nicht Gott, das ist die wahnsinnige Nachtigall, Jensenius, der mit seinem nächtlichen Auf-und-ab-Gehen angefangen hat, vor und zurück, während er die alten Lieder aus der Zeit, als er weltberühmt war, singt.

Und mit dem singenden Jensenius über mir konnte ich unmöglich einschlafen, auch wenn es bei weitem nicht so traurig klang wie die Stimmen im Radio. Es war zwar etwas unheimlich, Jensenius zu hören, wenn man ihn jedoch sah, war es fast nur noch komisch. Er war so wahnsinnig groß, er ähnelte ein bißchen dem Typen, dessen Bild auf den IFA-Lakritzpastillen war, und der war ja auch Opernsänger. Das erinnerte mich an etwas. In der fünften Klasse schnitt ich den Namenszug des Typen auf der Pastillenpackung aus, Ivar Fredrik Andresen, und erzählte Gunnar, daß das ein seltenes Autogramm eines weltberühmten Opernsängers sei. Gunnar kaufte es für zwei Kronen, denn er sammelte Autogramme, alles von Arne Ingier bis Genosse Lin Piao. Gunnar wunderte sich aber, warum es auf so dickes Papier geschrieben war. Kein Papier, sagte ich. Karton. Das Beste überhaupt. Aber warum war es so verdammt klein? Aus einem heimlichen Brief ausgeschnitten, erklärte ich ihm. Drei Tage später kam Gunnar zu mir und fragte mich, ob ich Lakritzpastillen wolle. Und dann zog er eine IFA-Packung hervor und stopfte sie mir ins Maul. Er war nicht sauer. Nur verblüfft. Er bekam sein Geld zurück, und seitdem haben wir keine Geschäfte mehr gemacht.

Aber zurück zu Jensenius, dem Opernsänger unseres Treppenaufgangs, er ähnelte einem Luftschiff, und aus diesem kolossalen Fahrwerk kam eine Stimme hervor, die so hoch und dünn und herzzerreißend klang, als sitze ein kleines Schulmädchen in ihm und singe statt seiner. Er war sicher mal Bariton gewesen. Es gibt viele Geschichten über Jensenius, und ich weiß nicht, welche ich glauben soll, aber es wird gesagt, daß er kleinen Mädchen Bonbons gab und Jungen auch, und daß er sie gerne in den Arm nahm. Er war einmal Bariton, dann fummelten sie an seinem Untergestell herum, und jetzt ist er Sopran, trinkt wie ein Bär und singt wie ein Engel. Und ich würde ihn gern den Wal nennen, denn Wale singen auch, und sie singen, weil sie einsam sind und das Meer für sie viel zu groß ist.

Und dann schlief ich ein.

Die Aufsätze wurden in der ersten Stunde eingesammelt, nachdem wir das Vaterunser mit dem Drachen als Vorbeter gebetet hatten. Aber der kam nie weiter als »werde dein Name«, dann verstummte er, wurde rot und preßte seine Hände aneinander, daß die Knöchel weiß hervorstanden, und dann mußte die Gans übernehmen, das ging wie mit Butter geschmiert, und wir anderen standen in Reih und Glied neben unseren Plätzen und murmelten mit, so gut wir konnten. Seb war diese Woche der Klassenverantwortliche, er trottete durch die Reihen, sammelte die Aufsatzhefte ein und legte sie in einem ordentlichen Stapel auf das Pult vor Lehrer Mütze, der verblüfft in die Klasse starrte.

»Alle abgegeben?« fragte er leise.

Seb nickte und zog sich auf seinen Platz zurück. Er saß ganz hinten in der Fensterreihe, während ich hinter Gunnar in der mittleren Reihe saß und Ola direkt an der Tür, so daß er immer als erster draußen war und als letzter drinnen. Es war übrigens gut, den Platz hinter Gunnar zu haben, sein Rücken war breit genug, das ganze Hausarztbuch zu verdecken. Er drehte sich um und flüsterte: »Welchen hast du geschrieben?«

»Zukunftspläne.«

»Was willste werden?«

»Arzt in Afrika.«

»Seb will Missionar werden. In Indien.«

»Wofür hast du dich entschieden?«

»Will Pilot werden. Und Ola Damenfriseur.«

»Haste das Heft mit, he?«

Gunnar nickte kurz und drehte sich nach vorn.

Mütze sah immer noch auf die Klasse, als ob wir eine neue Landschaft waren, die sich in all ihrer Pracht zeigte, und nicht die 7a. 22 Grünschnäbel mit fettigem Haar und Pickeln und den Händen in den Hosentaschen.

»Haben alle abgegeben?« wiederholte er.

Keine Reaktion.

»Wer hat nicht abgegeben?« veränderte er seine Frage.

Stille im Klassenzimmer. Eine Stecknadel. Nur die Straßenbahn nach Briskeby klapperte vorbei, weit unten auf der Erde, denn wir waren die Ältesten und durften in die oberste Etage.

Mütze stand auf und begann auf dem Podium vor uns hin und her zu wandern. Jedesmal, wenn er sein Pult erreichte, streichelte er den Stapel mit Aufsatzheften und grinste immer breiter.

»Ihr lernt«, sagte er, »Ihr lernt, und meine Bemühungen waren vielleicht doch nicht umsonst. Ihr werdet bald die Erfahrung gemacht haben, daß Pünktlichkeit einer der Eckpfeiler in der Welt der Erwachsenen ist. Wenn ihr jetzt zur Realschule wechselt, werden andere und viel strengere Forderungen an euch gestellt werden, um nicht von denen zu sprechen, die Gymnasium und Universität im Auge haben, ihr werdet es bald begreifen, und am besten ist es, wenn ihr es schon jetzt begreift, etwas, wovon dieser schöne Heftstapel Kunde gibt, nämlich, daß ihr verstanden habt, wenn nicht alles, so zumindest einen Teil.«

Ich saß in der mittleren Reihe, hinter Gunnars sicherem Rücken. Mütze marschierte oben auf seiner Bühne und sprach mit warmer, zitternder Stimme. Und keiner hörte auch nur einer Silbe zu, aber wir freuten uns alle, daß wir drum herum kamen, Hauptsätze zu analysieren oder »Terje Vigen« zu lesen. Und nach einer Weile verschwand seine Stimme, das ist ein Trick von mir, ich kann sozusagen den Ton ausblenden, das kann manchmal äußerst bequem sein. Lehrer Mütze wurde zum Stummfilm, seine Bewegungen waren ruckartig und übertrieben. und sein Mund arbeitete emsig, als ob das geistlose Publikum im Saal dadurch erraten konnte, was er auf dem Herzen hatte. Und zwischendurch erschienen erklärende Texte auf der Tafel. Wenn ihr jetzt in die Welt hinaus müßt, seid bereit. – Kämpft für euer Vaterland und die norwegische Sprache. – Übung macht den Meister. – Halte die linke Wange hin und frage immer zuerst. – Bjørnstjerne Bjørnson. Und kurz vorm Klingeln begriff ich, daß er glücklich war. Er war glücklich, weil wir ein einziges Mal, das letzte Mal, unsere Aufsätze rechtzeitig abgegeben hatten. Lehrer Mütze war glücklich, und er liebte uns. Dann klingelte es, und alles stürzte zur Tür, obwohl Mütze mitten im Satz war, und wenn ich ihn jetzt vor mir sehe. sehe ich eine kleine, graue Gestalt, den viel zu großen Kittel um sich gewickelt, das dünne Haar ist ihm in die Stirn gefallen, und sein Gesicht glänzt vor Anstrengung und Glück. Er steht immer noch dort und redet stumm, während 22 verrückte Jungen rausstürmen wie die jungen Pferde, und er steht immer noch dort, in seiner eigenen Welt, genauso einsam, wie wohl auch Jensenius ist, aber glücklich, denn die Ironie hat ihn endlich losgelassen, und er mag uns aus vollem Herzen.

Aber so ist es jetzt und nicht damals. Als der Stummfilm abrupt stoppte, weil es klingelte, war gleichzeitig Mütze verschwunden, wie ein technischer Fehler, und ich war Gunnar auf den Fersen. Die Gruppe ging schnurstracks ins Klo hinunter, wo zum Schluß zehn, fünfzehn Mann versammelt waren, das bedeutete eindeutig, daß einer gequatscht haben mußte, und das war Ola, denn Ola hatte das schlechteste Pokerface der Welt, er bekam ein Zucken ums ganze Maul, wenn er nur ein Paar Dreier hatte.

»Wo hast du’s!« quängelte der Drachen.

»Das is’ kein Zirkus hier«, sagte Gunnar.

»Du gibst nur an«, sagte der Drachen. »Du hast es gar nicht!«

Gunnar starrte ihn an, und der Drachen wurde unruhig, er war fett und verschwitzt und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Wann hab’ ich jemals angegeben?« fragte Gunnar.

Ich dachte an die Sache mit den IFA-Pastillen und sah in eine andere Richtung, denn alle wußten, daß Gunnar niemanden anschmiert, und der Drachen wurde langsam, aber unerbittlich aus dem Kreis gedrückt, beschämt, rot und keuchend.

Gunnar sah uns eine Weile an. Dann zog er den Pullover und das Hemd hoch und holte einen weißen Umschlag hervor. Und der Kreis zog sich enger um ihn, als er endlich den Umschlag öffnete und das Heft herauszog. Und plötzlich, als ob er keine Lust mehr hätte, gab er mir wortlos das Heft, verschwand in einer Klokabine und schloß die Tür.

Dadurch wurde ich zum Mittelpunkt des Kreises, und alle drängten mich zur Eile und klammerten sich an mich, denn die Pause war schnell vorbei. Ich fing an zu blättern. Sofort spürte ich die Unruhe, ich selbst wurde auch unruhig, es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die ersten Fotos waren Nahaufnahmen von rasierten Mösen. Von der ganzen Versammlung kam kein Laut, keiner lachte, keiner kicherte, es war stumm wie in einer Gruft. Ich blätterte schneller, es kamen Mösen von oben und unten, ganze Seiten mit großen Ritzen diagonal von einer Ecke bis zur anderen. Doch endlich, zum Schluß wurde es bekannter, ganze Damen, riesige Busen, viel Haar, und plötzlich kam ein Foto von einem Kerl. der mit seiner ganzen Schnauze zwischen den Schenkeln einer Dame lag.

»Was macht der da?« fragte eine Stimme.

»Er leckt«, sagte eine andere Stimme, und das war Gunnar, er stand vor dem Klo und grinste.

Einen Augenblick lang blieb es still, vollkommen still.

»Leckt?«

»Leckt die Möse der Frau, siehst du doch«, sagte eine andere Stimme.

»Leckt die Möse!«

Der Drachen stand außerhalb und verdrehte die Augen.

»Tja.«

»Wie... wie schmeckt’n das, he?«

»Das schmeckt wie Gras«, sagte ich schnell. »Wenn du Glück hast. Aber kriegste ’ne Saure, schmeckt’s wie alte Salami oder Turnschuh.«

Jemand kam die Treppen herunter, in der großen weißen Horde kam Unruhe auf. Gunnar sah mich verblüfft an, gab mir plötzlich den Umschlag und machte sich mit den anderen auf den Weg zum Ausgang. Ich stand mit dem Rücken zur Tür, schob gerade das Heft in den Umschlag, als der Direktor meine Schulter packte und mich umdrehte.

»Was hast du denn da?« fragte er.

Einen Moment lang sah ich die ganze Welt zusammenbrechen, alles stürzte ineinander und zwar mit gleichbleibender Geschwindigkeit, so daß es nie aufhörte. Der Direktor stand wie eine Galionsfigur über mich gebeugt, und ich mußte mich zurücklehnen, um ihm in die Augen sehen zu können. Alles brach zusammen, wir auch, und es war aufregender, als ganz oben auf dem Zehnmeterturm im Frognerbad zu stehen, kurz vor dem großen Sprung, auch wenn ich noch nie von dort gesprungen war.

»Eine Zeitschrift von meinem Vater«, sagte ich, »die ich Herrn Mütze zeigen will.«

»Was für eine Zeitschrift?«

»Eine Urlaubsbroschüre aus Afrika. Mein Onkel war Ostern in Afrika.«

»Dein Onkel war also in Afrika?«

»Ja«, sagte ich.

Er beugte sich noch weiter über mich, sein Atem war nicht auszuhalten, Hering, Lebertran und Tabak. Endlich ging er einen Schritt zurück und rief:

»Na, dann sieh mal zu, daß du hier rauskommst, Junge!«

Und ich lief die Treppen hoch, in die Sonne. In dem Moment läutete es, und es schien mir, als ob die Glocke in mir war, irgendwo zwischen den Ohren.

Der Rest der Stinktiere stand an der Turnhalle, sie glotzten mich an, als ob ich gerade gelandet sei und klein, grün und häßlich wäre.

»Wie ... wie«, brachte der Drachen hervor.

»Er hat’s glatt geschluckt mit Joghurt drauf«, sagte ich und schlenderte gelassen an ihnen vorbei.

Und mit einem Mal merkte ich, daß ich erschöpft war, völlig erledigt. Der Sportlehrer drängte uns in die Tür, und wir schlurften in die verschwitzten Garderoben runter mit ihren Holzbänken und Eisenhaken und einem Fußboden, der vom Dampf der Duschen immer glatt war. Wenn wir heute nicht rausgingen, war es auch egal. Mit einem Mal war Gunnar neben mir. Wir trödelten etwas. Ich schob ihm den Umschlag rüber, er rollte ihn in den Pullover, den er ausgezogen hatte.

»Ich bin ein Scheißkerl«, murmelte Gunnar.

Wir blieben stehen.

»Ich hab’ dich im Stich gelassen«, fuhr er fort. »Ich bin ein Verräter.«

»Ich hatte das Heft in der Hand«, sagte ich.

»Ich hab’ dir den Umschlag gegeben und bin gegangen. Ich bin ein Schwein.«

»Du hattest nicht vor, mich reinzulegen«, sagte ich.

Gunnar streckte sich, ein schwaches Grinsen zog über sein breites Gesicht. »Nee«, sagte er, »das wollte ich nich’.«

Wir lachten, Gunnar duckte sich, boxte mit der einen Faust ein wenig in die Luft, dann wurde er plötzlich wieder ernst, ernster als je zuvor.

Leise, fast beschwörend sagte er: »Merk dir das. Kim. Du kannst dich immer auf mich verlassen.« Und dann nahm er meine Hand - es war sehr feierlich –, und seine kräftigen Finger drückten meine wie ein Bund Petersilie zusammen, und ich überlegte, ob ich etwas Ähnliches in den »Illustrierten Klassikern« gesehen hatte, war das »Lord Jim« oder »Der letzte Mohikaner« gewesen, aber dann fiel mir ein, daß es eine Folge von »Simon Templar« gewesen war, und ich freute mich schon auf den Abend, denn es war Freitag und im Fernsehen kam ein Krimi.

»Und jetzt Sechs N-n-null, he!« rief Ringo, als wir am Eisstadion die Kurve nahmen, auf dem Weg zu Kåres Tabak in der Theresegate. Er saß hinten, sein Fahrrad hatte nämlich keine Speichen mehr, seit die Bremsen am Bondebacken versagt und Ringo in heller Panik seinen Schuh ins Vorderrad gesteckt hatte. Er sah hinterher aus, als wäre er in einen Eierschneider geraten.

»S-s-sechs Null, Mensch«, wiederholte Ringo. »Sechs N-n-null!«

»Wenn’s England oder die Schweiz gewesen wäre, hm, aber Thailand...«, sagte ich.

»Egal! Sechs Tore.«

Jetzt stieg die Theresegate noch steiler an, und ich hatte keine Luft mehr, um zu reden. John und George fuhren vor uns Slalom und schrien und jubelten, und von ganz unten kam die Straßenbahn heran, und wir mußten in die Pedale treten, um Kåres Tabak zu erreichen, bevor sie uns wieder einholte.

»Wo is’ ei-ei-eigentlich Thailand?« fragte Ringo.

»Links von Japan«, keuchte ich.

Und wir schafften es vor der Straßenbahn, ich freute mich bereits auf die Runterfahrt, dann war George dran, Ringo hintendrauf zu nehmen.

»Verflucht, wenn ich dieses Jahr nicht als Außenstürmer spielen darf«, sagte John.

»Sei froh, wenn wir überhaupt aufgestellt werden«, meinte George.

»Wenn ich h-h-hinten spielen muß, habe ich keine Lust«, sagte Ringo. »Werd’ so nervös vom St-st-stillstehen.«

Dann ging der gesamte Trupp rein zu Kåre, in sein dunkles Geschäft, »Kåres Tabak«. Dort drinnen roch es merkwürdig, nach Obst und Rauch, Schweiß, Schokolade und Lakritze. Und wir wußten, daß »Cocktail« und das »Kriminaljournal« unter dem Tresen lagen, aber das war nichts Besonderes mehr, nicht nach dem Heft von Gunnars Bruder, irgendwas war dadurch verlorengegangen. irgendwie schade.

Kåre tauchte aus dem Dunkel auf, sein liebes Boxergesicht mit der Hasenscharte, und ich glaube, daß er uns vom letzten Jahr wiedererkannte.

»Mitgliedschaft?« fragte er.

Wir nickten und legten jeder unseren Zehner auf den Tresen, und darauf holte er vier Karten, und wir diktierten ihm unsere Namen.

»51 geboren«, murmelte Kåre. »Dieses Jahr also Junioren.«

»Hab’n sich viele angemeldet, oder?« wollte John wissen.

»Wir kriegen in allen Klassen gute Mannschaften«, grinste Kåre.

»Wie w-w-wird’n das mit F-frigg in der Oberliga, he?« fragte Ringo.

»Wir gewinnen«, sagte Kåre bestimmt.

»Wo wir doch Thailand S-s-sechs Null geschlagen haben, he!« fuhr Ringo begeistert fort, er konnte nicht darüber wegkommen.

»Training fängt Dienstag an«, sagte Kåre. »Um fünf auf dem Platz von Frigg.«

»Gibt’s dieses Jahr ’ne Fahrt nach Dänemark?« fragte George.

»Die wird’s sicher geben. Trainiert nur hart, dann kommt ihr mit.«

Wir bekamen unsere Mitgliedskarte, kauften eine Cola zum Teilen, trauten uns aber nicht, was zu rauchen zu kaufen, denn vielleicht mochte Kåre es nicht, wenn Frigg-Jungen rauchten, und keiner von uns wollte die Dänemarkfahrt verpassen.

Als wir wieder draußen auf der Straße standen, guckte Ringo John an und fragte leise: »Was hast’n mit dem Heft gemacht?«

»Weggeschmissen«, antwortete John.

»Du hast es weggeschmissen!«

»Tja.«

Und eigentlich atmeten wir alle erleichtert auf, aber Ringo ließ nicht locker,

»Was s-s-sagt’n dein B-b-bruder dazu?«

»Der findet’s in Ordnung, daß ich’s weggeschmissen hab’.«

Also schwangen wir uns aufs Rad und sausten die Theresegate hinunter. Die warme Luft rauschte in den Ohren, wir grölten I feel fine, daß es zwischen den Häuserwänden widerhallte, und George rief, daß sein Kilometerzähler bei 80 zittere, so was durfte man nicht immer ganz glauben, aber nichtsdestotrotz ging es schnell, und wir mußten nicht treten, bis wir zum Bogstadvei kamen.

»Jetzt is’ es nich’ mal mehr ’n Monat bis zum 17. Mai«, sagte John.

»Dann is’ auch die Prüfung«, fügte George hinzu.

»Und dann is’ S-s-sommer!« rief Ringo.

Wir verstummten für einen Augenblick, denn es war schon komisch, an den Sommer zu denken, weil es nicht sicher war, ob wir nach dem Sommer in die gleiche Klasse kamen, oder wenigstens in die gleiche Schule. Aber wir hatten uns Treue geschworen, nichts könnte uns trennen, und die Beatles würden sich nie auflösen.

Zuerst rannten wir um das ganze Feld, dann übten wir ein wenig Kopfball, und danach wurden wir in zwei Mannschaften aufgeteilt, acht in jeder. Wir mußten die großen Tore der Senioren und der Polizeischule benutzen, und die Torhüter kamen sich zwischen den Stangen ziemlich winzig vor; auch wenn sie so hoch sprangen, wie sie nur konnten, erreichten sie nie die Querlatte, erinnerten eher an Heringe in einem Riesennetz. John und ich kamen in die gleiche Mannschaft, er war Mittelstürmer, ich spielte rechter Verteidiger. Gegen mich hatte ich Ringo als Linksaußen. George war Mittelläufer, und es schien ihm gar nicht zu gefallen, wenn John wie ein Panzer angestürmt kam und jeden Widerstand wegfegte. Ich stand auf meinem Platz und schaufelte die Bälle in das Mittelfeld. Ein paarmal schaffte George es, John zu stoppen, aber ich frage mich, ob John ihm nicht nur den Ball gab, damit wir alle, zusammen in die Mannschaft kamen. Zum Schluß konnte Ringo sich die Kugel krallen und kam in voller Fahrt an der Seitenlinie herauf. Als er nahe genug war, flüsterte er so, daß nur ich es hören konnte: »L-l-laß mich durch! L-l-laß mich vorbei!«

Ich stand breitbeinig auf meinem Platz und rührte mich nicht vom Fleck, ich konnte Ringo gut vorbeilassen, denn ich hatte schon einige solide, gute Züge und nahm an, daß mein Platz gelsichert war. Also blieb ich stehen, vollkommen bewegungslos, Ringo hätte mich wie einen Kegel umrunden und den Ball mit einer tollen Flanke vors Tor bringen können. Aber er schoß natürlich übers Ziel hinaus, fing mit irgendwelchen irrsinnigen Tricks an und dachte wohl, er sei in Brasilien, seine Mitspieler schrien und johlten ihm zu, und dann machte er endlich den Vorstoß, krümmte den Rücken und flog direkt auf mich zu. Wir fielen beide auf die Nase, der Ball rollte ins Aus, und ich bekam den Einwurf.

»V-v-verdammt«, fauchte Ringo, »v-v-verdammt noch mal.«

»Ich hab’ mich doch gar nicht bewegt!«

»Das kann ich doch nich’ ahnen. Is’ ja nich’ üblich, daß der Verteidiger sich nich’ rührt.«

Ich glaube, die Mannschaft von John und mir gewann 17:11, und hinterher gab es Besprechung und Kritik. Einige waren schon jetzt bombensicher, Aksel im Tor, Kjetil und Willy im Angriff. Und John war wohl auch klar, als Abräumer. George sah sehr müde aus, und Ringo war sauer.

»Nächstes Wochenende ist ein Spiel«, rief Åge, »Samstag, gegen Slemmestad. In Slemmestad.«

Niemand sagte etwas. Der Ernst hatte uns eingeholt.

Der Trainer fuhr fort: »Und den Kampf müssen wir gewinnen!«

Wir grölten.

»Jungs, ihr seid in Ordnung. Alle, die heute da sind, treffen sich hier, am Samstag um drei. Wir fahren mit dem Bus nach Slemmestad. Und die meisten werden sich auf dem Spielfeld behaupten können. Wenn aber einige von euch im ersten Spiel nicht mitspielen können, so kommt ihre Chance später, okay?«

Die Mannschaft zerstreute sich, einige gingen allein, andere in Gruppen. Wir blieben zurück, standen mitten auf der schwarzen Erde, schätzten uns gegenseitig ein.

»Ich glaub’, unsere ganze Gang wird dabei sein«, sagte John.

»Der Trottel hat mich nich’ v-v-vorbeigelassen, obwohl ich g-g-gefragt hab’«, sagte Ringo und zeigte auf mich.

»Hab’ mich doch gar nich’ gerührt!«

»Ja, g-g-genau das! Ich mußte doch denken, daß d-d-du nach links gehst, darum b-b-bin ich grade durch. Scheißtrick.«

John wurde ganz plötzlich still, starrte wie ein Jagdhund Richtung NRK und flüsterte mit spröder Stimme: »Is’ das, is’ das nich’ Per Pettersen, der da kommt!«

Wir starrten auch hin. Es war Per Pettersen. Persönlich. Er kam auf uns zu geschlendert, in weißen Shorts, blauweißem Hemd und mit einer Tasche, die er sich über die Schulter geworfen hatte.

»Ich muß sein Autogramm haben«, rief John. »Hat jemand was zu schreiben da?«

Natürlich hatten wir keinen Bleistift mit zum Fußballtraining, und Papier auch nicht. Per Pettersen kam näher, und John begann verzweifelt im Gras zu suchen, denn eine solche Chance konnte er sich nicht entgehen lassen – das einzige, was er fand, war Kaugummipapier. Das strich er auf seinem Schenkel glatt, und jetzt war auch Per Pettersen da.

»’n Autogramm«, stotterte John und hielt das Kaugummipapier hin.

Per blieb stehen und sah uns an. Dann setzte er seine Tasche ab und lachte. »Hab’ nichts zu schreiben mit«, sagte John.

Per wühlte einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb seinen Namen auf das süß duftende Papier, Per Pettersen, mit zwei eleganten Ps. Aber als er wieder gehen wollte, war Ringo plötzlich da, er hatte die ganze Zeit dagestanden und war von einem Bein auf das andere getreten.

»Kannste nich’ mal auf mich schießen?«

Pettersen stoppte und strich sich die widerborstigen Haare zurück.

»Klar! Geh in Position.«

Ringo starrte uns an, rot im Gesicht, dann sprintete er zum Tor, stellte sich möglichst genau in der Mitte auf, krümmte sich zusammen wie ein Hummer. Per Pettersen legte den Ball auf seinen Platz. ging einige Schritte zurück und klopfte ein wenig in den Rasen.

»Armer Ola«, saugte George leise. »Er is’ wahnsinnig geworden. Wenn er den Ball kriegt, muß er mit ihm durchs Netz.«

Per Pettersen nahm Anlauf und trat zu, und plötzlich saß Ringo mit dem Ball im Schoß auf der Erde. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er sah ziemlich verblüfft aus, als ob er nicht verstand, was passiert war. Dann rappelte er sich auf und kam schwankend zu uns herüber. Per Pettersen warf sich die Tasche über die Schulter, strich die Haare nach hinten und rief Ola zu: »Gut gehalten!«

Und damit ging Per Pettersen.

Ola sah erschöpft aus. Er konnte kaum den Ball halten. Aber er war glücklich.

»War er hart?« fragte George vorsichtig.

»Das ist der h-h-härteste Schuß, den ich kenne«, sagte Ringo. »Gordon B-b-banks hätte Probleme mit dem G-g-gleichgewicht gehabt.«

»Wahnsinnsrettung«, sagte John. »Perfekt.«

»Woher wußtest du, wohin er schießt?« fragte George.

»H-h-hab’ ihn ausgetrickst«, sagte Ola. »Tat so, als wollte ich n-n-nach rechts. Und dann drehte ich mich nach l-l-links, und schon hatte ich die Kugel im Schoß.«

Wir schlenderten zu den Fahrrädern, die im hohen Gras am Slemdalsvei lagen.

»Meint ihr, daß Per P-p-pettersen das Kk-kåre und Åge erzählt?« fragte Ola.

»Is’ möglich«, sagte John. »Wenn sie sich sehen.«

»Dann krieg’ ich sicher den Torhüterposten. Fest in der Mannschaft!«

Ola war immer noch etwas abwesend in seinem Blick, es schien, als erkenne er uns nicht richtig.

»Man muß B-b-blickkontakt haben«, hörten wir Ola sagen. »Ich habe das Weiße in seinen Augen gesehen. Und da wurde er u-u-unsicher, und der Ball war meiner.«

Wir schoben die Räder bis zum Kiosk bei der Polizeischule und spendierten Ringo eine Cola. Er fand, er hätte das verdient, und trank die Flasche in einem Zug aus. Als wir das Pfand wiederbekommen hatten, guckten wir die Autowracks hinter dem Drahtzaun an und dachten an die, die in den Autos gesessen hatten, es war unheimlich, daran zu denken, als ob sie immer noch darin saßen, blutig und zerquetscht, ein Gespenst in den Autowracks. Der Wachhund am Tor knurrte uns an, seine weißen Zähne leuchteten im roten Maul. Wir fröstelten etwas und fuhren Richtung Majorstua, zeigten uns gegenseitig die Pariserreklame von Durex über der Uhr, die fast sieben zeigte. Und da rief Ringo, so laut er konnte – er saß wieder bei mir hinten drauf –, er fing an. nach seiner Superrettung wieder Kontakt mit der Wirklichkeit zu bekommen; »Du-du – d-d-du...!«

Und Seb antwortete: »Rex!«

Und Gunnar schrie aus vollem Hals: »Balla-balla-balla-balla-!«

Und ich antwortete: »Ballangrud!«

Aber das war nicht alles, was wir konnten, wir bumsten mit den Autos zusammen und hatten Lampenständer, doch dann verstummten alle Stimmen, denn auf dem Valkyrie-Platz standen Nina und Guri aus der C-Klasse. und wir rutschten mit quietschenden Reifen und klopfenden Herzen an den Kantstein.

»Wo kommt ihr denn her?« fragte Guri.

»Aus der Tanzschule«, antwortete Seb.

Die Mädchen lachten, und Seb wurde ganz schwer auf dem Gepäckträger.

»Könnt ihr uns nicht zum Urrapark mitnehmen?« bat Nina.

Wir hatten den gleichen Weg, also war es ganz in Ordnung, und auch wenn wir nach Trondheim hätten fahren müssen, wäre es genauso in Ordnung gewesen. Aber eine Sache war jetzt jedenfalls klar, und zwar, daß Ola sein Fahrrad repariert haben mußte, und das schnell, denn er saß ja bei mir hinten drauf, und Nina und Guri sprangen hinten bei Gunnar und Seb rauf, und damit war die Chance vertan. Wir donnerten die Jacob Aallsgate hinunter, die Mädchen kreischten und jammerten, und vielleicht war ich trotzdem auch ein wenig erleichtert darüber, daß Ola sein Fahrrad kaputt gemacht hatte und hinten bei mir saß, denn sonst hätten Guri und Nina sich zwischen uns vieren entscheiden müssen, und dann wären zwei leer ausgegangen, und auch wenn wir uns den Teufel aus kleinen Mädchen mit Rattenschwänzen und Rosinenbrüsten machten, so hätte es doch keinen Spaß gemacht, mit leerem Gepäckträger zu fahren, zu pfeifen und in den Sonnenuntergang zu blinzeln und so zu tun, als wenn nichts wäre.

Die Mädchen wurden im Urrapark abgesetzt, und dann hingen wir wieder über den Lenkern und sahen aneinander vorbei, als warteten wir darauf, daß etwas vom Himmel fallen solle – als Ola mit seinem Brummbaß sagte:

»Hab’n Elfmeter von Per P-p-pettersen gehalten!«

»Wer?« fragte Nina.

»Ich! Ich hab’n Elfmeter von Per P-p-pettersen gehalten!«

»Wer is’n Per Pettersen?«

Ola sah uns mit leerem Blick an, flehte um Hilfe, aber damit mußte er allein fertig werden. Er hätte genauso gut erzählen können, daß er 14 Schüsse von Pele nacheinander gehalten habe, das hätte auch keinen größeren Eindruck gemacht.

»P-p-per Pettersen! Spielt in der Nationalmannschaft, Mensch!«

»Oh, wie schön«, sagte Guri.

Und weiter wurde über Olas Torpedorettung nicht geredet. Die Mädchen gingen zu einer Bank, wir ließen sie gehen, aber dann folgten wir ihnen doch. Und an den Bäumen waren kleine grüne Knospen, die klebrig waren, wenn man sie anfaßte, die Dunkelheit glitt über uns wie eine große Wolke und deckte uns alle zu. Es war kalt, dort in kurzen Hosen zu stehen, mit grünen Knien und Ellenbogen. Und selbstverständlich passierte nichts. Genaugenommen kann ich mich besser an alles erinnern, was nicht geschah. Denn das, was nicht geschah, aber hätte geschehen können, war viel fantastischer als das, was wirklich geschah, an einem Aprilabend im Urrapark, 1965.

Man kann ja einiges gegen Mütze sagen, aber Fallhöhe, die hatte er. Schon als wir ihn im Gang hörten, wurde uns klar, daß die Enttäuschung ihn wieder zu packen gekriegt hatte und Spott und Ironie sich erneut in dem dürren, harten Körper eingefunden hatten. Er trug die Aufsatzhefte unterm Arm, ging mit schnellem, wiegendem Schritt, wie der Leiter eines Blasorchesters. Sein Blick durchfuhr uns wie Röntgenstrahlen, ein Lächeln mit einem Anflug von Wahnsinn erschien unter seiner flaumigen Nase, er sagte kein Wort. Er schloß nur auf, setzte sich mit dem Stapel Aufsatzhefte wie einem drohenden Turm vor sich hinter das Lehrerpult, und da blieb er sitzen, stumm wie ein Schuh.

»Ich platz’ gleich vor Lachen«, flüsterte ich Gunnar zu.

»Er hat die Stimme verloren. Schock.«

Mit einem Satz sprang Mütze auf, galoppierte durch die Reihen und baute sich mit den Händen in den Seiten über mir auf. Seine Gesichtsmuskeln waren nur noch harte Knoten unter der Haut, und einen Augenblick lang dachte ich an Onkel Hubert. Der Arme war nicht ganz richtig im Kopf, auch wenn er Vaters Bruder war, und ich fragte mich, ob Mütze vielleicht auch nicht ganz beieinander war. Aber stumm war er jedenfalls nicht.

»Was hast du gesagt!«

Ich sah zu ihm auf. Ich hatte nie zuvor bemerkt, daß er so viele Haare in der Nase hatte. Sie standen wie schwarze Rasierpinsel hervor.

»Ich hab’ Gunnar was gefragt.«

»Und was hast du Gunnar gefragt!«

Plötzlich packte er statt dessen Gunnar im Nacken und schrie:

»Gunnar! Was hat Kim dich gefragt!«

Das konnte nicht gutgehen, denn Gunnar konnte einfach nichts anderes als die Wahrheit sagen. Wenn er versuchte zu flunkern. ging das in die Hose, er packte es einfach nicht. Ich sah, wie sich die Röte von seinem Nacken wie ein glühendes Bügeleisen ausbreitete.

Also antwortete ich für ihn:

»Ich habe Gunnar nur gefragt, ob er einen Radiergummi hat.«

Blitzartig drehte sich Mütze wieder zu mir um, sein Mund war vollkommen verschwunden, kam aber gleichzeitig mit einem zitternden Zeigefinger wieder zum Vorschein, der auf meine Stirn gerichtet war. Ich war froh, daß der Zeigefinger nicht geladen war.

»Wenn ich Gunnar frage, soll Gunnar antworten und nicht du! Verstanden!«

»Das ist doch egal, wer antwortet, wenn die Antwort die gleiche ist«, sagte ich, von meiner eigenen Logik fast überwältigt.

Mützes Hand kam näher, packte mich an den Schultern, zerrte mich vom Stuhl und zog mich mit aufs Katheder. Dort mußte ich stehen, während Mütze wie rasend die Aufsatzhefte durchblätterte. Und während ich so dastand, bekam ich sogar etwas Mitleid mit ihm, denn es war schon ein erbärmlicher Anblick, die Klasse 7a zu betrachten. Schließlich fand er mein Aufsatzheft und wedelte damit vor meiner Nase herum.

»Du, der du es so ausgezeichnet verstehst zu antworten, kannst du dieser Klasse, all diesen intelligenten, aufgeweckten, interessierten und hochgebildeten Mitschülern erzählen, wie deine Zukunftspläne aussehen!«

Ich sagte gar nichts, sah direkt über die Mauer zum Fenster hinaus. Auf der anderen Straßenseite arbeiteten Leute auf dem Dach. Sie hatten sich mit einem Seil am Schornstein festgebunden für den Fall, daß sie abrutschen würden. Ich konnte mir gut vorstellen, dort oben ohne Seil zu balancieren, ich spürte das Kribbeln im Kreuz, es war ein Gefühl, als wenn das Gehirn überkochen wollte. So zu balancieren, ganz außen. Dann war Mützes Stimme wieder da, wie ein heißer Atem an meiner Wange.

»Du antwortest doch sonst immer so schnell und bestimmt, erzähl uns jetzt mal, was du werden willst.«

»Ich hab’ im Aufsatz geschrieben, daß ich Arzt werden will, aber das habe ich nur geschrieben, weil ich nicht weiß, was ich werden soll. Und dann hab’ ich geschrieben, daß ich nach Afrika fahren will, damit der Aufsatz lang genug wird.«

Der Lehrer Mütze starrte mich an, und ich merkte, daß ihn fast seine Kräfte verließen, es konnte nicht mehr lange dauern, bis er aufgab. Mit einem Mal tat er mir leid, und ich hätte ihm gern geholfen, wußte aber nicht, wie.

»Setz dich«, sagte er. »Und sei still, solange dich niemand fragt. «

Die Stimmung in der Klasse entkrampfte sich etwas, alle Zeichen deuteten darauf hin, daß Mütze der Kapitulation nahe war. Aber er kämpfte noch immer tapfer, hoffnungslos und außer Atem. Ab und zu mußte er auf den Flur, um Luft zu schöpfen. Mit geballten Fäusten kam er wieder herein, beugte sich über sein Pult, zuckte mit den Augen.

»Hier in der Klasse sind 22 Schüler, nicht wahr. 22 aufgeweckte, intelligente, höfliche, reinliche, ehrliche und nicht zuletzt ehrgeizige Jungen. Einverstanden?«

Er wartete die Antwort nicht ab. Natürlich waren wir einverstanden.

»Zehn von euch wollen Pfarrer werden. Alle, die Pfarrer werden wollen, möchten sich mal melden.«

Zögernd reckten sich die Finger in die Luft. Gleichzeitig erhob sich ein Kichern. Der Drachen wollte Pfarrer werden.

Mütze zeigte ruhig auf den Drachen.

»Du willst also Pfarrer werden. Dann mußt du aber erst mal das Vaterunser lernen. Und zwar auswendig! Und dann mußt du dir deine Zähne besser putzen, sonst wird die Gemeinde schon beim ersten Halleluja umkommen!«

Der Drachen sah aufsein Pult, sein Nackenspeck zitterte. Uns war klar, daß er Mütze in diesem Augenblick haßte, ihn auf der Stelle hätte ermorden können. Die anderen Pfarrer sahen auch nicht sehr gutgelaunt aus. Ich war froh, daß ich Arzt in Afrika werden wollte.

»Zehn Pfarrer also«, sagte Mütze. »Ihr könnt eure segnenden Hände jetzt senken. Und dann sind da fünf Missionare. Fünf. Das ist weit überm Durchschnitt. Könnt ihr ein Zeichen geben!«

Fünf Hände in der Luft. Sebs Hand war darunter.

»Ihr wollt also Missionare werden. In Indien. Afrika. Australien. Erklärt mir bitte, warum wollt ihr zum Wasserholen über den Fluß gehen. Warum nicht hier zu Hause anfangen. Warum wollt ihr nicht zunächst Norwegen christianisieren. Oder diese Klasse. Warum fangt ihr eigentlich, nicht hier und jetzt damit an, diese Klasse 7a zu bekehren, einschließlich des Klassenlehrers!«

Keiner der Missionare antwortete. Seb saß mit einem schiefen Grinsen da und lehnte sich mit seinem Stuhl hinten gegen die Wand. Mütze hatte ihn im Visier, zeigte auf ihn und schrie:

»Du! Sebastian! Erzähl uns mal, warum du Missionar werden willst! Nun! Rede!«

Seb kippte mit seinem Stuhl nach vorn, das Grinsen war immer noch da, und aus diesem Grinsen konntest du nicht immer klug werden, es war nicht eindeutig, ob er über dich, sich selbst oder irgend etwas anderes grinste.

Seb sagte ruhig: »Ich habe Lust zu reisen!«

»Und deshalb mußt du Missionar werden! Hör’ ich richtig?«

»Mir fiel nichts anderes ein.«

»Machst du dich über mich lustig?«

»Nein, ich hätte auch Seemann werden können, aber das hab’ ich nicht hingekriegt ... «

»Macht ihr euch über mich lustig?«

Jetzt wandte er sich an die ganze Klasse, ja, an die ganze Welt. Mit der flachen Hand schlug er auf den Stapel Aufsatzhefte, daß das Lehrerpult erzitterte. Dann nahm er das Podium ein. Hier blieb er stehen, genau dort, wo die Sonne wie ein Projektor in den Raum schien, aber es sah so aus, als hätte er seinen Text vergessen und kein Souffleur sei zugegen. Er zog ein Taschentuch hervor, doch damit kamen auch keine Tauben oder Kaninchen zum Vorschein, und dann wischte er sich übers Gesicht. Es war ein kleines Gesicht und ein riesiges Taschentuch, wie eine Tischdecke, verschossen und gelblich und nicht ganz sauber. Dann verließ er den Lichtkegel und kam in den Saal herunter, zu dem geistlosen und gottverlassenen Publikum. Der Lehrer Mütze baute sich vor Ola auf. Ola sackte zusammen wie ein Fußball, dem die Luft ausgeht. Mütze strich ihm über den Kopf.

»Hier haben wir jemanden, der eine gute Berufswahl getroffen hat, eine Wahl, die im richtigen Verhältnis zu seinen Fähigkeiten steht. Aber sage mir doch eins: warum Damenfriseur?«

Schleimiges Hohngelächter stieg aus der Klasse auf. In Ola war fast keine Luft mehr. Aus dieser Zwangslage konnte er sich unmöglich ohne sofortige Hilfe befreien. Gunnar und ich versuchten verzweifelt, auf irgend etwas zu kommen, aber er kam uns zuvor, es kam wieder Luft in den Fußball. Ola richtete sich auf und sagte mit trockener, fremder Stimme:

»Weil mein Vater meint, daß Jungen sich bald nicht mehr die Haare schneiden lassen.«

Mütze nickte. Traurig nickte er mehrere Male. Gunnar, Seb und ich atmeten erleichtert auf, Ola hatte es geschafft. Der Rest der Duckmäuser akzeptierte seine Antwort, saß da und zog sich die Haare ins Gesicht und über die Ohren, und Mütze trabte zurück auf seinen Platz in der Sonne.

»Und dann haben wir noch einen Autorennfahrer, ein paar Piloten, einen Fallschirmspringer und ... « — er setzte sich noch mal zurecht —, »dann gibt es einen, der über einen Tag in der Schule geschrieben hat.«

Es wurde augenblicklich still, alle starrten die Gans an, denn es konnte sich nur um die Gans handeln, und er wurde nach vorn geholt. Mütze blätterte in seinem Heft und las laut vor: »Unser Klassenlehrer heißt Mütze und ist der beste Lehrer der Welt.«

Ein Raunen ging durch den Raum. Die Gans schrumpfte wie ein Wollpullover in kochendem Wasser zusammen, und alle waren sich einig, daß das die unverfrorenste Behauptung war seit dieser Sache mit Jesus, der auf dem Wasser ging. Mütze blickte auf die Klasse, seine Lippen versuchten ein dünnes, blutleeres Lächeln, seine Augen waren tief und ohne Hoffnung. Er drehte sich langsam zu der Gans.

»Bin ich der beste Lehrer der Welt?«

In der 7a war es noch nie so still gewesen. Der Puls stand still, die Zeit lag wie ein riesiger Deckel über uns, und wir waren ein Topf, der kurz vor der Explosion stand.

»Bin ich der beste Lehrer der Welt?« wiederholte Mütze, ruhiger als jemals zuvor.

»Nein«, sagte die Gans, und da klingelte es zur Pause.

Ich bekam eine Vier plus, Seb auch. Gunnar und Ola bekamen eine Drei.

»Wenn wir im Sommer aufhören, müssen wir Mütze ein Geschenk kaufen«, sagte Gunnar.

»Was denn?« fragte Ola.

»Das weiß ich auch nicht. Aber irgendwas müssen wir ihm kaufen, dann freut er sich ein bißchen.«

»Wir können ihm ’ne Beatles-Platte schenken«, schlug Seb vor.

»Ich weiß nicht, ob er einen Plattenspieler hat«, sagte Gunnar.

»Der gute Wille zählt, sagt mein Vater immer«, bemerkte ich.

»Dann brauchen wir ja gar nichts zu kaufen«, meinte Ola.

Die Stimmung im Bus war prima. Åge stand vorn beim Fahrer und erklärte die Taktik: Auf dem Mittelfeld sollten wir das Spiel für uns entscheiden. Ich sah einen langen Tag als rechter Verteidiger vor mir, zum Glück schien die Sonne. Neben mir saß John, hinter uns saßen Ringo und George. George guckte nur aus dem Fenster und hörte nicht zu, kriegte aber doch irgendwie alles mit, so was ist angeboren, glaube ich. Ringo dagegen sah ziemlich traurig aus, an sein sagenhaftes Halten konnten wir uns kaum noch erinnern, auch wenn es erst ein paar Tage her war, er fing tatsächlich selbst an zu zweifeln, ob es wirklich stattgefunden hatte oder ob er das Ganze nur geträumt hatte. Außerdem war Aksel, der Torwart der Mannschaft, blitzschnell wie eine Schiebetür aus Hoff, den Platz konnte ihm niemand so schnell streitig machen.

Ringo beugte sich besorgt zwischen John und mir vor.

»Das geht nicht gut«, sagte er leise.

»Geht nicht gut«, platzte John raus. »Wir werden die Kohlköpfe ins Gras stampfen!«

»Nee, ich mein’, mit mir«, fuhr Ringo leise fort. »Ich werd’n Eigentor schießen. Ich spür’ das.«

»So einfach ist das nicht, Aksel zu überlisten«, sagte ich.

»Das sind die Beine«, murmelte Ringo. »Die gehorchen nicht. Ich schieß’n Eigentor.«